APUZAUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE
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APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte 28–29/2010 · 12. Juli 2010 Haiti Hans-Ulrich Dillmann Als die Möbel „zu tanzen begannen“ – Szenen aus Haiti Jürgen Pohl Wiederaufbau nach dem Erdbeben – Perspektiven für Haiti Oliver Gliech Die „erste schwarze Republik“ und ihr koloniales Erbe Sonja Norgall Voodoo für das haitianische Volk Julia Schünemann Die Zerbrechlichkeit des haitianischen Staates Klaus Lengefeld Nachhaltige Entwicklung durch Tourismus? John Miller Beauvoir Herausforderungen für die Jugend in Haiti
Editorial Beim Erdbeben der Stärke 7,0 im Januar 2010 in Haiti starben etwa 250 000 Menschen, über 300 000 wurden zum Teil schwer verletzt, 1,3 Millionen wurden obdachlos und 600 000 zu Bin nenflüchtlingen. Lokale Wirtschaftsstrukturen wurden fast völ lig zerstört. Trotz jahrelanger Warnungen vor einem schweren Beben, gab es keine Bauauflagen zur Erdbebensicherheit und keinen funktionierenden Zivilschutz. Die Folgen des Erdbebens wurden durch strukturelle Defizi te wie der eingeschränkten Handlungsfähigkeit der Regierung, einer weit verbreiteten Korruption sowie ineffizienten Verwal tung verschärft. Sie erhöhten die Verwundbarkeit des Karibik staates, der ohnehin unter großen sozialen Gegensätzen und chronischer Armut leidet: Haiti, das sich nach der Unabhängig keit von Frankreich 1804 ein Jahrhundert lang von der Koloni almacht „freizukaufen“ hatte, galt bereits vor dem verheerenden Beben als das ärmste Land Amerikas. Den Wiederaufbaupro zess weiter erschwerende Strukturmerkmale sind eine Unterent wicklung der Zivilgesellschaft sowie eine starke Neigung der po litischen Entscheidungsträger zu autoritärer Politikgestaltung: Im April 2010 verhängte Präsident René Préval den Ausnahme zustand, er kann nun 18 Monate lang per Dekret regieren. Die für dieses Jahr geplanten Kommunal-, Parlaments- und Präsi dentschaftswahlen wurden auf unbestimmte Zeit verschoben. Vor diesem Hintergrund wird der langwierige Wiederaufbau von internationalen Akteuren dominiert. Zwar verpflichtete sich die haitianische Regierung dazu, über die Verwendung der internationalen Hilfsgelder Rechenschaft abzulegen. Doch kri tisieren Nichtregierungsorganisationen, nicht in den Wieder aufbauprozess des eigenen Landes eingebunden zu sein. Damit dieser zu einer Chance für einen Neubeginn wird, gilt es, eine dauerhafte Abhängigkeit Haitis von ausländischen Gebern zu vermeiden und stattdessen die Handlungsfähigkeit des Staates sowie der Zivilgesellschaft zu stärken. Asiye Öztürk
Hans-Ulrich Dillmann tion Ville in fachmännische Behandlung – zu spät. Die offene Wunde war bereits durch Als die Möbel „zu Schmutz schwer entzündet. Wundbrand diag nostizierte der französische Arzt, der als Not tanzen begannen“ – helfer in die Katastrophenregion eingeflogen worden war. „Der Arm muss amputiert wer den oder du stirbst“, versuchte der Mediziner Szenen aus Haiti ihr die lebensbedrohliche Situation klar zu machen. „Was sollte ich machen?“ In der Mit te zwischen Ellbogen und Handgelenk durch M aritana Desir ist auch Monate danach noch die Angst und die Panik anzu merken. Stockend erzählt sie von dem schwe trennte der Arzt Elle und Speiche. Und so wie Maritana Desir mit einem amputierten Arm leben muss, so gibt es seit dem Erdbeben weit ren Erdbeben, dass am über 10 000 Menschen mit Behinderung, die Hans-Ulrich Dillmann 12. Januar dieses Jah künftig auf Geh- oder Greifhilfen angewie Geb. 1951; lebt in der Dominika- res die haitianische sen sind. „Manchmal greife ich noch nach et nischen Republik und berichtet Hauptstadt Port-au- was und merke erst dann, dass ich keine rech unter anderem für „die tages- Prince und deren Um te Hand mehr besitze“, sagt Desir. Die Wunde zeitung“, „Jüdische Allgemeine“ gebung erschütterte: ist inzwischen zu einer schmalen Narben ver und Rundfunkanstalten. Er ver- „Ich stand mit einer heilt. Aber der Phantomschmerz stört sie noch öffentlichte 2009 mit Susanne Nachbarin vor meinem immer, der Armstumpf ist druckempfindlich. Heim „Fluchtpunkt Karibik – Haus, als plötzlich al Zwar wurde sie zeitweise in einer Ambulanz Jüdische Emigranten in der les anfing, zu schwan von Ärzte ohne Grenzen betreut, aber die Dominikanischen Republik“. ken. Der Boden hob Nothelfer sind wieder abgerückt, eine Reha- hudillmann@aol.com und senkte sich.“ Mit Behandlung ist nicht in Sicht. www.hudillmann.de lautem Knall stürzten Wände in die schmale Ihr Einzimmerhaus an einem Steilhang Gasse, prasselten Steine auf sie nieder. Men in Nerette, einem Armenviertel von Pétion schen schrien wie von Sinnen. Sie versuchte Ville, ist nicht mehr bewohnbar. Ande wegzulaufen. „Es war wie am Jüngsten Tag. re, mehrstöckige Häuser haben es unter ih Ich dachte, die Welt geht unter.“ Dann spürte ren Betondecken und Steinen begraben. Jetzt die 27-jährige alleinstehende Mutter des zwei wohnt die junge Frau gemeinsam mit ihrem jährigen Luis-Fred einen Schlag und verlor das Sohn, den Nachbarn während ihres Kran Bewusstsein. „Ich erinnere mich nur noch, kenhausaufenthalts versorgten, in einem pro dass um mich herum alles voller Staub war.“ visorischen Obdachlosencamp. Als Maritana Desir Stunden später im Krankenhaus Centre Eliazar Jermair wieder Doudline Casimir aus ihrer Ohnmacht aufwachte, lag sie auf ei ner provisorischen Liege auf dem Fußboden, Knapp 130 Kilometer südlich in der Hafen ihr Körper und das Gesicht blutverschmiert. stadt Jacmel lag Doudline Casimir auf ih Um sie herum war ein einziges Stöhnen und rem Bett und schlief. Zwei Zimmer bewohnte Schreien. „Ich werde das mein Lebtag nicht sie mit ihrem Mann und den beiden Kindern. vergessen“, sagt Desir. Nachbarn hatten die Auch zwei Geschwister lebten dort. Sie habe ohnmächtige junge Frau aus den Trümmern kaum wahrgenommen, dass die wenigen Mö gezogen und ins Gesundheitszentrum getra bel in der ärmlich eingerichteten Hütte mit dem gen, das zu diesem Zeitpunkt schon völlig Wellblechdach „zu tanzen begannen“, erzählt überfüllt war. Notdürftig umwickelten frei sie. „Ich wachte auf, als das Dach einstürzte.“ willige Helfer mit Lappen den blutigen Un Ein Balken verletzte sie am Kopf und am Arm. terarm und die Hand, auf die herunterstür Die Narben sind noch immer sichtbar. Aber zende Betonbrocken gefallen waren. Ärzte die junge Frau konnte sich selbst befreien. Ihre gab es in diesem Hospital keine. beiden Kinder, die zweijährige Tochter und der vierjährige Sohn, konnten die Nachbarn unter Erst drei Tage später kam sie ins Gemein dem eingebrochenen Dach hervorziehen, auch dekrankenhaus Hospital Communitaire Haï- ihre beiden Geschwister blieben unverletzt. tienne an der östlichen Ausfallstraße von Pé „Wir haben alles verloren“, sagt die 24-jährige. APuZ 28–29/2010 3
Ihr Mann war am Katastrophentag wie im zwei Tage später auf dem Flugfeld des schwer mer wochentags in Port-au-Prince. Er arbei beschädigten Aéroport International Toussaint tete bei einer Behörde und kam nur am Wo Louverture. Die Erdschwingungen hatten die chenende seine Familie besuchen. Vergeblich Frontfassade von Prévals Amtssitzes einstür wählte sie immer wieder seine Handynum zen lassen, die Mittelkuppel war mehr als zehn mer, aber das gesamte Telekommunikations Meter in die Tiefe gerutscht. Die Fahnenstan netz des Landes war zusammengebrochen. ge auf dem Gebäude brach und die rot-blaue Erst drei Tage später kam eine Tante angereist übergroße Flagge mit dem Staatswappen und und brachte die traurige Nachricht: Ihr Mann dem Wahlspruch: „L’Union Fait La Force“ – war tot aus den Trümmern eines Gebäudes ge „Einheit macht Stark“ – lag danach schmutzig borgen worden. „Wie soll es weitergehen?“ Die und grau auf dem kurz geschnittenen Rasen Familie hat ihren Ernährer verloren, die weni des Staatspalastes. Wohin Préval auch schaute: gen Habseligkeiten, die sie ihr Eigen nannte, Überall bot sich ihm im Regierungsviertel ein sind unbrauchbar oder zerstört. Inzwischen Bild der Verwüstung. Auch seine Privatvilla ist sie bis über beide Ohren verschuldet. In ei oberhalb des Place Canapé Vert wurde weitge ner in der Nähe gelegenen kleinen Bude in der hend zerstört. „Ich kann weder im Palast noch Rue de la Comédie kann sie anschreiben las in meinem eigenen Haus wohnen“, sagte er in sen, wenn sie Reis, Bohnen, Öl und Gemüse einem ersten Interview mit dem US-amerika für das Mittagessen einkauft. „Aber für zehn nischen Nachrichtensender CNN einen Tag Tage bezahle ich zehn Prozent Zinsen.“ nach dem Erdbeben. Jetzt sitzt Doudline Casimir in einem Hin terhofkarree an der Komödienstraße und Viele Signale schaut mit einem unendlich traurigen Blick auf die Mauerreste ihres vier mal sechs Me Zuerst war es nur ein leichtes Rütteln, das die ter großen Hauses, schaut auf Regen durch Menschen in der haitianischen Hauptstadt weichte, angeschimmelte Matratzen, zerrisse und deren südlicher Umgebung aufschreck ne und verschmutzte Kleidung, zerbrochenes te, dann begann die Erde zu zittern, aber die Geschirr. Ein einfacher CD-Player ist zu Ka Erschütterung wurde schnell stärker, Wände bel- und Plastikmasse zusammengequetscht. begannen zu wackeln, Bäume schwangen ge „Es war kaum noch etwas brauchbar.“ fährlich hin und her. Die vertikalen und ho rizontalen Bewegungen ließen Stockwerke seitlich abrutschen, Stützsäulen knickten wie „Der Staub raubte mir die Sicht“ Streichhölzer ein. In Panik liefen Menschen laut schreiend auf die Straße. Der haitianische Staatspräsident René Préval befand sich am Unglücksdienstag noch in sei Innerhalb von nur 53 Sekunden, so lange nem Büro im östlichen Flügel des prächtigen dauerte das schwere Beben, das um 16.53 Uhr Palastes, der zwischen 1914 und 1921 erbaut Ortszeit (22.53 Uhr deutsche Zeit) begann, wurde. Fassade und Mittelkuppel orientieren war die haitianische Hauptstadt in weiten sich am Washingtoner Kapitol, an den Ecken Teilen dem Erdboden gleichgemacht. Die an erheben sich zwei weitere Kuppeln über dem der Südküste des Landes gelegene Hafenstadt westlichen und östlichen Flügel des Gebäudes. Jacmel mit ihren Arkadenhäusern aus dem Die hohen, doppelgeschossigen Fenster des 19. Jahrhundert, in der alles schon für den Arbeitszimmers sind aus schussfestem Pan weltberühmten Karneval gerüstet war, war zerglas und haben dem 67 Jahre alten Agrar tagelang nicht zu erreichen, weil die einzi wissenschaftler das Leben gerettet. Sie verhin ge Verbindungsstraße durch Erdrutsche blo derten, dass die Kuppeldecke auf ihn stürzte. ckiert war. Mehr als die Hälfte der Häuser in „Der Staub raubte mir die Sicht“, erzählte Pré der Innenstadt der „Perle der Karibik“, in der val später noch sichtlich erschüttert. „Es war es das erste Telefonnetz des Landes gab, wur ein Inferno. Ich musste über Leichen und Ver den schwer beschädigt und sind nicht mehr letzte klettern, um mir einen Weg zwischen bewohnbar. Gleiches gilt für Petit-Goâve, zusammengebrochenen Mauern und Decken westlich von Port-au-Prince. Und die Durch nach draußen zu bahnen. Unter den Trüm fahrtsstraße von Léogâne durchziehen brei mern schrien Menschen um Hilfe“, erzählte der te und tiefe Risse. Sie sind noch immer nicht greise Staatschef im Gespräch mit Journalisten repariert und erinnern auf eindringliche Art 4 APuZ 28–29/2010
an die zerstörerischen Kräfte, die eine solche leben, zog sich nach dem Beben eine staubi Erdverschiebung entwickelt. ge Schneise der Zerstörung – vom Meer hinauf bis nach Pétion Ville in den östlichen Anhöhen Die Stärke des furiosen Bebens gibt das der Stadt, von Cité Soleil am nordwestlichen United States Geological Survey (USGS) Erd Stadtrand bis nach Carrefour im Süden. Selbst bebenforschungszentrum in den USA mit 7,0 massive Betongebäude waren wie Kartenhäu auf der Momenten-Magnituden-Skala an. Das ser nach einem Windstoß in sich zusammen Epizentrum orteten die Geowissenschaft gestürzt. Noch tagelang gruben verzweifelte ler rund 25 Kilometer südwestlich von Port- Menschen mit den bloßen Händen nach Ver au-Prince in der Nähe der kleinen Ortschaft schütteten, qualmten Brandherde. Noch Wo Leógâne in einer Tiefe von rund 17 Kilome chen später wurden immer wieder Leichen aus tern. Ursache, so die Geologen, ist eine seit den Trümmern gezogen und am Straßenrand liche Verschiebung der Karibischen und der zum Abtransport abgelegt. Über der Stadt lag Nordamerikanischen Platten. Das Ausmaß noch einen Monat später der süßliche Leichen der Schäden vergleichen Experten mit der geruch. Und auch jetzt noch finden sich in den Zerstörungskraft zweier Atombomben von zerstörten Gebäuden, die abgetragen werden, der Stärke der Hiroshimabombe. Das Erdbe die Knochenreste Verstorbener. ben ist das schwerste in der Geschichte Hai tis, das sich die zweitgrößte Karibikinsel His Vor allem die Innenstadt der haitianischen paniola mit der Dominikanischen Republik Hauptstadt ist fast vollständig zerstört, das teilt. Über neun Millionen Menschen leben in Regierungsviertel im Zentrum rund um den dem 27 750 km² großen Land. Ayití, „Land der Champs de Mars ist eine einzige Steinwüste. Berge“, nannten es die Taíno-Ureinwohner. Die Finanz-, Erziehungs- und Justizministeri en sowie das Parlamentsgebäude, das Finanz- Das Beben kam nicht gänzlich unangemel und Katasteramt, die Post und die Stadtver det. Geologen, die im Jahr 2008 die unterirdi waltung sind nur noch eine Schutthalde. Auch schen Verwerfungen untersuchten, hatten vor die anderen Ministerien wurden so schwer in einem schweren Erdstoß gewarnt. Ihre Hoch Mitleidenschaft gezogen, dass sie ein Fall für rechnung: Aufgrund der vorhandenen tekto die Abrissbirne sind. In den Trümmern star nischen Spannungen, die sich seit dem Jahr ben unter anderem der Justizminister Paul 1751 aufgebaut haben, könnten diese sich in Denis und weitere hohe Funktionäre. Von der einem Einzelbeben von der Stärke von bis zu berühmten Maria Himmelfahrt-Kathedra 7,2 Magnituden entladen. „Es gab auch noch le der Stadt stehen nur noch die Grundmau andere Indizien für die Gefahr“, erläutert ern. Beim Einsturz wurde der Erzbischof von der ehemalige haitianische Gesundheitsmi Port-au-Prince, Joseph Serge Miot, getötet. nister Daniel Henrys. Der Wasserspiegel des Der pittoreske Marché en Fer mit seiner von Azueï-See, östlich von Port-au-Prince, der an Gustave Eiffel entworfenen Eisenhalle in der der haitianischen Grenze endet, und auch der Rue Travesière ist in sich zusammengekracht. des Lago Enriquillo auf der dominikanischen Aus dem schwer beschädigten Zentralgefäng Seite war seit dem Jahr 2008 um fast zwei Me nis konnten fast alle Gefangene entfliehen. ter angestiegen. „Das hängt mit der Verschie bung der Erdplatten zusammen. Es gab viele Auch das Hôtel Christopher, Verwaltungs Signale. Aber sie sind nicht beachtet worden“, zentrale und politisches Hauptquartier der sagte Henrys. Auch der haitianische Filme UN-Mission für die Stabilisierung in Haiti macher Arnold Antonin hatte vor den Gefah (Mission des Nations Unies pour la Stabilisa ren einer Katastrophe gewarnt und ein halbes tion en Haïti – MINUSTAH) stürzte ein. Fast Jahr davor mit Gleichgesinnten demonstriert, 200 Personen starben, darunter auch mindes damit endlich Vorsorgemaßnahmen ergriffen tens drei deutsche Staatsangehörige im Diens würden – niemand im Staats- und Regier ungs te der UN, die seit dem Jahr 2004 mit rund apparat interessierte sich für die Warnrufe. 7000 Soldaten aus 18 Ländern und 2000 Po lizisten aus 42 Ländern für Sicherheit in Haiti sorgen soll. In den Trümmern des fünfstöcki Staubige Schneise der Zerstörung gen MINUSTAH-Headquarters fanden der Missionschef, Hédi Annabi, sein Stellvertreter Durch Port-au-Prince, wo rund drei Millionen und auch der Chef der United Nations Police Menschen teilweise in riesigen Armenvierteln (UNPOL) den Tod. Außerdem starben füh APuZ 28–29/2010 5
Straßenszene in Port-au-Prince: Leben mit der Zerstörung © Herzau/laif rende Oppositionspolitiker wie der Sozialde Zahl der toten Schüler und Studenten gibt mokrat Michel Gaillard oder der Schriftsteller es keine offiziellen Angaben, sie dürfte nach Georges Anglade. Tausenden zu zählen sein. Der Schulunter richt musste bis Anfang April unterbrochen Die Bilanz der Naturkatastrophe ist verhee werden und noch immer reichen die not rend: Nach Angaben des Internationalen Ko dürftig errichteten Klassenräume nicht für mitees des Roten Kreuzes sind bis zu drei Mil die rund 350 000 Schülerinnen und Schüler. lionen Menschen direkt oder indirekt von dem Auch viele private und öffentliche Universi Erdbeben betroffen, dies entspricht einem Drit täten haben wegen Mangel an Unterrichts tel der Bevölkerung Haitis. Etwa 1,3 Millionen räumen ihren Betrieb noch nicht wieder voll Menschen wurden obdachlos, weil ihre Häuser ständig aufgenommen. – nach Angaben der haitianischen Regierung 97 294 – völlig zerstört sind oder so schwer in Zwischen 250 000 und 300 000 Menschen Mitleidenschaft gezogen wurden, dass sie ab starben, offiziell spricht die UN von 225 000 gerissen werden müssen. 800 000 Menschen Toten. Allerdings wurden in den ersten Tagen leben seit Mitte Januar in einem der über 800 Leichen in Massengräber beigesetzt, ohne provisorischen Lager, die in Port-au-Prince dass deren Daten registriert worden wären: und Umgebung auf fast jeder Freifläche ent Wer einen Leichnam fand, legte ihn an den standen sind. Innerhalb Haitis gibt es über eine Straßenrand, wo er vornehmlich nachts abge halbe Million sogenannte Internally Displaced holt und weggebracht wurde. Vor dem Hospi- People (IDP), Erdbebenopfer, die ihre ehemali tal Chirurgical de la Trinité im Stadtteil Bel- gen Unterkünfte aufgegeben haben und in ihre Air stapelten sich tagelang immer wieder neue Heimatgemeinden in den nördlichen, östlichen aufgedunsene leblose Körper auf dem Bürger und westlichen Provinzen vornehmlich bei steig, während ein paar Meter weiter auf der Verwandten untergekommen sind. Straße Schwerverletzte behandelt wurden. Wegen der Einsturzgefahr hatten Mitarbeiter Etwa 4000 Schulgebäude sind nicht mehr der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen nutzbar, 1300 tote Lehrerinnen und Lehrer eine Notaufnahme unter freiem Himmel für zählte das Erziehungsministerium. Über die die schlimmsten Fälle e ingerichtet. 6 APuZ 28–29/2010
Das „Kleine Nichts“ Komitees kümmern sich um Ordnung, Sauber keit und die Sicherheit der Menschen, das Geld Titanyen heißt die Savannenlandschaft nörd dafür kommt aus dem Cash-for-Work-Pro lich an der Landstraße nach Saint Marc. Sanf gramm einer US-Hilfsorganisation. Das Akti te kahl geholzte Hügel ziehen sich so weit das onskomitee bemüht sich außerdem im Kontakt Auge reichen kann gen Norden. Feldwege ver mit ausländischen Hilfsorganisationen Mat schwinden irgendwann zwischen den Erhe ratzen, Moskitonetze, Trink- und Brauchwas bungen. Menschen verirren sich kaum in das ser gerecht unter den Bedürftigen zu verteilen. „Kleine Nichts“, wie die deutsche Übersetzung Garküchen haben sich etabliert, in denen Frau des kreolischen Begriffs Titanyen lautet. Kein en wie Augustine Simone Reis mit Bohnen und Schild weist auf die riesigen Gräberareale, in eine Gemüsesoße, in der ein getrockneter He denen die Toten des Erdbebens vom 12. Janu ring mitgekocht wurde, für rund 1,50 Euro an ar beigesetzt wurden. Nur ein Kenner der Ge bieten. Ein Haarschnitt bei Rubens Pierre kos gend findet die versteckten Stellen, zu denen tet ebenfalls 1,50 Euro. Seine Geräte hat der in den Tagen nach dem Erdbeben ununterbro 28-jährige Friseur aus den Trümmern seines chen Lastwagen fuhren, um in eilig ausgeho Hauses gerettet. Die Elektrizität für den Ra benen Gruben ihre Leichenfracht zu entladen. sier- und Haarschneideapparat stammt aus ei Manche der Lastwagenfahrer aber kippten die nem provisorisch verlegten Kabel, die von einer Ladung einfach in ausgetrocknete Flussläufe Hauptleitung am Platz „abgezweigt“ wur in der Umgebung, die dann später eingeebnet de. Die Menschen haben aufgrund der Armut wurden. Ein großes weißes Kreuz markiert ei schon vorher gelernt zu improvisieren. Und nes der Massengräber in Savanne Bef. Dahinter wer schön sein will, der lässt sich im Freiluft- liegt ein ausgebleichter Schädel, in Schrittwei Nagelstudio von Nicole Alcime pflegen, das sie te finden sich Knochen und Schädelreste, die vor ihrem winzigen Unterschlupf aus dicker nicht vollständig von den Schaufelbaggern un Lkw-Plane aufgebaut hat: Nägel schneiden, tergegraben wurden. Ein paar hundert Meter feilen und lackieren kostet 2,50 Euro. Ein hal weiter sind dort grüne und weiße Metallkreu bes Dutzend Kinder haben in dieser Zeltstadt ze in den Erdboden gerammt worden, wo eine inzwischen das Licht der Welt erblickt – Alltag Leichenladung ihre letzte Ruhestätte fand. im monatelangen Provisorium. Die Lebenden müssen sich derzeit mit mise Die haitianische Regierung tagt derweil in rablen Bedingungen abfinden. 1600 Familien der Nähe des haitianischen Flughafens auf leben auf dem Place Saint Pierre im Zentrum dem Gelände einer Polizeistation. Eine Inte der Kleinstadt Pétion Ville, knapp zehn Ki rimskommission für den Wiederaufbau Haitis lometer in den Anhöhnen westlich von Port- (Commission Intérimaire pour la Reconstruc- au-Prince gelegen. Über dem Gelände zwi tion d‘Haïti – CIRH) hat den internationa schen Blumenmarkt, der Zentralkirche, dem len Geldgebern Ende März einen Plan für den Gefängnis und einem Hotel liegt ein imperti Wiederaufbau des Landes vorgelegt und dafür nenter Urin- und Fäkaliengeruch. 6000 Men finanzielle Zusagen in Höhe von 7,4 Milliar schen müssen sich die etwa ein Hektar große den Euro für die nächsten Jahre an Aufbauhil Fläche teilen – und vier Dixi-Klos sowie sechs fen bekommen. „Wir warten auf eine Entschei durch Zeltbahnen abgetrennte „Dusch“hüt dung der Regierung, was mit uns passiert, aber ten. Die Klos an der Platzseite zur Kirche niemand entscheidet etwas“, sagt Dorlain – und wurden wieder abgeholt, weil der Pfarrer der seine Äußerung ist stellvertretend für viele, die Gemeinde sich über den Gestank beschwert in den Hunderten von Obdachlosencamps le hatte. „Die Stadtverwaltung will uns wegha ben müssen. Bisher gibt es lediglich ein gro ben“, schimpft Junior Dorlain. „Sie versuchen ßes Lager außerhalb der Bebenregion, in dem die Lebensumstände für uns so unerträglich die Infrastruktur den Menschen ein halbwegs zu gestalten, dass die Leute ihr Notlager frei würdiges Leben ermöglicht. Aber kaum je willig aufgeben“, sagt der 29-jährige Vorsit mand will seinen Platz verlassen, um eine un zende des Comité Place-St.-Pierre en Action. gewisse Zukunft in einem Lager wie Corail- Cesselesse fernab der haitianischen Hauptstadt Aber es gibt keine Alternativen. „Wir sind in Croix des Bouquets zu verbringen. uns selbst überlassen“, sagt Dorlain. Bewohner der Zeltstadt kümmern sich um die Abfallbe Um das Stadtzentrum jedoch wieder auf seitigung. Täglich wird gekehrt, Freiwillige des bauen zu können, müssten die Menschen ge APuZ 28–29/2010 7
rade aus den provisorischen Lagern in Über decken und Steinwände, um die in sich zu gangssiedlungen mit ausreichender Sanitär-, sammengestürzten Gebäude in der Innen Wasserversorgung und Abfallentsorgung stadt so zu pulverisieren, dass nur noch die umgesiedelt werden, müsste gleichzeitig je Moniereisenskelette übrig sind. nen die Rückkehr auf die Grundstücke ga rantiert werden, auf denen ihre zerstörten Zwischen drei und fünf Gourdes pro Kilo Häuser standen – viele haben keine rechtlich gramm, nicht einmal zehn Eurocent, erhalten verbindlichen Besitztitel, und durch die Zer die Alteisensammler für das rostige Material. störung des Katasteramtes hat sich die Situ Margerita Laguere hat in der Straße der Wun ation noch verschlimmert. „Die Regierung der ihren fliegenden Ankauf errichtet. Eine diskutiert Pläne, wie mit dem Kataster und alte Hängewaage bedient einer ihrer Arbei den Besitzverhältnissen umgegangen werden ter. Zwei löchrige Säcke mit Schrott hat Lui kann und verwirft sie wieder. Sie müsste auch sel Jean den ganzen Tag über von den Trüm für Grenzfälle rechtliche Grundlagen schaf mergrundstücken zusammengesucht. Für die fen. Aber es gibt keine Entscheidungen“, er insgesamt 61 Kilo bekommt der 32 Jahre alte zürnt sich ein spanischer Bauingen ieur. Mann 200 Gourdes, umgerechnet vier Euro. „Trotz der drohenden Hurrikans tut die Re Auf 200 Gourdes ist auch der gesetzliche gierung so, als ob sie alle Zeit der Welt hätte. Mindestlohn in Haiti festgeschrieben. „Ein Ein unerträglicher Zynismus.“ gutes Geschäft“, versichert Margerita Lague re nachdem Jean gegangen ist. Sie verkauft Die Menschen in Haiti helfen sich derweil das Alteisen an einen Schrotthändler am selbst. Während am Präsidentenpalast Bauar Hafen, der es in die Schmelzen in den USA beiter mit schwerem Räumgerät die Ruinen transportieren lässt. Aber auch der vielfache niederreißen, schuften unter der schweißtrei Vater Jean ist mit seinen Einkommen zufrie benden Karibiksonne fünf Trümmerblocks den. „Damit komme ich einen Tag aus.“ weiter nördlich in der Rue des Miracles die haitianischen „Mauerspechte“ von Sonnen Laut hupend bahnen sich bunt bemalte Tap- aufgang bis -untergang. Männer schlagen mit Tap-Busse auf der Suche nach Passagieren ih Fäusteln und Vorschlaghämmern auf Beton ren Weg zwischen ambulanten Händlern hin Marktszene in Port-au-Prince: Einkaufen zwischen Trümmern © Herzau/laif 8 APuZ 28–29/2010
durch. Nicht jeder in Haiti hat das Busgeld von Waren anzubieten – das Problem war nur, 20 Cent. Es ist kaum ein Durchkommen in der dass die wenigsten das nötige Geld hatten. Rue du Centre, einer der Einkaufsstraßen der Das ist jetzt anders. Marktfrauen und Käu Stadt. Aber auch hier gibt es nur eingestürzte ferinnen auf dem Zentralmarkt an der Rue de Geschäfte. Männer graben sich mit einfachen l’Eglise feilschen lauthals um den Preis der Schippen und Schaufeln in den Schutt. Aus ei Bohnen und die Qualität der Mangos, wäh nem Loch reicht eine graue, wie gepudert wir rend im unteren Teil der Straße zehn Frauen kende Hand Stringtanga, die von zwei jungen und Männer mit gelben Bauhelmen auf dem Männern nach Brauchbarkeit sortiert wer Kopf und giftgrünen T-Shirts mit dem Logo den. „Irgendwas zum Verkaufen findet sich der DWHH eingestürzte Gebäude abtragen. immer“, sagt einer des Trios, die nicht gera de glücklich wirken, dabei beobachtet zu wer Eine dieser bezahlten Trümmerfrauen war den, wie sie sich die zurückgelassenen Waren auch Doudline Casimir. Zwei Wochen gehör aus einem fremden Gebäude an der Kreuzung te sie einer Abrisstruppe an. Gemeinsam mit von Zentralstraße und der Rue des Miracles Nachbarn half sie, Grundstücke in der Um aneignen. Auch in den anderen Stadtvierteln gebung der Komödienstraße vom Schutt frei dominieren „Betonspechte“ wie Jean François zuräumen. „Es war zwar eine schwere Arbeit, Frantz und seine sechs Kollegen das Bild. In aber auch Frauen können Steine schleppen der Rue Turgeau 108 sollen sie innerhalb von und Trümmern beseitigen“, sagt sie. Jetzt hel drei Wochen mit Vorschlaghämmern, Bolzen fen ihr andere Obdachlose. In zwei Tagen ha schneidern und Schaufeln für 800 Euro das ben sie die Hausruine der jungen Witwe nie zweigeschossige Haus zerlegen und abtragen. dergerissen und mit Schubkarren durch ein „Wenn es in dem Tempo weiter geht“, kom schmales Gassengewirr auf die Straße gefah mentiert ein Spötter einer deutschen Hilfsor ren. Auf der Freifläche stellt sie ein Zelt auf, ganisation, „dann wird das Abrissprogramm in dem ihre Mutter, die beiden Kinder und die noch Jahre in Anspruch nehmen.“ Geschwister wohnen können. „Wir sind froh, dass uns geholfen wird“, sagt Casimir. Ohne ausländische Hilfe könne die Stadtverwaltung Internationale Hilfsorganisationen der Küstenstadt, mit ihren rund 8000 Einwoh nern, das Abrissprogramm nicht finanzieren, Während in Port-au-Prince Hilfsorganisatio sagt der Sprecher des Bürgermeisters, Frantz nen wie die United States Agency for Interna- Pierre-Louis. „Wir koordinieren gemeinsam tional Development (USAID) Erdbebenopfer wo, wann und was abgerissen wird.“ vor allem bei der Abfallbeseitigung und der Straßenreinigung einsetzen und dafür den In Petit-Goâve tragen viele Gebäude das Mindestlohn auszahlen, beschäftigt die Deut- Kainsmal der Baufälligkeit: „A Demolir“ – sche Welthungerhilfe (DWHH) zum Beispiel „zum Abriss“ haben Vertreter der Stadtver in den Hafenstädten Petit-Goâve und Jacmel waltung mit roter Farbe auf die Mauern ge etwas über 1500 Obdachlose, die die Zerstö sprüht. Aber auch hier beschränken sich die rungen in den Städten beseitigen und, sobald Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen darauf, die die Wiederaufbaupläne von den nur schlep durch das Erdbeben geschädigten Häuser ab pend funktionierenden Baubehörden bewil zureißen. Die Phase des Aufbaus erdbebensi ligt sind, beim Bau von Behelfshäusern helfen cherer Unterkünfte hat noch nicht begonnen. sollen. Mit dem Beschäftigungsprogramm, Zwar gibt es internationale Standards dafür, so erklärt der Koordinator der DWHH für Bau- und Konstruktionspläne müssen jedoch die Nothilfe in Haiti, Rüdiger Ehrler, werde an die regionalen Gegebenheiten und Erfor den Betroffenen ein minimales Einkommen dernisse angepasst werden, betont Rüdiger garantiert. „Damit können sie Lebensmittel Ehrler. Bauingenieure und Wissenschaftler und andere Bedarfsgüter selbst kaufen.“ Da arbeiten daran. „Wenn wir die notwendigen durch werde die Kaufkraft gestärkt und tra Baugenehmigungen von der Bauaufsicht be ge zur Normalisierung des Wirtschaftslebens kommen und die Stadtverwaltung uns grünes in der Region bei. Auch wenn es kurz nach Licht gibt“, betont Rudi Kögler, Projektleiter dem Beben Engpässe bei der Versorgung von der Deutschen Welthungerhilfe in Petit-Goâ Grundnahrungsmitteln in Haiti gab, saßen ve, „könnten wir sofort loslegen.“ bereits wenige Tage nach dem Unglück die Marktfrauen wieder auf den Straßen, um ihre APuZ 28–29/2010 9
Jürgen Pohl lang, die Verschiebungsbeträge betrugen etwa fünf Meter.❙2 Hispaniola, mit Haiti im Westen Wiederaufbau nach und der Dominikanischen Republik im Osten der Insel, liegt mitten auf dieser tektonischen dem Erdbeben – Spannungszone und wurde seit dem Jahr 1564 schon über ein Dutzend mal von starken Erd beben erfasst (Tabelle 1). Perspektiven für Haiti Erdbeben entstehen durch plötzliche Freiset zung mechanischer Energie, die sich im Erdin A m 12. Januar 2010 ereignete sich einige Kilometer südwestlich der Hauptstadt Port-au-Prince ein Erdbeben mit der Stär neren akkumulierte. Sie führt an der Erdober fläche zu Bruch- und Versatzvorgängen, die wiederum Gestein aufbrechen bzw. verschie ke M 7,0 auf der Rich ben. Die Schadenswirkung von Erdbeben geht Jürgen Pohl terskala. Ihm folgten primär von der mechanischen Kraft der Bewe Dr. phil., geb. 1954; Professor mehr als zehn schwe gung an der Erdoberfläche aus. Das Schadens für Geographie an der Rhei- re Nachbeben.❙1 Dieses potenzial für materielle Sachgüter ist enorm. nischen Friedrich-Wilhelms- Erdbeben gilt als das Dabei sind sowohl Gewerbe- und Wohnge Universität Bonn, Geographi- stärkste in der gesam bäude wie auch Infrastruktureinrichtungen sches Institut, Meckenheimer ten karibischen Regi (wie Straßen, Energie- und Wasserversorgung) Allee 166, 53115 Bonn. on seit 200 Jahren. Mit betroffen, insbesondere Baukörper ohne aus pohl@geographie.uni-bonn.de einer Tiefe von etwa reichende antiseismische Armierung sind ge zehn Kilometern lag fährdet. Herabfallende Bauteile bedrohen das Hypozentrum, der Bebenherd, relativ nah dann Menschen und Tiere. In Haiti war dies an der Erdoberfläche. Ungefähr 20 Kilometer der größte Zerstörungsfaktor. Hinzu kommen westlich der Hauptstadt, bei Léogâne wurde Produktions- und Nutzungsausfälle durch un das Epizentrum lokalisiert (Abbildung 1). Al terbrochene Verkehrswege oder Ver- bzw. Ent lein Léogâne gilt als zu 80 Prozent zerstört. Für sorgungsleitungen. Bei großflächiger Zerstö die Metropolregion Port-au-Prince sind abso rung sind auch eine Versorgungsgefährdung lut gesehen die größten Schäden zu verzeich und der Ausbruch von Krankheiten denkbar. nen. Die Auswirkungen des Bebens waren je doch in allen Regionen Haitis zu s püren. Verlässliche Erdbebenvorhersage ist ein bis heute ungelöstes Forschungsproblem. Vor läuferphänomene sind nicht zu identifizie Haiti als Erdbebenregion ren, denn eine präzise Angabe von Ort, Zeit und Stärke im Vorfeld von Erdbeben ist nicht Gemessen werden Erdbeben geophysikalisch möglich. Schon im September 2008 allerdings auf der logarithmischen Richterskala, welche war in der Zeitung Le Matin Haiti ein Arti sich auf die Magnitude der Wellen bezieht, so kel mit der Überschrift „Gefahr einer Natur wie anhand der Mercalli-Skala, welche die In katastrophe“ erschienen. Geologen skizzier tensität der Einwirkung und damit den Grad ten dort die akute Gefährdungslage durch der Betroffenheit der Schutzgüter misst. Die ein starkes Erdbeben in der Region Port-au- Erdbebenauswirkung nach Mercalli traf Port- Prince. Sie verwiesen darauf, dass schon in au-Prince mit der Stärke X+. „X“ bedeutet auf den Jahren 1751 und 1770 die Stadt komplett der zwölfteiligen Skala „vernichtend“. Auch durch Erdbeben zerstört worden sei.❙3 Die dieser Wert verdeutlicht die enorme Schwe geringe seismische Aktivität in den vergange re des Erdbebens. Das Beben ist an der Kol nen Dekaden kann mit ein Grund dafür sein, lisionszone tektonischer Plattenränder ent dass sich Haiti so unzureichend auf ein mög standen. Die nordamerikanische Platte driftet liches neues Beben vorbereitet hat. nach Westen, die Karibische Platte nach Os ten. Sie bewegen sich somit gegenläufig, was ❙1 Vgl. Marc O. Eberhard et al., The MW 7.0 Haiti als Transformstörung bezeichnet wird. An der earthquake of January 12, 2010: USGS/EERI Ad vance Reconnaissance Team report, U. S. Geological Enriquillo-Verwerfung, einer der Störungs Survey Open-File Report 48, Reston/Virginia 2010. zonen, befindet sich auch das Epizentrum ❙2 Vgl. ebd., S. 4 f. des Erdbebens. Beim Beben vom 12. Januar ❙3 Vgl. „Im Totenhaus der Karibik“, in: Der Spiegel, waren die Bruchflächen bis zu 30 Kilometer Nr. 3 vom 18. 1. 2010, S. 76 ff. 10 APuZ 28–29/2010
Abbildung 1: Haiti CUBA Bebenstärke nach der Modifizierten Mercalliskala Atlantischer Ozean Île de la Tortue Bruchzone Epizentrum des Hauptbebens Port-de-Paix REPUBLIK Cap-Haïtien Epizentrum des Nachbebens 0 50 km Fort-Liberté Gonaïves HAITI Golf Hinche von Gonâve Saint-Marc DOMINIKANISCHE Enriquillo-Verwerfung Île de la Gonâve H I S PA N I O L A Îles Cayémite Jérémie Léogâne Miragoâne Port-au-Prince Jacmel Les Cayes Île-à-Vache Karibisches Meer Kartographie: Geographisches Institut der Universität Bonn. Quelle: U.S. Geological Survey, National Earthquake Information Center, 19. Januar 2010, Version 4. Schäden durch Naturkatastrophen konjunktureller Aufschwung und auch eine Verbesserung der allgemeinen Lebensbedin Erdbeben sind keineswegs die einzigen Na gungen zu verzeichnen war.❙4 Somit bedeute turgefahren, die Haiti bedrohen. Allein im te das Erdbeben einen enormen Dämpfer für Jahr 2008 war Haiti von vier schweren Hur eine zaghafte Aufwärtsbewegung. rikans betroffen. Das Erdbeben von 2010 sprengt allerdings alle bisher erfassten Di Etwa drei Millionen Einwohner sind di mensionen von Naturkatastrophen in Haiti rekt von dem Erdbeben betroffen, nach ak (Tabelle 2). Die Einwohner Haitis empfinden tuellen Schätzungen wurden bis zu 230 000 die Situation als umso tragischer, da innerhalb Menschen getötet und über 300 000 verletzt; der vergangenen drei Jahre eine Zunahme der 1,3 Millionen Haitianer wurden obdachlos.❙5 sozialen und politischen Stabilität sowie ein 500 000 Menschen haben das Katastrophen gebiet verlassen und suchten Zuflucht in den ländlich geprägten Regionen der Peripherie. Tabelle 1: Die stärksten Erdbeben auf Hispaniola Über 100 000 Wohngebäude wurden voll Jahr Magnitude (Richterskala) ständig zerstört, mehr als 200 000 wurden 1564 (2) 7+7 stark beschädigt. Etwa 1300 Bildungsein 1615 7 richtungen und mehr als 50 Krankenhäuser 1691 7 und Gesundheitszentren sind zerstört oder 1751 (2) 8 + 7,5 nur noch eingeschränkt nutzbar. Neben dem 1770 7,5 Flughafen war auch der wichtigste Hafen des Landes in Port-au-Prince aufgrund der Zer 1842 8 1887 (2) 7 + 7,75 1911 7,1 ❙4 Vgl. United Nations Office for the Coordination 1946 (3) 7 + 8,1 + 7,4 of Humanitarian Affairs, Haiti Earthquake Situation 2010 7,3 Report, Nr. 24, New York 2010. ❙5 Vgl. United States Agency for International Deve Quelle: Sergio Mora, Brief introductory note on earthqua lopment, Haiti. Earthquake Fact Sheet, Nr. 43, Wash ����� ke hazards in Haiti, Port-au-Prince 2010. ington, DC 2010. APuZ 28–29/2010 11
Tabelle 2: Die jüngsten Naturkatastrophen in Haiti Ereignis volkswirtschaftliche Schäden betroffene Personen Tote 2004 Hurrikans Jeanne und Noel 7 Prozent des BIP 300 000 5000 2007 Hurrikan Dean 2 Prozent des BIP 194 000 330 2008 Hurrikans Fay, Gustav, Hanna 15 Prozent des BIP 1 000 000 800 und Ike 2010 Erdbeben 100 Prozent des BIP 3 000 000 230 000 Quelle: United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, Haiti Flash Appeal, New York 2008; ders., Haiti Earthquake Situation Report, Nr. 32, New York 2010. störungen mittelfristig nicht funktionsfähig. von acht verschiedenen Themenbereichen er Zudem sind auch politische Institutionen be mittelt. Als vordringliche Aufgabe wird die troffen gewesen: Der Präsidentenpalast, das Unterbringung der 218 000 allein in Port Parlament, zahlreiche Gerichtsgebäude, die auPrince in Behelfsunterkünften lebenden meisten Ministerien und öffentlichen Ver Flüchtlinge in festen Behausungen genannt. waltungseinrichtungen wurden weitgehend zerstört. Der materielle Wert der zerstörten Infrastruktur wird auf 4,3 Milliarden US Rahmenbedingungen für Dollar geschätzt. Verluste von 3,6 Milliarden den Wiederaufbau und USDollar könnten durch die Auswirkungen des Bebens auf die Regionalwirtschaft ent Strukturbedingungen in Haiti stehen, beispielsweise durch Produktions ausfall, Arbeitsplatzverluste, erhöhte Pro Allein das Naturereignis „Erdbeben“ kann duktionskosten und fehlende Infrastruktur. noch nicht die Katastrophe erklären, wel Insgesamt werden Schäden in Höhe von 7,9 che sich in Haiti ereignet hat. Die besonders Milliarden Dollar bilanziert.❙6 Das entspricht hohe gesellschaftliche Verwundbarkeit (Vul etwa der Höhe des haitianischen Bruttoin nerabilität) Haitis vervielfacht das Ausmaß der landsproduktes (BIP) im Jahr 2009. Mehr als Katastrophe. Strukturell und langfristig be 70 Prozent der Schäden sind im privaten Sek ruht diese auf der schwierigen geschichtlichen tor entstanden. Als Folge des Bebens wird Entwicklung des Landes in den vergange ein Anstieg der Arbeitslosigkeit von über nen 200 Jahren. Als ein aktueller Hauptfaktor 8,5 Prozent prognostiziert. Dabei gelten die kann auch die fehlgeleitete oder nicht vorhan Sektoren Tourismus, Kommunikation, Han dene Stadt und Regionalentwicklungspla del und Logistik als besonders betroffen. nung angesehen werden. Mehr als 40 Prozent der Bevölkerung, zwei Drittel des Bruttoin Der Wiederaufbau wird mit hohen finan landsprodukts und 85 Prozent der Steuerein ziellen Belastungen verbunden sein. Von der nahmen konzentrieren sich auf die Metropol haitianischen Regierung wird ein Gesamtbe region PortauPrince.❙8 Haitis hohe städtische darf an finanziellen Mitteln von 11,5 Milliar Bevölkerungsdichte, gekoppelt mit der Ver den USDollar prognostiziert. Dieser setzt breitung von Gebäuden, welche die Konstruk sich wie folgt zusammen:❙7 48 Prozent für den tionsanforderungen gegenüber Erdbeben nicht Sozialsektor, 17 Prozent für Infrastruktur, erfüllen, sowie die allgemeine Fragilität der In 15 Prozent für Umwelt und Risiko bzw. Ka frastruktur erhöhten ebenfalls die Vulnerabili tastrophenmanagement, 9 Prozent im Pro tät. Zudem wurde die Unerfahrenheit im Risi duktionssektor, 7 Prozent Regierung/Staat komanagement deutlich, denn die haitianische und 4 Prozent Sonstiges (wie direkte Stüt Regierung war unter anderem durch das Feh zung des Arbeitsmarktes). Der Bedarf wur len und den Verlust von Personal und Gerät de dabei über eine Schätzung in Teilbereichen mit den organisatorischen Abläufen überfor dert und gerade in den ersten Wochen nach der Katastrophe nahezu handlungsunfähig. ❙6 Vgl. Eduardo Cavallo, Estimating the direct eco nomic damage of the earthquake in Haiti, IDB Wor king Paper Series, Nr. 163, Washington, DC 2010. ❙8 Vgl. Ministry of Economy and Finance, The Chal ❙7 Vgl. Government of the Republic of Haiti, Haiti lenge of Economic Reconstruction in Haiti. Integra Earthquake PDNA, Assessment of damage, losses, ted strategic framework for the short, medium and general and sectoral needs, PortauPrince 2010. long term, PortauPrince 2010. 12 APuZ 28–29/2010
Die Verwundbarkeit Haitis ist auch aus an Gerade in unterentwickelten Ländern bewe deren Gründen groß. So ist Haitis ökologische gen meist erst schwere Katastrophen Gesell Lage geradezu prekär. In Haiti ist der Prozess schaft und Regierung dazu, Institutionen und der Entwaldung so weit fortgeschritten, dass Instrumente zum Risikomanagement zu eta nur noch zwei Prozent der Landoberfläche von blieren. Mit zunehmender zeitlicher Distanz Wäldern bedeckt ist – damit wird das Risiko zur Katastrophe lässt dieser Wille allerdings für die ohnehin für Überflutungen anfällige oft wieder nach. Aus einer langfristigen, pla Metropolregion Port-au-Prince erhöht. Zu nerischen Perspektive heraus kann das Beben sätzlich zu dieser environmental vulnerabili- dazu genutzt werden, um ein größeres öffent ty sind auch gesellschaftliche Faktoren, politi liches und politisches Bewusstsein für Natur sche Instabilität sowie rasch voranschreitende risiken und deren Folgen bzw. der Bedeutung Urbanisierung zu nennen; hierdurch werden umfassender Vorsorgemaßnahmen zur Risi die Katastrophenauswirkungen, die soziale kominimierung zu schaffen. Dabei ist die Re Vulnerabilität, weiter verschärft. duktion des Risikos künftiger Katastrophen als integraler Bestandteil der Wiederaufbau Schon vor dem Beben mussten zwei Drittel planung zu bezeichnen. Das Leitbild building der haitianischen Bevölkerung von weniger back better impliziert, dass nicht der Status als zwei US-Dollar am Tag leben, 80 Prozent quo ante das Kernziel sein sollte, sondern eine gelten als unterernährt. Die Hälfte der Ein Verringerung der Vulnerabilität im Kontext wohner Haitis ist jünger als 18 Jahre.❙9 Alle von Katastrophen anzustreben ist. In zahlrei Indikatoren zum sozialen und wirtschaftli chen Fällen konzentriert sich die Wiederauf chen Entwicklungsstand wiesen Haiti schon bauhilfe jedoch zu sehr auf unmittelbare hu vor der Katastrophe als failed state aus, als manitäre und monetäre Hilfe und nicht auf die gescheiterten Staat. Durch das Beben wur Veränderung der Rahmenbedingungen, wel den bestehende Missstände noch verschärft, che die Katastrophe eine entsprechend starke allein der Zugang zu Nahrungsmitteln und Wirkung entfalten ließen. Neben der Rekon sauberem Trinkwasser kam zeitweise völlig struktion der materiellen Infrastruktur gilt es zum Erliegen. Da mit Port-au-Prince das so aber vor allem, auch die individuellen liveli- ziale, kulturelle, ökonomische und politisch- hoods wiederherzustellen, welche eine nach administrative Zentrum Haitis am stärksten haltige Existenzsicherung ermöglichen. von den Auswirkungen der Katastrophe be troffen ist, war der Effekt auf den öffentlichen Für eine Wiederaufbauplanung ist die Pro und privaten Sektor, aber auch auf die institu blemlage in Haiti sehr komplex und mit gro tionellen Kapazitäten, bedeutend größer. ßen Unsicherheiten behaftet. Allein durch den massiven Umfang an Personen- und Sachschä den sind Wiederaufbaustrategien und deren Planungsstrategien Perspektiven differenziert abzuwägen. Schon zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist abzusehen, Die Handlungsfähigkeit der Regierung und dass die Aufmerksamkeit, welche Haiti durch die Funktionsfähigkeit der sozialen Infra die Naturkatastrophe erlangt hat, die lang struktur wurden durch den Verlust von Per fristige Entwicklung des Staates beeinflussen sonal und Einrichtungen stark beeinträchtigt. wird. Dabei muss die Hilfe einen realistischen Die Verluste von Krankenhäusern, Polizei zeitlichen Rahmen einnehmen. Wiederauf wachen, Schulen, Universitäten, Ministeri bauhilfe muss mehr als eine Reaktion, „ein Re en und Kirchen hemmen die Bemühungen flex auf die Notsituation“ sein, sondern auch um Soforthilfe, Sicherheit und Wiederauf soziodemographische und raumstrukturel bau. Außerdem erschwerten die Zerstörung le Charakteristika mit einbeziehen und akti des UN-Hauptquartiers und der Verlust der ve Prävention durchsetzen.❙10 Die Einbindung Führungsebene der UN-Stabilisierungsmis der lokalen Bevölkerung beim Planungs- und sion (United Nations Stabilization Mission in Entscheidungsprozess ist dabei von großer Haiti, MINUSTAH) die Koordination der Hilfsmaßnahmen in besonderer Form. ❙10 Vgl. Robert Geipel/Jürgen Pohl/Rudolf Stagl, Chancen, Probleme und Konsequenzen des Wieder ❙9 Vgl. L’Enquête sur les Conditions de Vie en Haïti aufbaus nach einer Katastrophe. Eine Langzeitunter (ECVH), Chapitre 2: Population, ménages et famil suchung des Erdbebens im Friaul von 1976–1988, in: les, Port-au-Prince 2003. Münchner Geographische Hefte, (1988) 49, S. 154. APuZ 28–29/2010 13
Bedeutung, insbesondere bei Vorbereitung Abbildung 2: Kreislauf des Risikomanagements und Evaluation der Hilfsmaßnahmen. Wiederaufbau Flächenvorsorge Katastrophenzyklus Aufbauhilfe Bauvorsorge G und Wiederaufbauphasen Ä LT I G U N VO recovery mitigation Informationsvorsorge RS O RGE In der Risikoforschung werden verschiede response preparation EW ne Phasen im Zusammenhang eines kata Hilfe für die Betroffenen Verhaltensvorsorge B strophalen Ereignisses unterschieden: prepa- ration (Vorbereitung), response (Reaktion), Katastrophenabwehr Vorhaltung und Vorbereitung des Katastrophenschutzes recovery (Erholung) und mitigation (Vorsor Ereignis ge) (Abbildung 2). Quelle: Eigene Darstellung. Da Übergänge zwischen den einzelnen Phasen nicht eindeutig zu identifizieren sind, wird das Risiko- bzw. Katastrophenmanage der Phase des Wiederaufbaus eine Basis für ment als Kreislauf dargestellt, welcher durch die Reorganisation darstellen.❙11 Schon in die die Katastrophe als zentrales Ereignis aus ser Phase ist es nötig, Ziele und Planungen gelöst wird. Die im Kreislaufmodell darge für neue Entwicklungsstrategien festzuset stellten Prozesse laufen auf unterschiedlichen zen. Zudem sollten Handlungsanweisungen zeitlichen und räumlichen Skalen ab. Im Sin für die Neuverteilung der „vertriebenen“ Be ne einer aktiven Prävention würde der Zyk lus völkerung etabliert werden, um die intraregi idealerweise vor der eigentlichen Katastro onale Migration zu lenken. Die zweite Phase phe beginnen. Nach einer Faustformel wer des Wiederaufbaus wird in Haiti voraussicht den vier Phasen des Wiederaufbaus in der Pla lich wesentlich länger andauern als die häufig nung unterschieden, die im Prinzip ebenfalls postulierten 20 Wochen. zeitlich gesehen aufeinander folgen. Sie lassen sich grundsätzlich auch auf Haiti übertragen. Wiederaufbau I: Diese erste „Realisie rungsphase“ (Implementationsphase) um Die unmittelbare Nothilfe (etwa 2 Wo fasst in der Regel eine Zeitspanne von bis zu chen): Sie ist als erste Phase gekennzeichnet zwei Jahren nach der Katastrophe. Innerhalb durch die Bergung der Toten, Rettung der dieser Phase sollten Projekte initiiert wer Verletzten und Bedrohten, Versorgung mit den, welche Anreize für private Investitionen Lebensmitteln und Trinkwasser sowie medi für Haitis ökonomische Entwicklung bieten, zinische Nothilfe, die Errichtung von Not verbunden auch mit rechtlichen Rahmenbe unterkünften und die Aufrechterhaltung der dingungen, welche Missbrauch unterbinden. Sicherheit – gerade im Bezug auf Plünderun Private Investitionen in die Volkswirtschaft gen und Kinderhandel. Die Schwere der Ka Haitis sowie der Sozialsektor bilden die Ba tastrophe in Haiti wird unter anderem daran sis für den Wiederaufbau. Neben den finanzi sichtbar, dass diese Phase dort deutlich län ellen Zusagen der Geberländer muss der Pri ger dauerte. vatsektor unterstützt werden, damit dieser weiterhin die Stütze der Wirtschaft bleiben Die Wiederherstellung provisorischer Le kann. Allein für diese Phase, die ersten zwei bensverhältnisse (etwa 20 Wochen): Hier Jahre, sind 3,1 Milliarden US-Dollar zugesi geht es in erster Linie darum, Unterkünfte chert. Mit mehr als 1,2 Milliarden US-Dol für Obdachlose zu schaffen, den Zugang zu lar tragen private Akteure wie Privatperso Bildungseinrichtungen zu ermöglichen so nen und Nichtregierungsorganisationen fast wie in der Karibik die Vorbereitung auf die 40 Prozent des bisherigen finanziellen Sofort Hurrikansaison im Sommer zu initiieren. hilfevolumens. Die USA stellen mit über ei Ein weiteres Ziel für Haiti ist die Wiederher ner Milliarde US-Dollar etwa ein Drittel der stellung des wirtschaftlichen Lebens, vor al finanziellen Hilfe und nehmen zudem bei der lem durch ein ausreichendes Arbeitsplatzan Koordination der Hilfsmaßnahmen eine zen gebot. Dabei gilt es auch, den Finanzsektor trale Rolle ein. Deutschland beteiligt sich mit wieder zu stabilisieren und den Zugang zu Krediten zu gewährleisten, welche gerade in ❙11 Vgl. E. Cavallo (Anm. 6), S. 17. 14 APuZ 28–29/2010
fast 24 Millionen US-Dollar.❙12 In der dritten den. Mechanismen und Instrumente einer Phase müssen die Chancen zur Veränderung, finanziellen Risikoverteilung, zum Beispiel das window of opportunity genutzt werden, über Katastrophenfonds oder Versicherun um strukturelle Veränderungen einzuleiten. gen, fehlen oder sind unzureichend ausge prägt, wobei angesichts des hohen Risikos in Wiederaufbau II: Die Entwicklungspha Haiti Grenzen für die Einsetzbarkeit dieses se zur Verwirklichung der Wiederaufbaupla Instruments abzusehen sind. nung, welche einen langen Zeitraum umfasst und die gerne als Dekade anschaulich ge Eine integrierte Regionalentwicklung: Die macht wird, innerhalb derer die wesentlichen außerordentliche Bedeutung der Metropolre Ziele für den Wiederaufbau realisiert werden gion Port-au-Prince wurde bereits erläutert. können, hat das Ziel, eine langfristig positive Vor dem Hintergrund der monozentrischen Entwicklung in Haiti anzustoßen. Optimis Struktur Haitis wurden die ökonomischen ten hoffen, dass sich Haiti binnen zehn Jah Potenziale der ländlichen Regionen nur unzu ren als aufstrebendes Land, als Schwellen reichend ausgeschöpft. Durch die Neuvertei land, etablieren könnte. lung der Bevölkerung als Folge des Erdbebens eröffnen sich Chancen für neue, dezentrale Aus Sicht der Katastrophenvorsorge liegt Wachstumspole fernab von Port-au-Prince. der Fokus auf der mitigation, dem Ziel, das zu Als Ziel könnte eine polyzentrische, gestuf künftige Risiko zu reduzieren. Dazu zählen: te Regionalentwicklung angestrebt werden. Die Katastrophe kann also als Entwicklungs Eine Standardisierung und Anpassung der impuls und Katalysator für Modernisierung Bauweise: Die defizitären Baustrukturen wa dienen. Diese Ziele und Instrumente sind ren Ursache für die meisten Todesfälle im zum großen Teil im Haitiplan dargestellt. Umfeld der Katastrophe. Die Erstellung bzw. Überwachung von Bauvorschriften muss durchgesetzt werden, um die gravierenden Der Haitiplan Folgen der Erdbeben zu verringern und „erd bebensicher“ zu bauen. Zur Prävention zäh Die haitianische Regierung hat sich in ihrem len auch der Aufbau einer Forschungsstelle Action Plan zum Ziel gesetzt, die Katastro zur Analyse, Bewertung und Warnung bei phe von 2010 als Gelegenheit dafür zu nut Risiken sowie das Vorbereiten von Katastro zen, Haiti bis zum Jahr 2030 als aufstreben phen- und Einsatzplänen. Ursachen des Risi des Land zu positionieren. Verbunden wird kos und geeignete Reaktionen darauf können dieses Ziel mit der Vision eines gerechten, durch Informationen und Handlungsanwei gleichberechtigten und vereinten Zusam sungen für die betroffene Bevölkerung sowie menlebens im Einklang mit Natur und Kul die Ausweisung von in besonderer Weise ge tur. Zudem soll eine Gesellschaft entstehen, fährdeten Gebieten angegangen werden. die durch Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfrei heit, bewusste Landnutzung, aber auch eine Eine Beschränkung der Bodennutzung, modernisierte, diversifizierte, dynamische ihre Überprüfung und eventuelle Umnut und konkurrenzfähige Wirtschaft charak zung: Ausuferndes Siedlungswachstum und terisiert ist.❙13 Folgende weitere Wiederauf der damit einhergehende Anstieg der Be bauziele werden im Entwurf der Regierung völkerungsdichte müssen durch rechtliche skizziert:❙14 Maßnahmen wie etwa die Beschränkung der Land- und Bodennutzung unterbunden wer • Schaffung von Zugang zu einem gerechten, den. Gefahrenräume müssen identifiziert und dezentralen und angepassten System für deren Nutzung limitiert werden. Zudem soll Grundversorgung (Bildung, Gesundheit, ten Möglichkeiten zur Verbesserung des Ver Information, Sport, Sicherheit), insbeson sicherungsschutzes in Betracht gezogen wer dere für Frauen und Kinder; ❙12 Vgl. United Nations Office for the Coordinati ❙13 Vgl. Government of the Republic of Haiti, Action on of Humanitarian Affairs, Haiti Earthquake Si plan for national recovery and development of Haiti. tuation Report, Nr. 32, New York 2010. Das aktu Immediate key initiatives for the future, Port-au- elle Spendenvolumen ist unter www.reliefweb.int/fts Prince 2010, S. 39 ff. (30. 5. 2010) abrufbar. ❙14 Vgl. ebd., S. 21 ff. APuZ 28–29/2010 15
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