APUZAUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE

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APUZAUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE
APuZ
Aus Politik und Zeitgeschichte
                              28–29/2010 · 12. Juli 2010

                                                Haiti
                                 Hans-Ulrich Dillmann
   Als die Möbel „zu tanzen begannen“ – Szenen aus Haiti

                                            Jürgen Pohl
 Wiederaufbau nach dem Erdbeben – Perspektiven für Haiti

                                           Oliver Gliech
    Die „erste schwarze Republik“ und ihr koloniales Erbe

                                            Sonja Norgall
                         Voodoo für das haitianische Volk

                                        Julia Schünemann
             Die Zerbrechlichkeit des haitianischen Staates

                                        Klaus Lengefeld
              Nachhaltige Entwicklung durch Tourismus?

                                    John Miller Beauvoir
                Herausforderungen für die Jugend in Haiti
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Editorial
  Beim Erdbeben der Stärke 7,0 im Januar 2010 in Haiti starben
etwa 250 000 Menschen, über 300 000 wurden zum Teil schwer
verletzt, 1,3 Millionen wurden obdachlos und 600 000 zu Bin­
nenflüchtlingen. Lokale Wirtschaftsstrukturen wurden fast völ­
lig zerstört. Trotz jahrelanger Warnungen vor einem schweren
Beben, gab es keine Bauauflagen zur Erdbebensicherheit und
keinen funktionierenden Zivilschutz.

   Die Folgen des Erdbebens wurden durch strukturelle Defizi­
te wie der eingeschränkten Handlungsfähigkeit der Regierung,
einer weit verbreiteten Korruption sowie ineffizienten Verwal­
tung verschärft. Sie erhöhten die Verwundbarkeit des Karibik­
staates, der ohnehin unter großen sozialen Gegensätzen und
chronischer Armut leidet: Haiti, das sich nach der Unabhängig­
keit von Frankreich 1804 ein Jahrhundert lang von der Koloni­
almacht „freizukaufen“ hatte, galt bereits vor dem verheerenden
Beben als das ärmste Land Amerikas. Den Wiederaufbaupro­
zess weiter erschwerende Strukturmerkmale sind eine Unterent­
wicklung der Zivilgesellschaft sowie eine starke Neigung der po­
litischen Entscheidungsträger zu autoritärer Politikgestaltung:
Im April 2010 verhängte Präsident René Préval den Ausnahme­
zustand, er kann nun 18 Monate lang per Dekret regieren. Die
für dieses Jahr geplanten Kommunal-, Parlaments- und Präsi­
dentschaftswahlen wurden auf unbestimmte Zeit verschoben.

  Vor diesem Hintergrund wird der langwierige Wiederaufbau
von internationalen Akteuren dominiert. Zwar verpflichtete
sich die haitianische Regierung dazu, über die Verwendung der
internationalen Hilfsgelder Rechenschaft abzulegen. Doch kri­
tisieren Nichtregierungsorganisationen, nicht in den Wieder­
aufbauprozess des eigenen Landes eingebunden zu sein. Damit
dieser zu einer Chance für einen Neubeginn wird, gilt es, eine
dauerhafte Abhängigkeit Haitis von ausländischen Gebern zu
vermeiden und stattdessen die Handlungsfähigkeit des Staates
sowie der Zivilgesellschaft zu stärken.

                                                  Asiye Öztürk
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Hans-Ulrich Dillmann              tion Ville in fachmännische Behandlung – zu
                                                            spät. Die offene Wunde war bereits durch
       Als die Möbel „zu                                    Schmutz schwer entzündet. Wundbrand diag­
                                                            nostizierte der französische Arzt, der als Not­

     tanzen begannen“ –                                     helfer in die Katastrophenregion eingeflogen
                                                            worden war. „Der Arm muss amputiert wer­
                                                            den oder du stirbst“, versuchte der Mediziner
        Szenen aus Haiti                                    ihr die lebensbedrohliche Situation klar zu
                                                            machen. „Was sollte ich machen?“ In der Mit­
                                                            te zwischen Ellbogen und Handgelenk durch­

        M        aritana Desir ist auch Monate danach
                 noch die Angst und die Panik anzu­
           merken. Stockend erzählt sie von dem schwe­
                                                            trennte der Arzt Elle und Speiche. Und so wie
                                                            Maritana Desir mit einem amputierten Arm
                                                            leben muss, so gibt es seit dem Erdbeben weit
                                    ren Erdbeben, dass am   über 10 000 Menschen mit Behinderung, die
            Hans-Ulrich Dillmann 12. Januar dieses Jah­     künftig auf Geh- oder Greifhilfen angewie­
Geb. 1951; lebt in der Dominika- res die haitianische       sen sind. „Manchmal greife ich noch nach et­
 nischen Republik und berichtet Hauptstadt Port-au-         was und merke erst dann, dass ich keine rech­
  unter anderem für „die tages- Prince und deren Um­        te Hand mehr besitze“, sagt Desir. Die Wunde
zeitung“, „Jüdische Allgemeine“ gebung erschütterte:        ist inzwischen zu einer schmalen Narben ver­
 und Rundfunkanstalten. Er ver- „Ich stand mit einer        heilt. Aber der Phantomschmerz stört sie noch
  öffentlichte 2009 mit Susanne Nachbarin vor meinem        immer, der Armstumpf ist druckempfindlich.
     Heim „Fluchtpunkt Karibik – Haus, als plötzlich al­    Zwar wurde sie zeitweise in einer Ambulanz
      Jüdische Emigranten in der les anfing, zu schwan­     von Ärzte ohne Grenzen betreut, aber die
   ­Dominikanischen Republik“. ken. Der Boden hob           Nothelfer sind wieder abgerückt, eine Reha-
            hudillmann@aol.com und senkte sich.“ Mit        Behandlung ist nicht in Sicht.
             www.hudillmann.de lautem Knall stürzten
                                    Wände in die schmale       Ihr Einzimmerhaus an einem Steilhang
           Gasse, prasselten Steine auf sie nieder. Men­    in Nerette, einem Armenviertel von ­Pétion
           schen schrien wie von Sinnen. Sie versuchte      ­Ville, ist nicht mehr bewohnbar. Ande­
           wegzulaufen. „Es war wie am Jüngsten Tag.         re, mehrstöckige Häuser haben es unter ih­
           Ich dachte, die Welt geht unter.“ Dann spürte     ren Be­ton­decken und Steinen begraben. Jetzt
           die 27-jährige alleinstehende Mutter des zwei­    wohnt die junge Frau gemeinsam mit ihrem
           jährigen Luis-Fred einen Schlag und verlor das    Sohn, den Nachbarn während ihres Kran­
           Bewusstsein. „Ich erinnere mich nur noch,         kenhausaufenthalts versorgten, in einem pro­
           dass um mich herum alles voller Staub war.“       visorischen Obdachlosencamp.

           Als Maritana Desir Stunden später im
         Krankenhaus Centre Eliazar Jermair wieder                                         Doudline Casimir
         aus ihrer Ohnmacht aufwachte, lag sie auf ei­
         ner provisorischen Liege auf dem Fußboden,         Knapp 130 Kilometer südlich in der Hafen­
         ihr Körper und das Gesicht blutverschmiert.        stadt Jacmel lag Doudline Casimir auf ih­
         Um sie herum war ein einziges Stöhnen und          rem Bett und schlief. Zwei Zimmer bewohnte
         Schreien. „Ich werde das mein Lebtag nicht         sie mit ihrem Mann und den beiden Kindern.
         vergessen“, sagt Desir. Nachbarn hatten die        Auch zwei Geschwister lebten dort. Sie habe
         ohnmächtige junge Frau aus den Trümmern            kaum wahrgenommen, dass die wenigen Mö­
         gezogen und ins Gesundheitszentrum getra­          bel in der ärmlich eingerichteten Hütte mit dem
         gen, das zu diesem Zeitpunkt schon völlig          Wellblechdach „zu tanzen begannen“, erzählt
         überfüllt war. Notdürftig umwickelten frei­        sie. „Ich wachte auf, als das Dach einstürzte.“
         willige Helfer mit Lappen den blutigen Un­         Ein Balken verletzte sie am Kopf und am Arm.
         terarm und die Hand, auf die herunterstür­         Die Narben sind noch immer sichtbar. Aber
         zende Betonbrocken gefallen waren. Ärzte           die junge Frau konnte sich selbst befreien. Ihre
         gab es in diesem Hospital keine.                   beiden Kinder, die zweijährige Tochter und der
                                                            vierjährige Sohn, konnten die Nachbarn unter
            Erst drei Tage später kam sie ins Gemein­       dem eingebrochenen Dach hervorziehen, auch
         dekrankenhaus Hospital Communitaire Haï-           ihre beiden Geschwister blieben unverletzt.
         tienne an der östlichen Ausfallstraße von Pé­      „Wir haben alles verloren“, sagt die 24-jährige.

                                                                                          APuZ 28–29/2010      3
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Ihr Mann war am Katastrophentag wie im­         zwei Tage später auf dem Flugfeld des schwer­
       mer wochentags in Port-au-Prince. Er arbei­        beschädigten Aéroport International Toussaint
       tete bei einer Behörde und kam nur am Wo­          Louverture. Die Erdschwingungen hatten die
       chenende seine Familie besuchen. Vergeblich        Frontfassade von Prévals Amtssitzes einstür­
       wählte sie immer wieder seine Handynum­            zen lassen, die Mittelkuppel war mehr als zehn
       mer, aber das gesamte Telekommunikations­          Meter in die Tiefe gerutscht. Die Fahnenstan­
       netz des Landes war zusammengebrochen.             ge auf dem Gebäude brach und die rot-blaue
       Erst drei Tage später kam eine Tante angereist     übergroße Flagge mit dem Staatswappen und
       und brachte die traurige Nachricht: Ihr Mann       dem Wahlspruch: „L’Union Fait La Force“ –
       war tot aus den Trümmern eines Gebäudes ge­        „Einheit macht Stark“ – lag danach schmutzig
       borgen worden. „Wie soll es weitergehen?“ Die      und grau auf dem kurz geschnittenen Rasen
       Familie hat ihren Ernährer verloren, die weni­     des Staatspalastes. Wohin Préval auch schaute:
       gen Habseligkeiten, die sie ihr Eigen nannte,      Überall bot sich ihm im Regierungsviertel ein
       sind unbrauchbar oder zerstört. Inzwischen         Bild der Verwüstung. Auch seine Privatvilla
       ist sie bis über beide Ohren verschuldet. In ei­   oberhalb des Place Canapé Vert wurde weitge­
       ner in der Nähe gelegenen kleinen Bude in der      hend zerstört. „Ich kann weder im Palast noch
       Rue de la Comédie kann sie anschreiben las­        in meinem eigenen Haus wohnen“, sagte er in
       sen, wenn sie Reis, Bohnen, Öl und Gemüse          einem ersten Interview mit dem US-amerika­
       für das Mittagessen einkauft. „Aber für zehn       nischen Nachrichtensender CNN einen Tag
       Tage bezahle ich zehn Prozent Zinsen.“             nach dem Erdbeben.

         Jetzt sitzt Doudline Casimir in einem Hin­
       terhofkarree an der Komödienstraße und                                                   Viele Signale
       schaut mit einem unendlich traurigen Blick
       auf die Mauerreste ihres vier mal sechs Me­        Zuerst war es nur ein leichtes Rütteln, das die
       ter großen Hauses, schaut auf Regen durch­         Menschen in der haitianischen Hauptstadt
       weichte, angeschimmelte Matratzen, zerrisse­       und deren südlicher Umgebung aufschreck­
       ne und verschmutzte Kleidung, zerbrochenes         te, dann begann die Erde zu zittern, aber die
       Geschirr. Ein einfacher CD-Player ist zu Ka­       Erschütterung wurde schnell stärker, Wände
       bel- und Plastikmasse zusammengequetscht.          begannen zu wackeln, Bäume schwangen ge­
       „Es war kaum noch etwas brauchbar.“                fährlich hin und her. Die vertikalen und ho­
                                                          rizontalen Bewegungen ließen Stockwerke
                                                          seitlich abrutschen, Stützsäulen knickten wie
„Der Staub raubte mir die Sicht“                          Streichhölzer ein. In Panik liefen Menschen
                                                          laut schreiend auf die Straße.
       Der haitianische Staatspräsident René Préval
       befand sich am Unglücksdienstag noch in sei­         Innerhalb von nur 53 Sekunden, so lange
       nem Büro im östlichen Flügel des prächtigen        dauerte das schwere Beben, das um 16.53 Uhr
       Palastes, der zwischen 1914 und 1921 erbaut        Ortszeit (22.53 Uhr deutsche Zeit) begann,
       wurde. Fassade und Mittelkuppel orientieren        war die haitianische Hauptstadt in weiten
       sich am Washingtoner Kapitol, an den Ecken         Teilen dem Erdboden gleichgemacht. Die an
       erheben sich zwei weitere Kuppeln über dem         der Südküste des Landes gelegene Hafenstadt
       westlichen und östlichen Flügel des Gebäudes.      Jacmel mit ihren Arkadenhäusern aus dem
       Die hohen, doppelgeschossigen Fenster des          19. Jahrhundert, in der alles schon für den
       Arbeitszimmers sind aus schussfestem Pan­          weltberühmten Karneval gerüstet war, war
       zerglas und haben dem 67 Jahre alten Agrar­        tagelang nicht zu erreichen, weil die einzi­
       wissenschaftler das Leben gerettet. Sie verhin­    ge Verbindungsstraße durch Erdrutsche blo­
       derten, dass die Kuppeldecke auf ihn stürzte.      ckiert war. Mehr als die Hälfte der Häuser in
       „Der Staub raubte mir die Sicht“, erzählte Pré­    der Innenstadt der „Perle der Karibik“, in der
       val später noch sichtlich erschüttert. „Es war     es das erste Telefonnetz des Landes gab, wur­
       ein Inferno. Ich musste über Leichen und Ver­      den schwer beschädigt und sind nicht mehr
       letzte klettern, um mir einen Weg zwischen         bewohnbar. Gleiches gilt für Petit-Goâve,
       zusammengebrochenen Mauern und Decken              westlich von Port-au-Prince. Und die Durch­
       nach draußen zu bahnen. Unter den Trüm­            fahrtsstraße von Léogâne durchziehen brei­
       mern schrien Menschen um Hilfe“, erzählte der      te und tiefe Risse. Sie sind noch immer nicht
       greise Staatschef im Gespräch mit Journalisten     repariert und erinnern auf eindringliche Art

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an die zerstörerischen Kräfte, die eine solche    leben, zog sich nach dem Beben eine staubi­
      Erdverschiebung entwickelt.                       ge Schneise der Zerstörung – vom Meer hinauf
                                                        bis nach Pétion Ville in den östlichen Anhöhen
         Die Stärke des furiosen Bebens gibt das        der Stadt, von Cité Soleil am nordwestlichen
      United States Geological Survey (USGS) Erd­       Stadtrand bis nach Carrefour im Süden. Selbst
      bebenforschungszentrum in den USA mit 7,0         massive Betongebäude waren wie Kartenhäu­
      auf der Momenten-Magnituden-Skala an. Das         ser nach einem Windstoß in sich zusammen­
      Epizentrum orteten die Geowissenschaft­           gestürzt. Noch tagelang gruben verzweifelte
      ler rund 25 Kilometer südwestlich von Port-       Menschen mit den bloßen Händen nach Ver­
      au-Prince in der Nähe der kleinen Ortschaft       schütteten, qualmten Brandherde. Noch Wo­
      Leógâne in einer Tiefe von rund 17 Kilome­        chen später wurden immer wieder Leichen aus
      tern. Ursache, so die Geologen, ist eine seit­    den Trümmern gezogen und am Straßenrand
      liche Verschiebung der Karibischen und der        zum Abtransport abgelegt. Über der Stadt lag
      Nordamerikanischen Platten. Das Ausmaß            noch einen Monat später der süßliche Leichen­
      der Schäden vergleichen Experten mit der          geruch. Und auch jetzt noch finden sich in den
      Zerstörungskraft zweier Atombomben von            zerstörten Gebäuden, die abgetragen werden,
      der Stärke der Hiroshimabombe. Das Erdbe­         die Knochenreste Verstorbener.
      ben ist das schwerste in der Geschichte Hai­
      tis, das sich die zweitgrößte Karibikinsel His­      Vor allem die Innenstadt der haitianischen
      paniola mit der Dominikanischen Republik          Hauptstadt ist fast vollständig zerstört, das
      teilt. Über neun Millionen Menschen leben in      Regierungsviertel im Zentrum rund um den
      dem 27 750 km² großen Land. Ayití, „Land der      Champs de Mars ist eine einzige Steinwüste.
      Berge“, nannten es die Taíno-Ureinwohner.         Die Finanz-, Erziehungs- und Justizministeri­
                                                        en sowie das Parlamentsgebäude, das Finanz-
         Das Beben kam nicht gänzlich unangemel­        und Katasteramt, die Post und die Stadtver­
       det. Geologen, die im Jahr 2008 die unterirdi­   waltung sind nur noch eine Schutthalde. Auch
       schen Verwerfungen untersuchten, hatten vor      die anderen Ministerien wurden so schwer in
       einem schweren Erdstoß gewarnt. Ihre Hoch­       Mitleidenschaft gezogen, dass sie ein Fall für
       rechnung: Aufgrund der vorhandenen tekto­        die Abrissbirne sind. In den Trümmern star­
       nischen Spannungen, die sich seit dem Jahr       ben unter anderem der Justizminister Paul
       1751 aufgebaut haben, könnten diese sich in      Denis und weitere hohe Funktionäre. Von der
       einem Einzelbeben von der Stärke von bis zu      berühmten Maria Himmelfahrt-Kathedra­
       7,2 Magnituden entladen. „Es gab auch noch       le der Stadt stehen nur noch die Grundmau­
       andere Indizien für die Gefahr“, erläutert       ern. Beim Einsturz wurde der Erzbischof von
       der ehemalige haitianische Gesundheitsmi­        Port-au-Prince, Joseph Serge Miot, getötet.
      nister ­Daniel Henrys. Der Wasserspiegel des      Der pittoreske Marché en Fer mit seiner von
      ­Azueï-See, östlich von Port-au-Prince, der an    Gustave Eiffel entworfenen Eisenhalle in der
       der haitianischen Grenze endet, und auch der     Rue Travesière ist in sich zusammengekracht.
       des Lago Enriquillo auf der dominikanischen      Aus dem schwer beschädigten Zentralgefäng­
       Seite war seit dem Jahr 2008 um fast zwei Me­    nis konnten fast alle Gefangene entfliehen.
       ter angestiegen. „Das hängt mit der Verschie­
       bung der Erdplatten zusammen. Es gab viele          Auch das Hôtel Christopher, Verwaltungs­
       Signale. Aber sie sind nicht beachtet worden“,   zentrale und politisches Hauptquartier der
       sagte Henrys. Auch der haitianische Filme­       UN-Mission für die Stabilisierung in Haiti
       macher Arnold Antonin hatte vor den Gefah­       (Mission des Nations Unies pour la Stabilisa­
       ren einer Katastrophe gewarnt und ein halbes     tion en Haïti – MINUSTAH) stürzte ein. Fast
       Jahr davor mit Gleichgesinnten demonstriert,     200 Personen starben, darunter auch mindes­
       damit endlich Vorsorgemaßnahmen ergriffen        tens drei deutsche Staatsangehörige im Diens­
       würden – niemand im Staats- und Regie­r ungs­    te der UN, die seit dem Jahr 2004 mit rund
       appa­rat interessierte sich für die Warnrufe.    7000 Soldaten aus 18 Ländern und 2000 Po­
                                                        lizisten aus 42 Ländern für Sicherheit in ­Haiti
                                                        sorgen soll. In den Trümmern des fünfstöcki­
Staubige Schneise der Zerstörung                        gen MINUSTAH-Headquarters fanden der
                                                        Missionschef, Hédi Annabi, sein Stellvertreter
      Durch Port-au-Prince, wo rund drei Millionen      und auch der Chef der United Nations Police
      Menschen teilweise in riesigen Armenvierteln      (UNPOL) den Tod. Außerdem starben füh­

                                                                                      APuZ 28–29/2010      5
Straßenszene in Port-au-Prince: Leben mit der Zerstörung
    © Herzau/laif

    rende Oppositionspolitiker wie der Sozialde­       Zahl der toten Schüler und Studenten gibt
    mokrat Michel Gaillard oder der Schriftsteller     es keine offiziellen Angaben, sie dürfte nach
    Georges Anglade.                                   Tausenden zu zählen sein. Der Schulunter­
                                                       richt musste bis Anfang April unterbrochen
       Die Bilanz der Naturkatastrophe ist verhee­     werden und noch immer reichen die not­
    rend: Nach Angaben des Internationalen Ko­         dürftig errichteten Klassenräume nicht für
    mitees des Roten Kreuzes sind bis zu drei Mil­     die rund 350 000 Schülerinnen und Schüler.
    lionen Menschen direkt oder indirekt von dem       Auch viele private und öffentliche Universi­
    Erdbeben betroffen, dies entspricht einem Drit­    täten haben wegen Mangel an Unterrichts­
    tel der Bevölkerung Haitis. Etwa 1,3 Millionen     räumen ihren Betrieb noch nicht wieder voll­
    Menschen wurden obdachlos, weil ihre Häuser        ständig aufgenommen.
    – nach Angaben der haitianischen Regierung
    97 294 – völlig zerstört sind oder so schwer in      Zwischen 250 000 und 300 000 Menschen
    Mitleidenschaft gezogen wurden, dass sie ab­       starben, offiziell spricht die UN von 225 000
    gerissen werden müssen. 800 000 Menschen           Toten. Allerdings wurden in den ersten Tagen
    leben seit Mitte Januar in einem der über 800      Leichen in Massengräber beigesetzt, ohne
    provisorischen Lager, die in Port-au-Prince        dass deren Daten registriert worden wären:
    und Umgebung auf fast jeder Freifläche ent­        Wer einen Leichnam fand, legte ihn an den
    standen sind. Innerhalb Haitis gibt es über eine   Straßenrand, wo er vornehmlich nachts abge­
    halbe Million sogenannte Internally Displaced      holt und weggebracht wurde. Vor dem Hospi-
    People (IDP), Erdbebenopfer, die ihre ehemali­     tal Chirurgical de la Trinité im Stadtteil Bel-
    gen Unterkünfte aufgegeben haben und in ihre       Air stapelten sich tagelang immer wieder neue
    Heimatgemeinden in den nördlichen, östlichen       aufgedunsene leblose Körper auf dem Bürger­
    und westlichen Provinzen vornehmlich bei           steig, während ein paar Meter weiter auf der
    Verwandten untergekommen sind.                     Straße Schwerverletzte behandelt wurden.
                                                       Wegen der Einsturzgefahr hatten Mitarbeiter
      Etwa 4000 Schulgebäude sind nicht mehr           der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen
    nutzbar, 1300 tote Lehrerinnen und Lehrer          eine Notaufnahme unter freiem Himmel für
    zählte das Erziehungsministerium. Über die         die schlimmsten Fälle e­ ingerichtet.

6    APuZ 28–29/2010
Das „Kleine Nichts“                                      Komitees kümmern sich um Ordnung, Sauber­
                                                         keit und die Sicherheit der Menschen, das Geld
      Titanyen heißt die Savannenlandschaft nörd­        dafür kommt aus dem Cash-for-Work-Pro­
      lich an der Landstraße nach Saint Marc. Sanf­      gramm einer US-Hilfsorganisation. Das Akti­
      te kahl geholzte Hügel ziehen sich so weit das     onskomitee bemüht sich außerdem im Kontakt
      Auge reichen kann gen Norden. Feldwege ver­        mit ausländischen Hilfsorganisationen Mat­
      schwinden irgendwann zwischen den Erhe­            ratzen, Moskitonetze, Trink- und Brauchwas­
      bungen. Menschen verirren sich kaum in das         ser gerecht unter den Bedürftigen zu verteilen.
      „Kleine Nichts“, wie die deutsche Übersetzung      Garküchen haben sich etabliert, in denen Frau­
      des kreolischen Begriffs ­Titanyen lautet. Kein    en wie Augustine Simone Reis mit Bohnen und
      Schild weist auf die riesigen Gräber­areale, in    eine Gemüsesoße, in der ein getrockneter He­
      denen die Toten des Erdbebens vom 12. Janu­        ring mitgekocht wurde, für rund 1,50 Euro an­
      ar beigesetzt wurden. Nur ein Kenner der Ge­       bieten. Ein Haarschnitt bei Rubens Pierre kos­
      gend findet die versteckten Stellen, zu denen      tet ebenfalls 1,50 Euro. Seine Geräte hat der
      in den Tagen nach dem Erdbeben ununterbro­         28-jährige Friseur aus den Trümmern seines
      chen Lastwagen fuhren, um in eilig ausgeho­        Hauses gerettet. Die Elektrizität für den Ra­
      benen Gruben ihre Leichenfracht zu entladen.       sier- und Haarschneideapparat stammt aus ei­
      Manche der Lastwagenfahrer aber kippten die        nem provisorisch verlegten Kabel, die von einer
      Ladung einfach in ausgetrocknete Flussläufe        Hauptleitung am Platz „abgezweigt“ wur­
      in der Umgebung, die dann später eingeebnet        de. Die Menschen haben aufgrund der Armut
      wurden. Ein großes weißes Kreuz markiert ei­       schon vorher gelernt zu improvisieren. Und
      nes der Massengräber in Savanne Bef. Dahinter      wer schön sein will, der lässt sich im Freiluft-
      liegt ein ausgebleichter Schädel, in Schrittwei­   Nagelstudio von Nicole Alcime pflegen, das sie
      te finden sich Knochen und Schädelreste, die       vor ihrem winzigen Unterschlupf aus dicker
      nicht vollständig von den Schaufelbaggern un­      Lkw-Plane aufgebaut hat: Nägel schneiden,
      tergegraben wurden. Ein paar hundert Meter         feilen und lackieren kostet 2,50 Euro. Ein hal­
      weiter sind dort grüne und weiße Metallkreu­       bes Dutzend Kinder haben in dieser Zeltstadt
      ze in den Erdboden gerammt worden, wo eine         inzwischen das Licht der Welt erblickt – Alltag
      Leichenladung ihre letzte Ruhestätte fand.         im monatelangen ­Provisorium.

        Die Lebenden müssen sich derzeit mit mise­          Die haitianische Regierung tagt derweil in
      rablen Bedingungen abfinden. 1600 Familien         der Nähe des haitianischen Flughafens auf
      leben auf dem Place Saint Pierre im Zentrum        dem Gelände einer Polizeistation. Eine Inte­
      der Kleinstadt Pétion Ville, knapp zehn Ki­        rimskommission für den Wiederaufbau Haitis
      lometer in den Anhöhnen westlich von Port-         (Commission Intérimaire pour la Reconstruc-
      au-Prince gelegen. Über dem Gelände zwi­           tion d‘Haïti – CIRH) hat den internationa­
      schen Blumenmarkt, der Zentralkirche, dem          len Geldgebern Ende März einen Plan für den
      Gefängnis und einem Hotel liegt ein imperti­       Wiederaufbau des Landes vorgelegt und dafür
      nenter Urin- und Fäkaliengeruch. 6000 Men­         finanzielle Zusagen in Höhe von 7,4 Milliar­
      schen müssen sich die etwa ein Hektar große        den Euro für die nächsten Jahre an Aufbauhil­
      Fläche teilen – und vier Dixi-Klos sowie sechs     fen bekommen. „Wir warten auf eine Entschei­
      durch Zeltbahnen abgetrennte „Dusch“­hüt­          dung der Regierung, was mit uns passiert, aber
      ten. Die Klos an der Platzseite zur Kirche         niemand entscheidet etwas“, sagt Dorlain – und
      wurden wieder abgeholt, weil der Pfarrer der       seine Äußerung ist stellvertretend für viele, die
      Gemeinde sich über den Gestank beschwert           in den Hunderten von Obdachlosencamps le­
      hatte. „Die Stadtverwaltung will uns wegha­        ben müssen. Bisher gibt es lediglich ein gro­
      ben“, schimpft Junior Dorlain. „Sie versuchen      ßes Lager außerhalb der Bebenregion, in dem
      die Lebensumstände für uns so unerträglich         die Infrastruktur den Menschen ein halbwegs
      zu gestalten, dass die Leute ihr Notlager frei­    würdiges Leben ermöglicht. Aber kaum je­
      willig aufgeben“, sagt der 29-jährige Vorsit­      mand will seinen Platz verlassen, um eine un­
      zende des Comité Place-St.-Pierre en Action.       gewisse Zukunft in einem Lager wie Corail-
                                                         Cesselesse fernab der haitianischen Hauptstadt
        Aber es gibt keine Alternativen. „Wir sind       in Croix des Bouquets zu verbringen.
      uns selbst überlassen“, sagt Dorlain. Bewohner
      der Zeltstadt kümmern sich um die Abfallbe­          Um das Stadtzentrum jedoch wieder auf­
      seitigung. Täglich wird gekehrt, Freiwillige des   bauen zu können, müssten die Menschen ge­

                                                                                       APuZ 28–29/2010       7
rade aus den provisorischen Lagern in Über­        decken und Steinwände, um die in sich zu­
    gangssiedlungen mit ausreichender Sanitär-,        sammengestürzten Gebäude in der Innen­
    Wasserversorgung und Abfallentsorgung              stadt so zu pulverisieren, dass nur noch die
    umgesiedelt werden, müsste gleichzeitig je­        Moniereisenskelette übrig sind.
    nen die Rückkehr auf die Grundstücke ga­
    rantiert werden, auf denen ihre zerstörten           Zwischen drei und fünf Gourdes pro Kilo­
    Häuser standen – viele haben keine rechtlich       gramm, nicht einmal zehn Eurocent, erhalten
    verbindlichen Besitztitel, und durch die Zer­      die Alteisensammler für das rostige Material.
    störung des Katasteramtes hat sich die Situ­       Margerita Laguere hat in der Straße der Wun­
    ation noch verschlimmert. „Die Regierung           der ihren fliegenden Ankauf errichtet. Eine
    diskutiert Pläne, wie mit dem Kataster und         alte Hängewaage bedient einer ihrer Arbei­
    den Besitzverhältnissen umgegangen werden          ter. Zwei löchrige Säcke mit Schrott hat Lui­
    kann und verwirft sie wieder. Sie müsste auch      sel Jean den ganzen Tag über von den Trüm­
    für Grenzfälle rechtliche Grundlagen schaf­        mergrundstücken zusammengesucht. Für die
    fen. Aber es gibt keine Entscheidungen“, er­       insgesamt 61 Kilo bekommt der 32 Jahre alte
    zürnt sich ein spanischer Bau­inge­n ieur.         Mann 200 Gourdes, umgerechnet vier Euro.
    „Trotz der drohenden Hurrikans tut die Re­         Auf 200 Gourdes ist auch der gesetzliche
    gierung so, als ob sie alle Zeit der Welt hätte.   Mindestlohn in Haiti festgeschrieben. „Ein
    Ein unerträglicher Zynismus.“                      gutes Geschäft“, versichert Margerita Lague­
                                                       re nachdem Jean gegangen ist. Sie verkauft
      Die Menschen in Haiti helfen sich derweil        das Alteisen an einen Schrotthändler am
    selbst. Während am Präsidentenpalast Bauar­        Hafen, der es in die Schmelzen in den USA
    beiter mit schwerem Räumgerät die Ruinen           transportieren lässt. Aber auch der vielfache
    niederreißen, schuften unter der schweißtrei­      Vater Jean ist mit seinen Einkommen zufrie­
    benden Karibiksonne fünf Trümmerblocks             den. „Damit komme ich einen Tag aus.“
    weiter nördlich in der Rue des Miracles die
    haitianischen „Mauerspechte“ von Sonnen­             Laut hupend bahnen sich bunt bemalte Tap-
    aufgang bis -untergang. Männer schlagen mit        Tap-Busse auf der Suche nach Passagieren ih­
    Fäusteln und Vorschlaghämmern auf Beton­           ren Weg zwischen ambulanten Händlern hin­

    Marktszene in Port-au-Prince: Einkaufen zwischen Trümmern
    © Herzau/laif

8    APuZ 28–29/2010
durch. Nicht jeder in Haiti hat das Busgeld von   Waren anzubieten – das Problem war nur,
      20 Cent. Es ist kaum ein Durchkommen in der       dass die wenigsten das nötige Geld hatten.
      Rue du Centre, einer der Einkaufsstraßen der      Das ist jetzt anders. Marktfrauen und Käu­
      Stadt. Aber auch hier gibt es nur eingestürzte    ferinnen auf dem Zentralmarkt an der Rue de
      Geschäfte. Männer graben sich mit einfachen       l’Eglise feilschen lauthals um den Preis der
      Schippen und Schaufeln in den Schutt. Aus ei­     Bohnen und die Qualität der Mangos, wäh­
      nem Loch reicht eine graue, wie gepudert wir­     rend im unteren Teil der Straße zehn Frauen
      kende Hand Stringtanga, die von zwei jungen       und Männer mit gelben Bauhelmen auf dem
      Männern nach Brauchbarkeit sortiert wer­          Kopf und giftgrünen T-Shirts mit dem Logo
      den. „Irgendwas zum Verkaufen findet sich         der DWHH eingestürzte Gebäude abtragen.
      immer“, sagt einer des Trios, die nicht gera­
      de glücklich wirken, dabei beobachtet zu wer­       Eine dieser bezahlten Trümmerfrauen war
      den, wie sie sich die zurückgelassenen Waren      auch Doudline Casimir. Zwei Wochen gehör­
      aus einem fremden Gebäude an der Kreuzung         te sie einer Abrisstruppe an. Gemeinsam mit
      von Zentralstraße und der Rue des Miracles        Nachbarn half sie, Grundstücke in der Um­
      aneignen. Auch in den anderen Stadtvierteln       gebung der Komödienstraße vom Schutt frei­
      dominieren „Betonspechte“ wie Jean François       zuräumen. „Es war zwar eine schwere Arbeit,
      Frantz und seine sechs Kollegen das Bild. In      aber auch Frauen können Steine schleppen
      der Rue Turgeau 108 sollen sie innerhalb von      und Trümmern beseitigen“, sagt sie. Jetzt hel­
      drei Wochen mit Vorschlaghämmern, Bolzen­         fen ihr andere Obdachlose. In zwei Tagen ha­
      schneidern und Schaufeln für 800 Euro das         ben sie die Hausruine der jungen Witwe nie­
      zweigeschossige Haus zerlegen und abtragen.       dergerissen und mit Schubkarren durch ein
      „Wenn es in dem Tempo weiter geht“, kom­          schmales Gassengewirr auf die Straße gefah­
      mentiert ein Spötter einer deutschen Hilfsor­     ren. Auf der Freifläche stellt sie ein Zelt auf,
      ganisation, „dann wird das Abrissprogramm         in dem ihre Mutter, die beiden Kinder und die
      noch Jahre in Anspruch nehmen.“                   Geschwister wohnen können. „Wir sind froh,
                                                        dass uns geholfen wird“, sagt Casimir. Ohne
                                                        ausländische Hilfe könne die Stadtverwaltung
Internationale Hilfsorganisationen                      der Küstenstadt, mit ihren rund 8000 Einwoh­
                                                        nern, das Abrissprogramm nicht finanzieren,
      Während in Port-au-Prince Hilfsorganisatio­       sagt der Sprecher des Bürgermeisters, Frantz
      nen wie die United States Agency for Interna-     Pierre-Louis. „Wir koordinieren gemeinsam
      tional Development (USAID) Erdbebenopfer          wo, wann und was abgerissen wird.“
      vor allem bei der Abfallbeseitigung und der
      Straßenreinigung einsetzen und dafür den            In Petit-Goâve tragen viele Gebäude das
      Mindestlohn auszahlen, beschäftigt die Deut-      Kainsmal der Baufälligkeit: „A Demolir“ –
      sche Welthungerhilfe (DWHH) zum Beispiel          „zum Abriss“ haben Vertreter der Stadtver­
      in den Hafenstädten Petit-Goâve und Jacmel        waltung mit roter Farbe auf die Mauern ge­
      etwas über 1500 Obdachlose, die die Zerstö­       sprüht. Aber auch hier beschränken sich die
      rungen in den Städten beseitigen und, sobald      Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen darauf, die
      die Wiederaufbaupläne von den nur schlep­         durch das Erdbeben geschädigten Häuser ab­
      pend funktionierenden Baubehörden bewil­          zureißen. Die Phase des Aufbaus erdbebensi­
      ligt sind, beim Bau von Behelfshäusern helfen     cherer Unterkünfte hat noch nicht begonnen.
      sollen. Mit dem Beschäftigungsprogramm,           Zwar gibt es internationale Standards dafür,
      so erklärt der Koordinator der DWHH für           Bau- und Konstruktionspläne müssen jedoch
      die Nothilfe in Haiti, Rüdiger Ehrler, werde      an die regionalen Gegebenheiten und Erfor­
      den Betroffenen ein minimales Einkommen           dernisse angepasst werden, betont Rüdiger
      garantiert. „Damit können sie Lebensmittel        Ehrler. Bauingenieure und Wissenschaftler
      und andere Bedarfsgüter selbst kaufen.“ Da­       arbeiten daran. „Wenn wir die notwendigen
      durch werde die Kaufkraft gestärkt und tra­       Baugenehmigungen von der Bauaufsicht be­
      ge zur Normalisierung des Wirtschaftslebens       kommen und die Stadtverwaltung uns grünes
      in der Region bei. Auch wenn es kurz nach         Licht gibt“, betont Rudi Kögler, Projektleiter
      dem Beben Engpässe bei der Versorgung von         der Deutschen Welthungerhilfe in Petit-Goâ­
      Grundnahrungsmitteln in Haiti gab, saßen          ve, „könnten wir sofort loslegen.“
      bereits wenige Tage nach dem Unglück die
      Marktfrauen wieder auf den Straßen, um ihre

                                                                                      APuZ 28–29/2010      9
Jürgen Pohl         lang, die Verschiebungsbeträge betrugen etwa
                                                              fünf Meter.❙2 Hispaniola, mit Haiti im Westen
  Wiederaufbau nach                                           und der Dominikanischen Republik im Osten
                                                              der Insel, liegt mitten auf dieser tektonischen

     dem Erdbeben –                                           Spannungszone und wurde seit dem Jahr 1564
                                                              schon über ein Dutzend mal von starken Erd­
                                                              beben erfasst (Tabelle 1).
Perspektiven für Haiti                                           Erdbeben entstehen durch plötzliche Freiset­
                                                              zung mechanischer Energie, die sich im Erdin­

        A       m 12. Januar 2010 ereignete sich einige
                Kilometer südwestlich der Hauptstadt
         Port-au-Prince ein Erdbeben mit der Stär­
                                                              neren akkumulierte. Sie führt an der Erdober­
                                                              fläche zu Bruch- und Versatzvorgängen, die
                                                              wiederum Gestein aufbrechen bzw. verschie­
                                    ke M 7,0 auf der Rich­    ben. Die Schadenswirkung von Erdbeben geht
                    Jürgen Pohl terskala. Ihm folgten         primär von der mechanischen Kraft der Bewe­
 Dr. phil., geb. 1954; Professor mehr als zehn schwe­         gung an der Erdoberfläche aus. Das Schadens­
   für Geographie an der Rhei- re Nachbeben.❙1 Dieses         potenzial für materielle Sachgüter ist enorm.
   nischen Friedrich-Wilhelms- Erdbeben gilt als das          Dabei sind sowohl Gewerbe- und Wohnge­
 Universität Bonn, Geographi- stärkste in der gesam­          bäude wie auch Infrastruktureinrichtungen
 sches Institut, Meckenheimer ten karibischen Regi­           (wie Straßen, Energie- und Wasserversorgung)
         Allee 166, 53115 Bonn. on seit 200 Jahren. Mit       betroffen, insbesondere Baukörper ohne aus­
pohl@geographie.uni-bonn.de einer Tiefe von etwa              reichende antiseismische Armierung sind ge­
                                    zehn Kilometern lag       fährdet. Herabfallende Bauteile bedrohen
         das Hypozentrum, der Bebenherd, relativ nah          dann Menschen und Tiere. In Haiti war dies
         an der Erdoberfläche. Ungefähr 20 Kilometer          der größte Zerstörungsfaktor. Hinzu kommen
         westlich der Hauptstadt, bei Léogâne wurde           Produktions- und Nutzungsausfälle durch un­
         das Epizentrum lokalisiert (Abbildung 1). Al­        terbrochene Verkehrswege oder Ver- bzw. Ent­
         lein ­Léogâne gilt als zu 80 Prozent zerstört. Für   sorgungsleitungen. Bei großflächiger Zerstö­
         die Metropolregion Port-au-Prince sind abso­         rung sind auch eine Versorgungsgefährdung
         lut gesehen die größten Schäden zu verzeich­         und der Ausbruch von Krankheiten denkbar.
         nen. Die Auswirkungen des Bebens waren je­
         doch in allen Regionen Haitis zu s­ püren.              Verlässliche Erdbebenvorhersage ist ein bis
                                                              heute ungelöstes Forschungsproblem. Vor­
                                                              läuferphänomene sind nicht zu identifizie­
Haiti als Erdbebenregion                                      ren, denn eine präzise Angabe von Ort, Zeit
                                                              und Stärke im Vorfeld von Erdbeben ist nicht
        Gemessen werden Erdbeben geophysikalisch              möglich. Schon im September 2008 allerdings
        auf der logarithmischen Richterskala, welche          war in der Zeitung Le Matin Haiti ein Arti­
        sich auf die Magnitude der Wellen bezieht, so­        kel mit der Überschrift „Gefahr einer Natur­
        wie anhand der Mercalli-Skala, welche die In­         katastrophe“ erschienen. Geologen skizzier­
        tensität der Einwirkung und damit den Grad            ten dort die akute Gefährdungslage durch
        der Betroffenheit der Schutzgüter misst. Die          ein starkes Erdbeben in der Region Port-au-
        Erdbebenauswirkung nach Mercalli traf Port-           Prince. Sie verwiesen darauf, dass schon in
        au-Prince mit der Stärke X+. „X“ bedeutet auf         den Jahren 1751 und 1770 die Stadt komplett
        der zwölfteiligen Skala „vernichtend“. Auch           durch Erdbeben zerstört worden sei.❙3 Die
        dieser Wert verdeutlicht die enorme Schwe­            geringe seismische Aktivität in den vergange­
        re des Erdbebens. Das Beben ist an der Kol­           nen Dekaden kann mit ein Grund dafür sein,
        lisionszone tektonischer Plattenränder ent­           dass sich Haiti so unzureichend auf ein mög­
        standen. Die nordamerikanische Platte driftet         liches neues Beben vorbereitet hat.
        nach Westen, die Karibische Platte nach Os­
        ten. Sie bewegen sich somit gegenläufig, was          ❙1 Vgl. Marc O. Eberhard et al., The MW 7.0 Haiti
        als Transformstörung bezeichnet wird. An der          earthquake of January 12, 2010: USGS/EERI Ad­
                                                              vance Reconnaissance Team report, U. S. Geological
        Enriquillo-Verwerfung, einer der Störungs­
                                                              Survey Open-File Report 48, Reston/Virginia 2010.
        zonen, befindet sich auch das Epizentrum              ❙2 Vgl. ebd., S. 4 f.
        des Erdbebens. Beim Beben vom 12. Januar              ❙3 Vgl. „Im Totenhaus der Karibik“, in: Der Spiegel,
        waren die Bruchflächen bis zu 30 Kilometer            Nr. 3 vom 18. 1. 2010, S. 76 ff.

   10     APuZ 28–29/2010
Abbildung 1: Haiti

                    CUBA
                             Bebenstärke nach der
                             Modifizierten Mercalliskala                   Atlantischer Ozean
                                                                                   Île de la Tortue
                             Bruchzone

                             Epizentrum des Hauptbebens
                                                                           Port-de-Paix

                                                                                                                                REPUBLIK
                                                                                                      Cap-Haïtien
                             Epizentrum des Nachbebens

                              0                  50 km                                                    Fort-Liberté
                                                                                  Gonaïves

                                                                                            HAITI
                                                 Golf
                                                                                                                    Hinche
                                             von Gonâve                                   Saint-Marc

                                                                                                                                DOMINIKANISCHE
                   Enriquillo-Verwerfung
                                                     Île de la Gonâve
                                                                                            H I S PA N I O L A
                                               Îles Cayémite

                           Jérémie
                                                                            Léogâne
                                                               Miragoâne                                 Port-au-Prince

                                                                                              Jacmel
                                                  Les Cayes

                                                    Île-à-Vache
                                                                  Karibisches Meer
                  Kartographie: Geographisches Institut der Universität Bonn.
                  Quelle: U.S. Geological Survey, National Earthquake Information Center, 19. Januar
                  2010, Version 4.

Schäden durch Naturkatastrophen                                             konjunktureller Aufschwung und auch eine
                                                                            Verbesserung der allgemeinen Lebensbedin­
     Erdbeben sind keineswegs die einzigen Na­                              gungen zu verzeichnen war.❙4 Somit bedeute­
     turgefahren, die Haiti bedrohen. Allein im                             te das Erdbeben einen enormen Dämpfer für
     Jahr 2008 war Haiti von vier schweren Hur­                             eine zaghafte ­Aufwärtsbewegung.
     rikans betroffen. Das Erdbeben von 2010
     sprengt allerdings alle bisher erfassten Di­                             Etwa drei Millionen Einwohner sind di­
     mensionen von Naturkatastrophen in Haiti                               rekt von dem Erdbeben betroffen, nach ak­
     (Tabelle 2). Die Einwohner Haitis empfinden                            tuellen Schätzungen wurden bis zu 230 000
     die Situation als umso tragischer, da innerhalb                        Menschen getötet und über 300 000 verletzt;
     der vergangenen drei Jahre eine Zunahme der                            1,3 Millionen Haitianer wurden obdachlos.❙5
     sozialen und politischen Stabilität sowie ein                          500 000 Menschen haben das Katastrophen­
                                                                            gebiet verlassen und suchten Zuflucht in den
                                                                            ländlich geprägten Regionen der Peripherie.
     Tabelle 1: Die stärksten Erdbeben auf Hispaniola
                                                                            Über 100 000 Wohngebäude wurden voll­
      Jahr                  Magnitude (Richterskala)                        ständig zerstört, mehr als 200 000 wurden
      1564 (2)                        7+7                                   stark beschädigt. Etwa 1300 Bildungsein­
      1615                              7                                   richtungen und mehr als 50 Krankenhäuser
      1691                              7                                   und Gesundheitszentren sind zerstört oder
      1751 (2)                       8 + 7,5                                nur noch eingeschränkt nutzbar. Neben dem
      1770                             7,5
                                                                            Flughafen war auch der wichtigste Hafen des
                                                                            Landes in Port-au-Prince aufgrund der Zer­
      1842                              8
      1887 (2)                      7 + 7,75
      1911                             7,1                                  ❙4 Vgl. United Nations Office for the Coordination
      1946 (3)                    7 + 8,1 + 7,4                             of Humanitarian Affairs, Haiti Earthquake Situation
      2010                             7,3                                  Report, Nr. 24, New York 2010.
                                                                            ❙5 Vgl. United States Agency for International Deve­
     Quelle: Sergio Mora, Brief introductory note on earthqua­              lopment, Haiti. Earthquake Fact Sheet, Nr. 43, Wash­
                                                                                                                           �����
     ke hazards in Haiti, Port-au-Prince 2010.                              ington, DC 2010.

                                                                                                                             APuZ 28–29/2010     11
Tabelle 2: Die jüngsten Naturkatastrophen in Haiti
     Ereignis                                 volkswirtschaftliche Schäden    betroffene Personen     Tote
     2004 Hurrikans Jeanne und Noel                7 Prozent des BIP                 300 000           5000
     2007 Hurrikan Dean                            2 Prozent des BIP                 194 000            330
     2008 Hurrikans Fay, Gustav, Hanna             15 Prozent des BIP              1 000 000            800
     und Ike
     2010 Erdbeben                                 100 Prozent des BIP              3 000 000        230 000
     Quelle: United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, Haiti Flash Appeal, New York
     2008; ders., Haiti Earthquake Situation Report, Nr. 32, New York 2010.

     störungen mittelfristig nicht funktionsfähig.         von acht verschiedenen Themenbereichen er­
     Zudem sind auch politische Institutionen be­          mittelt. Als vordringliche Aufgabe wird die
     troffen gewesen: Der Präsidentenpalast, das           Unterbringung der 218 000 allein in Port­
     Parlament, zahlreiche Gerichtsgebäude, die            au­Prince in Behelfsunterkünften lebenden
     meisten Ministerien und öffentlichen Ver­             Flüchtlinge in festen Behausungen genannt.
     waltungseinrichtungen wurden weitgehend
     zerstört. Der materielle Wert der zerstörten
     Infrastruktur wird auf 4,3 Milliarden US­                                 Rahmenbedingungen für
     Dollar geschätzt. Verluste von 3,6 Milliarden                               den Wiederaufbau und
     US­Dollar könnten durch die Auswirkungen
     des Bebens auf die Regionalwirtschaft ent­                           Strukturbedingungen in Haiti
     stehen, beispielsweise durch Produktions­
     ausfall, Arbeitsplatzverluste, erhöhte Pro­           Allein das Naturereignis „Erdbeben“ kann
     duktionskosten und fehlende Infrastruktur.            noch nicht die Katastrophe erklären, wel­
     Insgesamt werden Schäden in Höhe von 7,9              che sich in Haiti ereignet hat. Die besonders
     Milliarden Dollar bilanziert.❙6 Das entspricht        hohe gesellschaftliche Verwundbarkeit (Vul­
     etwa der Höhe des haitianischen Bruttoin­             nerabilität) Haitis vervielfacht das Ausmaß der
     landsproduktes (BIP) im Jahr 2009. Mehr als           Katastrophe. Strukturell und langfristig be­
     70 Prozent der Schäden sind im privaten Sek­          ruht diese auf der schwierigen geschichtlichen
     tor entstanden. Als Folge des Bebens wird             Entwicklung des Landes in den vergange­
     ein Anstieg der Arbeitslosigkeit von über             nen 200 Jahren. Als ein aktueller Hauptfaktor
     8,5 Prozent prognostiziert. Dabei gelten die          kann auch die fehlgeleitete oder nicht vorhan­
     Sektoren Tourismus, Kommunikation, Han­               dene Stadt­ und Regionalentwicklungspla­
     del und Logistik als besonders betroffen.             nung angesehen werden. Mehr als 40 Prozent
                                                           der Bevölkerung, zwei Drittel des Bruttoin­
       Der Wiederaufbau wird mit hohen finan­              landsprodukts und 85 Prozent der Steuerein­
     ziellen Belastungen verbunden sein. Von der           nahmen konzentrieren sich auf die Metropol­
     haitianischen Regierung wird ein Gesamtbe­            region Port­au­Prince.❙8 Haitis hohe städtische
     darf an finanziellen Mitteln von 11,5 Milliar­        Bevölkerungsdichte, gekoppelt mit der Ver­
     den US­Dollar prognostiziert. Dieser setzt            breitung von Gebäuden, welche die Konstruk­
     sich wie folgt zusammen:❙7 48 Prozent für den         tionsanforderungen gegenüber Erdbeben nicht
     Sozialsektor, 17 Prozent für Infrastruktur,           erfüllen, sowie die allgemeine Fragilität der In­
     15 Prozent für Umwelt und Risiko­ bzw. Ka­            frastruktur erhöhten ebenfalls die Vulnerabili­
     tastrophenmanagement, 9 Prozent im Pro­               tät. Zudem wurde die Unerfahrenheit im Risi­
     duktionssektor, 7 Prozent Regierung/Staat             komanagement deutlich, denn die haitianische
     und 4 Prozent Sonstiges (wie direkte Stüt­            Regierung war unter anderem durch das Feh­
     zung des Arbeitsmarktes). Der Bedarf wur­             len und den Verlust von Personal und Gerät
     de dabei über eine Schätzung in Teilbereichen         mit den organisatorischen Abläufen überfor­
                                                           dert und gerade in den ersten Wochen nach der
                                                           Katastrophe nahezu handlungsunfähig.
     ❙6 Vgl. Eduardo Cavallo, Estimating the direct eco­
     nomic damage of the earthquake in Haiti, IDB Wor­
     king Paper Series, Nr. 163, Washington, DC 2010.      ❙8 Vgl. Ministry of Economy and Finance, The Chal­
     ❙7 Vgl. Government of the Republic of Haiti, Haiti    lenge of Economic Reconstruction in Haiti. Integra­
     Earthquake PDNA, Assessment of damage, losses,        ted strategic framework for the short, medium and
     general and sectoral needs, Port­au­Prince 2010.      long term, Port­au­Prince 2010.

12    APuZ 28–29/2010
Die Verwundbarkeit Haitis ist auch aus an­              Gerade in unterentwickelten Ländern bewe­
      deren Gründen groß. So ist Haitis ökologische          gen meist erst schwere Katastrophen Gesell­
      Lage geradezu prekär. In Haiti ist der Prozess         schaft und Regierung dazu, Institutionen und
      der Entwaldung so weit fortgeschritten, dass           Instrumente zum Risikomanagement zu eta­
      nur noch zwei Prozent der Landoberfläche von           blieren. Mit zunehmender zeitlicher Distanz
      Wäldern bedeckt ist – damit wird das Risiko            zur Katastrophe lässt dieser Wille allerdings
      für die ohnehin für Überflutungen anfällige            oft wieder nach. Aus einer langfristigen, pla­
      Metropolregion Port-au-Prince erhöht. Zu­              nerischen Perspektive heraus kann das Beben
      sätzlich zu dieser environmental vulnerabili-          dazu genutzt werden, um ein größeres öffent­
      ty sind auch gesellschaftliche Faktoren, politi­       liches und politisches Bewusstsein für Natur­
      sche Instabilität sowie rasch voranschreitende         risiken und deren Folgen bzw. der Bedeutung
      Urbanisierung zu nennen; hierdurch werden              umfassender Vorsorgemaßnahmen zur Risi­
      die Katastrophenauswirkungen, die soziale              kominimierung zu schaffen. Dabei ist die Re­
      Vulnerabilität, weiter verschärft.                     duktion des Risikos künftiger Katastrophen
                                                             als integraler Bestandteil der Wiederaufbau­
        Schon vor dem Beben mussten zwei Drittel             planung zu bezeichnen. Das Leitbild building
      der haitianischen Bevölkerung von weniger              back better impliziert, dass nicht der Status
      als zwei US-Dollar am Tag leben, 80 Prozent            quo ante das Kernziel sein sollte, sondern eine
      gelten als unterernährt. Die Hälfte der Ein­           Verringerung der Vulnerabilität im Kontext
      wohner Haitis ist jünger als 18 Jahre.❙9 Alle          von Katastrophen anzustreben ist. In zahlrei­
      Indikatoren zum sozialen und wirtschaftli­             chen Fällen konzentriert sich die Wiederauf­
      chen Entwicklungsstand wiesen Haiti schon              bauhilfe jedoch zu sehr auf unmittelbare hu­
      vor der Katastrophe als failed state aus, als          manitäre und monetäre Hilfe und nicht auf die
      gescheiterten Staat. Durch das Beben wur­              Veränderung der Rahmenbedingungen, wel­
      den bestehende Missstände noch verschärft,             che die Katastrophe eine entsprechend starke
      allein der Zugang zu Nahrungsmitteln und               Wirkung entfalten ließen. Neben der Rekon­
      sauberem Trinkwasser kam zeitweise völlig              struktion der materiellen Infrastruktur gilt es
      zum Erliegen. Da mit Port-au-Prince das so­            aber vor allem, auch die individuellen liveli-
      ziale, kulturelle, ökonomische und politisch-          hoods wiederherzustellen, welche eine nach­
      administrative Zentrum Haitis am stärksten             haltige Existenzsicherung ermöglichen.
      von den Auswirkungen der Katastrophe be­
      troffen ist, war der Effekt auf den öffentlichen          Für eine Wiederaufbauplanung ist die Pro­
      und privaten Sektor, aber auch auf die institu­        blemlage in Haiti sehr komplex und mit gro­
      tionellen Kapazitäten, bedeutend größer.               ßen Unsicherheiten behaftet. Allein durch den
                                                             massiven Umfang an Personen- und Sachschä­
                                                             den sind Wiederaufbaustrategien und deren
Planungsstrategien                                           Perspektiven differenziert abzuwägen. Schon
                                                             zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist abzusehen,
      Die Handlungsfähigkeit der Regierung und               dass die Aufmerksamkeit, welche Haiti durch
      die Funktionsfähigkeit der sozialen Infra­             die Naturkatastrophe erlangt hat, die lang­
      struktur wurden durch den Verlust von Per­             fristige Entwicklung des Staates beeinflussen
      sonal und Einrichtungen stark beeinträchtigt.          wird. Dabei muss die Hilfe einen realistischen
      Die Verluste von Krankenhäusern, Polizei­              zeitlichen Rahmen einnehmen. Wiederauf­
      wachen, Schulen, Universitäten, Ministeri­             bauhilfe muss mehr als eine Reaktion, „ein Re­
      en und Kirchen hemmen die Bemühungen                   flex auf die Notsituation“ sein, sondern auch
      um Soforthilfe, Sicherheit und Wiederauf­              soziodemographische und raumstrukturel­
      bau. Außerdem erschwerten die Zerstörung               le Charakteristika mit einbeziehen und akti­
      des UN-Haupt­quartiers und der Verlust der             ve Prävention durchsetzen.❙10 Die Einbindung
      Führungsebene der UN-Stabilisierungsmis­               der lokalen Bevölkerung beim Planungs- und
      sion (United Nations Stabilization Mission in          Entscheidungsprozess ist dabei von großer
      Haiti, MINUSTAH) die Koordination der
      Hilfsmaßnahmen in besonderer Form.
                                                             ❙10 Vgl. Robert Geipel/Jürgen Pohl/Rudolf Stagl,
                                                             Chancen, Probleme und Konsequenzen des Wieder­
      ❙9 Vgl. L’Enquête sur les Conditions de Vie en Haïti   aufbaus nach einer Katastrophe. Eine Langzeitunter­
      (ECVH), Chapitre 2: Population, ménages et famil­      suchung des Erdbebens im Friaul von 1976–1988, in:
      les, Port-au-Prince 2003.                              Münchner Geographische Hefte, (1988) 49, S. 154.

                                                                                            APuZ 28–29/2010        13
Bedeutung, insbesondere bei Vorbereitung          Abbildung 2: Kreislauf des Risikomanagements
       und Evaluation der Hilfsmaßnahmen.
                                                                Wiederaufbau                                       Flächenvorsorge

Katastrophenzyklus                                           Aufbauhilfe                                                     Bauvorsorge

                                                                                   G
und Wiederaufbauphasen

                                                                             Ä LT I G U N

                                                                                                              VO
                                                                                            recovery mitigation               Informationsvorsorge

                                                                                                                  RS O RGE
       In der Risikoforschung werden verschiede­                                            response preparation

                                                                                EW
       ne Phasen im Zusammenhang eines kata­                 Hilfe für die
                                                             Betroffenen                                                     Verhaltensvorsorge

                                                                                      B
       stro­phalen Ereignisses unterschieden: prepa-
       ration (Vorbereitung), response (Reaktion),         Katastrophenabwehr                                      Vorhaltung und Vorbereitung
                                                                                                                   des Katastrophenschutzes
       recovery (Erholung) und mitigation (Vorsor­
                                                                                                  Ereignis
       ge) (Abbildung 2).
                                                         Quelle: Eigene Darstellung.
          Da Übergänge zwischen den einzelnen
       Phasen nicht eindeutig zu identifizieren sind,
       wird das Risiko- bzw. Katastrophenmanage­         der Phase des Wiederaufbaus eine Basis für
       ment als Kreislauf dargestellt, welcher durch     die Reorganisation darstellen.❙11 Schon in die­
       die Katastrophe als zentrales Ereignis aus­       ser Phase ist es nötig, Ziele und Planungen
       gelöst wird. Die im Kreislaufmodell darge­        für neue Entwicklungsstrategien festzuset­
       stellten Prozesse laufen auf unterschiedlichen    zen. Zudem sollten Handlungsanweisungen
       zeitlichen und räumlichen Skalen ab. Im Sin­      für die Neuverteilung der „vertriebenen“ Be­
       ne einer aktiven Prävention würde der Zy­k lus    völkerung etabliert werden, um die intraregi­
       idealerweise vor der eigentlichen Katastro­       onale Migration zu lenken. Die zweite Phase
       phe beginnen. Nach einer Faustformel wer­         des Wiederaufbaus wird in Haiti voraussicht­
       den vier Phasen des Wiederaufbaus in der Pla­     lich wesentlich länger andauern als die häufig
       nung unterschieden, die im Prinzip ebenfalls      postulierten 20 Wochen.
       zeitlich gesehen aufeinander folgen. Sie lassen
       sich grundsätzlich auch auf Haiti ­übertragen.       Wiederaufbau I: Diese erste „Realisie­
                                                         rungsphase“ (Implementationsphase) um­
         Die unmittelbare Nothilfe (etwa 2 Wo­           fasst in der Regel eine Zeitspanne von bis zu
       chen): Sie ist als erste Phase gekennzeichnet     zwei Jahren nach der Katastrophe. Innerhalb
       durch die Bergung der Toten, Rettung der          dieser Phase sollten Projekte initiiert wer­
       Verletzten und Bedrohten, Versorgung mit          den, welche Anreize für private Investitionen
       Lebensmitteln und Trinkwasser sowie medi­         für Haitis ökonomische Entwicklung bieten,
       zinische Nothilfe, die Errichtung von Not­        verbunden auch mit rechtlichen Rahmenbe­
       unterkünften und die Aufrechterhaltung der        dingungen, welche Missbrauch unterbinden.
       Sicherheit – gerade im Bezug auf Plünderun­       Private Investitionen in die Volkswirtschaft
       gen und Kinderhandel. Die Schwere der Ka­         Haitis sowie der Sozialsektor bilden die Ba­
       tastrophe in Haiti wird unter anderem daran       sis für den Wiederaufbau. Neben den finanzi­
       sichtbar, dass diese Phase dort deutlich län­     ellen Zusagen der Geberländer muss der Pri­
       ger ­dauerte.                                     vatsektor unterstützt werden, damit dieser
                                                         weiterhin die Stütze der Wirtschaft bleiben
         Die Wiederherstellung provisorischer Le­        kann. Allein für diese Phase, die ersten zwei
       bensverhältnisse (etwa 20 Wochen): Hier           Jahre, sind 3,1 Milliarden US-Dollar zugesi­
       geht es in erster Linie darum, Unterkünfte        chert. Mit mehr als 1,2 Milliarden US-Dol­
       für Obdachlose zu schaffen, den Zugang zu         lar tragen private Akteure wie Privatperso­
       Bildungseinrichtungen zu ermöglichen so­          nen und Nichtregierungsorganisationen fast
       wie in der Karibik die Vorbereitung auf die       40 Prozent des bisherigen finanziellen Sofort­
       Hurrikansaison im Sommer zu initiieren.           hilfevolumens. Die USA stellen mit über ei­
       Ein weiteres Ziel für Haiti ist die Wiederher­    ner Milliarde US-Dollar etwa ein Drittel der
       stellung des wirtschaftlichen Lebens, vor al­     finanziellen Hilfe und nehmen zudem bei der
       lem durch ein ausreichendes Arbeitsplatzan­       Koordination der Hilfsmaßnahmen eine zen­
       gebot. Dabei gilt es auch, den Finanzsektor       trale Rolle ein. Deutschland beteiligt sich mit
       wieder zu stabilisieren und den Zugang zu
       Krediten zu gewährleisten, welche gerade in       ❙11 Vgl. E. Cavallo (Anm. 6), S. 17.

  14    APuZ 28–29/2010
fast 24 Millionen US-Dollar.❙12 In der dritten        den. Mechanismen und Instrumente einer
Phase müssen die Chancen zur Veränderung,             finanziellen Risikoverteilung, zum Beispiel
das window of opportunity genutzt werden,             über Katastrophenfonds oder Versicherun­
um strukturelle Veränderungen einzuleiten.            gen, fehlen oder sind unzureichend ausge­
                                                      prägt, wobei angesichts des hohen Risikos in
  Wiederaufbau II: Die Entwicklungspha­               Haiti Grenzen für die Einsetzbarkeit dieses
se zur Verwirklichung der Wiederaufbaupla­            Instruments abzusehen sind.
nung, welche einen langen Zeitraum umfasst
und die gerne als Dekade anschaulich ge­                Eine integrierte Regionalentwicklung: Die
macht wird, innerhalb derer die wesentlichen          außerordentliche Bedeutung der Metropolre­
Ziele für den Wiederaufbau realisiert werden          gion Port-au-Prince wurde bereits erläutert.
können, hat das Ziel, eine langfristig positive       Vor dem Hintergrund der monozentrischen
Entwicklung in Haiti anzustoßen. Optimis­             Struktur Haitis wurden die ökonomischen
ten hoffen, dass sich Haiti binnen zehn Jah­          Potenziale der ländlichen Regionen nur unzu­
ren als aufstrebendes Land, als Schwellen­            reichend ausgeschöpft. Durch die Neuvertei­
land, etablieren könnte.                              lung der Bevölkerung als Folge des Erdbebens
                                                      eröffnen sich Chancen für neue, dezentrale
  Aus Sicht der Katastrophenvorsorge liegt            Wachstumspole fernab von Port-au-Prince.
der Fokus auf der mitigation, dem Ziel, das zu­       Als Ziel könnte eine polyzentrische, gestuf­
künftige Risiko zu reduzieren. Dazu ­zählen:          te Regionalentwicklung angestrebt werden.
                                                      Die Katastrophe kann also als Ent­wick­lungs­
  Eine Standardisierung und Anpassung der             impuls und Katalysator für Modernisierung
Bauweise: Die defizitären Baustrukturen wa­           dienen. Diese Ziele und Instrumente sind
ren Ursache für die meisten Todesfälle im             zum großen Teil im Haitiplan dargestellt.
Umfeld der Katastrophe. Die Erstellung bzw.
Überwachung von Bauvorschriften muss
durchgesetzt werden, um die gravierenden                                                       Der Haitiplan
Folgen der Erdbeben zu verringern und „erd­
bebensicher“ zu bauen. Zur Prävention zäh­            Die haitianische Regierung hat sich in ihrem
len auch der Aufbau einer Forschungsstelle            Action Plan zum Ziel gesetzt, die Katastro­
zur Analyse, Bewertung und Warnung bei                phe von 2010 als Gelegenheit dafür zu nut­
Risiken sowie das Vorbereiten von Katastro­           zen, Haiti bis zum Jahr 2030 als aufstreben­
phen- und Einsatzplänen. Ursachen des Risi­           des Land zu positionieren. Verbunden wird
kos und geeignete Reaktionen darauf können            dieses Ziel mit der Vision eines gerechten,
durch Informationen und Handlungsanwei­               gleichberechtigten und vereinten Zusam­
sungen für die betroffene Bevölkerung sowie           menlebens im Einklang mit Natur und Kul­
die Ausweisung von in besonderer Weise ge­            tur. Zudem soll eine Gesellschaft entstehen,
fährdeten Gebieten angegangen werden.                 die durch Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfrei­
                                                      heit, bewusste Landnutzung, aber auch eine
  Eine Beschränkung der Bodennutzung,                 modernisierte, diversifizierte, dynamische
ihre Überprüfung und eventuelle Umnut­                und konkurrenzfähige Wirtschaft charak­
zung: Ausuferndes Siedlungswachstum und               terisiert ist.❙13 Folgende weitere Wiederauf­
der damit einhergehende Anstieg der Be­                bauziele werden im Entwurf der Regierung
völkerungsdichte müssen durch rechtliche              ­skizziert:❙14
Maßnahmen wie etwa die Beschränkung der
Land- und Bodennutzung unterbunden wer­               • Schaffung von Zugang zu einem gerechten,
den. Gefahrenräume müssen identifiziert und             dezentralen und angepassten System für
deren Nutzung limitiert werden. Zudem soll­             Grundversorgung (Bildung, Gesundheit,
ten Möglichkeiten zur Verbesserung des Ver­             Information, Sport, Sicherheit), insbeson­
sicherungsschutzes in Betracht gezogen wer­             dere für Frauen und Kinder;

❙12 Vgl. United Nations Office for the Coordinati­    ❙13 Vgl. Government of the Republic of Haiti, Action
on of Humanitarian Affairs, Haiti Earthquake Si­      plan for national recovery and development of ­Haiti.
tuation Report, Nr. 32, New York 2010. Das aktu­      Immediate key initiatives for the future, Port-au-
elle Spendenvolumen ist unter www.reliefweb.int/fts   Prince 2010, S. 39 ff.
(30. 5. 2010) abrufbar.                               ❙14 Vgl. ebd., S. 21 ff.

                                                                                       APuZ 28–29/2010        15
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