Ausnahmezustand Der Landtag und die Corona-Pandemie - Gegen Corona Vor Corona - Landtag SH

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Ausnahmezustand Der Landtag und die Corona-Pandemie - Gegen Corona Vor Corona - Landtag SH
Nr. 02/ Juni 2020

Ausnahmezustand
Der Landtag und die Corona-Pandemie

   Gegen Corona            Vor Corona       Wegen Corona
  Eine Milliarde und     Schnee, Ölkrise,    Sorgen um die
    neue Gesetze          Tschnernobyl      Menschenrechte
Ausnahmezustand Der Landtag und die Corona-Pandemie - Gegen Corona Vor Corona - Landtag SH
DER LANDTAG 02/2020                                                                               Ausgabe 454 seit 1965

03   Meldungen
                                          18        Corona-Spuren: ein ­Rundgang
                                                    durchs Landeshaus                     30        Leichte Sprache: Lob und mehr
                                                                                                    Geld für Kranken-Schwestern
                                                                                                    und Pfleger
     Ausnahmezustand:
     der Landtag und die                  20         Corona im Plenum: Nachtrags-
                                                     haushalte, Schulgesetz,
                                                                                          31        Beauftragte: Ein Jubiläum und
     Corona-Pandemie                                 ­Kontrollen an der Hamburger                   viele Sorgen wegen Corona
                                                      Grenze, Lage auf den Schlacht-

05   Neue Regeln, neue
     Herausforderungen
                                                      höfen, neue Steuerschätzung,
                                                      Hilfen für die Wirtschaft,          32        Politische Bildung:
                                                                                                    75 Jahre UN-Charta
                                                    ­Pressefreiheit, „Lernsommer“

06   Parlament und Pandemie: Wie
     der Landtag arbeitsfähig blieb

08   Das Corona-Tagebuch: von
     Lockdown bis Lockerung

10   Rückblick 1978/79:
     Auch in der Schneekatastrophe
     herrschte Ausnahmezustand
                                                    Mit mindestens einer Milliarde Euro
                                                    will die Landespolitik die Corona-              Die Skulptur „Non Violence“ (Gewalt-
                                                    Folgen abmildern                                losigkeit) vor dem UN-Gebäude in
                                                                                                    New York: In Corona-Zeiten wächst

                                          25
                                                                                                    die Sorge um die Menschenrechte
                                                    Plenum: die Bundeswehr
                                                    und die Kieler Woche,
                                                    Streit um Tiertransporte
                                                                                          33        Bücherecke: Die Innenminis­
                                                                                                    terien in Ost und West, die

                                          26         Plenum: deutsche
                                                    ­Kolonialgeschichte
                                                                                                    Flüchtlingskrise 2015, die Bedeu-
                                                                                                    tung der Künstlichen Intelligenz
     Kapitulation vor den Schneemassen:
     Der Lockdown dauerte damals Monate
                                          27        Personalien
                                                                                          34        Im Porträt:
                                                                                                    Jörg Hansen (FDP) und Volker

14   Rückblick 1962/1973/1986:
     Sturmflut, Ölkrise und
                                          28        Ausschüsse: Mundschutz und
                                                                                                    Schnurrbusch (AfD) persönlich

     Tschernobyl wirken sich
     auf den Alltag aus
                                                    Schleier an Schulen, Konik-Pferde
                                                    in Dithmarschen                       35        Ins Bild gerückt
                                                                                                    Zu Besuch im Landeshaus

16   Abgeordnete berichten aus
     dem Home-Office                      29        Die Seite für das Ehrenamt
                                                                                          36        Termine, Termine, Termine

                                                                                                         ZÄHLBARES

                                          Der Schnappschuss                                         95,1%
                                          Der CDU-Abgeordnete Hans-Jörn Arp                Um so viel brach die Zahl der Übernachtungs-
                                          aus dem Heavy-Metal-Dorf Wacken                    gäste in Schleswig-Holstein im April 2020
                                          grüßt zu Beginn der April-Sitzung.              gegenüber dem Vorjahr ein. Auch Gastronomie,
                                                                                           Einzelhandel und Industrie rutschten deutlich
                                                                                            ins Minus. Dagegen wurden mehr Fahrräder
                                                                                             verkauft, und die Zahl der Verkehrsunfälle
                                          Titelseite                                                 sank auf ein 30-Jahres-Tief.
                                                                                                   (Quellen: Statistikamt Nord,
                                          Die SPD-Abgeordnete Kerstin Metzner                       Statistisches Bundesamt)
                                          bereitet sich auf die Mai-Plenarsitzung vor.

2                                                   DER LANDTAG 02/2020
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MELDUNGEN

                                                                                                 Wortwörtlich
Landeskabinett umbesetzt –
Streit um Ex-Minister Grote                                                                         „Die Bundes- und Landesregierungen werden
                                                                                                 dabei unter anderem als ‚diktatorisches Hygiene-
                                                                                                     Regime‘, ‚Quasi-Diktatur‘ oder ‚Notstands-
                                                                                                  Regime‘ bezeichnet und auch Gewalt gegenüber
                                                                                                 Passanten, Polizisten oder Journalisten tritt offen
                                                                                                  zu Tage. Demokratische Prozesse und Entschei-
                                                                                                  dungen werden delegitimiert und untergraben.“
                                                                                                                (Tim Brockmann, CDU)
                                                                                                                            •••
                                                                                                    „Verschwörungserzählungen sind gefährlich,
                                                                                                  vor allem, wenn sie zur Grundlage des Denkens
                                                                                                 und Handelns von Menschen werden, die sich für
                                                                                                  berechtigt halten, sich gegen Juden, Freimaurer,
                                                                                                   Tempelritter, Synarchen oder wen auch immer
Ministerpräsident Daniel Günther hat Ende        die angebliche Korrespondenz des Ministers
                                                                                                                bewaffnet zu verteidigen.“
April das Kabinett umgebildet. Neue Innen-       mit einem Journalisten und einem Polizei-                       (Tobias von Pein, SPD)
ministerin ist Sabine Sütterlin-Waack, die       Gewerkschafter, die im Rahmen von Ermitt-                                  •••
zuvor seit 2017 das Amt der Justizminis-         lungen der Staatsanwaltschaft Kiel an die       „Wir sehen heute, dass auch vielen Prominenten
terin innehatte. Sie folgt auf Hans-Joachim      Staatskanzlei gemeldet wurde. Grote weist       die Kerzen durchbrennen. Wenn wir Attila Hild-
Grote, der nach Meinungsverschiedenheiten        die Vorwürfe gegen ihn zurück. Anfang Juni      mann, einen veganen Koch, sehen, der mit Waffe
mit Ministerpräsident Günther von seinem         hat Oppositionsführer Ralf Stegner (SPD)            posiert, und sagt, wir müssen in den Wider-
Posten zurückgetreten war. Neuer Justizmi-       Zweifel an Günthers Darstellung zum Rück-        stand gehen, dass 5-G-Masten die Zellen in uns
                                                                                                   erhitzen würden und all so etwas, dann ist das
nister ist der Abgeordnete Claus-Christian       tritt Grotes geäußert. Stegner hatte Einblick
                                                                                                      ein Mensch, der sehr viel Reichweite hat.“
Claussen. Er leitete zuvor den Parlamenta-       in die von der Regierung bereitgestellten
                                                                                                             (Lasse Petersdotter, Grüne)
rischen Untersuchungsausschuss zur soge-         Akten aus Staatskanzlei, Innenministerium
                                                                                                                            •••
nannten Rocker-Affäre bei der Landespo-          und Justizministerium. Es gebe Hinweise,         „Wir müssen aufpassen, dass sich der Staat nicht
lizei. Alle Beteiligten gehören der CDU an.      wonach die von Grote vorgenommene               zur Meinungspolizei aufschwingt und bestimmt,
Zu Beginn der Mai-Tagung wurde Claussen          Neubesetzung der Polizeispitze im Jahr 2017         welche Meinungen zu billigen und welche zu
von Landtagspräsident Klaus Schlie als           „Missfallen ausgelöst“ habe, so Stegner. In     missbilligen sind. Kritik muss der Staat aushalten,
Minister vereidigt (Foto li.). Sütterlin-        diesen Personalentscheidungen könne der         auch wenn diese unsachlich, dumm, plakativ oder
Waack (re.) war bereits vor drei Jahren          eigentliche Grund für Grotes Ausscheiden        schlicht abwegig ist. Solange sich Meinungsäuße-
                                                                                                   rungen in den Grenzen unserer Rechtsordnung
bei ihrem Amtsantritt als Justizministerin       aus dem Amt gelegen haben. Zudem kriti-
                                                                                                     bewegen, sollte sich der Staat zurückhalten.“
vereidigt worden. Das Stühlerücken im            sierte der SPD-Fraktionschef eine angeblich
                                                                                                                (Jan Marcus Rossa, FDP)
Kabinett hatte zahlreiche Umbesetzungen in       zu große Nähe zwischen der Landesregie-
                                                                                                                            •••
der CDU-Fraktion und in den Ausschüssen          rung und der Kieler Staatsanwaltschaft. Der        „In vielen Medien wird der Eindruck erweckt,
zur Folge (siehe Seite 27). Grote hatte sein     CDU-Fraktionsvorsitzende Tobias Koch            wer gegen die Maßnahmen der Regierung auf die
Amt niedergelegt, nachdem Regierungs-            warf Stegner im Gegenzug vor, „mit nichts       Straße geht, der macht das nur aus einem Grund:
chef Günther das Vertrauensverhältnis als        anderem als Unterstellungen, Vermutungen            Er fürchtet sich vor der Impfmafia, hat Angst
zerrüttet bezeichnet hatte. Hintergrund war      und heißer Luft“ zu arbeiten.                      vor Bill Gates oder ist einfach nur ein Spinner.
                                                                                                   Oder noch schlimmer: Er ist ein Rechter – eine
                                                                                                 Zuschreibung, die heutzutage ja automatisch den

Flemming Meyer verlässt den Landtag                                                                      Meinungsspielraum auf null einengt.“
                                                                                                                  (Claus Schaffer, AfD)
                                                                                                                            •••
Der SSW-Abgeordnete Flemming Meyer               belastbare und vor allem selbstverständliche       „Es gibt sie schon lange: die Menschen, die die
legt zum 1. August sein Mandat nieder. „Ich      Miteinander der dänischen Minderheit und        Medizin als Schulmedizin abqualifizieren und sich
bin seit über elf Jahren Mitglied des Landtags   der Mehrheitsgesellschaft“ sei zu einem           stattdessen an Heilerinnen und Heiler wenden.
und habe mit 68 Jahren ein Alter erreicht, in    großen Teil Meyers Verdienst, sagte Schlie.       Menschen, die Wolken als Chemtrails interpre-
dem es Sinn macht, sich über einen neuen                                                            tieren oder lieber obskuren Quellen vertrauen
Lebensabschnitt Gedanken zu machen“,                                                                 als seriöser Berichterstattung. Menschen, die
sagte Meyer Mitte Juni. Es sei der richtige                                                       den ersten Flug zum Mond als Hollywoodkulisse
                                                                                                 enthüllen. Diese Wichtigtuer tummeln sich schon
Zeitpunkt, für einen Generationswechsel.
                                                                                                           seit Jahren in den sozialen Medien.“
Sein Amt als SSW-Landesvorsitzender will
                                                                                                          (Jette Waldinger-Thiering, SSW)
Meyer im kommenden Jahr abgeben. Für ihn
wird voraussichtlich der 39 Jahre alte Flens-
burger Christian Dirschauer nachrücken.
Er ist stellvertretender SSW-Landesvor-
sitzender. Landtagspräsident Klaus Schlie                                                         Aus der Debatte über sogenannte Grundrechts-
würdigte Meyer in der Juni-Tagung als „parla-                                                           oder Hygiene-Demos am 17. Juni.
mentarisches Urgestein“. Das „sehr gute,

                                                           DER LANDTAG 02/2020                                                                     3
Ausnahmezustand Der Landtag und die Corona-Pandemie - Gegen Corona Vor Corona - Landtag SH
MELDUNGEN

Neue Regeln für die                                                   Der 8. Mai soll ein
Altersversorgung                                                      Gedenktag werden
Die Altersversorgung für Landtagsabgeordnete wird auf ein             Der Landtag hat sich dafür ausgesprochen, den 8. Mai als natio-
neues Modell umgestellt. Die Jamaika-Fraktionen, SPD und              nalen Gedenktag auszurufen. Der Tag des Kriegsendes im Jahr 1945
SSW beschlossen im Juni den entsprechenden Gesetzentwurf.             markiere „auch den Grundstein für unsere heutige freiheitliche
Die AfD und die fraktionslose Abgeordnete Doris von Sayn-             Demokratie, den es im gesellschaftlichen Bewusstsein wachzuhalten
Wittgenstein waren dagegen.                                           gilt“, heißt es in einem im Juni beschlossenen Antrag von CDU, SPD,
                                                                      Grünen, FDP und SSW. Die Landesregierung soll sich auf Bundes-
Demnach wird die Altersentschädigung ab der kommenden Wahl-           ebene für das Anliegen einsetzen. „Die Erfahrungen aus unserer
periode auf Basis der monatlichen Grundentschädigung berechnet.       Geschichte verpflichten uns und künftige Generationen, daraus zu
Sie wird ab dem 67. Lebensjahr an ehemalige Parlamentarier gezahlt,   lernen und Verantwortung zu übernehmen“, sagte die SPD-Abge-
die mindestens ein Jahr lang ihr Mandat innehatten. Mit jedem Jahr    ordnete Özlem Ünsal, die den Vorstoß des Landtages angeregt hatte.
der Mandatszeit steigt die Summe um 1,5 Prozent der Grundentschä-
digung an. Der Höchstbetrag wird nach einer Mandatszeit von 40        Die AfD lehnte den Antrag ab. „Dass der 8. Mai für viele Deutsche den
Jahren erreicht. Er beträgt 60 Prozent der Grundentschädigung.        Beginn von Vertreibung und Heimatverlust bedeutete und den Weg
                                                                      in die Zweistaatlichkeit Deutschlands eröffnete“, werde „bewusst
Der Gesetzentwurf folgt den Empfehlungen einer unabhängigen           oder fahrlässig“ ausgeblendet“, so der Abgeordnete Frank Brodehl.
Sachverständigenkommission. Die Mitglieder des Gremiums kamen
einstimmig zu dem Ergebnis, dass das bisherige Modell mit privater    Zum Beginn der Plenarsitzung am 8. Mai hatte Landtagspräsident
Eigenvorsorge nicht mehr geeignet sei, dauerhaft eine angemes-        Klaus Schlie in einer Ansprache an das Kriegsende in Europa und
sene und krisenfeste Alterssicherung zu gewährleisten. Derzeit        die Befreiung vom Nationalsozialismus vor 75 Jahren erinnert. Die
bekommen die 73 Abgeordneten über die Grundentschädigung              Abgeordneten würdigten die Opfer des Zweiten Weltkrieges mit
hinaus gut 1.800 Euro monatlich, die sie privat in eine Altersvor-    einer Schweigeminute. Die ursprünglich geplante Gedenkstunde
sorge investieren müssen. Diese Beiträge sollen künftig in einen      hatten Landtag und Landesregierung aufgrund der Corona-Pandemie
staatlichen Versorgungsfonds fließen.                                 abgesagt. „Dieser Tag war und ist ein Tag der Befreiung, daran gibt es
                                                                      nicht den leisesten Zweifel“, hob der Parlamentspräsident hervor.

Diäten steigen ab 1. Juli
                                                                      Online-Verfahren für Volks­
um 2,5 Prozent
                                                                      initiativen soll 2021 starten
Die Entschädigung für die Abgeordneten des Landtages steigt ab
dem 1. Juli um 2,5 Prozent von 8.661 auf 8.877 Euro. Grundlage sind   Der bereits vor zwei Jahren angekündigte Online-Dienst für Volks-
laut Abgeordnetengesetz die Zahlen des Statistikamts Nord zur         initiativen soll zu Beginn des kommenden Jahres unter dem Namen
allgemeinen Einkommensentwicklung im vergangenen Jahr. Die            „e-Parti“ an den Start gehen. Das stellte Staatssekretär Torsten
Veränderung betrug demnach im Jahr 2019 gegenüber 2018 plus           Geerdts Anfang Juni im Innen- und Rechtsausschuss in Aussicht.
2,5 Prozent. Ein Vorstoß der AfD, die jährliche Diätenerhöhung für    Innenministerium und Landtag würden ab Herbst mit dem
den Rest der Legislaturperiode wegen der Corona-Pandemie auszu-       IT-Dienstleister des Landes, der Firma Dataport aus Altenholz bei
setzen, fand im Juni keine Zustimmung.                                Kiel, eine Testphase starten, so Geerdts. Der SSW hatte das Thema
                                                                      auf die Tagesordnung gesetzt. Gerade in Corona-Zeiten sei es für
                                                                      Volksinitiativen wichtig, nicht nur in der Fußgängerzone, sondern
Haushalt 2021 kommt später                                            auch im Internet „Stimmen einholen“ zu können, so der Abgeord-
                                                                      nete Lars Harms.
Die Aufstellung des Landeshaushalts für 2021 verzögert sich wegen
der Corona-Krise. Das kündigte Finanzministerin Monika Heinold        Der Landtag hatte die gesetzliche Möglichkeit für die Online-
(Grüne) Anfang Juni an. Die Landesregierung wolle zunächst die        Volksinitiative bereits 2016 geschaffen. Vertreter der Anfang Juni
Auswirkungen des 130-Milliarden-Euro-Konjunkturprogramms des          gestarteten „Volksinitiative zur Weiterentwicklung des Gesetzes zur
Bundes auf den Landeshaushalt prüfen und die Sondersteuerschätzung    Energiewende und zum Klimaschutz in Schleswig-Holstein“ kriti-
im September abwarten, so Heinold. Entsprechend wird der Landtag      sieren die Verzögerung und wollen das Land mit einer Klage vor dem
den Etat voraussichtlich erst zu Beginn des kommenden Jahres verab-   Schleswiger Verwaltungsgericht verpflichten, das Online-Verfahren
schieden. Üblicherweise geschieht das im Dezember des jeweiligen      unverzüglich einzuführen oder alternativ eine Teilnahme per Brief
Vorjahres. Der Finanzausschuss verständigte sich Mitte Juni bereits   zuzulassen.
auf einen geänderten Zeitplan für die Haushaltsberatungen.

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Ausnahmezustand Der Landtag und die Corona-Pandemie - Gegen Corona Vor Corona - Landtag SH
A U S N A H M E Z U S TA N D

Hygieneregeln im Plenarsaal: Abgeordnete verfolgen die Debatte             Infektionsschutz auch am Rednerpult: Ministerpräsident Daniel Günther
hinter Plexiglas.                                                          hinter Glaswänden

Abstandsregeln auf der Tribüne: Die meisten Plätze mussten leer bleiben.   Mit Mundschutz an den Platz: neue Regeln für den Plenarsaal

Ausnahmezustand
Die Corona-Pandemie hat Spuren hinterlassen, nicht nur im Plenar-          Bei allen Differenzen war sich die Landespolitik einig: Corona ist
saal des Landtages, sondern im ganzen Land. Auf den folgenden              eine bislang einmalige Herausforderung. Beim Blick ins Archiv
Seiten blicken wir auf den Verlauf der Krise vom März bis in den           haben wir dennoch Ereignisse gefunden, die ähnlich tiefe Eingriffe in
Juni, auf die Arbeit des Parlaments unter erschwerten Rahmen­              den Alltag mit sich brachten, wie die Schneekatastrophe 1978/79, die
bedingungen und auf die zahlreichen Debatten zu diesem Thema –             Ölkrise 1973 oder die Atomkatastrophe in Tschernobyl 1986. Davon
etwa zum milliardenschweren Hilfspaket für die heimische Wirt-             handeln unsere Rückblickgeschichten.
schaft und zu den Kontrollen an der Hamburger Stadtgrenze.

Hinter Absperrband: Auch Medienvertreter mussten sich an neue Arbeitsbedingungen gewöhnen.          Dialog durch die Glaswand: Aminata Touré (Grüne)
                                                                                                    und Tobias von der Heide (CDU)

                                                               DER LANDTAG 02/2020                                                                 5
Ausnahmezustand Der Landtag und die Corona-Pandemie - Gegen Corona Vor Corona - Landtag SH
Das Parlament und die Pandemie
Der Landtag fuhr den Betrieb herunter – blieb aber funktionsfähig
Krisenzeiten, so war in den vergangenen           dauerten die Plenarsitzungen Ende März und           Landtag blieb Gesetzgeber
Wochen vielfach zu hören und zu lesen, seien      Mitte April nur wenige Stunden. Nur gut die             und Ort der Debatte
die Zeiten der Exekutive, also der Regierung      Hälfte der 73 Abgeordneten waren anwe-
und der ihr unterstellten Verwaltung. Und         send. Sie kamen mit Mundschutz in den             Trotz der Corona-Regeln blieb eine Grund-
nicht die Zeit für Grundsatzdebatten und          Saal, und zwischen ihnen blieb jeweils ein        funktion des Landtages unangetastet: Der
parlamentarische Verfahren. Der Landtag           Platz als Sicherheitsabstand frei. Für die Mai-   Landtag beschließt Gesetze. Zahlreiche
hat sich in der Coronakrise ein Stück weit        Tagung wurden Trennscheiben aus Acrylglas         Gesetze, die die Coronakrise lindern sollen,
zurückgenommen, auch wegen der Beschrän-          eingebaut, so dass wieder alle Abgeordneten       debattierte und verabschiedete das Parlament
kungen für Kontakte und Zusammenkünfte.           an den diesmal zweitägigen Beratungen             im Frühjahr, etwa zwei Nachtragshaushalte
Zugleich haben die Abgeordneten aber darauf       teilnehmen konnten. Mitte Juni gab es dann        mit einem Gesamtvolumen von einer Milli-
geachtet, dass die Grundregeln der Gewal-         wieder eine Sitzung über die vollen drei Tage.    arde Euro. Dabei wendete der Landtag erst-
tenteilung, also die Gesetzgebungsfunktion        Mit 75 Tagesordnungspunkten und rund 30           mals einen Passus in der Landesverfassung
des Landtages und die parlamentarische            Debatten wurde der „Rückstau“ der vergan-         an, der „im Falle von Naturkatastrophen oder
Kontrolle der Regierungsarbeit, gewährleistet     genen Monate aufgearbeitet.                       außergewöhnlichen Notsituationen“ eine
blieben. Denn das Parlament ist laut Landes-                                                        Abkehr von den strengen Vorgaben der Schul-
verfassung das „oberste Organ der politi-         Ein Umzug in einen größeren Saal außer-           denbremse ermöglicht. Dafür ist eine Zwei-
schen Willensbildung“.                            halb des Landeshauses, den andere Landes-         Drittel-Mehrheit nötig. Neben den Jamaika-
                                                  parlamente antraten, wäre „schon aufgrund         Fraktionen hatten auch die Oppositions-
Mit ihren Verordnungen und Erlassen               der Kosten und der fehlenden Infrastruktur        parteien SPD und SSW zuvor zugesagt, den
wendete die Landesregierung bestehende            nicht praktikabel gewesen“, betont Land-          Hilfskurs zu stützen. So waren die notwen-
Gesetze an. Die Vorgaben, etwa zum Verbot         tagspräsident Klaus Schlie. Das schleswig-        digen 49 Stimmen im Parlament sicher. Die
von Versammlungen und großen Veran-               holsteinische Modell stieß bundesweit             AfD votierte ebenfalls für den ersten Nach-
staltungen, zur Schließung von Kitas und          auf Interesse: Fünf Landtage erkundigten          tragshaushalt, beim zweiten enthielt sie sich.
Schulen, zum Kontaktverbot mit Bewoh-             sich nach den Acrylglasscheiben im Kieler
nern von Pflegeheimen oder zur Pflicht, eine      Plenarsaal.                                       Der Landtag beschloss auch ein Paket zur
Schutzmaske zu tragen, griffen tief in die                                                          Anpassung von insgesamt 29 Gesetzen an
Grundrechte der Bürger ein.                       Auch die Besuchertribüne blieb weitge-            die aktuellen Herausforderungen, um das
                                                  hend leer, die Termine für Besuchergruppen        Bildungssystem auf die neue Lage umzu-
     Abstandsregeln auch im                       musste das Referat für Öffentlichkeitsarbeit      stellen. In weiteren Corona-Debatten ging
          ­L andeshaus                            leider absagen. 20 Plätze für Journalisten        es um Schlachthofmitarbeiter und deren
                                                  und für Einzelbesucher sowie Live-Übertra-        prekäre Wohnverhältnisse, die die Ausbrei-
Die Einschränkungen, Abstandsregeln und           gungen im Internet und im Offenen Kanal           tung des Virus beförderten, um „Hygiene-
Hygienevorschriften betreffen auch die            Kiel sorgten aber für die in der Landesver-       Demos“ und um die Hilfe für notleidende
Abgeordneten und das Landeshaus. Um               fassung vorgesehene Öffentlichkeit der            Branchen wie Gastronomie, Kultur und
Kontakte so weit wie möglich zu verhindern,       Sitzungen.                                        Schiffbau (siehe ab Seite 20).

                                                                                                       Oppositionsführer Stegner
                                                                                                          am Kabinettstisch

                                                                                                    Ein weiterer Beschluss stellte im März die
                                                                                                    Weichen für den Fall, dass ein Großteil der
                                                                                                    Abgeordneten gleichzeitig erkranken oder
                                                                                                    in Quarantäne isoliert werden sollte. Durch
                                                                                                    eine bis zum 31. Juli befristete Änderung
                                                                                                    der Geschäftsordnung gilt der Landtag als
                                                                                                    beschlussfähig, wenn mindestens elf Abge-
                                                                                                    ordnete anwesend sind und wenn die Frak-
                                                                                                    tionsstärken proportional erhalten bleiben.
                                                                                                    In normalen Zeiten sind dazu mehr als die
                                                                                                    Hälfte der Parlamentarier erforderlich. Eine
                                                                                                    weitere Sonderregelung: Der Landtag hat
                                                                                                    die Immunität der Abgeordneten pauschal
                                                                                                    für den Fall aufgehoben, dass ein Parla-
                                                                                                    mentarier sich nicht an die Corona-Schutz-
Tagung mit halber Besetzung: der Landtag Anfang April

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Ausnahmezustand Der Landtag und die Corona-Pandemie - Gegen Corona Vor Corona - Landtag SH
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maßnahmen halten sollte. Oppositions-           „Das Parlament nimmt seine Verantwor-                  Die Landtagsverwaltung
führer Ralf Stegner (SPD) nahm ab März          tung voll wahr“, betonte der Vorsitzende des             ­unterstützt aus dem
zwischenzeitlich an den Kabinettssitzungen      Sozialausschusses, Werner Kalinka: „Dazu                     Home-Office
teil, auf Einladung von Ministerpräsident       zählt, dass trotz eingeschränkter Arbeits-
Daniel Günther (CDU). „Das hat den großen       möglichkeiten Ausschüsse tagen.“                  Ein Punkt ist für den Landtagspräsidenten
Vorzug, viele Informationen zu bekommen                                                           zentral für die Arbeit der Abgeordneten:
und auch Einfluss nehmen zu können“, so             Kleine Anfragen wurden                        „Unsere Verwaltung ist auch in dieser
Stegner: „Natürlich werden da die Rollen                 ­weiter gestellt                         Ausnahmesituation       absolut    leistungs-
von Regierung und Opposition für eine                                                             fähig.“ Ein Großteil der Mitarbeiter arbeitet
Weile teilweise verwischt. Aber die Zeiten      Ein zentrales Instrument, mit dem die Oppo-       von zu Hause aus, und das Zusammenspiel
sind auch nicht normal.“ Die Menschen           sition die Arbeit der Landesregierung unter       zwischen ihnen und der „Notbesetzung“
wollten Problemlösungen, und da stehe die       die Lupe nimmt, sind die Kleinen Anfragen.        im Landeshaus klappt. „Die Funktions- und
Opposition ebenso in der Verantwortung          Jeder Abgeordnete kann sie stellen, die Regie-    Arbeitsfähigkeit der Landtagsverwaltung
wie die Regierung, so Stegner.                  rung hat zwei Wochen Zeit zum Antworten.          ist in diesen außergewöhnlichen Tagen und
                                                Wegen der gestiegenen Arbeitsbelastung            Wochen sichergestellt“, fasst Landtags­
      Die parlamentarische                      in den Ministerien hat der Ältestenrat diese      direktor Utz Schliesky zusammen. Landtags-
      ­Kontrolle ging weiter                    Frist Anfang April vorübergehend auf vier         präsident Schlie stellt klar: „Unser Landes-
                                                Wochen verlängert. Auch während der               parlament ist genauso handlungsfähig wie
Auch unter den neuen Bedingungen sind die       Corona-Krise nahmen vor allem Opposi-             unsere Landesregierung, alle Behörden im
Abgeordneten ihren weiteren Kernaufgaben        tionspolitiker von SPD, AfD und SSW ihr           Land und die Justiz.“ Möglich macht dies
nachgekommen, neben der Haushalts­hoheit        Fragerecht wahr. Dabei ging es beispielsweise     die Grundausstattung im Landtag. So sind
und der Verabschiedung von Gesetzen:            um die Verwendung von Recyclingbeton, um          fast alle Arbeitsplätze mit Laptops für das
nämlich Ansprechpartner für die Bürger zu       das Gänsemanagement, um Bebauungspläne            mobile Arbeiten in einem streng gesicherten
sein, auch vom Home-Office aus (siehe Seiten    in Travemünde oder um die Städtebauförde-         IT-Netz ausgerüstet. Und da auch die
16/17), und die Arbeit der Regierung kritisch   rung in Neumünster – politisches Alltags-         Diensttelefone zu den Heim­    arbeitsplätzen
zu begleiten. So unterrichtete die Landes­      geschäft auch in nicht alltäglichen Zeiten.       weitergeleitet werden können, sind die
regierung den Landtag ständig über geplante     Landtagspräsident Klaus Schlie unterstreicht:     Verwaltungsmitarbeiter auch für Anfragen
neue Verordnungen. Das ist im Parlaments­       „Eines ist klar: Unser parlamentarisches          „von außen“ erreichbar.
informationsgesetz so vorgesehen.               System funktioniert.“

Die Ausschüsse des Landtages kamen am
Beginn der Krise wöchentlich zusammen,
meist per Telefonkonferenz. Bei bedeut-
samen Entscheidungen reicht der telefo-
nische Austausch jedoch nicht aus. Laut
Geschäftsordnung sind Präsenzsitzungen
der Ausschüsse im Landeshaus erforder-
lich, wenn abgestimmt wird – etwa über
die Nachtragshaushalte und die zahlreichen
Gesetzesänderungen. Deswegen kamen
einige Ausschüsse auch in den Wochen der
strengen Kontaktbeschränkungen in Kiel
zusammen. Der Ältestenrat, in dem der
                                                Auch während der Beschränkungen für größere Versammlungen zogen Bürger vors Landeshaus,
Landtagspräsident, seine Stellvertreterinnen    um für ihre Anliegen zu demonstrieren. Dabei ging es um faire Milchpreise (oben) oder um die
sowie die Fraktionsvorsitzenden zusam-          Lage der Reisebüros in der Krise (unten). Die Veranstaltungsbranche, die Busunternehmen sowie
menkommen, traf sich ebenfalls einmal           die Krabben- und Küstenfischer meldeten sich ebenfalls per Demo vor dem Landtag zu Wort.
wöchentlich in einer Telefonkonferenz.

Im Mai wurden auch die beiden großen
Sitzungssäle des Landeshauses mit Trenn-
wänden aus Acrylglas ausgestattet, so dass
die Fachgremien wieder vor Ort zusam-
menkommen konnten. In den zahlrei-
chen Sitzungen hatten die Fachpolitiker
die Möglichkeit, beim jeweiligen Minister
Informationen über die aktuelle Lage
einzuholen und mit Blick auf die Pläne der
Landesregierung nachzuhaken. Auch diese
Sitzungen wurden im Internet übertragen.

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Das Corona-Tagebuch
18. März: Der L
              ­ ockdown beginnt                                               17. April: Ein Dankeschön und
Schleswig-Holstein fährt herunter. Schulen, Unis, Kitas, Thea-                erste Lockerungen
ter, Spielplätze, Restaurants und viele Läden bleiben zunächst                Das Land hat nach Einschätzung von Ministerpräsident Gün-
geschlossen, und der Norden wird zum „Sperrgebiet“ für Tou-                   ther ein Zwischenziel zur Überwindung der Corona-Krise er-
risten. „Wir schränken das öffentliche Leben so drastisch ein,                reicht. Der Regierungschef stellt erste Lockerungen vor. Dazu
um diejenigen zu schützen, die einer Risikogruppe angehören“,                 gehören die Öffnung von Geschäften bis 800 Quadratmeter
erklärt Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) im Landtag:                    Fläche, dazu von Fahrradläden, Buchhandlungen und Auto-
„Uns ist klar, dass wir den Menschen viel abverlangen.“                       häusern.

  Die Corona-Krise sei eine „Herausforderung für uns als ganze                  Die Notbetreuung in den Kitas soll ausgeweitet werden. Schul-
Gesellschaft“, betont Günther: „Eine vergleichbare Situation hatten           abschluss- und Hochschulprüfungen sollen über die Bühne gehen,
wir noch nie“. Das Virus habe Entscheidungen nötig gemacht, „die              die übrigen Schüler und Kita-Kinder sollen ab dem 4. Mai zurück-
wir uns bis vor kurzem so nicht hätten vorstellen können“. Der                kehren. Günther lobt „das vorbildliche Verhalten der allermeisten
Landtag beschließt ein 500 Millionen Euro schweres Nothilfepaket.             Bürgerinnen und Bürger“. Die Rückkehr zur Normalität werde
Der Ende Februar eingereichte Nachtragshaushalt wird aufgestockt.             aber „nicht Tage oder Wochen, sondern Monate“ dauern. Einen
Damit sollen die Folgen für Betriebe und Beschäftigte gemildert               besonderen Dank richtet der Ministerpräsident an „alle Menschen
werden. Die Landesmittel sollen das Hilfsprogramm des Bundes                  im Gesundheitswesen, alle, die unsere Versorgung sichern und die
ergänzen. „Wir wollen den wirtschaftlichen Schaden begrenzen,                 unser Gemeinwesen am Laufen halten“.
auch wenn wir uns nichts vormachen sollten: Dieser wird gewaltig
sein“, unterstreicht FDP-Fraktionschef Christopher Vogt.                        Oppositionsführer Stegner moniert das erfolglose „Vorpreschen“
                                                                              von Bildungsministerin Karin Prien (CDU) für eine Absage der
  Die Oppositionsparteien SPD und SSW haben zuvor zugesagt,                   Abiturprüfungen, und er kritisiert die strengen Kontrollen an der
den Nachtrag zu unterstützen. Damit steht die notwendige Zwei-                Hamburger Stadtgrenze, die das gute Verhältnis der Nord-Länder
Drittel-Mehrheit, um die Schuldenbremse in der Landesverfassung               belasteten. Stegner mahnt die rasche Öffnung der Spielplätze an
zur Krisenabwehr auszusetzen. Dasselbe passiert noch einmal, bei              und fordert eine „baldige Perspektive“ für die Gastronomie. „Die
einem zweiten Nachtrag über erneut 500 Millionen Euro im Mai.                 Richtung stimmt“, lobt Jörg Nobis (Af D) den Kurs der Landes­
Dies sei „nicht die Stunde für die üblichen Rituale von Opposition            regierung. Die Politik handele parteiübergreifend und funktioniere
und Regierung“, so SPD-Oppositionsführer Ralf Stegner.                        gut, urteilt Lars Harms vom SSW.

Gespräch am Rande der Mai-Tagung: Ministerpräsident Daniel Günther (li.) und Oppositionsführer Ralf Stegner (2. v. re.)

8                                                              DER LANDTAG 02/2020
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7. Mai: Perspektiven für Kitas, Schulen                                      18. Juni: Durchatmen und Warnung
und den Tourismus                                                            vor Sorglosigkeit
Bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie tritt Schleswig-                      „Das messbare Infektionsgeschehen ist in Schleswig-Holstein
Holstein in eine „neue Phase“ ein. Das betont Ministerpräsident              ausgesprochen gering.“ So fasst Sozialminister Heiner Garg (FDP)
Günther vor dem Landtag und kündigt weitgehende Lockerun-                    die aktuelle Lage zusammen. Zehn von 15 Kreisen seien seit min-
gen in den Bereichen Kinderbetreuung, Gastronomie, Touris-                   destens einer Woche corona-frei. Er sei froh, dass die Menschen
mus und Freizeit an.                                                         „nach Wochen der Angst“ wieder aufatmeten, so Garg.

  „Wir können heute feststellen, dass wir das Infektionsgeschehen            Die Freude über die positive Entwicklung dürfe aber nicht in Sorg-
weiter im Griff haben“, sagt Günther. Zugleich mahnt er die                  losigkeit umschlagen, warnt der Minister: „Wir leben mitten in der
Menschen, die neue Situation „mit Augenmaß“ anzugehen und die                Pandemie, wir leben mit dem Virus.“ Ministerpräsident Günther
Hygienevorschriften und das Abstandsgebot von 1,50 Meter weiter              zeigt sich zufrieden mit der Arbeit seiner Regierung: „Wir sind
einzuhalten. Konkret sollen die Kitas in mehreren Stufen hochge-             krisenfest. Wir haben auch in diesen Zeiten gezeigt, dass wir regieren
fahren werden. Ab dem 25. Mai sollen alle Klassen in den Grund-              können, dass wir dieses Land voranbringen können.“
schulen „zumindest tageweise“ offenstehen, und für alle Schüler
soll es bis zu den Sommerferien eingeschränkten Präsenzunterricht            SPD-Landeschefin Serpil Midyatli fordert mehr Engagement der
geben. Am 18. Mai sollen Restaurants, Gaststätten, Hotels, Ferien­           Landesregierung gegen die Wirtschaftskrise. „Der Bund macht
wohnungen und Campingplätze wieder in Betrieb gehen. Die Betre-              Wumms, Jamaika macht leider Rumms“, sagt sie mit Blick auf das
tungsverbote für Inseln und Halligen werden aufgehoben, und                  Konjunkturprogramm des Bundes und dessen Umsetzung im Lande.
„touristische Verkehre nach Schleswig-Holstein werden wieder                 Das Geld müsse auch im Kulturbereich, bei den Verkehrsbetrieben,
möglich sein“. Es gehe jetzt darum, „Verantwortung und Freiheit“ in          bei den Auszubildenden und in den Familien ankommen. CDU-
Einklang zu bringen, so der Ministerpräsident.                               Fraktionschef Tobias Koch spricht dagegen von einer „bärenstarken
                                                                             Antwort auf die jetzige Krise“. Nun komme es darauf an, den Motor
  Oppositionsführer Stegner weist auf die schwierige Situation vieler        der Wirtschaft wieder zum Laufen zu bringen, und da gäben die
Menschen in Pflegeheimen hin und mahnt „Respekt für unsere Eltern            verschiedenen Hilfsprogramme die richtigen Antworten: „Mehr,
und Großeltern“ an. Bei der staatlichen Unterstützung müssten jetzt          finde ich, kann man nicht machen, um diese Krise zu meistern.“ Koch
das Pflegepersonal, die Erzieher und die Reinigungskräfte im Mittel-         spricht von einem „Gemeinschaftserfolg von CDU/CSU und SPD in
punkt stehen. In Schleswig-Holstein sei „ein guter Weg gefunden,             Berlin und von CDU, Grünen und FDP in Schleswig-Holstein“.
der Raum für Optimismus ermöglicht“, betont Grünen-Fraktions-
chefin Eka von Kalben. Dennoch bleibe vieles unklar: „Die Menschen
wollen einen Plan, aber wir haben keine Glaskugel.“

Große Einigkeit im Grundsatz, viele Debatten über Einzelfragen: das Parlament in Corona-Zeiten

                                                              DER LANDTAG 02/2020                                                                9
Ausnahmezustand Der Landtag und die Corona-Pandemie - Gegen Corona Vor Corona - Landtag SH
VOR 41 JAHREN

                    Was hat die Landespolitik in früheren Zeiten bewegt?
         In dieser Serie blicken wir ins Archiv und spüren nach, was den Landtag in vergangenen Zeiten beschäftigt hat.
      Einschränkungen im öffentlichen Leben, wie in der Coronakrise, gab es früher schon – etwa im Schneewinter 1978/79.

     1979:                  Das Land steht still –
                            wegen zu viel Schnee
Die Menschen werden aufgerufen, zu Hause zu bleiben und ihre Autos stehen zu las-
sen. Die Schule fällt aus, Betrieben geht die Arbeit aus, und in einigen Läden wird das
Angebot knapp. So war es aktuell, während der Coronakrise, und so war es auch im
Schneewinter 1978/79. So wie heute gab es damals massive Einschränkungen für je-
den einzelnen, gleichzeitig eine große Solidarität untereinander, mutige Helfer und
auch Störenfriede. Und ebenso wie heute schnürte die Landespolitik ein millionen-
schweres Hilfspaket. Der große Unterschied: Heute geht die Bedrohung von einem
unsichtbaren Virus aus. Vor 41 Jahren lag die Gefahr deutlich sichtbar meterhoch vor
jeder Haustür, und das monatelang.

D     er 28. Dezember 1978 hatte mit Niesel-
      regen und milden Temperaturen um
die zehn Grad begonnen. Im Lauf des Nach-
                                               zudem die Gas-, Heizungs- und Wasser-
                                               rohre. Schwangere und Kranke kamen nicht
                                               zu den Kliniken durch. In 31.000 Haushalten
mittags zog jedoch eiskalte Luft aus Skandi-   an der dänischen Grenze fiel das Telefon aus.
navien über die Ostsee heran, und das Ther-    Bäckereien ging das Mehl und die Hefe aus.
mometer fiel innerhalb weniger Stunden auf     Bauern hatten kein Futter mehr für ihr Vieh,
20 Grad unter null. Auf Schleswig-Holstein     und Milchkühe litten, weil der Strom für die
gingen drei Tage lang Massen von Schnee        Melkmaschinen fehlte.
nieder, die vom orkanartigen Wind meter-
hoch aufgetürmt wurden. Eine Sturmflut          Monatelange Einschnitte im Alltag              SPD-Oppositionsführer Klaus Matthiesen
zerstörte Strände, Promenaden und Hafen­
anlegen an der Ostsee. Straßen verschwanden
unter Bergen von Schnee und Eis, dutzende
Autofahrer hingen fest, bei Sörup (Kreis
                                               Alle Landkreise in Schleswig-Holstein riefen
                                               Katastrophenalarm aus und erteilten Fahr-
                                               verbote. Nur in Flensburg, Kiel, Neumünster
                                                                                               A     nfang Januar 1979 hörte der Schnee-
                                                                                                     fall auf, aber die Temperaturen
                                                                                               blieben im Minusbereich. Die Schleswig-
Schleswig-Flensburg) blieb ein Regionalzug     und Lübeck durften die Autos noch rollen.       Holsteiner, die inzwischen in gemein-
mit 70 Passagieren stecken. Armdicke           Die Bundeswehr erklärte die Alarmstufe          samen Räumaktionen Schneisen durch die
Eispanzer bildeten sich um Stromleitungen,     „Sturmvogel II“. Nördlich von Heide,            Schneewüste geschlagen hatten, lebten
vielerorts brachen die Kabel, und Masten       Rendsburg, Kiel und Lübeck fuhr kein Zug        wochenlang in einer bizarren Winterland-
stürzten ein. 80 Gemeinden im Norden des       mehr. Zehntausende Helfer machten sich          schaft. Kinder, deren Schulen geschlossen
Landes mussten tagelang ohne Elektrizität      auf, die Krise zu bewältigen.                   blieben, vertrieben sich die Zeit mit Rodeln
auskommen, und in vielen Häusern platzten                                                      und Iglu bauen. Mitte Februar setzten
                                                                                               erneut Schneefall und Eiseskälte ein, und
                                                                                               Schleswig-Holstein kehrte tagelang in den
                                                                                               Katastrophenmodus zurück. Die Ostsee fror
                                                                                               zu, allein in der Kieler Förde und der Kieler
                                                                                               Bucht steckten 80 Schiffe im Eis fest. Die
                                                                                               weiße Pracht blieb dem Land lange erhalten,
                                                                                               in Husum schmolzen die letzten Schnee­
                                                                                               haufen am 20. Mai.

                                                                                               Mitten in der Tiefschneeperiode, am 30.
                                                                                               Januar 1979, debattierte der Landtag über die
                                                                                               Lage und die Konsequenzen für zukünftige
                                                                                               Katastrophenfälle. Die Landespolitik dankte
                                                                                               den zigtausenden hauptamtlichen und frei-
                                                                                               willigen Helfern von Bundeswehr, Polizei,
                                                                                               Straßenverwaltung, Feuerwehr, Deutschem
Blick in den Landtag, Ende der 1970er Jahre

10                                                       DER LANDTAG 02/2020
A U S N A H M E Z U S TA N D

Roten     Kreuz,    Arbeitersamariterbund,       mitmenschlichen Solidarität haben in den        dezentralen Leitung und Führung“ gelegen,
Malteser-Hilfsdienst,     Johanniter-Unfall-     Stunden der Gefahr über staatliche Vorsorge     erklärte Ministerpräsident Stoltenberg: „So
hilfe und Technischem Hilfswerk. „Über           hinaus das Handeln bestimmt“, betonte           konnten von den Kreisen, entsprechend
eine Woche haben die Helferinnen und             Stoltenberg. Er habe selbst gesehen, „wie       der örtlichen Lage, die verfügbaren Kräfte
Helfer in einem harten, bis an die Grenzen       sich die Menschen gegenseitig unterstützt       optimal eingesetzt werden.“ SPD-Frakti-
der Kräfte gehenden Einsatz gestanden“,          haben, wie sie ihre Nachbarn aufnahmen          onschef Matthiesen ergänzte: „Die Wahl
sagte Ministerpräsident Gerhard Stolten-         oder bereit waren, Vorräte und warme            örtlicher ‚Schneevögte‘ unmittelbar nach der
berg von der damals allein regierenden CDU       Kleidung zu teilen“. Der Regierungschef         Überwindung der Katastrophe zeigt, dass
in einer Regierungserklärung. „Ihre tatkräf-     hob etwa den „Einsatz vieler engagierter        die Gemeinden nicht allein auf die Kreis­
tige, uneigennützige Hilfe hat wesentlich        Funkamateure“ hervor, die dabei halfen,         instanz angewiesen sein wollen.“
dazu beigetragen, das Ausmaß der Not             Informationen in Gegenden ohne Telefon
zu begrenzen und zu lindern und größere          zu übermitteln. CDU-Fraktionschef Heiko         Klagen über „schaulustige“ Autofahrer
Schäden an Leib und Leben sowie Hab und          Hoffmann verwies darauf, „dass beispiels-
Gut zu vermeiden. Sie haben unserem Land
und den betroffenen Menschen unschätz-
bare Dienste erwiesen“, erklärte der Regie-
                                                 weise in Angeln, als Telefonnetze zusam-
                                                 menbrachen, spontan Feuerwehrstafetten
                                                 eingerichtet wurden, die durch das Heran-
                                                                                                 W       o Licht ist, da ist auch Schatten.
                                                                                                         Auch 1978/79 gab es Berichte
                                                                                                 über Hamsterkäufe und sprunghaft stei-
rungschef unter dem Beifall des ganzen           schaffen von Arzneimitteln, die telefonisch     gende Preise. Das damalige Gegenstück zu
Hauses. Zu den Helden des Schneewinters          nicht angefordert werden konnten, kreis-        heutigen „Corona-Partys“ waren die Katas­
gehörten etwa die Hubschrauberpiloten,           laufkranke Menschen vor dem sicheren            trophentouristen. „Leider hat eine Reihe von
die abgeschnittene Dörfer versorgten und         Tod retteten“. Oppositionsführer Klaus          Mitbürgern trotz wiederholter Appelle die
Kranke transportierten, die Polizisten           Matthiesen (SPD) strich „das Beispiel junger    selbstverständliche Verhaltensregel verletzt,
und die Panzerfahrer der Bundeswehr, die         Leute“ heraus, „die, nach Unterbrechung         zu Hause zu bleiben“, merkte Stoltenberg
steckengebliebene Fahrzeuge freiräumten          der Verkehrsverbindungen, mehrstündige          an: „Insbesondere Kraftfahrer haben sich
und im Konvoi in Sicherheit begleiteten,         Fußmärsche auf sich nahmen, um zu ihrer         durch Befahren bereits gesperrter Straßen
oder die Monteure des Stromversorgers            Katastrophenschutzeinheit zu gelangen“.         unnötig in Gefahr begeben, zusätzliche risi-
SCHLESWAG, des Vorgängers der heutigen                                                           koreiche Hilfsaktionen erforderlich gemacht
Schleswig-Holstein Netz AG. Die Elektriker
kletterten bei Sturm und Eiseskälte in die
Masten, um gerissene Leitungen zu flicken.
                                                 A     uch damals wurde, wie heute, über
                                                       Zuständigkeiten gestritten. Ist es
                                                 besser, wenn die Entscheidungsträger so nah
                                                                                                 und die Räumarbeiten behindert.“ Der
                                                                                                 Ministerpräsident prangerte „Gedanken­
                                                                                                 losigkeit, Egoismus und Nachlässigkeit“ an.
                                                 wie möglich vor Ort sind, oder ist eine zent-   Das Protokoll vermerkt an dieser Stelle den
   Amateurfunker und freiwillige                 rale Leitung nötig, damit kein „Flickentep-     empörten Zwischenruf des CDU-Abgeord-
     ­Feuerwehr springen ein                     pich“ verschiedener Maßnahmen entsteht?         neten Fritz Latendorf: „Verdammte Neugie-
                                                 1979 fiel die Antwort parteiübergreifend und    rige!“ Auch SPD-Mann Matthiesen fand
Wie in der aktuellen Coronakrise, so taten       eindeutig aus. Trotz der teilweise unterbro-    klare Worte: „Die Freiheit des Autofahrers
sich auch damals zahllose freiwillige Helfer     chenen Kommunikation habe das Krisen-           in solchen Katastrophentagen sollte künftig
hervor. „Tugenden des Zusammenstehens            management im Wesentlichen funktioniert,        da aufhören, wo sie zur Gefährdung anderer
in der Not, der Nachbarschaftshilfe und der      und das habe auch an den „Vorzügen einer        und zur Behinderung von Rettungs- und

                   Begrüßung per Handschlag:
         Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg
              (CDU, li.) und FDP-Fraktionschef
            Uwe Ronneburger. Beide Politiker
                waren Ehrenbürger des Landes
                           Schleswig-Holstein.

                                                           DER LANDTAG 02/2020                                                              11
Räumungsmaßnahmen führt.“ Katastro-              habe man es geschafft, „die Autobahn von        forderte Hoffmann, damit die Feriengäste
phen seien „für Ausflüge von Schaulustigen       Aalborg bis Krusaa befahrbar zu halten,         „nicht mit irgendwelchen Unannehmlich-
aller Art nicht geeignet“.                       während man von Kupfermühle bis Rends-          keiten von der Schneekatastrophe“ konfron-
                                                 burg auf der Autobahn vor den Schnee-           tiert würden.
Der FDP-Fraktionsvorsitzende Uwe Ronne-          massen kapitulieren musste“. Ministerpräsi-
burger zeigte sich „bestürzt“ über Aussagen      dent Stoltenberg widersprach. Der dänische      Um dies zu gewährleisten, brachte die
aus der Spitze der Bundespost, die damals        Außenminister Henning Christophersen            Landesregierung einen Nachtragshaushalt
für das Telefonnetz verantwortlich war.          habe im Folketing erklärt, es sei notwendig     auf den Weg, der, auch das ist eine Parallele
Der Leiter des Fernmeldeamtes Flensburg          gewesen, die Grenze zu schließen. Und er        zu heute, im Landtag einstimmig verab-
habe in einem Zeitungsbericht gesagt: „Die       habe hinzugefügt: „Die deutschen Behörden       schiedet wurde. „Eine solche Situation“, so
Ausstattung der Fernmeldevermittlungen           haben getan, was sie überhaupt konnten, um      der Freidemokrat Ronneburger, dürfe nicht
der Bundespost geht nicht vom Katastro-          die schwierige, katastrophenartige Situation    „Anlass oder Ausgangspunkt parteipoliti-
phenfall aus.“ Es reiche aber nicht aus, so      so gut wie überhaupt möglich zu meistern“.      scher Kontroversen sein“. 55,8 Millionen
Ronneburger, nur für den „Normalfall“ zu         Diese Beurteilung, unterstrich Stoltenberg,     DM flossen in die Sanierung öffentlicher
planen. Es müsse „auch für den Ernstfall,        „stimmt voll mit unseren Feststellungen         Gebäude und Straßen, in den Küstenschutz,
den Katastrophenfall“ vorgesorgt werden.         überein.“                                       in die Instandsetzung von Stränden, Ufer-
                                                                                                 befestigungen und Wanderwegen sowie in

Ä     hnlich wie in der Coronakrise wurde
      auch im Schneewinter die deutsch-
dänische Grenze geschlossen, und zwar von
                                                   „Elementare Gewalten“ bedrohen
                                                         die moderne Welt
                                                                                                 die Ausstattung von Polizei, Feuerwehr und
                                                                                                 Katastrophenschutz mit Räumfahrzeugen
                                                                                                 und Funkanlagen. Hinzu kamen steuerliche
der deutschen Seite aus. Die Folge: Rund         Die Berichterstattung der Medien bot auch       Vergünstigungen für Unternehmen.
1.000 deutsche Weihnachtsurlauber, die           1979 Diskussionsstoff. CDU-Fraktions-
aus ihren dänischen Ferienhäusern ausge-         chef Hoffmann nahm das ARD-Magazin              Neben der staatlichen Unterstützung sei
checkt hatten, wurden nördliche von Flens-       „Monitor“ ins Visier. Die Journalisten des      künftig aber auch „Selbsthilfe“ notwendig,
burg abgewiesen. Die dänischen Grenz-            WDR hatten über die angebliche Gleich-          hieß es im Landtag. „So muss sich jeder
kommunen brachten die Gestrandeten in            gültigkeit schleswig-holsteinischer Bauern      Bürger, vor allem der Bürger in abgelegenen
Notquartieren unter. Teile der Kopenha-          angesichts der Krise berichtet. Das sei unzu-   Landgemeinden, darauf einstellen, einige
gener Politik reagierten verschnupft. Im         treffend und „nicht zumutbar“ gewesen, so       Tage mit seinen eigenen Vorräten an Lebens-
Landtag sprach Karl Otto Meyer vom SSW           Hoffmann. Zeitungsmeldungen in Süd- und         mitteln oder Heizmaterial auszukommen“,
von einer „übereilten Kurzschlusshand-           Westdeutschland wiederum hatten poten-          stellte SPD-Fraktionschef Matthiesen klar.
lung, die vermieden worden wäre, wenn            zielle Schleswig-Holstein-Touristen vor         Sein CDU-Amtskollege Hoffmann rief
man mit den Verantwortlichen in Dänemark         einer Reise an Nord- und Ostsee im anste-       „Betriebe und Privathaushalte, bei denen
einen engen Kontakt gepflegt hätte“. Über-       henden Sommer gewarnt, weil die Schäden         das aufgrund ihrer Funktion und ihrer Lage
haupt, so Meyer, sei der nördliche Nachbar       der Schneekatastrophe dann noch nicht           besonders notwendig ist“, dazu auf, sich
mit dem Schneefall besser klargekommen           behoben seien. Der Norden müsse „wie            Notstromaggregate anzuschaffen.
als die Schleswig-Holsteiner. In Dänemark        in den vergangenen Jahren gerüstet“ sein,

                                                                                                 D     as heutige Schleswig-Holstein wäre
                                                                                                       auf eine Schneekatastrophe besser
                                                                                                 vorbereitet. Satelliten ermöglichen eine
                                                                                                 frühzeitige Warnung vor Extremwetter.
                                                                                                 Ein größerer Teil der Stromleitungen
                                                                                                 verläuft unterirdisch und wäre nicht vom
                                                                                                 Eis bedroht. Handynetz und Digitalfunk
                                                                                                 sind weniger anfällig als die Telefondrähte
                                                                                                 früherer Zeiten. Eine absolute Sicherheit
                                                                                                 könne es aber nicht geben, wie Ministerprä-
                                                                                                 sident Stoltenberg anmerkte. Die Ereignisse
                                                                                                 hätten den Menschen „vor Augen geführt,
                                                                                                 wie anfällig unsere in Haushalt und Betrieb
                                                                                                 weitgehend technisierte Lebenswelt gegen
                                                                                                 elementare Gewalten ist. Dem weit verbrei-
                                                                                                 teten Glauben an das total Machbare und
                                                                                                 die Perfektion moderner Errungenschaften
                                                                                                 auch im Kampf gegen Naturgewalten sind
                                                                                                 Grenzen aufgewiesen worden.“ Diese Sätze
                                                                                                 könnten auch aus der Zeit der Corona-
                                                                                                 Pandemie stammen.

Besprechung ohne Abstandsgebot (v. li.): CDU-Fraktionschef Heiko Hoffmann, Landtagspräsident                                  Karsten Blaas
Helmut Lemke, Karl Otto Meyer (SSW)

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A U S N A H M E Z U S TA N D

Bilder
          Der Schneewinter 1978/79 fand seinen Niederschlag in zahlreichen schleswig-holsteinischen
          Fotoalben (oben). Oft wurde die Idylle in der Katastrophe abgebildet. Fotos aus der Corona-Zeit

gesucht
          (unten) zeigen Plakate mit Bitten und Hinweisen, Friseurbesuche mit Mundschutz oder Strände
          mit Zutrittsregeln. Forscher der Universitäten Hamburg, Bochum und Gießen haben ein digi-
          tales Corona-Album angelegt. Sie sammeln „Erlebnisse, Gedanken, Medien und Erinnerungen“,
          um das Jahr 2020 für die Nachwelt zu dokumentieren. Wer etwas beisteuern möchte, findet
          weitere Informationen unter: www.coronarchiv.de

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Einschränkungen, Ängste und das Gefühl, ein historisches Ereignis
mitzuerleben – das gab es auch vor Corona. Wir blicken auf drei
weitere Ausnahmezustände und auf die Reaktionen im Landtag.

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Sturmflut 1962: Ein ganzes Land                                          eigener Gefahr“ die Deiche zu halten versuchten, lief im Hinterland
                                                                         die Hilfskette an. Die Deutsche Erdöl AG (DEA) und viele andere
stemmt sich gegen die Nordsee                                            Firmen stellten Pumpen und Personal zur Verfügung, um vollge-
                                                                         laufene Keller trockenzulegen. Die Behörden an der Ostseeküste, in
Die Sturmflut vom 16. und 17. Februar 1962 griff die Deiche an           anderen Bundesländern und in Dänemark lieferten hunderttausende
der Westküste und entlang der Elbe an und drang bis in die               Sandsäcke ins Katastrophengebiet. In den folgenden Tagen durch-
­Nebenflüsse vor. Hilfe kam aus allen Richtungen.                        streiften tausende freiwillige Helfer Schleswig-Holsteins Wälder, um
                                                                         Pfähle zu sammeln und Reisigbündel zu knüpfen – als Füllmaterial für
  Der Nordwestorkan beschädigte 150 Kilometer Deichlinie an der          die geschundenen Deiche. Der Autoverkehr Richtung Süden staute
Nordsee. Auf den Halligen liefen die Keller voll, so dass die Lebens-    sich währenddessen vor der Elbbrücke in Lauenburg, denn die Route
mittelvorräte verdarben und das Trinkwasser knapp wurde. Auf             über Hamburg fiel aus. Dort kostete die Sturmflut 315 Menschen das
dem Festland wurden 10.000 Menschen evakuiert und vom Roten              Leben. „Wieder einmal haben wir erfahren müssen, dass die Natur
Kreuz beherbergt. Die Elbdeiche hielten den Wassermassen stand,          den Menschen, so fortschrittlich er sich auch gebärdet, noch immer in
aber die Flut drang über die Stör, die Krückau und die Pinnau bis        seine Schranken gewiesen hat“, so Ministerpräsident von Hassel.
nach Itzehoe, Elmshorn und Uetersen vor. Dort standen die Innen-
städte unter Wasser, und die Klärwerke fielen aus. Der Ausbruch
von Seuchen drohte. Letztlich überstand Schleswig-Holstein die           Ölkrise 1973: Die Autos
Katastrophe aber ohne Todesopfer.
                                                                         müssen in der Garage bleiben
  Im Landtag berichtete Ministerpräsident Kai-Uwe von Hassel
(CDU) am 12. März. Er sei auf einer Abendveranstaltung in Meldorf        Im Herbst 1973 verschärfte der Nahostkonflikt den wirtschaft­
gewesen, als ihn die Alarmmeldung erreichte, so von Hassel.              lichen Abschwung in Europa. Eine Folge: Deutschlands Auto-
Eine direkte Verbindung ins Landeshaus sei zunächst „infolge der         fahrer mussten ihre Wagen stehenlassen.
Überlastung des zuständigen Fernsprechamtes“ nicht zustande
gekommen. Erst die Fahrt in die Polizeiinspektion Meldorf, wo              Am 6. Oktober 1973 griffen Ägypten und Syrien die Sinai-Halb-
es einen direkten Draht nach Kiel gab, ermöglichte es dem Regie-         insel und die Golanhöhen an, die von Israel besetzt waren. Der
rungschef, Katastrophenalarm für die Westküste auszurufen und            Westen unterstützte den jüdischen Staat, im Gegenzug drosselten
die Zufahrtsstraßen zu sperren – auch „für Zuschauer, die sich in        arabische Länder ihre Ölproduktion. Der Preis für Rohöl verdop-
dieser Nacht bereits störend bemerkbar machten“.                         pelte sich binnen weniger Tage. Das feuerte den wirtschaftlichen
                                                                         Abwärtstrend in der Bundesrepublik an. In Schleswig-Holstein stieg
                                                                         die Arbeitslosenquote auf den damals beunruhigenden Wert von 1,7
                                                                         Prozent. Als Gegenmaßnahme setzte die Bundesregierung auf Ener-
                                                                         giesparen. Für ein halbes Jahr galt auf Deutschlands Autobahnen
                                                                         Tempo 100, auf Landstraßen Tempo 80. Ab dem 25. November
                                                                         herrschte zudem an vier Sonntagen ein allgemeines Fahrverbot.

Kämpfte erst mit dem Telefonnetz und dann mit der Sturmflut:             Tipps für Autofahrer: Die ADAC-Straßenwacht erklärte im Herbst 1973
­Ministerpräsident Kai-Uwe von Hassel                                    in Kiel, wie man Benzin spart.

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   Im Landtag gab es am 4. Dezember breite Unterstützung für                  versuchte zu beschwichtigen: Die Bevölkerung sei nicht gefährdet.
diesen Schritt. „Begrenzte, aber wirksame Eingriffe wie das Sonn-             Das bezweifelte die schleswig-holsteinische SPD in einer vier­
tagsfahrverbot und Geschwindigkeitsregelungen sind unvermeid-                 stündigen Landtagsdebatte am 28. Mai.
lich“, erklärte Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg (CDU): „Wir
müssen gemeinsam mit der Bundesregierung unsere Mitbürger um                    Bonn verfahre nach dem Motto „Wir wissen nichts, aber es
Verständnis für die lästigen aber notwendigen Einschränkungen                 besteht keine Gefahr“, schimpfte die Sozialdemokratin Ruth
bitten, so unangenehm sie für den einzelnen sind. Es sind nicht die           Springer. Ihr Fraktionsvorsitzender und Oppositionsführer Björn
größten Sorgen, die wir im Zusammenhang mit der Energie- und                  Engholm ergänzte, wenige Tage nach den beruhigenden Tönen
Konjunkturlage haben.“ Auch Oppositionsführer Klaus Matthiesen                aus dem Bundesinnenministerium „durften dann plötzlich Kühe
(SPD) stellte klar: „Die Zeiten billiger und billigster Energie sind leider   nicht mehr auf die Weiden, wurden Kinder gewarnt, den Regen zu
vorbei.“ Der SSW-Abgeordnete Karl Otto Meyer sah die Zwangs-                  meiden und nicht in Sandkisten zu spielen, wurden Sportplätze
pause für Pkw sogar als Zukunftsmodell: „Es ist nicht einzusehen,             gesperrt, Grenzwerte für Milch und Freilandgemüse gesetzt, und
dass hunderttausende einzelne Personen durch die Innenstädte                  das alles auch noch unterschiedlich zwischen den Bundesländern
kurven, wenn der Verkehrsbedarf hier durch öffentliche Massenver-             und dem Bund“. Sozialministerin Ursula Gräfin Brockdorff (CDU)
kehrsmittel gedeckt werden kann. Man sollte die Möglichkeiten zur             riet zur Gelassenheit: „Schleswig-Holstein war im Vergleich zu
Einrichtung autofreier Zonen in den Innenstädten ernstlich erwägen.“          anderen Teilen der Bundesrepublik relativ gering belastet.“ Dabei
                                                                              müsse berücksichtigt werden, dass im Norden eine niedrige radio-
  Die Vorhersage des CDU-Abgeordneten Roger Asmussen, „Sonn-                  aktive Grundstrahlung herrsche: „Selbst als die Werte gestiegen
tagsfahrverbote und Geschwindigkeitsbegrenzungen werden                       waren, lagen sie noch unter den natürlichen ständigen Werten in
sicherlich noch auf absehbare Zeit fortgesetzt werden müssen“,                Ostbayern oder in Garmisch-Partenkirchen.“
erfüllte sich nicht. Aber die deutsche Energiepolitik konzentrierte
sich fortan aufs Sparen und auf die Versorgungssicherheit. In der               Emotional wurde die Debatte, als die SPD-Abgeordnete Maria
Folge wurde der Bau von Atomkraftwerken vorangetrieben, heimi-                Lindenmeier Tüten mit Milchpulver auf die Tische von Sozialmi-
sche Ölquellen wurden angezapft, und seit März 1980 wird die Uhr              nisterin Gräfin Brockdorff und Landwirtschaftsminister Günter
zur energiesparenden Sommerzeit vorgestellt.                                  Flessner (CDU) legte. Sie habe den Ersatzstoff für Kuhmilch „wie
                                                                              viele andere Frauen“ gekauft, „um für meine Tochter, die ein Baby
                                                                              erwartet, und für meine Enkelkinder Milch zu haben, die frei von
Tschernobyl 1986: Furcht vor                                                  Strahlenbelastung ist“, erläuterte Lindenmeier. „Effekthascherei“,
                                                                              protestierte Karl-Heinz Stegemann (CDU). Und die Unionsabge-
Strahlung in Milch und Gemüse                                                 ordnete Anke Gravert wies darauf hin, dass Schleswig-Holsteins
                                                                              Bauern ihr Vieh bewusst später auf die Weiden getrieben hätten,
Am 26. April 1986 kam es zu einer Explosion und einem Brand                   um einen Kontakt mit dem nuklearen Fallout zu vermeiden: „Die
im sowjetischen Kernreaktor Tschernobyl. In Deutschland                       schleswig-holsteinischen Landwirte haben im Dienst der allge-
herrschte wochenlang Angst vor Radioaktivität in der Luft und                 meinen Gesundheit besondere Opfer gebracht, und sie verdienen
in der Nahrung.                                                               hierfür unseren Dank und unsere Anerkennung!“

  Die Nachricht von der Reaktorkatastrophe hinter dem Eisernen                  Die Tschernobyl-Katastrophe heizte die Debatte um die Atom-
Vorhang und der nuklearen Wolke über Europa sickerte nur                      kraft auch in der Folgezeit an – bis zum Atomausstieg nach der
langsam in den Westen durch. Die CDU/FDP-Bundesregierung                      Katastrophe in Fukushima 2011.

Disput um Milchpulver: Sozialministerin Ursula Gräfin Brockdorff (CDU, li.) und die SPD-Abgeordnete Maria Lindenmeier

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