Ausnahmezustand Der Landtag und die Corona-Pandemie - Gegen Corona Vor Corona - Landtag SH
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Nr. 02/ Juni 2020 Ausnahmezustand Der Landtag und die Corona-Pandemie Gegen Corona Vor Corona Wegen Corona Eine Milliarde und Schnee, Ölkrise, Sorgen um die neue Gesetze Tschnernobyl Menschenrechte
DER LANDTAG 02/2020 Ausgabe 454 seit 1965 03 Meldungen 18 Corona-Spuren: ein Rundgang durchs Landeshaus 30 Leichte Sprache: Lob und mehr Geld für Kranken-Schwestern und Pfleger Ausnahmezustand: der Landtag und die 20 Corona im Plenum: Nachtrags- haushalte, Schulgesetz, 31 Beauftragte: Ein Jubiläum und Corona-Pandemie Kontrollen an der Hamburger viele Sorgen wegen Corona Grenze, Lage auf den Schlacht- 05 Neue Regeln, neue Herausforderungen höfen, neue Steuerschätzung, Hilfen für die Wirtschaft, 32 Politische Bildung: 75 Jahre UN-Charta Pressefreiheit, „Lernsommer“ 06 Parlament und Pandemie: Wie der Landtag arbeitsfähig blieb 08 Das Corona-Tagebuch: von Lockdown bis Lockerung 10 Rückblick 1978/79: Auch in der Schneekatastrophe herrschte Ausnahmezustand Mit mindestens einer Milliarde Euro will die Landespolitik die Corona- Die Skulptur „Non Violence“ (Gewalt- Folgen abmildern losigkeit) vor dem UN-Gebäude in New York: In Corona-Zeiten wächst 25 die Sorge um die Menschenrechte Plenum: die Bundeswehr und die Kieler Woche, Streit um Tiertransporte 33 Bücherecke: Die Innenminis terien in Ost und West, die 26 Plenum: deutsche Kolonialgeschichte Flüchtlingskrise 2015, die Bedeu- tung der Künstlichen Intelligenz Kapitulation vor den Schneemassen: Der Lockdown dauerte damals Monate 27 Personalien 34 Im Porträt: Jörg Hansen (FDP) und Volker 14 Rückblick 1962/1973/1986: Sturmflut, Ölkrise und 28 Ausschüsse: Mundschutz und Schnurrbusch (AfD) persönlich Tschernobyl wirken sich auf den Alltag aus Schleier an Schulen, Konik-Pferde in Dithmarschen 35 Ins Bild gerückt Zu Besuch im Landeshaus 16 Abgeordnete berichten aus dem Home-Office 29 Die Seite für das Ehrenamt 36 Termine, Termine, Termine ZÄHLBARES Der Schnappschuss 95,1% Der CDU-Abgeordnete Hans-Jörn Arp Um so viel brach die Zahl der Übernachtungs- aus dem Heavy-Metal-Dorf Wacken gäste in Schleswig-Holstein im April 2020 grüßt zu Beginn der April-Sitzung. gegenüber dem Vorjahr ein. Auch Gastronomie, Einzelhandel und Industrie rutschten deutlich ins Minus. Dagegen wurden mehr Fahrräder verkauft, und die Zahl der Verkehrsunfälle Titelseite sank auf ein 30-Jahres-Tief. (Quellen: Statistikamt Nord, Die SPD-Abgeordnete Kerstin Metzner Statistisches Bundesamt) bereitet sich auf die Mai-Plenarsitzung vor. 2 DER LANDTAG 02/2020
MELDUNGEN Wortwörtlich Landeskabinett umbesetzt – Streit um Ex-Minister Grote „Die Bundes- und Landesregierungen werden dabei unter anderem als ‚diktatorisches Hygiene- Regime‘, ‚Quasi-Diktatur‘ oder ‚Notstands- Regime‘ bezeichnet und auch Gewalt gegenüber Passanten, Polizisten oder Journalisten tritt offen zu Tage. Demokratische Prozesse und Entschei- dungen werden delegitimiert und untergraben.“ (Tim Brockmann, CDU) ••• „Verschwörungserzählungen sind gefährlich, vor allem, wenn sie zur Grundlage des Denkens und Handelns von Menschen werden, die sich für berechtigt halten, sich gegen Juden, Freimaurer, Tempelritter, Synarchen oder wen auch immer Ministerpräsident Daniel Günther hat Ende die angebliche Korrespondenz des Ministers bewaffnet zu verteidigen.“ April das Kabinett umgebildet. Neue Innen- mit einem Journalisten und einem Polizei- (Tobias von Pein, SPD) ministerin ist Sabine Sütterlin-Waack, die Gewerkschafter, die im Rahmen von Ermitt- ••• zuvor seit 2017 das Amt der Justizminis- lungen der Staatsanwaltschaft Kiel an die „Wir sehen heute, dass auch vielen Prominenten terin innehatte. Sie folgt auf Hans-Joachim Staatskanzlei gemeldet wurde. Grote weist die Kerzen durchbrennen. Wenn wir Attila Hild- Grote, der nach Meinungsverschiedenheiten die Vorwürfe gegen ihn zurück. Anfang Juni mann, einen veganen Koch, sehen, der mit Waffe mit Ministerpräsident Günther von seinem hat Oppositionsführer Ralf Stegner (SPD) posiert, und sagt, wir müssen in den Wider- Posten zurückgetreten war. Neuer Justizmi- Zweifel an Günthers Darstellung zum Rück- stand gehen, dass 5-G-Masten die Zellen in uns erhitzen würden und all so etwas, dann ist das nister ist der Abgeordnete Claus-Christian tritt Grotes geäußert. Stegner hatte Einblick ein Mensch, der sehr viel Reichweite hat.“ Claussen. Er leitete zuvor den Parlamenta- in die von der Regierung bereitgestellten (Lasse Petersdotter, Grüne) rischen Untersuchungsausschuss zur soge- Akten aus Staatskanzlei, Innenministerium ••• nannten Rocker-Affäre bei der Landespo- und Justizministerium. Es gebe Hinweise, „Wir müssen aufpassen, dass sich der Staat nicht lizei. Alle Beteiligten gehören der CDU an. wonach die von Grote vorgenommene zur Meinungspolizei aufschwingt und bestimmt, Zu Beginn der Mai-Tagung wurde Claussen Neubesetzung der Polizeispitze im Jahr 2017 welche Meinungen zu billigen und welche zu von Landtagspräsident Klaus Schlie als „Missfallen ausgelöst“ habe, so Stegner. In missbilligen sind. Kritik muss der Staat aushalten, Minister vereidigt (Foto li.). Sütterlin- diesen Personalentscheidungen könne der auch wenn diese unsachlich, dumm, plakativ oder Waack (re.) war bereits vor drei Jahren eigentliche Grund für Grotes Ausscheiden schlicht abwegig ist. Solange sich Meinungsäuße- rungen in den Grenzen unserer Rechtsordnung bei ihrem Amtsantritt als Justizministerin aus dem Amt gelegen haben. Zudem kriti- bewegen, sollte sich der Staat zurückhalten.“ vereidigt worden. Das Stühlerücken im sierte der SPD-Fraktionschef eine angeblich (Jan Marcus Rossa, FDP) Kabinett hatte zahlreiche Umbesetzungen in zu große Nähe zwischen der Landesregie- ••• der CDU-Fraktion und in den Ausschüssen rung und der Kieler Staatsanwaltschaft. Der „In vielen Medien wird der Eindruck erweckt, zur Folge (siehe Seite 27). Grote hatte sein CDU-Fraktionsvorsitzende Tobias Koch wer gegen die Maßnahmen der Regierung auf die Amt niedergelegt, nachdem Regierungs- warf Stegner im Gegenzug vor, „mit nichts Straße geht, der macht das nur aus einem Grund: chef Günther das Vertrauensverhältnis als anderem als Unterstellungen, Vermutungen Er fürchtet sich vor der Impfmafia, hat Angst zerrüttet bezeichnet hatte. Hintergrund war und heißer Luft“ zu arbeiten. vor Bill Gates oder ist einfach nur ein Spinner. Oder noch schlimmer: Er ist ein Rechter – eine Zuschreibung, die heutzutage ja automatisch den Flemming Meyer verlässt den Landtag Meinungsspielraum auf null einengt.“ (Claus Schaffer, AfD) ••• Der SSW-Abgeordnete Flemming Meyer belastbare und vor allem selbstverständliche „Es gibt sie schon lange: die Menschen, die die legt zum 1. August sein Mandat nieder. „Ich Miteinander der dänischen Minderheit und Medizin als Schulmedizin abqualifizieren und sich bin seit über elf Jahren Mitglied des Landtags der Mehrheitsgesellschaft“ sei zu einem stattdessen an Heilerinnen und Heiler wenden. und habe mit 68 Jahren ein Alter erreicht, in großen Teil Meyers Verdienst, sagte Schlie. Menschen, die Wolken als Chemtrails interpre- dem es Sinn macht, sich über einen neuen tieren oder lieber obskuren Quellen vertrauen Lebensabschnitt Gedanken zu machen“, als seriöser Berichterstattung. Menschen, die sagte Meyer Mitte Juni. Es sei der richtige den ersten Flug zum Mond als Hollywoodkulisse enthüllen. Diese Wichtigtuer tummeln sich schon Zeitpunkt, für einen Generationswechsel. seit Jahren in den sozialen Medien.“ Sein Amt als SSW-Landesvorsitzender will (Jette Waldinger-Thiering, SSW) Meyer im kommenden Jahr abgeben. Für ihn wird voraussichtlich der 39 Jahre alte Flens- burger Christian Dirschauer nachrücken. Er ist stellvertretender SSW-Landesvor- sitzender. Landtagspräsident Klaus Schlie Aus der Debatte über sogenannte Grundrechts- würdigte Meyer in der Juni-Tagung als „parla- oder Hygiene-Demos am 17. Juni. mentarisches Urgestein“. Das „sehr gute, DER LANDTAG 02/2020 3
MELDUNGEN Neue Regeln für die Der 8. Mai soll ein Altersversorgung Gedenktag werden Die Altersversorgung für Landtagsabgeordnete wird auf ein Der Landtag hat sich dafür ausgesprochen, den 8. Mai als natio- neues Modell umgestellt. Die Jamaika-Fraktionen, SPD und nalen Gedenktag auszurufen. Der Tag des Kriegsendes im Jahr 1945 SSW beschlossen im Juni den entsprechenden Gesetzentwurf. markiere „auch den Grundstein für unsere heutige freiheitliche Die AfD und die fraktionslose Abgeordnete Doris von Sayn- Demokratie, den es im gesellschaftlichen Bewusstsein wachzuhalten Wittgenstein waren dagegen. gilt“, heißt es in einem im Juni beschlossenen Antrag von CDU, SPD, Grünen, FDP und SSW. Die Landesregierung soll sich auf Bundes- Demnach wird die Altersentschädigung ab der kommenden Wahl- ebene für das Anliegen einsetzen. „Die Erfahrungen aus unserer periode auf Basis der monatlichen Grundentschädigung berechnet. Geschichte verpflichten uns und künftige Generationen, daraus zu Sie wird ab dem 67. Lebensjahr an ehemalige Parlamentarier gezahlt, lernen und Verantwortung zu übernehmen“, sagte die SPD-Abge- die mindestens ein Jahr lang ihr Mandat innehatten. Mit jedem Jahr ordnete Özlem Ünsal, die den Vorstoß des Landtages angeregt hatte. der Mandatszeit steigt die Summe um 1,5 Prozent der Grundentschä- digung an. Der Höchstbetrag wird nach einer Mandatszeit von 40 Die AfD lehnte den Antrag ab. „Dass der 8. Mai für viele Deutsche den Jahren erreicht. Er beträgt 60 Prozent der Grundentschädigung. Beginn von Vertreibung und Heimatverlust bedeutete und den Weg in die Zweistaatlichkeit Deutschlands eröffnete“, werde „bewusst Der Gesetzentwurf folgt den Empfehlungen einer unabhängigen oder fahrlässig“ ausgeblendet“, so der Abgeordnete Frank Brodehl. Sachverständigenkommission. Die Mitglieder des Gremiums kamen einstimmig zu dem Ergebnis, dass das bisherige Modell mit privater Zum Beginn der Plenarsitzung am 8. Mai hatte Landtagspräsident Eigenvorsorge nicht mehr geeignet sei, dauerhaft eine angemes- Klaus Schlie in einer Ansprache an das Kriegsende in Europa und sene und krisenfeste Alterssicherung zu gewährleisten. Derzeit die Befreiung vom Nationalsozialismus vor 75 Jahren erinnert. Die bekommen die 73 Abgeordneten über die Grundentschädigung Abgeordneten würdigten die Opfer des Zweiten Weltkrieges mit hinaus gut 1.800 Euro monatlich, die sie privat in eine Altersvor- einer Schweigeminute. Die ursprünglich geplante Gedenkstunde sorge investieren müssen. Diese Beiträge sollen künftig in einen hatten Landtag und Landesregierung aufgrund der Corona-Pandemie staatlichen Versorgungsfonds fließen. abgesagt. „Dieser Tag war und ist ein Tag der Befreiung, daran gibt es nicht den leisesten Zweifel“, hob der Parlamentspräsident hervor. Diäten steigen ab 1. Juli Online-Verfahren für Volks um 2,5 Prozent initiativen soll 2021 starten Die Entschädigung für die Abgeordneten des Landtages steigt ab dem 1. Juli um 2,5 Prozent von 8.661 auf 8.877 Euro. Grundlage sind Der bereits vor zwei Jahren angekündigte Online-Dienst für Volks- laut Abgeordnetengesetz die Zahlen des Statistikamts Nord zur initiativen soll zu Beginn des kommenden Jahres unter dem Namen allgemeinen Einkommensentwicklung im vergangenen Jahr. Die „e-Parti“ an den Start gehen. Das stellte Staatssekretär Torsten Veränderung betrug demnach im Jahr 2019 gegenüber 2018 plus Geerdts Anfang Juni im Innen- und Rechtsausschuss in Aussicht. 2,5 Prozent. Ein Vorstoß der AfD, die jährliche Diätenerhöhung für Innenministerium und Landtag würden ab Herbst mit dem den Rest der Legislaturperiode wegen der Corona-Pandemie auszu- IT-Dienstleister des Landes, der Firma Dataport aus Altenholz bei setzen, fand im Juni keine Zustimmung. Kiel, eine Testphase starten, so Geerdts. Der SSW hatte das Thema auf die Tagesordnung gesetzt. Gerade in Corona-Zeiten sei es für Volksinitiativen wichtig, nicht nur in der Fußgängerzone, sondern Haushalt 2021 kommt später auch im Internet „Stimmen einholen“ zu können, so der Abgeord- nete Lars Harms. Die Aufstellung des Landeshaushalts für 2021 verzögert sich wegen der Corona-Krise. Das kündigte Finanzministerin Monika Heinold Der Landtag hatte die gesetzliche Möglichkeit für die Online- (Grüne) Anfang Juni an. Die Landesregierung wolle zunächst die Volksinitiative bereits 2016 geschaffen. Vertreter der Anfang Juni Auswirkungen des 130-Milliarden-Euro-Konjunkturprogramms des gestarteten „Volksinitiative zur Weiterentwicklung des Gesetzes zur Bundes auf den Landeshaushalt prüfen und die Sondersteuerschätzung Energiewende und zum Klimaschutz in Schleswig-Holstein“ kriti- im September abwarten, so Heinold. Entsprechend wird der Landtag sieren die Verzögerung und wollen das Land mit einer Klage vor dem den Etat voraussichtlich erst zu Beginn des kommenden Jahres verab- Schleswiger Verwaltungsgericht verpflichten, das Online-Verfahren schieden. Üblicherweise geschieht das im Dezember des jeweiligen unverzüglich einzuführen oder alternativ eine Teilnahme per Brief Vorjahres. Der Finanzausschuss verständigte sich Mitte Juni bereits zuzulassen. auf einen geänderten Zeitplan für die Haushaltsberatungen. 4 DER LANDTAG 02/2020
A U S N A H M E Z U S TA N D Hygieneregeln im Plenarsaal: Abgeordnete verfolgen die Debatte Infektionsschutz auch am Rednerpult: Ministerpräsident Daniel Günther hinter Plexiglas. hinter Glaswänden Abstandsregeln auf der Tribüne: Die meisten Plätze mussten leer bleiben. Mit Mundschutz an den Platz: neue Regeln für den Plenarsaal Ausnahmezustand Die Corona-Pandemie hat Spuren hinterlassen, nicht nur im Plenar- Bei allen Differenzen war sich die Landespolitik einig: Corona ist saal des Landtages, sondern im ganzen Land. Auf den folgenden eine bislang einmalige Herausforderung. Beim Blick ins Archiv Seiten blicken wir auf den Verlauf der Krise vom März bis in den haben wir dennoch Ereignisse gefunden, die ähnlich tiefe Eingriffe in Juni, auf die Arbeit des Parlaments unter erschwerten Rahmen den Alltag mit sich brachten, wie die Schneekatastrophe 1978/79, die bedingungen und auf die zahlreichen Debatten zu diesem Thema – Ölkrise 1973 oder die Atomkatastrophe in Tschernobyl 1986. Davon etwa zum milliardenschweren Hilfspaket für die heimische Wirt- handeln unsere Rückblickgeschichten. schaft und zu den Kontrollen an der Hamburger Stadtgrenze. Hinter Absperrband: Auch Medienvertreter mussten sich an neue Arbeitsbedingungen gewöhnen. Dialog durch die Glaswand: Aminata Touré (Grüne) und Tobias von der Heide (CDU) DER LANDTAG 02/2020 5
Das Parlament und die Pandemie Der Landtag fuhr den Betrieb herunter – blieb aber funktionsfähig Krisenzeiten, so war in den vergangenen dauerten die Plenarsitzungen Ende März und Landtag blieb Gesetzgeber Wochen vielfach zu hören und zu lesen, seien Mitte April nur wenige Stunden. Nur gut die und Ort der Debatte die Zeiten der Exekutive, also der Regierung Hälfte der 73 Abgeordneten waren anwe- und der ihr unterstellten Verwaltung. Und send. Sie kamen mit Mundschutz in den Trotz der Corona-Regeln blieb eine Grund- nicht die Zeit für Grundsatzdebatten und Saal, und zwischen ihnen blieb jeweils ein funktion des Landtages unangetastet: Der parlamentarische Verfahren. Der Landtag Platz als Sicherheitsabstand frei. Für die Mai- Landtag beschließt Gesetze. Zahlreiche hat sich in der Coronakrise ein Stück weit Tagung wurden Trennscheiben aus Acrylglas Gesetze, die die Coronakrise lindern sollen, zurückgenommen, auch wegen der Beschrän- eingebaut, so dass wieder alle Abgeordneten debattierte und verabschiedete das Parlament kungen für Kontakte und Zusammenkünfte. an den diesmal zweitägigen Beratungen im Frühjahr, etwa zwei Nachtragshaushalte Zugleich haben die Abgeordneten aber darauf teilnehmen konnten. Mitte Juni gab es dann mit einem Gesamtvolumen von einer Milli- geachtet, dass die Grundregeln der Gewal- wieder eine Sitzung über die vollen drei Tage. arde Euro. Dabei wendete der Landtag erst- tenteilung, also die Gesetzgebungsfunktion Mit 75 Tagesordnungspunkten und rund 30 mals einen Passus in der Landesverfassung des Landtages und die parlamentarische Debatten wurde der „Rückstau“ der vergan- an, der „im Falle von Naturkatastrophen oder Kontrolle der Regierungsarbeit, gewährleistet genen Monate aufgearbeitet. außergewöhnlichen Notsituationen“ eine blieben. Denn das Parlament ist laut Landes- Abkehr von den strengen Vorgaben der Schul- verfassung das „oberste Organ der politi- Ein Umzug in einen größeren Saal außer- denbremse ermöglicht. Dafür ist eine Zwei- schen Willensbildung“. halb des Landeshauses, den andere Landes- Drittel-Mehrheit nötig. Neben den Jamaika- parlamente antraten, wäre „schon aufgrund Fraktionen hatten auch die Oppositions- Mit ihren Verordnungen und Erlassen der Kosten und der fehlenden Infrastruktur parteien SPD und SSW zuvor zugesagt, den wendete die Landesregierung bestehende nicht praktikabel gewesen“, betont Land- Hilfskurs zu stützen. So waren die notwen- Gesetze an. Die Vorgaben, etwa zum Verbot tagspräsident Klaus Schlie. Das schleswig- digen 49 Stimmen im Parlament sicher. Die von Versammlungen und großen Veran- holsteinische Modell stieß bundesweit AfD votierte ebenfalls für den ersten Nach- staltungen, zur Schließung von Kitas und auf Interesse: Fünf Landtage erkundigten tragshaushalt, beim zweiten enthielt sie sich. Schulen, zum Kontaktverbot mit Bewoh- sich nach den Acrylglasscheiben im Kieler nern von Pflegeheimen oder zur Pflicht, eine Plenarsaal. Der Landtag beschloss auch ein Paket zur Schutzmaske zu tragen, griffen tief in die Anpassung von insgesamt 29 Gesetzen an Grundrechte der Bürger ein. Auch die Besuchertribüne blieb weitge- die aktuellen Herausforderungen, um das hend leer, die Termine für Besuchergruppen Bildungssystem auf die neue Lage umzu- Abstandsregeln auch im musste das Referat für Öffentlichkeitsarbeit stellen. In weiteren Corona-Debatten ging L andeshaus leider absagen. 20 Plätze für Journalisten es um Schlachthofmitarbeiter und deren und für Einzelbesucher sowie Live-Übertra- prekäre Wohnverhältnisse, die die Ausbrei- Die Einschränkungen, Abstandsregeln und gungen im Internet und im Offenen Kanal tung des Virus beförderten, um „Hygiene- Hygienevorschriften betreffen auch die Kiel sorgten aber für die in der Landesver- Demos“ und um die Hilfe für notleidende Abgeordneten und das Landeshaus. Um fassung vorgesehene Öffentlichkeit der Branchen wie Gastronomie, Kultur und Kontakte so weit wie möglich zu verhindern, Sitzungen. Schiffbau (siehe ab Seite 20). Oppositionsführer Stegner am Kabinettstisch Ein weiterer Beschluss stellte im März die Weichen für den Fall, dass ein Großteil der Abgeordneten gleichzeitig erkranken oder in Quarantäne isoliert werden sollte. Durch eine bis zum 31. Juli befristete Änderung der Geschäftsordnung gilt der Landtag als beschlussfähig, wenn mindestens elf Abge- ordnete anwesend sind und wenn die Frak- tionsstärken proportional erhalten bleiben. In normalen Zeiten sind dazu mehr als die Hälfte der Parlamentarier erforderlich. Eine weitere Sonderregelung: Der Landtag hat die Immunität der Abgeordneten pauschal für den Fall aufgehoben, dass ein Parla- mentarier sich nicht an die Corona-Schutz- Tagung mit halber Besetzung: der Landtag Anfang April 6 DER LANDTAG 02/2020
A U S N A H M E Z U S TA N D maßnahmen halten sollte. Oppositions- „Das Parlament nimmt seine Verantwor- Die Landtagsverwaltung führer Ralf Stegner (SPD) nahm ab März tung voll wahr“, betonte der Vorsitzende des unterstützt aus dem zwischenzeitlich an den Kabinettssitzungen Sozialausschusses, Werner Kalinka: „Dazu Home-Office teil, auf Einladung von Ministerpräsident zählt, dass trotz eingeschränkter Arbeits- Daniel Günther (CDU). „Das hat den großen möglichkeiten Ausschüsse tagen.“ Ein Punkt ist für den Landtagspräsidenten Vorzug, viele Informationen zu bekommen zentral für die Arbeit der Abgeordneten: und auch Einfluss nehmen zu können“, so Kleine Anfragen wurden „Unsere Verwaltung ist auch in dieser Stegner: „Natürlich werden da die Rollen weiter gestellt Ausnahmesituation absolut leistungs- von Regierung und Opposition für eine fähig.“ Ein Großteil der Mitarbeiter arbeitet Weile teilweise verwischt. Aber die Zeiten Ein zentrales Instrument, mit dem die Oppo- von zu Hause aus, und das Zusammenspiel sind auch nicht normal.“ Die Menschen sition die Arbeit der Landesregierung unter zwischen ihnen und der „Notbesetzung“ wollten Problemlösungen, und da stehe die die Lupe nimmt, sind die Kleinen Anfragen. im Landeshaus klappt. „Die Funktions- und Opposition ebenso in der Verantwortung Jeder Abgeordnete kann sie stellen, die Regie- Arbeitsfähigkeit der Landtagsverwaltung wie die Regierung, so Stegner. rung hat zwei Wochen Zeit zum Antworten. ist in diesen außergewöhnlichen Tagen und Wegen der gestiegenen Arbeitsbelastung Wochen sichergestellt“, fasst Landtags Die parlamentarische in den Ministerien hat der Ältestenrat diese direktor Utz Schliesky zusammen. Landtags- Kontrolle ging weiter Frist Anfang April vorübergehend auf vier präsident Schlie stellt klar: „Unser Landes- Wochen verlängert. Auch während der parlament ist genauso handlungsfähig wie Auch unter den neuen Bedingungen sind die Corona-Krise nahmen vor allem Opposi- unsere Landesregierung, alle Behörden im Abgeordneten ihren weiteren Kernaufgaben tionspolitiker von SPD, AfD und SSW ihr Land und die Justiz.“ Möglich macht dies nachgekommen, neben der Haushaltshoheit Fragerecht wahr. Dabei ging es beispielsweise die Grundausstattung im Landtag. So sind und der Verabschiedung von Gesetzen: um die Verwendung von Recyclingbeton, um fast alle Arbeitsplätze mit Laptops für das nämlich Ansprechpartner für die Bürger zu das Gänsemanagement, um Bebauungspläne mobile Arbeiten in einem streng gesicherten sein, auch vom Home-Office aus (siehe Seiten in Travemünde oder um die Städtebauförde- IT-Netz ausgerüstet. Und da auch die 16/17), und die Arbeit der Regierung kritisch rung in Neumünster – politisches Alltags- Diensttelefone zu den Heim arbeitsplätzen zu begleiten. So unterrichtete die Landes geschäft auch in nicht alltäglichen Zeiten. weitergeleitet werden können, sind die regierung den Landtag ständig über geplante Landtagspräsident Klaus Schlie unterstreicht: Verwaltungsmitarbeiter auch für Anfragen neue Verordnungen. Das ist im Parlaments „Eines ist klar: Unser parlamentarisches „von außen“ erreichbar. informationsgesetz so vorgesehen. System funktioniert.“ Die Ausschüsse des Landtages kamen am Beginn der Krise wöchentlich zusammen, meist per Telefonkonferenz. Bei bedeut- samen Entscheidungen reicht der telefo- nische Austausch jedoch nicht aus. Laut Geschäftsordnung sind Präsenzsitzungen der Ausschüsse im Landeshaus erforder- lich, wenn abgestimmt wird – etwa über die Nachtragshaushalte und die zahlreichen Gesetzesänderungen. Deswegen kamen einige Ausschüsse auch in den Wochen der strengen Kontaktbeschränkungen in Kiel zusammen. Der Ältestenrat, in dem der Auch während der Beschränkungen für größere Versammlungen zogen Bürger vors Landeshaus, Landtagspräsident, seine Stellvertreterinnen um für ihre Anliegen zu demonstrieren. Dabei ging es um faire Milchpreise (oben) oder um die sowie die Fraktionsvorsitzenden zusam- Lage der Reisebüros in der Krise (unten). Die Veranstaltungsbranche, die Busunternehmen sowie menkommen, traf sich ebenfalls einmal die Krabben- und Küstenfischer meldeten sich ebenfalls per Demo vor dem Landtag zu Wort. wöchentlich in einer Telefonkonferenz. Im Mai wurden auch die beiden großen Sitzungssäle des Landeshauses mit Trenn- wänden aus Acrylglas ausgestattet, so dass die Fachgremien wieder vor Ort zusam- menkommen konnten. In den zahlrei- chen Sitzungen hatten die Fachpolitiker die Möglichkeit, beim jeweiligen Minister Informationen über die aktuelle Lage einzuholen und mit Blick auf die Pläne der Landesregierung nachzuhaken. Auch diese Sitzungen wurden im Internet übertragen. DER LANDTAG 02/2020 7
Das Corona-Tagebuch 18. März: Der L ockdown beginnt 17. April: Ein Dankeschön und Schleswig-Holstein fährt herunter. Schulen, Unis, Kitas, Thea- erste Lockerungen ter, Spielplätze, Restaurants und viele Läden bleiben zunächst Das Land hat nach Einschätzung von Ministerpräsident Gün- geschlossen, und der Norden wird zum „Sperrgebiet“ für Tou- ther ein Zwischenziel zur Überwindung der Corona-Krise er- risten. „Wir schränken das öffentliche Leben so drastisch ein, reicht. Der Regierungschef stellt erste Lockerungen vor. Dazu um diejenigen zu schützen, die einer Risikogruppe angehören“, gehören die Öffnung von Geschäften bis 800 Quadratmeter erklärt Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) im Landtag: Fläche, dazu von Fahrradläden, Buchhandlungen und Auto- „Uns ist klar, dass wir den Menschen viel abverlangen.“ häusern. Die Corona-Krise sei eine „Herausforderung für uns als ganze Die Notbetreuung in den Kitas soll ausgeweitet werden. Schul- Gesellschaft“, betont Günther: „Eine vergleichbare Situation hatten abschluss- und Hochschulprüfungen sollen über die Bühne gehen, wir noch nie“. Das Virus habe Entscheidungen nötig gemacht, „die die übrigen Schüler und Kita-Kinder sollen ab dem 4. Mai zurück- wir uns bis vor kurzem so nicht hätten vorstellen können“. Der kehren. Günther lobt „das vorbildliche Verhalten der allermeisten Landtag beschließt ein 500 Millionen Euro schweres Nothilfepaket. Bürgerinnen und Bürger“. Die Rückkehr zur Normalität werde Der Ende Februar eingereichte Nachtragshaushalt wird aufgestockt. aber „nicht Tage oder Wochen, sondern Monate“ dauern. Einen Damit sollen die Folgen für Betriebe und Beschäftigte gemildert besonderen Dank richtet der Ministerpräsident an „alle Menschen werden. Die Landesmittel sollen das Hilfsprogramm des Bundes im Gesundheitswesen, alle, die unsere Versorgung sichern und die ergänzen. „Wir wollen den wirtschaftlichen Schaden begrenzen, unser Gemeinwesen am Laufen halten“. auch wenn wir uns nichts vormachen sollten: Dieser wird gewaltig sein“, unterstreicht FDP-Fraktionschef Christopher Vogt. Oppositionsführer Stegner moniert das erfolglose „Vorpreschen“ von Bildungsministerin Karin Prien (CDU) für eine Absage der Die Oppositionsparteien SPD und SSW haben zuvor zugesagt, Abiturprüfungen, und er kritisiert die strengen Kontrollen an der den Nachtrag zu unterstützen. Damit steht die notwendige Zwei- Hamburger Stadtgrenze, die das gute Verhältnis der Nord-Länder Drittel-Mehrheit, um die Schuldenbremse in der Landesverfassung belasteten. Stegner mahnt die rasche Öffnung der Spielplätze an zur Krisenabwehr auszusetzen. Dasselbe passiert noch einmal, bei und fordert eine „baldige Perspektive“ für die Gastronomie. „Die einem zweiten Nachtrag über erneut 500 Millionen Euro im Mai. Richtung stimmt“, lobt Jörg Nobis (Af D) den Kurs der Landes Dies sei „nicht die Stunde für die üblichen Rituale von Opposition regierung. Die Politik handele parteiübergreifend und funktioniere und Regierung“, so SPD-Oppositionsführer Ralf Stegner. gut, urteilt Lars Harms vom SSW. Gespräch am Rande der Mai-Tagung: Ministerpräsident Daniel Günther (li.) und Oppositionsführer Ralf Stegner (2. v. re.) 8 DER LANDTAG 02/2020
A U S N A H M E Z U S TA N D 7. Mai: Perspektiven für Kitas, Schulen 18. Juni: Durchatmen und Warnung und den Tourismus vor Sorglosigkeit Bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie tritt Schleswig- „Das messbare Infektionsgeschehen ist in Schleswig-Holstein Holstein in eine „neue Phase“ ein. Das betont Ministerpräsident ausgesprochen gering.“ So fasst Sozialminister Heiner Garg (FDP) Günther vor dem Landtag und kündigt weitgehende Lockerun- die aktuelle Lage zusammen. Zehn von 15 Kreisen seien seit min- gen in den Bereichen Kinderbetreuung, Gastronomie, Touris- destens einer Woche corona-frei. Er sei froh, dass die Menschen mus und Freizeit an. „nach Wochen der Angst“ wieder aufatmeten, so Garg. „Wir können heute feststellen, dass wir das Infektionsgeschehen Die Freude über die positive Entwicklung dürfe aber nicht in Sorg- weiter im Griff haben“, sagt Günther. Zugleich mahnt er die losigkeit umschlagen, warnt der Minister: „Wir leben mitten in der Menschen, die neue Situation „mit Augenmaß“ anzugehen und die Pandemie, wir leben mit dem Virus.“ Ministerpräsident Günther Hygienevorschriften und das Abstandsgebot von 1,50 Meter weiter zeigt sich zufrieden mit der Arbeit seiner Regierung: „Wir sind einzuhalten. Konkret sollen die Kitas in mehreren Stufen hochge- krisenfest. Wir haben auch in diesen Zeiten gezeigt, dass wir regieren fahren werden. Ab dem 25. Mai sollen alle Klassen in den Grund- können, dass wir dieses Land voranbringen können.“ schulen „zumindest tageweise“ offenstehen, und für alle Schüler soll es bis zu den Sommerferien eingeschränkten Präsenzunterricht SPD-Landeschefin Serpil Midyatli fordert mehr Engagement der geben. Am 18. Mai sollen Restaurants, Gaststätten, Hotels, Ferien Landesregierung gegen die Wirtschaftskrise. „Der Bund macht wohnungen und Campingplätze wieder in Betrieb gehen. Die Betre- Wumms, Jamaika macht leider Rumms“, sagt sie mit Blick auf das tungsverbote für Inseln und Halligen werden aufgehoben, und Konjunkturprogramm des Bundes und dessen Umsetzung im Lande. „touristische Verkehre nach Schleswig-Holstein werden wieder Das Geld müsse auch im Kulturbereich, bei den Verkehrsbetrieben, möglich sein“. Es gehe jetzt darum, „Verantwortung und Freiheit“ in bei den Auszubildenden und in den Familien ankommen. CDU- Einklang zu bringen, so der Ministerpräsident. Fraktionschef Tobias Koch spricht dagegen von einer „bärenstarken Antwort auf die jetzige Krise“. Nun komme es darauf an, den Motor Oppositionsführer Stegner weist auf die schwierige Situation vieler der Wirtschaft wieder zum Laufen zu bringen, und da gäben die Menschen in Pflegeheimen hin und mahnt „Respekt für unsere Eltern verschiedenen Hilfsprogramme die richtigen Antworten: „Mehr, und Großeltern“ an. Bei der staatlichen Unterstützung müssten jetzt finde ich, kann man nicht machen, um diese Krise zu meistern.“ Koch das Pflegepersonal, die Erzieher und die Reinigungskräfte im Mittel- spricht von einem „Gemeinschaftserfolg von CDU/CSU und SPD in punkt stehen. In Schleswig-Holstein sei „ein guter Weg gefunden, Berlin und von CDU, Grünen und FDP in Schleswig-Holstein“. der Raum für Optimismus ermöglicht“, betont Grünen-Fraktions- chefin Eka von Kalben. Dennoch bleibe vieles unklar: „Die Menschen wollen einen Plan, aber wir haben keine Glaskugel.“ Große Einigkeit im Grundsatz, viele Debatten über Einzelfragen: das Parlament in Corona-Zeiten DER LANDTAG 02/2020 9
VOR 41 JAHREN Was hat die Landespolitik in früheren Zeiten bewegt? In dieser Serie blicken wir ins Archiv und spüren nach, was den Landtag in vergangenen Zeiten beschäftigt hat. Einschränkungen im öffentlichen Leben, wie in der Coronakrise, gab es früher schon – etwa im Schneewinter 1978/79. 1979: Das Land steht still – wegen zu viel Schnee Die Menschen werden aufgerufen, zu Hause zu bleiben und ihre Autos stehen zu las- sen. Die Schule fällt aus, Betrieben geht die Arbeit aus, und in einigen Läden wird das Angebot knapp. So war es aktuell, während der Coronakrise, und so war es auch im Schneewinter 1978/79. So wie heute gab es damals massive Einschränkungen für je- den einzelnen, gleichzeitig eine große Solidarität untereinander, mutige Helfer und auch Störenfriede. Und ebenso wie heute schnürte die Landespolitik ein millionen- schweres Hilfspaket. Der große Unterschied: Heute geht die Bedrohung von einem unsichtbaren Virus aus. Vor 41 Jahren lag die Gefahr deutlich sichtbar meterhoch vor jeder Haustür, und das monatelang. D er 28. Dezember 1978 hatte mit Niesel- regen und milden Temperaturen um die zehn Grad begonnen. Im Lauf des Nach- zudem die Gas-, Heizungs- und Wasser- rohre. Schwangere und Kranke kamen nicht zu den Kliniken durch. In 31.000 Haushalten mittags zog jedoch eiskalte Luft aus Skandi- an der dänischen Grenze fiel das Telefon aus. navien über die Ostsee heran, und das Ther- Bäckereien ging das Mehl und die Hefe aus. mometer fiel innerhalb weniger Stunden auf Bauern hatten kein Futter mehr für ihr Vieh, 20 Grad unter null. Auf Schleswig-Holstein und Milchkühe litten, weil der Strom für die gingen drei Tage lang Massen von Schnee Melkmaschinen fehlte. nieder, die vom orkanartigen Wind meter- hoch aufgetürmt wurden. Eine Sturmflut Monatelange Einschnitte im Alltag SPD-Oppositionsführer Klaus Matthiesen zerstörte Strände, Promenaden und Hafen anlegen an der Ostsee. Straßen verschwanden unter Bergen von Schnee und Eis, dutzende Autofahrer hingen fest, bei Sörup (Kreis Alle Landkreise in Schleswig-Holstein riefen Katastrophenalarm aus und erteilten Fahr- verbote. Nur in Flensburg, Kiel, Neumünster A nfang Januar 1979 hörte der Schnee- fall auf, aber die Temperaturen blieben im Minusbereich. Die Schleswig- Schleswig-Flensburg) blieb ein Regionalzug und Lübeck durften die Autos noch rollen. Holsteiner, die inzwischen in gemein- mit 70 Passagieren stecken. Armdicke Die Bundeswehr erklärte die Alarmstufe samen Räumaktionen Schneisen durch die Eispanzer bildeten sich um Stromleitungen, „Sturmvogel II“. Nördlich von Heide, Schneewüste geschlagen hatten, lebten vielerorts brachen die Kabel, und Masten Rendsburg, Kiel und Lübeck fuhr kein Zug wochenlang in einer bizarren Winterland- stürzten ein. 80 Gemeinden im Norden des mehr. Zehntausende Helfer machten sich schaft. Kinder, deren Schulen geschlossen Landes mussten tagelang ohne Elektrizität auf, die Krise zu bewältigen. blieben, vertrieben sich die Zeit mit Rodeln auskommen, und in vielen Häusern platzten und Iglu bauen. Mitte Februar setzten erneut Schneefall und Eiseskälte ein, und Schleswig-Holstein kehrte tagelang in den Katastrophenmodus zurück. Die Ostsee fror zu, allein in der Kieler Förde und der Kieler Bucht steckten 80 Schiffe im Eis fest. Die weiße Pracht blieb dem Land lange erhalten, in Husum schmolzen die letzten Schnee haufen am 20. Mai. Mitten in der Tiefschneeperiode, am 30. Januar 1979, debattierte der Landtag über die Lage und die Konsequenzen für zukünftige Katastrophenfälle. Die Landespolitik dankte den zigtausenden hauptamtlichen und frei- willigen Helfern von Bundeswehr, Polizei, Straßenverwaltung, Feuerwehr, Deutschem Blick in den Landtag, Ende der 1970er Jahre 10 DER LANDTAG 02/2020
A U S N A H M E Z U S TA N D Roten Kreuz, Arbeitersamariterbund, mitmenschlichen Solidarität haben in den dezentralen Leitung und Führung“ gelegen, Malteser-Hilfsdienst, Johanniter-Unfall- Stunden der Gefahr über staatliche Vorsorge erklärte Ministerpräsident Stoltenberg: „So hilfe und Technischem Hilfswerk. „Über hinaus das Handeln bestimmt“, betonte konnten von den Kreisen, entsprechend eine Woche haben die Helferinnen und Stoltenberg. Er habe selbst gesehen, „wie der örtlichen Lage, die verfügbaren Kräfte Helfer in einem harten, bis an die Grenzen sich die Menschen gegenseitig unterstützt optimal eingesetzt werden.“ SPD-Frakti- der Kräfte gehenden Einsatz gestanden“, haben, wie sie ihre Nachbarn aufnahmen onschef Matthiesen ergänzte: „Die Wahl sagte Ministerpräsident Gerhard Stolten- oder bereit waren, Vorräte und warme örtlicher ‚Schneevögte‘ unmittelbar nach der berg von der damals allein regierenden CDU Kleidung zu teilen“. Der Regierungschef Überwindung der Katastrophe zeigt, dass in einer Regierungserklärung. „Ihre tatkräf- hob etwa den „Einsatz vieler engagierter die Gemeinden nicht allein auf die Kreis tige, uneigennützige Hilfe hat wesentlich Funkamateure“ hervor, die dabei halfen, instanz angewiesen sein wollen.“ dazu beigetragen, das Ausmaß der Not Informationen in Gegenden ohne Telefon zu begrenzen und zu lindern und größere zu übermitteln. CDU-Fraktionschef Heiko Klagen über „schaulustige“ Autofahrer Schäden an Leib und Leben sowie Hab und Hoffmann verwies darauf, „dass beispiels- Gut zu vermeiden. Sie haben unserem Land und den betroffenen Menschen unschätz- bare Dienste erwiesen“, erklärte der Regie- weise in Angeln, als Telefonnetze zusam- menbrachen, spontan Feuerwehrstafetten eingerichtet wurden, die durch das Heran- W o Licht ist, da ist auch Schatten. Auch 1978/79 gab es Berichte über Hamsterkäufe und sprunghaft stei- rungschef unter dem Beifall des ganzen schaffen von Arzneimitteln, die telefonisch gende Preise. Das damalige Gegenstück zu Hauses. Zu den Helden des Schneewinters nicht angefordert werden konnten, kreis- heutigen „Corona-Partys“ waren die Katas gehörten etwa die Hubschrauberpiloten, laufkranke Menschen vor dem sicheren trophentouristen. „Leider hat eine Reihe von die abgeschnittene Dörfer versorgten und Tod retteten“. Oppositionsführer Klaus Mitbürgern trotz wiederholter Appelle die Kranke transportierten, die Polizisten Matthiesen (SPD) strich „das Beispiel junger selbstverständliche Verhaltensregel verletzt, und die Panzerfahrer der Bundeswehr, die Leute“ heraus, „die, nach Unterbrechung zu Hause zu bleiben“, merkte Stoltenberg steckengebliebene Fahrzeuge freiräumten der Verkehrsverbindungen, mehrstündige an: „Insbesondere Kraftfahrer haben sich und im Konvoi in Sicherheit begleiteten, Fußmärsche auf sich nahmen, um zu ihrer durch Befahren bereits gesperrter Straßen oder die Monteure des Stromversorgers Katastrophenschutzeinheit zu gelangen“. unnötig in Gefahr begeben, zusätzliche risi- SCHLESWAG, des Vorgängers der heutigen koreiche Hilfsaktionen erforderlich gemacht Schleswig-Holstein Netz AG. Die Elektriker kletterten bei Sturm und Eiseskälte in die Masten, um gerissene Leitungen zu flicken. A uch damals wurde, wie heute, über Zuständigkeiten gestritten. Ist es besser, wenn die Entscheidungsträger so nah und die Räumarbeiten behindert.“ Der Ministerpräsident prangerte „Gedanken losigkeit, Egoismus und Nachlässigkeit“ an. wie möglich vor Ort sind, oder ist eine zent- Das Protokoll vermerkt an dieser Stelle den Amateurfunker und freiwillige rale Leitung nötig, damit kein „Flickentep- empörten Zwischenruf des CDU-Abgeord- Feuerwehr springen ein pich“ verschiedener Maßnahmen entsteht? neten Fritz Latendorf: „Verdammte Neugie- 1979 fiel die Antwort parteiübergreifend und rige!“ Auch SPD-Mann Matthiesen fand Wie in der aktuellen Coronakrise, so taten eindeutig aus. Trotz der teilweise unterbro- klare Worte: „Die Freiheit des Autofahrers sich auch damals zahllose freiwillige Helfer chenen Kommunikation habe das Krisen- in solchen Katastrophentagen sollte künftig hervor. „Tugenden des Zusammenstehens management im Wesentlichen funktioniert, da aufhören, wo sie zur Gefährdung anderer in der Not, der Nachbarschaftshilfe und der und das habe auch an den „Vorzügen einer und zur Behinderung von Rettungs- und Begrüßung per Handschlag: Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg (CDU, li.) und FDP-Fraktionschef Uwe Ronneburger. Beide Politiker waren Ehrenbürger des Landes Schleswig-Holstein. DER LANDTAG 02/2020 11
Räumungsmaßnahmen führt.“ Katastro- habe man es geschafft, „die Autobahn von forderte Hoffmann, damit die Feriengäste phen seien „für Ausflüge von Schaulustigen Aalborg bis Krusaa befahrbar zu halten, „nicht mit irgendwelchen Unannehmlich- aller Art nicht geeignet“. während man von Kupfermühle bis Rends- keiten von der Schneekatastrophe“ konfron- burg auf der Autobahn vor den Schnee- tiert würden. Der FDP-Fraktionsvorsitzende Uwe Ronne- massen kapitulieren musste“. Ministerpräsi- burger zeigte sich „bestürzt“ über Aussagen dent Stoltenberg widersprach. Der dänische Um dies zu gewährleisten, brachte die aus der Spitze der Bundespost, die damals Außenminister Henning Christophersen Landesregierung einen Nachtragshaushalt für das Telefonnetz verantwortlich war. habe im Folketing erklärt, es sei notwendig auf den Weg, der, auch das ist eine Parallele Der Leiter des Fernmeldeamtes Flensburg gewesen, die Grenze zu schließen. Und er zu heute, im Landtag einstimmig verab- habe in einem Zeitungsbericht gesagt: „Die habe hinzugefügt: „Die deutschen Behörden schiedet wurde. „Eine solche Situation“, so Ausstattung der Fernmeldevermittlungen haben getan, was sie überhaupt konnten, um der Freidemokrat Ronneburger, dürfe nicht der Bundespost geht nicht vom Katastro- die schwierige, katastrophenartige Situation „Anlass oder Ausgangspunkt parteipoliti- phenfall aus.“ Es reiche aber nicht aus, so so gut wie überhaupt möglich zu meistern“. scher Kontroversen sein“. 55,8 Millionen Ronneburger, nur für den „Normalfall“ zu Diese Beurteilung, unterstrich Stoltenberg, DM flossen in die Sanierung öffentlicher planen. Es müsse „auch für den Ernstfall, „stimmt voll mit unseren Feststellungen Gebäude und Straßen, in den Küstenschutz, den Katastrophenfall“ vorgesorgt werden. überein.“ in die Instandsetzung von Stränden, Ufer- befestigungen und Wanderwegen sowie in Ä hnlich wie in der Coronakrise wurde auch im Schneewinter die deutsch- dänische Grenze geschlossen, und zwar von „Elementare Gewalten“ bedrohen die moderne Welt die Ausstattung von Polizei, Feuerwehr und Katastrophenschutz mit Räumfahrzeugen und Funkanlagen. Hinzu kamen steuerliche der deutschen Seite aus. Die Folge: Rund Die Berichterstattung der Medien bot auch Vergünstigungen für Unternehmen. 1.000 deutsche Weihnachtsurlauber, die 1979 Diskussionsstoff. CDU-Fraktions- aus ihren dänischen Ferienhäusern ausge- chef Hoffmann nahm das ARD-Magazin Neben der staatlichen Unterstützung sei checkt hatten, wurden nördliche von Flens- „Monitor“ ins Visier. Die Journalisten des künftig aber auch „Selbsthilfe“ notwendig, burg abgewiesen. Die dänischen Grenz- WDR hatten über die angebliche Gleich- hieß es im Landtag. „So muss sich jeder kommunen brachten die Gestrandeten in gültigkeit schleswig-holsteinischer Bauern Bürger, vor allem der Bürger in abgelegenen Notquartieren unter. Teile der Kopenha- angesichts der Krise berichtet. Das sei unzu- Landgemeinden, darauf einstellen, einige gener Politik reagierten verschnupft. Im treffend und „nicht zumutbar“ gewesen, so Tage mit seinen eigenen Vorräten an Lebens- Landtag sprach Karl Otto Meyer vom SSW Hoffmann. Zeitungsmeldungen in Süd- und mitteln oder Heizmaterial auszukommen“, von einer „übereilten Kurzschlusshand- Westdeutschland wiederum hatten poten- stellte SPD-Fraktionschef Matthiesen klar. lung, die vermieden worden wäre, wenn zielle Schleswig-Holstein-Touristen vor Sein CDU-Amtskollege Hoffmann rief man mit den Verantwortlichen in Dänemark einer Reise an Nord- und Ostsee im anste- „Betriebe und Privathaushalte, bei denen einen engen Kontakt gepflegt hätte“. Über- henden Sommer gewarnt, weil die Schäden das aufgrund ihrer Funktion und ihrer Lage haupt, so Meyer, sei der nördliche Nachbar der Schneekatastrophe dann noch nicht besonders notwendig ist“, dazu auf, sich mit dem Schneefall besser klargekommen behoben seien. Der Norden müsse „wie Notstromaggregate anzuschaffen. als die Schleswig-Holsteiner. In Dänemark in den vergangenen Jahren gerüstet“ sein, D as heutige Schleswig-Holstein wäre auf eine Schneekatastrophe besser vorbereitet. Satelliten ermöglichen eine frühzeitige Warnung vor Extremwetter. Ein größerer Teil der Stromleitungen verläuft unterirdisch und wäre nicht vom Eis bedroht. Handynetz und Digitalfunk sind weniger anfällig als die Telefondrähte früherer Zeiten. Eine absolute Sicherheit könne es aber nicht geben, wie Ministerprä- sident Stoltenberg anmerkte. Die Ereignisse hätten den Menschen „vor Augen geführt, wie anfällig unsere in Haushalt und Betrieb weitgehend technisierte Lebenswelt gegen elementare Gewalten ist. Dem weit verbrei- teten Glauben an das total Machbare und die Perfektion moderner Errungenschaften auch im Kampf gegen Naturgewalten sind Grenzen aufgewiesen worden.“ Diese Sätze könnten auch aus der Zeit der Corona- Pandemie stammen. Besprechung ohne Abstandsgebot (v. li.): CDU-Fraktionschef Heiko Hoffmann, Landtagspräsident Karsten Blaas Helmut Lemke, Karl Otto Meyer (SSW) 12 DER LANDTAG 02/2020
A U S N A H M E Z U S TA N D Bilder Der Schneewinter 1978/79 fand seinen Niederschlag in zahlreichen schleswig-holsteinischen Fotoalben (oben). Oft wurde die Idylle in der Katastrophe abgebildet. Fotos aus der Corona-Zeit gesucht (unten) zeigen Plakate mit Bitten und Hinweisen, Friseurbesuche mit Mundschutz oder Strände mit Zutrittsregeln. Forscher der Universitäten Hamburg, Bochum und Gießen haben ein digi- tales Corona-Album angelegt. Sie sammeln „Erlebnisse, Gedanken, Medien und Erinnerungen“, um das Jahr 2020 für die Nachwelt zu dokumentieren. Wer etwas beisteuern möchte, findet weitere Informationen unter: www.coronarchiv.de DER LANDTAG 02/2020 13
Einschränkungen, Ängste und das Gefühl, ein historisches Ereignis mitzuerleben – das gab es auch vor Corona. Wir blicken auf drei weitere Ausnahmezustände und auf die Reaktionen im Landtag. Während die Helfer „bis zur physischen Erschöpfung unter großer Sturmflut 1962: Ein ganzes Land eigener Gefahr“ die Deiche zu halten versuchten, lief im Hinterland die Hilfskette an. Die Deutsche Erdöl AG (DEA) und viele andere stemmt sich gegen die Nordsee Firmen stellten Pumpen und Personal zur Verfügung, um vollge- laufene Keller trockenzulegen. Die Behörden an der Ostseeküste, in Die Sturmflut vom 16. und 17. Februar 1962 griff die Deiche an anderen Bundesländern und in Dänemark lieferten hunderttausende der Westküste und entlang der Elbe an und drang bis in die Sandsäcke ins Katastrophengebiet. In den folgenden Tagen durch- Nebenflüsse vor. Hilfe kam aus allen Richtungen. streiften tausende freiwillige Helfer Schleswig-Holsteins Wälder, um Pfähle zu sammeln und Reisigbündel zu knüpfen – als Füllmaterial für Der Nordwestorkan beschädigte 150 Kilometer Deichlinie an der die geschundenen Deiche. Der Autoverkehr Richtung Süden staute Nordsee. Auf den Halligen liefen die Keller voll, so dass die Lebens- sich währenddessen vor der Elbbrücke in Lauenburg, denn die Route mittelvorräte verdarben und das Trinkwasser knapp wurde. Auf über Hamburg fiel aus. Dort kostete die Sturmflut 315 Menschen das dem Festland wurden 10.000 Menschen evakuiert und vom Roten Leben. „Wieder einmal haben wir erfahren müssen, dass die Natur Kreuz beherbergt. Die Elbdeiche hielten den Wassermassen stand, den Menschen, so fortschrittlich er sich auch gebärdet, noch immer in aber die Flut drang über die Stör, die Krückau und die Pinnau bis seine Schranken gewiesen hat“, so Ministerpräsident von Hassel. nach Itzehoe, Elmshorn und Uetersen vor. Dort standen die Innen- städte unter Wasser, und die Klärwerke fielen aus. Der Ausbruch von Seuchen drohte. Letztlich überstand Schleswig-Holstein die Ölkrise 1973: Die Autos Katastrophe aber ohne Todesopfer. müssen in der Garage bleiben Im Landtag berichtete Ministerpräsident Kai-Uwe von Hassel (CDU) am 12. März. Er sei auf einer Abendveranstaltung in Meldorf Im Herbst 1973 verschärfte der Nahostkonflikt den wirtschaft gewesen, als ihn die Alarmmeldung erreichte, so von Hassel. lichen Abschwung in Europa. Eine Folge: Deutschlands Auto- Eine direkte Verbindung ins Landeshaus sei zunächst „infolge der fahrer mussten ihre Wagen stehenlassen. Überlastung des zuständigen Fernsprechamtes“ nicht zustande gekommen. Erst die Fahrt in die Polizeiinspektion Meldorf, wo Am 6. Oktober 1973 griffen Ägypten und Syrien die Sinai-Halb- es einen direkten Draht nach Kiel gab, ermöglichte es dem Regie- insel und die Golanhöhen an, die von Israel besetzt waren. Der rungschef, Katastrophenalarm für die Westküste auszurufen und Westen unterstützte den jüdischen Staat, im Gegenzug drosselten die Zufahrtsstraßen zu sperren – auch „für Zuschauer, die sich in arabische Länder ihre Ölproduktion. Der Preis für Rohöl verdop- dieser Nacht bereits störend bemerkbar machten“. pelte sich binnen weniger Tage. Das feuerte den wirtschaftlichen Abwärtstrend in der Bundesrepublik an. In Schleswig-Holstein stieg die Arbeitslosenquote auf den damals beunruhigenden Wert von 1,7 Prozent. Als Gegenmaßnahme setzte die Bundesregierung auf Ener- giesparen. Für ein halbes Jahr galt auf Deutschlands Autobahnen Tempo 100, auf Landstraßen Tempo 80. Ab dem 25. November herrschte zudem an vier Sonntagen ein allgemeines Fahrverbot. Kämpfte erst mit dem Telefonnetz und dann mit der Sturmflut: Tipps für Autofahrer: Die ADAC-Straßenwacht erklärte im Herbst 1973 Ministerpräsident Kai-Uwe von Hassel in Kiel, wie man Benzin spart. 14 DER LANDTAG 02/2020
A U S N A H M E Z U S TA N D Im Landtag gab es am 4. Dezember breite Unterstützung für versuchte zu beschwichtigen: Die Bevölkerung sei nicht gefährdet. diesen Schritt. „Begrenzte, aber wirksame Eingriffe wie das Sonn- Das bezweifelte die schleswig-holsteinische SPD in einer vier tagsfahrverbot und Geschwindigkeitsregelungen sind unvermeid- stündigen Landtagsdebatte am 28. Mai. lich“, erklärte Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg (CDU): „Wir müssen gemeinsam mit der Bundesregierung unsere Mitbürger um Bonn verfahre nach dem Motto „Wir wissen nichts, aber es Verständnis für die lästigen aber notwendigen Einschränkungen besteht keine Gefahr“, schimpfte die Sozialdemokratin Ruth bitten, so unangenehm sie für den einzelnen sind. Es sind nicht die Springer. Ihr Fraktionsvorsitzender und Oppositionsführer Björn größten Sorgen, die wir im Zusammenhang mit der Energie- und Engholm ergänzte, wenige Tage nach den beruhigenden Tönen Konjunkturlage haben.“ Auch Oppositionsführer Klaus Matthiesen aus dem Bundesinnenministerium „durften dann plötzlich Kühe (SPD) stellte klar: „Die Zeiten billiger und billigster Energie sind leider nicht mehr auf die Weiden, wurden Kinder gewarnt, den Regen zu vorbei.“ Der SSW-Abgeordnete Karl Otto Meyer sah die Zwangs- meiden und nicht in Sandkisten zu spielen, wurden Sportplätze pause für Pkw sogar als Zukunftsmodell: „Es ist nicht einzusehen, gesperrt, Grenzwerte für Milch und Freilandgemüse gesetzt, und dass hunderttausende einzelne Personen durch die Innenstädte das alles auch noch unterschiedlich zwischen den Bundesländern kurven, wenn der Verkehrsbedarf hier durch öffentliche Massenver- und dem Bund“. Sozialministerin Ursula Gräfin Brockdorff (CDU) kehrsmittel gedeckt werden kann. Man sollte die Möglichkeiten zur riet zur Gelassenheit: „Schleswig-Holstein war im Vergleich zu Einrichtung autofreier Zonen in den Innenstädten ernstlich erwägen.“ anderen Teilen der Bundesrepublik relativ gering belastet.“ Dabei müsse berücksichtigt werden, dass im Norden eine niedrige radio- Die Vorhersage des CDU-Abgeordneten Roger Asmussen, „Sonn- aktive Grundstrahlung herrsche: „Selbst als die Werte gestiegen tagsfahrverbote und Geschwindigkeitsbegrenzungen werden waren, lagen sie noch unter den natürlichen ständigen Werten in sicherlich noch auf absehbare Zeit fortgesetzt werden müssen“, Ostbayern oder in Garmisch-Partenkirchen.“ erfüllte sich nicht. Aber die deutsche Energiepolitik konzentrierte sich fortan aufs Sparen und auf die Versorgungssicherheit. In der Emotional wurde die Debatte, als die SPD-Abgeordnete Maria Folge wurde der Bau von Atomkraftwerken vorangetrieben, heimi- Lindenmeier Tüten mit Milchpulver auf die Tische von Sozialmi- sche Ölquellen wurden angezapft, und seit März 1980 wird die Uhr nisterin Gräfin Brockdorff und Landwirtschaftsminister Günter zur energiesparenden Sommerzeit vorgestellt. Flessner (CDU) legte. Sie habe den Ersatzstoff für Kuhmilch „wie viele andere Frauen“ gekauft, „um für meine Tochter, die ein Baby erwartet, und für meine Enkelkinder Milch zu haben, die frei von Tschernobyl 1986: Furcht vor Strahlenbelastung ist“, erläuterte Lindenmeier. „Effekthascherei“, protestierte Karl-Heinz Stegemann (CDU). Und die Unionsabge- Strahlung in Milch und Gemüse ordnete Anke Gravert wies darauf hin, dass Schleswig-Holsteins Bauern ihr Vieh bewusst später auf die Weiden getrieben hätten, Am 26. April 1986 kam es zu einer Explosion und einem Brand um einen Kontakt mit dem nuklearen Fallout zu vermeiden: „Die im sowjetischen Kernreaktor Tschernobyl. In Deutschland schleswig-holsteinischen Landwirte haben im Dienst der allge- herrschte wochenlang Angst vor Radioaktivität in der Luft und meinen Gesundheit besondere Opfer gebracht, und sie verdienen in der Nahrung. hierfür unseren Dank und unsere Anerkennung!“ Die Nachricht von der Reaktorkatastrophe hinter dem Eisernen Die Tschernobyl-Katastrophe heizte die Debatte um die Atom- Vorhang und der nuklearen Wolke über Europa sickerte nur kraft auch in der Folgezeit an – bis zum Atomausstieg nach der langsam in den Westen durch. Die CDU/FDP-Bundesregierung Katastrophe in Fukushima 2011. Disput um Milchpulver: Sozialministerin Ursula Gräfin Brockdorff (CDU, li.) und die SPD-Abgeordnete Maria Lindenmeier DER LANDTAG 02/2020 15
Sie können auch lesen