BEITRÄGE AUS DER FORSCHUNG - Band 210 Arbeiten mit und an Interaktionen

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BEITRÄGE AUS DER FORSCHUNG - Band 210 Arbeiten mit und an Interaktionen
2022

    technische universität
    dortmund

BEITRÄGE AUS DER FORSCHUNG
Band 210

            Jörg Abel / Klaus Kock (Hg.)

            Arbeiten mit und an Interaktionen
            Empirische Analysen aus der Sozialforschungsstelle
Impressum
Beiträge aus der Forschung, Band 210
ISSN: 0937-7379
Dortmund 2022

Sozialforschungsstelle Dortmund (sfs)
Fakultät Sozialwissenschaften | Technische Universität Dortmund
Evinger Platz 17
D-44339 Dortmund

Tel.: +49 (0)2 31 – 755-1
Fax: +49 (0)2 31 – 755-90205
Email: information.sfs@tu-dortmund.de
www.sfs.sowi.tu-dortmund.de
Jörg Abel, Klaus Kock (Hg.)

Arbeiten mit und an Interaktionen
Empirische Analysen aus der Sozialforschungsstelle
Inhalt                                                                                3

 Inhalt

 Vorwort                                                                         4
 Jörg Abel, Klaus Kock

 „Als würden die Kunden denken, dass wir Roboter sind.“ Eine Situationsanalyse   6
 von Kassiertätigkeiten im Einzelhandel
 Klaus Kock, Edelgard Kutzner, Ninja Ulland

 Von der leidigen Notwendigkeit zum bedeutsamen Faktor – Ein Fallbeispiel        19
 zum Wandel von Interaktionsarbeit im Technischen Service
 Jörg Abel, Peter Ittermann, Tobias Wienzek

 Führung als symmetrische Interaktionsform in der Netzwerkorganisation           43
 Hendrik Lager, Ralf Kopp, Tobias Wienzek
4                                                                              Jörg Abel, Klaus Kock

Jörg Abel, Klaus Kock

Vorwort
Dienstleistungsarbeit zeichnet sich im Vergleich    Die drei in den folgenden Aufsätzen vorgestellten
zur Industriearbeit dadurch aus, dass neben dem     Forschungsprojekte aus der Sozialforschungs-
Unternehmen und seinen Beschäftigten die Kon-       stelle thematisieren jeweils einen besonderen
sument*innen als dritte Partei direkt involviert    Aspekt von Interaktionsarbeit. Sie werden im
sind. Verkauft wird kein fertiges Produkt, viel-
mehr greifen Kund*innen, Klient*innen, Pati-        Rahmen der Förderbekanntmachung „Zukunft
ent*innen bereits in den Prozess der Leistungser-   der Arbeit: Arbeiten an und mit Menschen“ vom
stellung ein. Sie bestimmen mit darüber, was die    BMBF und aus Mitteln des ESF gefördert. Über-
Dienstleistung im Endeffekt genau ausmacht und      geordnetes Ziel dieser Förderung ist es, ein bes-
auf welche Weise sie zustande kommt. Inhärenter     seres Verständnis zu gewinnen über Anforderun-
Bestandteil der Dienstleistungsarbeit sind daher    gen von Interaktionsarbeit und Möglichkeiten,
Interaktionen mit denen, die sie beauftragen und    ihnen zu entsprechen. Weiterhin soll die gesell-
konsumieren. Dies gilt erst recht für personenbe-   schaftliche Anerkennung der teilweise mit hohen
zogene Dienstleistungen, in denen die Konsu-        Arbeitsanforderungen und Belastungen verbun-
ment*innen selbst zum Gegenstand der Arbeit         denen interaktiven Arbeit verbessert werden
werden. Dabei bewegen sich die Akteur*innen in      (BMBF 2017). Die Aufsätze verstehen sich als Bei-
einem ökonomischen Umfeld, das heißt, ihre In-      träge zur wissenschaftlichen Diskussion um In-
teraktionen beinhalten immer auch Auseinander-      teraktionsarbeit und zur Entwicklung praktischer
setzungen um ein angemessenes Verhältnis von        Ansätze einer menschengerechten Arbeitsgestal-
Preis und Leistung.                                 tung.

Für die Beschäftigten in interaktiver Dienstleis-   Das Projekt RespectWork (Entwicklung gegensei-
tungsarbeit ergeben sich daraus spezifische An-     tigen Respekts in der Kundeninteraktion zur Ver-
forderungen: Sie müssen in der Lage sein, Koope-    besserung von Arbeits- und Dienstleistungsqua-
rationsbeziehungen mit den jeweiligen Konsu-        lität) setzt einen Schwerpunkt auf moralische
ment*innen herzustellen, um den Prozess der         Fragen im Umgang zwischen Beschäftigten und
Leistungserstellung     gemeinsam     erfolgreich   Kundschaft. Untersucht wird, was einen respekt-
durchzuführen. Die Dienstleistenden sollen fähig    vollen Umgang in der Dienstleistungsbeziehung
sein, so mit ihren Emotionen umzugehen, dass        ausmacht, welchen Stellenwert er im Erleben der
die Beziehung zur Kundschaft zumindest nicht        Beschäftigten einnimmt und wie gegenseitiger
gestört, wenn möglich sogar gefördert wird. Die     Respekt in der Kundeninteraktion etabliert und
Gefühle der Kundschaft wiederum sollen positiv      gefördert werden könnte. Der Aufsatz zeigt an-
beeinflusst werden, denn Zufriedenheit ist we-      hand einer mikrosoziologischen Analyse von Kas-
sentliches Erfolgskriterium für eine Dienstleis-    siertätigkeiten in einem Baumarkt, welche Mo-
tung. Schließlich wird von den Beschäftigten ge-    mente in unterschiedlichen Situationen auf wel-
fordert, dass sie ihre subjektiven Fähigkeiten zu   che Weise respektvoll oder respektlos wirken und
Empathie, sinnlicher Wahrnehmung und Improvi-       wo Gestaltungsmaßnahmen ansetzen könnten.
sation einsetzen, um mit den Unwägbarkeiten der     Das Projekt VISITS (Vernetzung und Interaktions-
jeweiligen Situation und den Eigenheiten der be-    arbeit in Smarten Technischen Services) richtet
teiligten Kund*innen zurechtzukommen (Böhle/        den Fokus auf die Ausgestaltung von Interakti-
Weihrich 2020, 16-19).                              onsarbeit in unternehmensnahen Dienstleistun-
Vorwort                                                                                               5

gen im Zeichen der Digitalisierung. Am Beispiel       mensumwelt. Am Beispiel eines Unternehmens
des Technischen Services wird gezeigt, dass In-       wird gezeigt, wie sich im Zuge des Wandels von
teraktionen mit dem auftraggebenden Unterneh-         einer Matrixorganisation zu einer Netzwerkorga-
men und seinen Beschäftigten unabdingbarer Be-        nisation auch die Führung verändern muss. Dabei
standteil sind, um die jeweilige Dienstleistung er-   wird die These vertreten, dass die bisherige
stellen zu können. Im Unterschied zu personen-        asymmetrische Interaktion in eine symmetrische
bezogenen und sozialen Dienstleistungen basiert       Interaktion übergehen muss.
im Technischen Service die Interaktion auf einer
gemeinsamen fachlichen Grundlage. Am Beispiel
eines Unternehmens wird gezeigt, dass die Inter-      Literatur
aktionen dennoch nicht störungsfrei verlaufen.
Es werden organisatorische und technische Maß-        BMBF (2017): Richtlinie zur Förderung von Maß-
nahmen identifiziert, um die Interaktionsarbeit       nahmen für den Forschungsschwerpunkt „Zu-
im Technischen Service zu gestalten.                  kunft der Arbeit: Arbeiten an und mit Menschen“
                                                      im Rahmen des FuE-Programms „Zukunft der Ar-
Das Projekt eLLa4.0 (Gute Führung und Arbeit in       beit“ als Teil des Dachprogramms „Innovationen
der soziodigitalen Transformation) betrachtet ei-     für die Produktion, Dienstleistung und Arbeit von
nen in der Debatte um Interaktionsarbeit wenig        morgen“, Bundesanzeiger vom 25.08.2017,
beachteten Aspekt: Mit den organisationalen Ver-      https://www.bmbf.de/bmbf/shareddocs/be-
änderungen in den Unternehmen ergeben sich zu-        kanntmachungen/de/2017/08/1399_bekanntma-
gleich neue Rollenbilder von Führung und neue         chung.html (22.2.2022)
Anforderungen an Führungskräfte. Zentral sind
dabei die internen Interaktionen mit den Geführ-      Böhle, F., M. Weihrich (2020): Das Konzept der In-
ten, aber auch die Interaktionen mit anderen Un-      teraktionsarbeit; in: Zeitschrift für Arbeitswis-
ternehmensbereichen oder mit der Unterneh-            senschaft, Heft 74, 9-22
6                                                             Klaus Kock, Edelgard Kutzner, Ninja Ulland

Klaus Kock, Edelgard Kutzner, Ninja Ulland

„Als würden die Kunden denken, dass wir Roboter
sind.“ Eine Situationsanalyse von Kassiertätigkeiten
im Einzelhandel

1. Einleitung                                           was getan werden könnte, um Respekt in den In-
                                                        teraktionen zwischen Kundschaft und Verkaufs-
Was die Kassiererin aus einem Lebensmittel-             personal mehr Geltung zu verschaffen.
markt im Titelzitat anspricht, erleben viele Be-
                                                        Bei RespectWork handelt es sich um ein sog. Ver-
schäftigte im Einzelhandel. Ihre Leistungen wer-
                                                        bundprojekt. 1 Beteiligt sind neben der Sozialfor-
den zwar in Anspruch genommen, als Personen
                                                        schungsstelle der TU Dortmund, die den wissen-
fühlen sie sich jedoch von der Kundschaft oftmals
                                                        schaftlichen Part übernommen hat, die Deutsche
herabgesetzt oder missachtet. „Seit ich im Ein-
                                                        Angestellten-Akademie GmbH DAA Westfalen,
zelhandel arbeite, hasse ich Menschen“ lautete
                                                        die Beratungsstelle Arbeit & Gesundheit e.V. in
beispielsweise eine Überschrift im Magazin
                                                        Hamburg und der Handelsverband NRW Westfa-
„Stern“ (Graen 2019). Allgemein wird in den letz-
                                                        len-Münsterland e.V. Praxispartner des Projekts
ten Jahren von einer zunehmenden Respektlosig-
                                                        ist die B. Frieling Service- und Dienstleistungen
keit der Kund*innen berichtet, was sich manifes-
                                                        GmbH & Co. KG in Coesfeld mit sieben hagebau-
tiert in einem fordernden oder gar herausfordern-
                                                        Märkten im Münsterland. Assoziiert sind weiter-
den Verhalten gegenüber dem Verkaufspersonal.
                                                        hin ein Edeka-Markt sowie die Gewerkschaft
Für die Beschäftigten kann dies in hohem Maße
                                                        ver.di. In der Zusammenarbeit zwischen Ak-
belastend wirken. Die Ergebnisse einer Sonder-
                                                        teur*innen aus Wissenschaft, Beratung, Weiter-
auswertung des DGB-Index Gute Arbeit von 2018
                                                        bildung und Unternehmen werden gemeinsam
zeigen, dass 35 Prozent derjenigen Beschäftig-
                                                        Aufgaben definiert und konkrete Maßnahmen und
ten, die oft mit Kundschaft, Patient*nnen, Kli-
                                                        Empfehlungen entwickelt.
ent*innen etc. zu tun haben, oft ihre Gefühle bei
der Arbeit verbergen müssen, 18 Prozent müssen          Im Folgenden präsentieren wir erste Ergebnisse
Konflikte oder Streitigkeiten mit der Kundschaft        unserer sozialwissenschaftlichen Untersuchun-
durchstehen, 11 Prozent erfahren herablassende          gen aus drei Filialen der Baumarktkette. Vorange-
Behandlung durch andere (Institut DGB-Index             stellt ist ein kurzer Überblick über den soziologi-
Gute Arbeit 2018, 9).                                   schen Hintergrund sowie über Fragestellung und
                                                        methodische Anlage der Studie.
Dies war Anlass und Ausgangspunkt für unsere
Untersuchung zum Respekt im Einzelhandel.
Respekt gehört zu den Regeln und Verbindlichkei-        2. Respekt – der theoretische
ten, die ein Zusammenleben der Menschen erst               Hintergrund
möglich machen, Respekt ist eine Frage der Mo-
ral. Wir fragen in unserem Projekt RespectWork          Respekt und andere moralische Normen sind
danach, welche Regeln und Verbindlichkeiten in          nicht in Gesetzen und Urteilen festgeschrieben,
der Situation des Einkaufens im Einzelhandel gel-       Menschen empfinden und erkennen sie als
ten, warum sie oft nicht eingehalten werden und         Pflichten für ihr Handeln in der Gesellschaft. Res-

1
  Das Projekt wird im Rahmen des Programms „Zukunft der Arbeit“ vom Bundesministerium für Bildung und For-
schung und dem Europäischen Sozialfonds gefördert und vom Projektträger Karlsruhe (PTKA) betreut. Die Verant-
wortung für den Inhalt liegt bei den Autor*innen.
Situationsanalyse von Kassiertätigkeiten                                                             7

pekt ist eine Haltung gegenseitiger Rücksicht-       Respekt ist kein Altruismus, sondern liegt durch-
nahme. Es macht einen Unterschied für das Re-        aus im eigenen Interesse jedes Individuums.
den und Handeln einer Person, dass andere an-        Menschen sind gesellschaftliche Wesen, sie
wesend sind. Eine Person handelt respektvoll,        brauchen die Anerkennung von anderen, um
wenn sie in Betracht zieht, dass die andere Per-     Selbstbewusstsein zu entwickeln und Sicherheit
son mit gleichem Recht Ansprüche an ihr Verhal-      in ihrem Verhalten zu gewinnen. Dies ist dadurch
ten stellt wie umgekehrt (Dillon 2018; Lindner       möglich, dass Menschen sich in andere hinein-
2016).                                               versetzen und das eigene Handeln aus der Per-
                                                     spektive der anderen betrachten. Respekt impli-
Die Pflicht, andere Menschen zu respektieren,        ziert, dass ein Individuum in seinem Verhalten
hat zum Inhalt, sie als rationale und freie Perso-   das der anderen berücksichtigt und sich damit
nen anzuerkennen. Nach einer bekannten Formu-        auseinandersetzt (Respect Research Group o.J.).
lierung von Immanuel Kant ist der Mensch keine
Sache, „mithin nicht etwas, das bloß als Mittel      Respekt ist insofern zu unterscheiden von Tole-
gebraucht werden kann, sondern muss bei allen        ranz. Respekt meint immer eine Form der sozia-
seinen Handlungen jederzeit als Zweck an sich        len Beziehung, Toleranz dagegen heißt: Die betei-
                                                     ligten Personen dulden einander nur, verhalten
selbst betrachtet werden“ (Kant 2008, 70). Jeder
                                                     sich aber so, als sei die jeweils andere Person
Mensch soll von den anderen als Subjekt angese-
                                                     nicht von Bedeutung für das eigene Handeln
hen werden, das Anspruch darauf hat, selbstbe-
                                                     (Bauman 2005, 22 und 370 f.). Oder um es mit
stimmt zu handeln.
                                                     Goethe zu sagen: „Toleranz sollte eigentlich nur
Bezogen auf die Dienstleistungsbeziehung be-         eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss
deutet dies, dass eine Haltung der Anerkennung       zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidi-
                                                     gen.“ (zit. n. Forst 2004, 1) Verkäufer*innen emp-
gefordert ist, mit der die beteiligten Personen
                                                     finden es beispielsweise als respektlos und ent-
sich gleichberechtigt begegnen und miteinander
                                                     würdigend, wenn ihr freundlicher Gruß von
umgehen, und eben nicht als „König Kunde“ und
                                                     Kund*innen nicht erwidert wird – als würden sie
seine Dienerschaft. Stephan Voswinkel (2005,
                                                     das Personal gar nicht wahrnehmen oder als Teil
314 f.) hat dies aus anerkennungstheoretischer
                                                     des Inventars betrachten.
Sicht als „zivile Dienstleistungsarbeit“ bezeich-
net. Die Frage nach einer Erklärung für Respekt-     In der Theorie der Anerkennung wird Respekt un-
losigkeit in der Verkaufsbeziehung ist eine Frage    terschieden von Wertschätzung (Honneth 1992,
nach den Gründen der Beteiligten, im zwischen-       148 ff.). Wertschätzung meint, dass die individu-
menschlichen Verhalten mit zivilen Umgangsfor-       ellen Fähigkeiten einer Person und ihre Beiträge
men gleichberechtigter Subjekte zu brechen.          zu gemeinsamen Zielen von den anderen aner-
                                                     kannt und für wichtig befunden werden. Das ge-
Allerdings liegt es in der Natur der Sache, dass
                                                     schieht im Betrieb zumeist im Team und durch die
sich Beschäftigte und Kund*innen beim Kaufen         Vorgesetzten, aber auch durch Dankbarkeit von
und Verkaufen gegenseitig instrumentalisieren.       Kund*innen für Bedienung und Beratung. Res-
Das Personal dient der Kundschaft als Mittel, um     pekt dagegen bezieht sich darauf, als Mensch mit
etwas zu kaufen. Die Kundschaft dient umgekehrt      gleichen Rechten behandelt zu werden, ohne da-
dem Personal als Mittel, um Geld einzunehmen         nach zu fragen, was diese Person leistet. Respekt
für das Unternehmen und damit das eigene Ein-        schuldet ein Mensch dem anderen, er muss nicht
kommen zu sichern. Der Widerspruch, als autono-      erworben werden. Respekt steht somit am An-
mes Subjekt zugleich den Zwecken anderer Sub-        fang jeder Interaktion, er ist in gewisser Weise
jekte dienen zu müssen, lässt sich nicht vermei-     ihre Voraussetzung. Er kann sich weiterentwi-
den, im Alltag muss dafür eine Umgangsweise ge-      ckeln zur Wertschätzung.
funden werden. Das soziologische Interesse rich-
tet sich auf die Untersuchung dieser wider-          Umgangssprachlich wird der Begriff Respekt oft
sprüchlichen sozialen Beziehung.                     gebraucht im Sinne von Furcht oder Angst als Re-
8                                                           Klaus Kock, Edelgard Kutzner, Ninja Ulland

sultat von Einschüchterung. Das kann Respekt          sachliche Kontroversen angesehen, sondern immer
vor der „Obrigkeit“ sein, aus Angst vor Strafe hält   auch als psycho-soziale Probleme erlebt. Als „sozi-
man sich an die Gesetze. Oder eine bestimmte          ale Stressoren“ in diesem Sinne gelten u. a.
Person schüchtert eine andere so ein, dass diese
tut, was jene sagt. So wussten sich beispiels-           außergewöhnliche Anforderungen, d. h. wenn
weise viele Einzelhandelsgeschäfte im Zuge der            einige Kund*innen besondere Behandlung er-
Corona-Pandemie nicht anders zu helfen, als               warten;
Wachpersonal vor dem Eingang zu postieren, um            persönliche Angriffe, von ungerechtfertigter
die Einhaltung der Hygiene-Regeln zu erzwingen.           Kritik über Beleidigungen und Beschimpfun-
Respekt zeigt sich darin, dass eine solche Ein-           gen bis hin zu körperlicher Aggression;
schüchterung nicht notwendig ist, weil alle sich         Zwang zur        Bedienung unangenehmer
aus Einsicht und Verantwortung gegenüber den              Kund*innen;
Mitmenschen an die Regeln halten.                        Abstimmungsschwierigkeiten mit der Kund-
                                                          schaft, wenn deren Wünsche widersprüchlich
                                                          oder unklar sind (Holz et al. 2004, 285; vgl.
3. Fragestellungen des Projekts                           Yagil 2017).
   RespectWork
                                                      Im Projekt RespectWork untersuchen wir Akte
In Forschungen zur Interaktionsarbeit (Böhle/         des Kaufens und Verkaufens als Situationen in-
Weihrich 2020) werden Belastungen und Bean-           terpersonalen Handelns. Unter bestimmten Um-
spruchungen interaktiver Arbeit in Zusammen-          ständen, die zu analysieren sind, treffen Men-
hang gestellt mit der besonderen Struktur dieser      schen aufeinander, die ihre Handlungen aneinan-
Tätigkeiten. Weil die Dienstleistung im Einzelhan-    der ausrichten und aufeinander abstimmen. Die
del nur durch Mitwirkung der Kund*innen gelin-        Situation ist bestimmt von äußeren Gegebenhei-
gen kann, gewinnt die soziale Beziehung zwi-          ten, im Wesentlichen aber davon, wie diese Gege-
schen den Beteiligten an Bedeutung.                   benheiten von den Akteur*innen interpretiert
                                                      werden, welche Bedeutung sie ihnen zumessen.
Winfried Hacker (2009, 67 f.) bezeichnet es als
                                                      Die kaufende Person muss mit der verkaufenden
den Kernwiderspruch aller dialogisch-interakti-
                                                      übereinkommen, was Gegenstand ihrer gemein-
ven Arbeit, dass diese einerseits den Empfän-
                                                      samen Handlungen sein soll und wie sie mitei-
ger*innen mitmenschliche Hilfe und soziale Un-
                                                      nander umgehen wollen (Dunkel/ Weihrich 2014).
terstützung zukommen lassen soll, andererseits
aber einen ökonomischen Tauschprozess von
                                                      Dabei ist der Akt des Kaufens und Verkaufens im
Leistung gegen Bezahlung darstellt. Die Beschäf-
                                                      Einzelhandel in gewisser Weise definiert und vor-
tigten im Einzelhandel sollen Empathie für die
                                                      strukturiert, es geht um Waren, die vom Besitz
kaufwillige Person zeigen, zugleich aber den wirt-
                                                      des Unternehmens gegen Geld in den Besitz der
schaftlichen Erfolg im Auge haben und Distanz
                                                      Kundin*innen wechseln sollen. Hierfür gibt es ge-
wahren zur zahlenden Kundschaft. Die Tätigkeit
                                                      sellschaftlich anerkannte Gewohnheiten und Re-
des Verkaufs soll sich nach den spontanen und
                                                      geln, die ihre Gültigkeit aber nicht aus sich heraus
zum Teil emotionalen Bedürfnissen der Kund*in-
                                                      gewinnen, sondern nur dadurch, dass die Ak-
nen richten, wird aber andererseits nach strikt ra-
                                                      teur*innen sie befolgen und damit realisieren.
tionalen Effizienzkriterien beurteilt. Wir fragen
                                                      Auch Werte und Normen im zwischenmenschli-
danach, wie sich diese Widersprüche im Ar-
                                                      chen Umgang gelten nicht an sich, sondern wer-
beitsalltag geltend machen, wie sie die Interakti-
                                                      den in der jeweiligen Situation praktiziert und ak-
onen in der Verkaufssituation prägen und ob ein
                                                      tualisiert – oder auch nicht.
Ausbalancieren zur Zufriedenheit von Beschäf-
tigten, Kundschaft und Unternehmen möglich ist.       Wie Beschäftigte und Kundschaft ein gemeinsa-
                                                      mes Verständnis der Situation entwickeln, wie sie
Weil in der Verkaufstätigkeit persönliches Enga-
                                                      miteinander umgehen, welchen expliziten und
gement gefordert ist, werden Konflikte mit der
                                                      impliziten Regeln sie dabei folgen, wie und unter
Kundschaft von den Beschäftigten nicht nur als
Situationsanalyse von Kassiertätigkeiten                                                                9

welchen Bedingungen solche Regeln zugunsten-           weniger relevant gemacht werden. Ausgeklam-
gegenseitigen Respekts etabliert werden können,        mert werden dagegen die als privat angesehenen
sind Fragestellungen des Projekts. Die Praxis-         Angelegenheiten der Beschäftigten in ihrem au-
partner*innen erwarten von den Projektarbeiten         ßerbetrieblichen Lebenszusammenhang. Wer
vor allem Hinweise auf mögliche Maßnahmen zur          „private“ Probleme hat, muss dies in der Rolle als
Etablierung und Förderung eines respektvollen          Dienstleister*in überspielen.
Umgangs zwischen Personal und Kundschaft. Es
                                                       Unter diesen Gegebenheiten formen die beteilig-
geht dabei nicht nur um die Strukturierung von In-
                                                       ten Personen ihre Interaktionen mit Hilfe von Bli-
teraktionssituationen im Verkauf, sondern auch
                                                       cken, Gesten, Haltungen und sprachlichen Äuße-
um die Gestaltung betrieblicher Rahmenbedin-
                                                       rungen. Dabei kommen persönliche Charakterei-
gungen.
                                                       genschaften und individuelle Kompetenzen zum
                                                       Tragen. Es ist „subjektivierendes Arbeitshan-
4. Methoden der Untersuchung                           deln“ (Böhle/Weihrich 2020, 12) notwendig, um
                                                       mit der Unbestimmtheit der Situation zurechtzu-
Im Rahmen der wissenschaftlichen Analyse wird          kommen. Es werden soziale Tatsachen hervorge-
die betriebliche Realität in ihrer Vielschichtigkeit   bracht und gestaltet. Die Verhaltensweisen der
so umfassend wie möglich erkundet. Betriebliche        beteiligten Personen verknüpfen sich miteinan-
Fallstudien in den projektbeteiligten Baumärkten       der und beeinflussen sich. Goffman (1986, 8) ver-
und im Lebensmittelmarkt bilden die Basis der          gleicht das mit der Syntax einer Sprache, also den
Projektarbeit. Im Mittelpunkt der Analyse steht        Regelungen darüber, wie einzelne Elemente mit-
die Interaktionssituation zwischen Beschäftigten       einander verknüpft werden.
und Kund*innen mit allen beeinflussenden Gege-
benheiten wie z.B. Aufbau des Marktes, Arbeits-        Die Situation zu untersuchen, heißt also, das in
abläufe oder Qualität und Preis der Ware.              den Blick zu nehmen, was in einem bestimmten
                                                       Kontext zwischen den Menschen entsteht, wenn
Der Fokus der Analyse liegt auf der sozialen Situ-
                                                       sie miteinander interagieren, „die syntaktischen
ation, in der gearbeitet wird. Wir beziehen uns da-
                                                       Beziehungen zwischen den Handlungen verschie-
bei auf die theoretischen Konzepte zur Interakti-
                                                       dener gleichzeitig anwesender Personen. […] Es
onsordnung von Erving Goffman. Eine Situation
                                                       geht […] nicht um Menschen und ihre Situationen,
entsteht, wenn zwei oder mehr Menschen sich
                                                       sondern eher um Situationen und ihre Men-
zur gleichen Zeit am gleichen Ort befinden und
                                                       schen.“ (ebd., 8 f.)
miteinander interagieren, also ihr Handeln aufei-
nander abstimmen. In den Interaktionen kommen          Im Rahmen unserer Fallstudien kommen ver-
gewisse Regeln zum Tragen, die dafür sorgen,
                                                       schiedene Methoden der qualitativen Sozialfor-
dass die Interaktion gelingt. Dieses Regelwerk
                                                       schung zum Einsatz, die Einsicht in alltägliche In-
nennt Goffman „Interaktionsordnung“ (Goffman
                                                       teraktionssituationen und das Erleben der Be-
2001).
                                                       schäftigten ermöglichen (zur Methode der Situa-
Zur Situation gehört alles das, dem sich der           tionsanalyse: Clarke 2012). Den wichtigsten Teil
Mensch im gegebenen Moment zuwenden kann.              bilden Interviews mit Beschäftigten aus verschie-
Das ist zum einen die Umgebung, in der die Inter-      denen Bereichen der Betriebe, in denen sie uns
aktionen stattfinden. Bestimmte Gegebenheiten          anhand von konkreten Situationen ihre Erfahrun-
müssen die Beteiligten so hinnehmen, wie sie           gen im Umgang mit der Kundschaft schildern. Die
sind, z.B. das Raumklima oder das Warensorti-          Sicht der Beschäftigten wird ergänzt durch Ge-
ment. Bei anderen Teilen der Umgebung liegt es         spräche mit der Geschäftsleitung, der Personal-
im Ermessen der Beteiligten, was sie davon in die      leitung und (falls vorhanden) der betrieblichen In-
Interaktionen einbeziehen, ob sie beispielsweise       teressenvertretung. Arbeitsplatzbeobachtungen
im Verkaufsgespräch verschiedene Waren in die          im Markt geben Einsicht in den Ablauf, die Anfor-
Hand nehmen, ob sie im Computersystem nach-            derungen und die Gestaltung alltäglicher Ver-
sehen usw. Es sind Gegebenheiten, die mehr oder        kaufs- und Beratungstätigkeiten. Erste Erkennt-
10                                                          Klaus Kock, Edelgard Kutzner, Ninja Ulland

nisse werden in vertiefenden Gruppendiskussio-        Im Folgenden werden Kassiertätigkeiten be-
nen mit mehreren Beschäftigten einer Abteilung        schrieben und insbesondere kritische Situatio-
besprochen. Zudem werden unternehmensbezo-            nen analysiert, in denen die normalen, routini-
gene Dokumente (Struktur der Belegschaft, Ge-         sierten Abläufe auf die eine oder andere Weise
fährdungsbeurteilungen, Leitbilder, Weiterbil-        gestört werden und die Interaktionen nicht rei-
dungsangebote, Stellenausschreibungen etc.)           bungslos ablaufen. Gerade in solchen Situationen
analysiert. Zwischen- und Endergebnisse werden        zeigt sich Respekt bzw. Respektlosigkeit im Um-
den Beschäftigten in geeigneter Form (z. B. in ei-    gang miteinander (vgl. Joris/Schmid 2019,
ner Betriebsversammlung oder in Gruppentref-          Menz/Nies 2021).
fen) vorgestellt und mit ihnen diskutiert. Auch die
Perspektive der Kundschaft ist für eine umfas-        5.1 Kassieren – eine unterschätzte
sende Analyse der Interaktionssituationen rele-
                                                          Tätigkeit
vant. Hierzu werden Ergebnisse vorhandener
Kundenbefragungen ausgewertet und Befragun-           Nach den Eindrücken der befragten Kassiererin-
gen im Markt durchgeführt.                            nen hält ein Großteil der Kund*innen die Arbeit an
                                                      der Kasse für eine anspruchslose Tätigkeit. Man-
Ergänzend werden im Rahmen sogenannter Kurz-          che sind überzeugt, das Ganze sofort mindestens
fallstudien in einigen weiteren Unternehmen be-       genauso gut, wenn nicht besser und vor allem
triebliche Dokumente ausgewertet, ausführliche        schneller erledigen zu können. Viele beachten die
Gespräche mit der Geschäftsleitung und der be-        Person an der Kasse gar nicht, sie erscheint als
trieblichen Interessenvertretung geführt sowie        ein Teil der Maschine.
Gruppendiskussionen mit Beschäftigten organi-
siert. Interviews mit Expert*innen aus Arbeitge-      Die Kassiertätigkeiten werden vorwiegend von
berverband, Gewerkschaft, Berufsgenossen-             Frauen in Teilzeit ausgeübt. Nach einem verbrei-
schaft und Wissenschaft vervollständigen die Er-      teten Vorurteil arbeiten viele von ihnen als sog.
kenntnisse.                                           Zuverdienerinnen, die finanziell durch das Ein-
                                                      kommen des Ehemanns abgesichert seien.
Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Analysen
sollen zum besseren Verständnis der Interakti-        Es gibt Kund*innen, die ihre Geringschätzung
onssituation von Kundschaft und Beschäftigten         ganz offen formulieren, wie z.B. der Vater, der
im Einzelhandel beitragen. Es soll nachvollzieh-      sein Kind ermahnt, in der Schule gut aufzupas-
bar werden, wie Respektlosigkeiten bzw. Respekt       sen, sonst werde es später auch an der Kasse sit-
entstehen, um Ansatzpunkte für Veränderungen          zen müssen. Die Geringschätzung der Tätigkeit
zu benennen und Grundlagen für die Entwicklung        wird zur Herablassung gegenüber der Person, die
von Informations-, Bildungs- und Beratungsan-         sie verrichtet. Dies ist eine große Belastung für
geboten durch die Projektpartner*innen zu             die betreffenden Kassiererinnen:
schaffen.
                                                        „Manchmal komme ich auch an meine Substanz, ja.
                                                        Vor allem, wenn es so ungerecht ist. Wenn die dir gar
5. Situationsanalyse von                                nicht zuhören und dich wie so ein – so eigentlich wie:
                                                        ‚Was willst du denn von mir? Hättest du in der Schule
   Kassiertätigkeiten                                   besser aufgepasst, würdest du hier nicht stehen.‘
Die hier vorgestellte Analyse konzentriert sich auf     Dann denke ich mir immer: Mach du mal den Job, du
                                                        würdest kläglich untergehen.“ Auf die Nachfrage,
Tätigkeiten im Bereich der Kassen in drei Bau-
                                                        wie sie solche Respektlosigkeiten für sich verarbei-
märkten. Grundlage sind jeweils eintägige Ar-
                                                        tet, antwortete sie: „Eine rauchen gehen und
beitsplatzbeobachtungen in den drei Märkten, 13         schreien!“ (Kassiererin)
Intensivinterviews mit Beschäftigten sowie Inter-
views mit dem Geschäftsleiter und der Personal-       Es stellt sich die Frage, ob sich an dieser allge-
referentin der Baumarkt-Kette.                        meinen Einstellung, an diesen Vorurteilen etwas
Situationsanalyse von Kassiertätigkeiten                                                                11

ändern ließe. Eine Möglichkeit könnte eine ent-        später von den Beschäftigten in die entspre-
sprechende öffentliche Ansprache der Kund-             chende Abteilung gebracht und in die Regale ein-
schaft sein. Im Lebensmittel-Markt beispiels-          geräumt. Unter den Kassiererinnen muss immer
weise hängen große Plakate mit Portraits der Be-       eine anwesend sein, die zugleich die Funktion ei-
schäftigten. Damit wird seitens des Unterneh-          ner Kassenaufsicht ausüben kann. Ihre Aufgabe
mens Respekt für die Mitarbeiter*innen signali-        ist es, die Kassiererinnen einzuarbeiten und an-
siert, der sich auf die Kundschaft übertragen soll.    zuleiten. In der Regel arbeitet sie selbst am In-
Eine andere Möglichkeit läge in organisatori-          foschalter. Wenn sich an den Kassen längere
schen Änderungen. So gibt es in einem von uns          Menschenschlangen bilden, wird am Infoschalter
untersuchten Fahrradmarkt keine gesonderten            eine zusätzliche Kasse eröffnet.
Kassenkräfte; wer einen Artikel verkauft, geht mit
dem Kunden/der Kundin an die Kasse und regelt          Der einzelne Kassiervorgang wird dadurch einge-
die Bezahlung. Eine solche Lösung ist aber nicht       leitet, dass die Kund*innen die gewünschten Ar-
überall machbar.                                       tikel aus dem Einkaufswagen auf das Transport-
                                                       band der Kasse legen. Die Kassiererin zieht die
Der Arbeitstag einer Kassie-
rerin in den untersuchten
Baumärkten beginnt damit,
dass sie die Kasse vorberei-
tet, d. h. sie reinigt ihren Ar-
beitsplatz, holt ihre persönli-
che Geldschublade und mel-
det sich mit ihrem Passwort
an. Nur die Person, die an der
jeweiligen Kasse angemeldet
ist, darf dort kassieren. Zur
Arbeit einer Kassiererin ge-
hört auch, die Ständer mit
Kleinwaren im Umfeld der
Kasse nachzufüllen. Am
                                     Bild 1: Dreierlei Anforderungen im Kassiervorgang (eigene Darstellung)
Schichtende nimmt die Kas-
siererin ihre Schublade heraus und zählt das Geld Waren über einen Scanner, schwere Waren ver-
zusammen mit einer Kollegin, um es dann im Tre- bleiben im Einkaufswagen, die Etiketten werden
sor zu deponieren. Die Schublade wird wieder mit von der Kassiererin mit einem Handscanner ein-
Wechselgeld gefüllt, und die Kollegin der nächs- gescannt. Kund*innen können währenddessen
ten Schicht kann sie übernehmen. Kleinere Ab- ihre Kundenkarte oder weitere Rabattkarten vor-
weichungen der eingenommenen Geldsumme von zeigen. Wenn alle Artikel eingescannt und Ra-
den Buchungen des Kassensystems gelten als batte erfasst wurden, ermittelt das Kassensys-
unproblematisch, bei größeren Fehlbeträgen wird tem den zu zahlenden Betrag, die Kassiererin
nachgeforscht, was dazu geführt hat. Sanktionen nennt ihn den Kund*innen, um daraufhin das Geld
seien nicht zu befürchten, berichteten die Kas- einzunehmen. Bei Kartenzahlung wird auf das
siererinnen einhellig, das sei alles „sehr human Kartenlesegerät verwiesen, bei Barzahlung wird
geregelt“ (Kassiererin).                                 der gezahlte Betrag in das Kassensystem einge-
                                                         geben, das daraufhin die Höhe des Rückgeldes
Zum Kassenbereich gehört der zentrale Informa- berechnet und die Geldschublade öffnet. Die Kas-
tionsschalter als erste Anlaufstelle für die Kund- siererin sucht dann den entsprechenden Betrag
schaft. Hier werden auch Reklamationen und Um- aus der Schublade und überreicht den Kund*in-
tauschwünsche bearbeitet und ggfs. in die be- nen das Geld und den Kassenzettel. Mit „Auf Wie-
treffende Abteilung weitergeleitet. Zurückge- dersehen, einen schönen Tag noch“ wird die Kun-
nommene Artikel werden zunächst gelagert und din/der Kunde verabschiedet.
12                                                                 Klaus Kock, Edelgard Kutzner, Ninja Ulland

Eine Kassiererin muss immer zugleich darauf                  Art des Umgangs mit dem Problem geht auf Kos-
achten, erstens korrekt mit Ware und Geld umzu-              ten der Kassiererin, sie muss sich den Ärger der
gehen, zweitens die Interaktion mit den Kund*in-             Kund*innen anhören und individuell damit zu-
nen zu gestalten und drittens die eigene Arbeit im           rechtkommen. Das Problem wird subjektiv von
Zusammenhang mit der von Kolleg*innen und                    der Kassiererin verarbeitet. Die Analyse macht
Vorgesetzten zu sehen. Diese drei Anforderungen              sichtbar, wo anzusetzen wäre im Hinblick auf ei-
können sich widersprechen, z.B. kann der kor-                nen respektvollen Umgang zwischen Beschäftig-
rekte Umgang mit Ware und Geld aus Sicht der                 ten und Kundschaft:
Kund*innen zu lange dauern. Wenn die Kassiere-
                                                                Eine alternative Umgangsweise mit dem
rin dagegen zu schnell ist, riskiert sie, das Wech-
                                                                 Problem bestünde darin, den Anlass der Irri-
selgeld falsch herauszugeben usw.
                                                                 tation zu beseitigen, indem die betriebliche
Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden                       Regelung, jedes Exemplar eines Artikels ein-
verschiedene Situationen im Baumarkt analysiert                  zeln einzuscannen, hinterfragt und geändert
Die Darstellung gliedert sich danach, welcher Ge-                würde.
genstand jeweils im Mittelpunkt der Tätigkeiten                 Möglich wäre auch, den Kund*innen zu erklä-
steht: Ware und Geld, Kund*innen, Kolleg*innen                   ren, warum so verfahren wird. Dann würden
und Vorgesetzte.                                                 sie verstehen, dass nicht die Kassiererin ver-
                                                                 antwortlich ist, sondern der Betrieb seine
                                                                 Gründe hat und sie sich darin fügen müssen,
5.2 Hantieren mit Waren und Geld                                 wenn sie in diesem Markt einkaufen.
                                                                Wenn die Kund*innen sich dennoch auf res-
Warenetiketten scannen
                                                                 pektlose Weise beschweren, müsste die Kas-
Die Kassiererinnen im Baumarkt sind dazu ver-                    siererin sie zurechtweisen, etwa: „Sie können
pflichtet, an jedem Artikel einzeln das Etikett ein-             sich gerne beschweren, aber nicht in diesem
zuscannen, auch wenn mehrere gleiche Artikel                     Ton!“
auf dem Band liegen. In den Interviews wurde
deutlich, dass ein Großteil der Kundschaft den
                                                             Diebstahlversuche unterbinden
Sinn dieser Vorgehensweise offenbar nicht ver-               Ein zweiter Grund, alle Artikel einzeln einzuscan-
steht, weil es anscheinend doch viel effizienter             nen, liegt darin, Diebstähle zu verhindern. Es
wäre, einen Artikel einzuscannen und mit der An-             komme nicht selten vor, wurde in den Interviews
zahl zu multiplizieren.                                      gesagt, dass Kund*innen beispielsweise einen
     Der Kunde meint: „‘Ist doch zwölfmal das gleiche        Besen und den dazugehörigen Stiel zusammen-
     Isorohr!‘ Panzerrohr in der Sanitärabteilung sieht      stecken in der Hoffnung, an der Kasse werde nur
     haargenau gleich aus. Das Panzerrohr ist aber einen     eines der beiden Etiketten erfasst. Die Kassiere-
     Euro teurer als das Iso. Und da – das ist dieses sor-   rinnen nehmen alle zusammengesteckten Artikel
     tenreine Kassieren, ist für uns super und auch gut.     wieder auseinander, um sie einzeln einzuscan-
     Aber der Kunde versteht es nicht, der geht an die De-
                                                             nen. Sie sehen in alle Gefäße hinein, öffnen jeden
     cke wie ein HB-Männchen 2 manchmal.“ (Kassiere-
                                                             nicht verklebten Karton. Dies ist ein Aspekt, auf
     rin)
                                                             den Testkäufer*innen des Unternehmens bei ih-
Es entsteht eine typische Situation, die wir als             ren unangekündigten Besuchen besonders ach-
„kritische Situation“ bezeichnen. Die beschrie-              ten.
bene Vorgehensweise ist sinnvoll aus betriebsor-             Auf Seiten der Kundschaft kann solches Vorgehen
ganisatorischen Gründen, nicht aber aus Sicht                durchaus als Misstrauen interpretiert werden,
von eiligen Kund*innen. Es kommt zu Irritationen             das sie als ehrliche Menschen für nicht gerecht-
auf beiden Seiten. Die im Interview geschilderte             fertigt halten und das in gewissem Widerspruch

2
  Der Ausdruck „HB-Männchen“ bzw. „in die Luft gehen wie ein HB-Männchen“ stammt aus der Zigarettenwer-
bung für die Marke HB in den 1960er Jahren. Die Zeichentrickfigur Bruno, das „HB-Männchen“, wurde sprichwört-
lich für das Verhalten eines aufbrausenden, leicht erregbaren Menschen.
Situationsanalyse von Kassiertätigkeiten                                                                  13

steht zur allgemein zuvorkommenden Haltung              Auch hier wieder ist der Anlass an sich kein
des Personals gegenüber der Kundschaft. Man             Grund, die Kassiererin respektlos zu behandeln.
wurde gut beraten, freut sich, eine schöne Tapete       Trotzdem kommt es vor, und es wäre zu untersu-
gefunden zu haben – dann kommt der Bruch: An            chen: Muss sie das dulden? Kann der Anlass nicht
der Kasse wird offenbar vermutet, man könnte et-        vermieden werden, wenn Preisschilder immer ak-
was stehlen wollen. Entsprechend unwirsch rea-          tuell gehalten werden (wofür es technische Lö-
gieren manche Kund*innen und lassen ihren Un-           sungen gäbe)? Klärt man das Problem im Ge-
mut an den Kassierer*innen aus.                         spräch? Oder muss das Personal die Kundschaft
                                                        zurechtweisen?
Betriebliche Veränderungsmaßnahmen könnten
damit beginnen zu fragen, welche Umgangsweise           Geld einnehmen und herausgeben
mit dieser Irritation in der Interaktion angemes-
sen wäre:                                               Geld einzunehmen und in die Schublade zu legen,
                                                        ist ein auf den ersten Blick einfacher Vorgang.
   Soll die Kassiererin das einfach „wegste-           Wenn alle Artikel eingescannt und Rabatte er-
    cken“, weil es zum Beruf gehört? („Das muss         fasst wurden, nennt die Kassiererin den Betrag.
    man abkönnen.“)                                     Bei Barzahlung wird eingegeben, wie viel Geld je-
   Oder könnte der Anlass irgendwie beseitigt          mand gegeben hat. Das Kassensystem rechnet
    werden? Z.B. könnten Diebstahlsicherungen           dann die Höhe des Rückgeldes aus, und die
    an den Artikeln angebracht werden. Damit            Schublade mit dem Bargeld öffnet sich. Die Kas-
    wäre das Problem technisch gelöst.                  siererin entnimmt den entsprechenden Betrag
   Kann die Kassiererin ihr Vorgehen den               und reicht ihn der Kundin/dem Kunden zusam-
    Kund*innen erklären, indem sie z.B. sagt,           men mit dem Kassenbon. Da es aber schon mal
    dass dies kein spezielles Misstrauen ist, son-      vorkomme, dass sie eine falsche Zahl in die Kasse
    dern eine generelle Vorsichtsmaßnahme dar-          eintippt, erläuterte eine Kassiererin im Interview,
    stellt?                                             rechne sie immer auch im Kopf noch einmal nach,
   Ab welchem Punkt ist es zu viel, wo ist die         ob alles korrekt ist.
    Grenze, und die Kund*innen müssen zurecht-
    gewiesen werden?                                    Sie lege viel Wert darauf, betonte eine Kassiere-
                                                        rin, dass die Kundschaft alles nachvollziehen
Preise registrieren und berechnen                       kann – sowohl, was auf dem Display erscheint als
                                                        auch die Summe des Wechselgeldes:
Irritationen in der Interaktion zwischen Kassiere-
                                                          „Es ist mir zum Beispiel auch immer wichtig im Kas-
rinnen und ihrer Kundschaft entstehen auch,
                                                          senbereich […], dass wirklich der Kunde auch sieht
wenn der am Regal angezeigte Preis abweicht von
                                                          an Wechselgeld, was er bekommt. Dass Scheine vor-
dem, der im Kassensystem gespeichert ist. Wenn            gezählt werden. Dass dem Kunden auch wirklich die
das der Fall ist, gilt die Regel, dass der niedrigere     volle Aufmerksamkeit geschenkt wird, dass man
Preis zu berechnen ist. Aber die Differenz muss           dem Kunden auch in die Augen schaut.“ (Kassiere-
erst einmal auffallen.                                    rin)

Der Fehler kann sofort korrigiert werden, wenn          Irritationen werden hier vermieden, indem alle
der Kunde bzw. die Kundin das Kassendisplay             Vorgänge transparent gehalten werden und in-
einsehen kann, aufmerksam ist und die Kassiere-         dem die Kassiererin sich ganz auf ihr Gegenüber
rin darauf hinweist, dass hier etwas nicht stim-        konzentriert und sich z.B. auch nicht stören lässt,
men kann. Manchmal fällt der Fehler erst auf,           wenn in der Warteschlange Unmutsäußerungen
wenn die Kundin/der Kunde den Kassenbon prüft           hörbar werden.
und im Nachhinein reklamiert. Oft handelt es sich
um ein Missverständnis, das schnell geklärt wer-
den kann. Wenn Kund*innen aber darauf beste-
hen, erfragt die Kassiererin per Telefon den kor-
rekten Preis bei den Kolleg*innen in der entspre-
chenden Abteilung.
14                                                                 Klaus Kock, Edelgard Kutzner, Ninja Ulland

5.3 Arbeiten mit und an der Kundschaft                         einmal schlechte Laune hat? „Man setzt so ein fal-
                                                               sches Gesicht auf. […] Ja, man dreht sich praktisch
Beziehung herstellen                                           um und setzt halt sein Fröhlichgesicht auf. Das
                                                               muss man können.“ (Kassenaufsicht)
Viele Kund*innen wirken an der Kasse sehr unbe-
teiligt, legen ihre Ware auf das Band und bezah-             Die Leitlinien des Unternehmens zur Firmenphilo-
len, ohne der Kassiererin, die sie freundlich ge-            sophie betonen genau diesen Aspekt: „Wir sind
grüßt hat, irgendeine Aufmerksamkeit zu schen-               immer freundlich, kompetent und zuverlässig“,
ken, sie anzusehen oder zu grüßen. Die Kassiere-             heißt es dort, und weiter: „Wir sprechen jeden
rinnen empfinden solches Verhalten als Missach-              Kunden gerne an und helfen ihm, seine Wünsche
tung ihrer Person. Manche wiederholen nach-                  zu realisieren. […] Wir setzen uns dafür ein, dass
drücklich ihren Gruß, um eine Reaktion zu provo-             alle Anliegen und Wünsche unserer Kunden zu
zieren. Andere grüßen nur diejenigen Kund*in-                deren Zufriedenheit gelöst werden.“ Es wird er-
nen, die sie zumindest ansehen. Besonders är-                wartet, dass die Beschäftigten in der Lage sind,
gerlich ist es für die Beschäftigten, wenn Kun-              ihre eigenen Gefühle zu beherrschen und die Ge-
d*innen während des Kassiervorgangs weiter mit               fühle der Kundschaft positiv zu beeinflussen. Sie
ihren Smartphones telefonieren.                              erdulden Respektlosigkeiten, „schlucken sie run-
                                                             ter“, oder sie argumentieren und versuchen, auf-
Die Frage ist daher: Auf welche Weise wäre es
                                                             brausende Kund*innen zu beruhigen. Wenn je-
möglich, die Kund*innen dazu zu bewegen, ein
                                                             mand unverschämt wird, müssen sie in der Lage
Mindestmaß an Höflichkeit zu zeigen und zurück-
                                                             sein, verbal zu kontern und die betreffende Per-
zugrüßen, wenn sie angesprochen werden? Die
                                                             son zurechtzuweisen – riskieren aber dann, dass
Zeitung „Augsburger Allgemeine“ berichtete bei-
                                                             die Situation eskaliert, oder auch, dass diese Per-
spielsweise von einem Lebensmittelhändler, der
                                                             son demnächst woanders einkauft.
Schilder aufstellen ließ mit dem Text: „Verehrte
Kunden! Wir bitten Sie, während des Bedienvor-
                                                             Nähe und Distanz ausbalancieren
gangs aus Gründen des Respekts gegenüber un-
seren Mitarbeitern auf Telefongespräche mit Ih-              Die Beschäftigten des Baumarkts werden auf der
rem Handy zu verzichten. Vielen Dank.“ (Glatzer              Website des Unternehmens und auf einem Schild
2019)                                                        im Eingangsbereich mit Foto, Namen und Zustän-
                                                             digkeitsbereich persönlich vorgestellt. Sie tragen
Positive Gefühle herstellen
                                                             Namensschilder mit Vor- und Nachnamen. Bei-
Eine Kassiererin, die in ihrer Funktion als Kassen-          des wird auch auf dem Kassenbon vermerkt.
aufsicht auch ihre Kolleginnen einarbeitet und
                                                             Die Meinungen der befragten Kassiererinnen zu
anleitet, betonte im Interview den interaktiven
                                                             einer solchen namentlichen Hervorhebung gehen
Charakter der Tätigkeiten an der Kasse. Sie sieht
                                                             auseinander. Während die einen es begrüßen, von
den wesentlichen Inhalt der Arbeit im zwischen-
                                                             der Kundschaft mit Vornamen angeredet zu wer-
menschlichen Bereich:
                                                             den, weil es persönlicher wirke und dazu beitrage,
     „Wir sind das Aushängeschild vom [Name des Unter-       schnell eine Beziehung zum Gegenüber aufzu-
     nehmens]. Und da erwarte ich halt auch von jeder        bauen, sind andere eher skeptisch:
     Kollegin, dass sie dementsprechend freundlich, im-
     mer höflich, gut gelaunt ist, aber dabei den Blick        „Also, was mich ein bisschen stört, dass die Vorna-
     vom Kassieren her nicht verliert, ne? […] Wie gesagt,     men dabei sind. Weil das ist immer so ein bisschen
     der Kunde sollte mit einem Lächeln hier rausgehen,        – das steht ja auf dem Bon auch drauf, der volle
     mit einem zufriedenen Gefühl, strahlen. Der muss          Name. Das ist so ein bisschen, was mich stört. […]
     rausgehen und sagen – selbst wenn er sich vorher im       Weil manchmal kriegt man dann auch ein bisschen
     Baumarkt geärgert hat, wenn irgendjemand ihm              einen dummen Kommentar: ‚Gerda!‘ 3 ne? Wo ich
     quergekommen ist, liegt es an mir, das da vorne aus-      denke, wir haben noch nicht zusammen geknickert 4,
     zubügeln.“ Und wenn man als Beschäftigte selbst           also sprich: Wir kennen uns nicht. Das finde ich dann

3
    Name geändert
4
    Kinderspiel mit Murmeln
Situationsanalyse von Kassiertätigkeiten                                                                       15

  manchmal auch nicht so ganz im Sinne des Erfin-         als miteinander arbeitet. Erst durch eine Neuzu-
  ders, so ein bisschen respektlos auch.“ (Kassiererin)   sammensetzung des Kassenteams sei die Zu-
Respekt wird sicher nicht schon dadurch gewähr-           sammenarbeit besser und ruhiger geworden.
leistet, dass der Vorname auf dem Namensschild              „Also jetzt ist wirklich Ruhe. Wir verstehen uns alle,
fehlt. Aber vielleicht verführt doch die Nennung            wir können miteinander sprechen. Man arbeitet an
des Vornamens manche Kund*innen dazu, be-                   seinen Fehlern.“ (Kassiererin)
stimmte Grenzen der Höflichkeit durch respekt-            Es sei schon eine Erleichterung, sich unter Kol-
loses Duzen zu überschreiten.                             leg*innen gegenseitig bestimmte problematische
                                                          Erfahrungen mit der Kundschaft zu schildern,
Kundenresonanz aufnehmen und                              wurde in mehreren Interviews berichtet. Wenn
weitergeben                                               darüber hinaus die Arbeiten im Team gut ineinan-
Der Kassenbereich ist nach Auffassung der Be-             dergreifen, gibt es weniger Anlässe für Unzufrie-
fragten ein entscheidender Punkt, was Kontakte            denheit auf Seiten der Kundschaft. Die Teammit-
mit der Kundschaft anbelangt. Der Baumarkt ist            glieder können sich gegenseitig ergänzen, unter-
nach dem Selbstbedienungsprinzip aufgebaut,               stützen und informieren. Wenn die Kassiererin ei-
beraten werden die Kund*innen nur bei Bedarf              ner Kundin etwas nicht erklären kann, übernimmt
und auf Nachfrage. An der Kasse dagegen ist der           der Kollege aus der Fachabteilung. Auch die Zu-
Kontakt zwischen Personal und Kundschaft zwin-            rechtweisung bei respektlosem Verhalten fällt
gend. Die Kassiererinnen sind zusammen mit                leichter, wenn eine Kollegin oder ein Kollege in
dem zentralen Informationsschalter eine Art               der Nähe ist und vielleicht dazukommt.
Grenzstelle, an der die Kundenresonanz erfahr-
                                                          Verantwortung füreinander übernehmen
bar wird.
                                                          Manche Etiketten an den Waren sind für den Kas-
Wenn sich Beschwerden an der Kasse häufen,
                                                          senscanner nicht lesbar.
kann das ein Zeichen dafür sein, dass mit den Wa-
ren, mit den Abläufen oder mit der Beratung et-             „Gerade bei Produkten aus dem Außenbereich, Ter-
was nicht stimmt. Wer sich im Ton vergreift, hat            rassendielen et cetera, da ist es manchmal Kata-
vielleicht inhaltlich doch nicht ganz unrecht. Das          strophe, furchtbar. Weil die Etiketten sind so be-
muss die Kassiererin unterscheiden können.                  scheiden gedruckt. […] Ich kann es nicht scannen.
                                                            Und wenn ich das Etikett abreiße, kann ich die Num-
Wenn sie Kritik der Kundschaft an Kolleg*innen
                                                            mer nicht mehr lesen. Und ich kann nicht über –
und Vorgesetzte weitergibt, könnten die Anlässe
                                                            weiß ich nicht, wie viel Millionen Produkte wir hier
für Beschwerden vielleicht beseitigt werden,
                                                            haben – alles im Kopf wissen, was das ist, ne? […]
dann hätten alle u.U. auch seltener mit respekt-            Also wenn die Leute in der Abteilung ihre Arbeit nicht
losem Verhalten der Kund*innen zu tun.                      gut machen und auch einmal darauf hören, wenn wir
                                                            sagen: Leute, diese Etiketten sind nicht zu lesen, o-
                                                            der hinten in den Baustoffen, du kannst da diesen
5.4 Kooperation mit Kolleg*innen
                                                            aufgedruckten EAN-Code, der da drauf ist, kannst
Gegenseitiges Verständnis herstellen                        du nicht abscannen – wenn das dann nicht mal erle-
                                                            digt wird, wenn die ihre Arbeit nicht gut machen,
Die Arbeit sei psychisch manchmal sehr belas-               kann ich meine Arbeit an der Kasse auch nicht gut
tend, klagte eine Kassiererin:                              machen. […] Das sind dann so diese Reibungspunkte
                                                            Kasse – Markt, ne?“ (Kassiererin)
  „Ich bin echt ein starker Mensch. Aber selbst ich
  habe wirklich Phasen mit – wo ich abends zuhause        Wenn solche „Reibungspunkte“ sich vermeiden
  sitze und heule, weil ich nicht weiß, wohin damit.“     ließen, würden sie als Anlässe für kritische Situa-
  Aber der Zusammenhalt im Team mache einiges             tionen beseitigt. Die Zusammenarbeit im Team
  wett: „Ich weiß, mir kann hier nicht schnell was pas-
                                                          kann auf diese Weise den Umgang mit der Kund-
  sieren. Wir haben ein wahnsinnig tolles Team, auch
                                                          schaft erleichtern.
  mit der Marktleitung.“ (Kassiererin)

Eine andere Kassiererin hat es erlebt, wie es ist,
wenn man sich nicht gut versteht und eher gegen-
16                                                                Klaus Kock, Edelgard Kutzner, Ninja Ulland

Als Team auftreten                                          Jahren, sagte eine befragte Kassiererin, die auch
                                                            am zentralen Infoschalter arbeitet.
In allen Interviews wurde betont, zur guten Arbeit
gehöre es, dass man sich mit den Kolleg*innen                 „Und im Endeffekt versuche ich jeden Tag nur, mei-
                                                              nen Job zu machen und versuche, die Aufgaben, die
gut versteht. Das Team im engeren Sinne bilden
                                                              mir gestellt werden, […] vernünftig umzusetzen. Und
die Kassiererinnen. Im Baumarkt wechseln einige
                                                              ich versuche, für die Leute eine Lösung zu finden.
von ihnen auch an den zentralen Informations-                 Das ist mein Job, und dafür bin ich hier. Und mir fällt
schalter, zumeist sind das die Personen, die auch             es mittlerweile immer schwerer wirklich, damit um-
als „Kassenaufsicht“ bezeichnet werden, die also              zugehen, weil ich sage: Ich mache das jetzt viele
eine gewisse Verantwortung für die Arbeit im Kas-
senbereich insgesamt tragen.                                  Jahre. Ich kann nicht mehr an mir arbeiten. Aber ich
                                                              gehe teilweise wirklich nach Hause und zweifle an
Die gute Atmosphäre in der Zusammenarbeit                     mir selbst.“ (Kassiererin)
strahle auch aus auf die Kundschaft, war eine
Kassenaufsicht überzeugt:                                   Die Beschäftigten fühlen sich überfordert, wenn
                                                            ihnen fast die gesamte Verantwortung für die Zu-
     „Die merken, ob – die Kunden sind so feinfühlig da-
                                                            friedenheit der Kundschaft und das Gelingen oder
     für – die merken sofort, ob das gesamte Team sich
                                                            Misslingen des Verkaufens und Beratens übertra-
     versteht und dass die miteinander arbeiten. Das ist
                                                            gen wird. Dieses Gefühl wird eher noch verstärkt,
     ja – wenn ich [vom Infoschalter aus] anrufe und
     sage: ‚Gerd 5, ich brauche eine Werkzeuginfo, da       wenn Weiterbildungsmaßnahmen vorwiegend
     kommt jetzt eine Dame, die braucht Hilfe, da und da    Optimierungsvorschläge für individuelles Verhal-
     und da.‘ Und [er antwortet]: ‚Ich bin gleich da. Gib   ten gegenüber der Kundschaft beinhalten, wäh-
     mir fünf Minuten. Sag der Kundin, ich bin [gleich]     rend deren Fehlverhalten als unabänderlich hin-
     da.‘ Und dann schickst du die dahin, dann erklärst     genommen wird und organisatorisch-technische
     du das. Wenn das eine Harmonie ergibt – und das        Gegebenheiten kaum jemals thematisiert wer-
     sage ich: Das war nur das Personal, die Atmosphäre
                                                            den.
     haben wir hier erschaffen.“ (Kassenaufsicht)
                                                            Unsere sozialwissenschaftlichen Untersuchun-
Bei der letzten Kundschaftsbefragung stimmten
                                                            gen sollen dazu beitragen, über die subjektivie-
in dem betreffenden Markt beinahe dreiviertel
                                                            rende Sichtweise hinaus die Interaktionen zwi-
der Befragten der Aussage zu „Man hat den Ein-
                                                            schen Beschäftigten und ihren Kund*innen im je-
druck, dass die Mitarbeiter hier ein Team sind, in
                                                            weiligen Kontext zu verstehen. Gemäß dem Dik-
dem man sich gegenseitig hilft und unterstützt.“
                                                            tum von Erving Goffman (1986, 9), es gehe nicht
Wenn es so gelingt, im gesamten Markt eine gute             um die Menschen und ihre Situationen, sondern
Atmosphäre zu schaffen, ergeben sich von Seiten             vielmehr um die Situationen und ihre Menschen,
der Kundschaft weniger Anlässe für Unzufrieden-             kommt es darauf an, die Gesamtumstände, in
heit. Dazu kommt, dass Kolleg*innen helfend ein-            welche die jeweils beteiligten Personen gestellt
springen können, wenn jemand sich respektlos                sind, in den Blick zu nehmen und gegebenenfalls
verhält. Das Wissen, es nicht nur mit einer Per-            zu verändern. Dazu gehören Verhaltensänderun-
son, sondern mit dem ganzen Team zu tun zu ha-              gen, mehr noch aber die Überprüfung und Gestal-
ben, schreckt vielleicht auch ab, sich respektlos           tung der Verhältnisse, d. h. organisatorischer und
zu verhalten.                                               technischer Gegebenheiten wie auch geltender
                                                            Regelungen zum Umgang mit der Kundschaft wie
                                                            z.B. Vorschriften für Reklamation und Umtausch.
6. Fazit
                                                            Und schließlich wäre auch die Frage zu stellen, ob
Viele der Befragten haben den Eindruck, Vorge-              und auf welche Weise Kund*innen veranlasst
setzte suchten nach Lösungen für kritische Situ-            werden könnten, ihr Verhalten zu reflektieren und
ationen vorwiegend in Verhaltensänderungen der              im Sinne von mehr Respekt für das Personal zu
Beschäftigten. Sie mache den Job jetzt seit vielen          verändern. Man dürfe die Kundschaft nicht zu

5
    Name geändert
Situationsanalyse von Kassiertätigkeiten                                                                 17

sehr verwöhnen, gab ein Verkäufer aus dem Bau-           der Interaktion zwischen Verkaufspersonal und
markt im Interview zu bedenken:                          Kundschaft zu benennen, die zugunsten von mehr
  „Man muss halt auch seine Kunden sich erziehen.
                                                         Respekt verändert werden könnten. Welche orga-
  Dass man halt guckt: Die Kunden müssen auch wis-       nisatorischen, technischen und personellen Maß
  sen, dass sie […] auch mal Wartezeit haben oder        nahmen dann als sinnvoll erachtet und umgesetzt
  dass sie nicht der einzige Kunde im Laden sind.        werden, kann letztlich nur von den betrieblichen
  Manche Kunden, die denken ja, wir sind nur dazu da,    Akteur*innen selbst entschieden werden. Ein we-
  um sie zu beraten. Die anderen Kunden sind ja quasi    sentlicher Erfolgsfaktor dürfte darin liegen, das
  nur Luft, ja. Da muss man halt schauen.“ (Verkäufer)   Wissen der Beschäftigten dafür nutzbar zu ma-
Die oben dargestellte Situationsanalyse von Kas-         chen.
siertätigkeiten zeigt, dass sich bestimmte Mo-
mente im Kontext und in der Interaktion selbst
                                                         Literatur
herausarbeiten lassen, an denen Veränderungen
zugunsten einer respektvollen Beziehung anset-           Bauman, Z. (2005): Moderne und Ambivalenz,
zen könnten. Kritische Situationen entstehen im          Hamburg
Arbeitsalltag immer wieder. Schon aufgrund der
Widersprüchlichkeit der Dienstleistungsarbeit            Böhle, F., M. Weihrich (2020): Das Konzept der In-
als zwischenmenschliche Beziehungsarbeit und             teraktionsarbeit; in: Zeitschrift für Arbeitswis-
sachlich-ökonomischer Tauschakt lassen sich              senschaft, Heft 74, 9-22
Unstimmigkeiten nicht vermeiden. Es kommt da-            Clarke, A.E. (2012): Situationsanalyse. Grounded
rauf an, wie mit ihnen umgegangen wird. Aus der          Theory nach dem Postmodern Turn, Wiesbaden
Situationsanalyse konnten bislang vier mögliche
Verfahrensweisen herausgearbeitet werden:                Dillon, R.S. (2018): Respect; in: Stanford
                                                         Encyclopedia of Philosophy
1. Subjektive Verarbeitung: Ansatzpunkte für             (https://plato.stanford.edu/entries/respect)
   Veränderungen werden im Verhalten der Be-             (22.2.2022)
   schäftigten gesucht. Sie sollen lernen, indivi-
   duell mit respektlosem Verhalten von Teilen           Dunkel, W., M. Weihrich (2014): Interaktive Arbeit:
   der Kundschaft zurechtzukommen.                       Die soziale Dimension von Dienstleistungsarbeit;
                                                         in: Sydow, J., D. Sadowski, P. Conrad (Hg.): Ma-
2. Beseitigung des Anlasses: Veränderungen               nagementforschung 24, 245-289
   richten sich auf die äußeren Gegebenheiten.
   Der jeweilige Anlass für respektloses Verhal-         Forst, R. (2004): Anerkennung und Toleranz; in:
   ten wird ermittelt und durch organisatorische         fiph-Journal Nr. 3, 1-4
   oder technische Mittel beseitigt.                     Glatzer, K. (2019): Handy unerwünscht an der
3. Reflexion der Situation: Die Kundschaft wird          Wursttheke; in: Augsburger Allgemeine, 24.05.
   einbezogen, indem (durch Hinweise, Anspra-            (https://www.augsburger-
   che und im Dialog) versucht wird, Verständnis         allgemeine.de/bayern/Handel-Handy-
   für die jeweilige Situation zu wecken und Ein-        unerwuenscht-an-der-Wursttheke-
   vernehmen darüber herzustellen, wie jeweils           id54397446.html) (22.2.2022)
   zu verfahren ist.
                                                         Goffman, I. (1986): Interaktionsrituale, Frankfurt
4. Zurechtweisung: Der Kundschaft werden                 a.M.
   Grenzen des Verhaltens aufgezeigt. Die Be-
                                                         Goffman, I. (2001): Die Interaktionsordnung; in:
   schäftigten weisen respektlose Kund*innen
                                                         ders.: Interaktion und Geschlecht, 2. Aufl., Frank-
   zurecht und drohen mit Konsequenzen bis hin
                                                         furt a.M., New York, 50-104
   zum Hausverbot.
                                                         Graen, A. (2019): Kassierer und Verkäufer berich-
Im Fortgang der Projektarbeiten sollen weitere           ten: „Seit ich im Einzelhandel arbeite, hasse ich
Tätigkeiten im Einzelhandel auf diese Weise ana-         Menschen“; in: Stern vom 7.6.2019
lysiert werden mit dem Ziel, solche Momente in
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