BEITRÄGE AUS DER FORSCHUNG - Band 210 Arbeiten mit und an Interaktionen
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2022 technische universität dortmund BEITRÄGE AUS DER FORSCHUNG Band 210 Jörg Abel / Klaus Kock (Hg.) Arbeiten mit und an Interaktionen Empirische Analysen aus der Sozialforschungsstelle
Impressum Beiträge aus der Forschung, Band 210 ISSN: 0937-7379 Dortmund 2022 Sozialforschungsstelle Dortmund (sfs) Fakultät Sozialwissenschaften | Technische Universität Dortmund Evinger Platz 17 D-44339 Dortmund Tel.: +49 (0)2 31 – 755-1 Fax: +49 (0)2 31 – 755-90205 Email: information.sfs@tu-dortmund.de www.sfs.sowi.tu-dortmund.de
Jörg Abel, Klaus Kock (Hg.) Arbeiten mit und an Interaktionen Empirische Analysen aus der Sozialforschungsstelle
Inhalt 3 Inhalt Vorwort 4 Jörg Abel, Klaus Kock „Als würden die Kunden denken, dass wir Roboter sind.“ Eine Situationsanalyse 6 von Kassiertätigkeiten im Einzelhandel Klaus Kock, Edelgard Kutzner, Ninja Ulland Von der leidigen Notwendigkeit zum bedeutsamen Faktor – Ein Fallbeispiel 19 zum Wandel von Interaktionsarbeit im Technischen Service Jörg Abel, Peter Ittermann, Tobias Wienzek Führung als symmetrische Interaktionsform in der Netzwerkorganisation 43 Hendrik Lager, Ralf Kopp, Tobias Wienzek
4 Jörg Abel, Klaus Kock Jörg Abel, Klaus Kock Vorwort Dienstleistungsarbeit zeichnet sich im Vergleich Die drei in den folgenden Aufsätzen vorgestellten zur Industriearbeit dadurch aus, dass neben dem Forschungsprojekte aus der Sozialforschungs- Unternehmen und seinen Beschäftigten die Kon- stelle thematisieren jeweils einen besonderen sument*innen als dritte Partei direkt involviert Aspekt von Interaktionsarbeit. Sie werden im sind. Verkauft wird kein fertiges Produkt, viel- mehr greifen Kund*innen, Klient*innen, Pati- Rahmen der Förderbekanntmachung „Zukunft ent*innen bereits in den Prozess der Leistungser- der Arbeit: Arbeiten an und mit Menschen“ vom stellung ein. Sie bestimmen mit darüber, was die BMBF und aus Mitteln des ESF gefördert. Über- Dienstleistung im Endeffekt genau ausmacht und geordnetes Ziel dieser Förderung ist es, ein bes- auf welche Weise sie zustande kommt. Inhärenter seres Verständnis zu gewinnen über Anforderun- Bestandteil der Dienstleistungsarbeit sind daher gen von Interaktionsarbeit und Möglichkeiten, Interaktionen mit denen, die sie beauftragen und ihnen zu entsprechen. Weiterhin soll die gesell- konsumieren. Dies gilt erst recht für personenbe- schaftliche Anerkennung der teilweise mit hohen zogene Dienstleistungen, in denen die Konsu- Arbeitsanforderungen und Belastungen verbun- ment*innen selbst zum Gegenstand der Arbeit denen interaktiven Arbeit verbessert werden werden. Dabei bewegen sich die Akteur*innen in (BMBF 2017). Die Aufsätze verstehen sich als Bei- einem ökonomischen Umfeld, das heißt, ihre In- träge zur wissenschaftlichen Diskussion um In- teraktionen beinhalten immer auch Auseinander- teraktionsarbeit und zur Entwicklung praktischer setzungen um ein angemessenes Verhältnis von Ansätze einer menschengerechten Arbeitsgestal- Preis und Leistung. tung. Für die Beschäftigten in interaktiver Dienstleis- Das Projekt RespectWork (Entwicklung gegensei- tungsarbeit ergeben sich daraus spezifische An- tigen Respekts in der Kundeninteraktion zur Ver- forderungen: Sie müssen in der Lage sein, Koope- besserung von Arbeits- und Dienstleistungsqua- rationsbeziehungen mit den jeweiligen Konsu- lität) setzt einen Schwerpunkt auf moralische ment*innen herzustellen, um den Prozess der Fragen im Umgang zwischen Beschäftigten und Leistungserstellung gemeinsam erfolgreich Kundschaft. Untersucht wird, was einen respekt- durchzuführen. Die Dienstleistenden sollen fähig vollen Umgang in der Dienstleistungsbeziehung sein, so mit ihren Emotionen umzugehen, dass ausmacht, welchen Stellenwert er im Erleben der die Beziehung zur Kundschaft zumindest nicht Beschäftigten einnimmt und wie gegenseitiger gestört, wenn möglich sogar gefördert wird. Die Respekt in der Kundeninteraktion etabliert und Gefühle der Kundschaft wiederum sollen positiv gefördert werden könnte. Der Aufsatz zeigt an- beeinflusst werden, denn Zufriedenheit ist we- hand einer mikrosoziologischen Analyse von Kas- sentliches Erfolgskriterium für eine Dienstleis- siertätigkeiten in einem Baumarkt, welche Mo- tung. Schließlich wird von den Beschäftigten ge- mente in unterschiedlichen Situationen auf wel- fordert, dass sie ihre subjektiven Fähigkeiten zu che Weise respektvoll oder respektlos wirken und Empathie, sinnlicher Wahrnehmung und Improvi- wo Gestaltungsmaßnahmen ansetzen könnten. sation einsetzen, um mit den Unwägbarkeiten der Das Projekt VISITS (Vernetzung und Interaktions- jeweiligen Situation und den Eigenheiten der be- arbeit in Smarten Technischen Services) richtet teiligten Kund*innen zurechtzukommen (Böhle/ den Fokus auf die Ausgestaltung von Interakti- Weihrich 2020, 16-19). onsarbeit in unternehmensnahen Dienstleistun-
Vorwort 5 gen im Zeichen der Digitalisierung. Am Beispiel mensumwelt. Am Beispiel eines Unternehmens des Technischen Services wird gezeigt, dass In- wird gezeigt, wie sich im Zuge des Wandels von teraktionen mit dem auftraggebenden Unterneh- einer Matrixorganisation zu einer Netzwerkorga- men und seinen Beschäftigten unabdingbarer Be- nisation auch die Führung verändern muss. Dabei standteil sind, um die jeweilige Dienstleistung er- wird die These vertreten, dass die bisherige stellen zu können. Im Unterschied zu personen- asymmetrische Interaktion in eine symmetrische bezogenen und sozialen Dienstleistungen basiert Interaktion übergehen muss. im Technischen Service die Interaktion auf einer gemeinsamen fachlichen Grundlage. Am Beispiel eines Unternehmens wird gezeigt, dass die Inter- Literatur aktionen dennoch nicht störungsfrei verlaufen. Es werden organisatorische und technische Maß- BMBF (2017): Richtlinie zur Förderung von Maß- nahmen identifiziert, um die Interaktionsarbeit nahmen für den Forschungsschwerpunkt „Zu- im Technischen Service zu gestalten. kunft der Arbeit: Arbeiten an und mit Menschen“ im Rahmen des FuE-Programms „Zukunft der Ar- Das Projekt eLLa4.0 (Gute Führung und Arbeit in beit“ als Teil des Dachprogramms „Innovationen der soziodigitalen Transformation) betrachtet ei- für die Produktion, Dienstleistung und Arbeit von nen in der Debatte um Interaktionsarbeit wenig morgen“, Bundesanzeiger vom 25.08.2017, beachteten Aspekt: Mit den organisationalen Ver- https://www.bmbf.de/bmbf/shareddocs/be- änderungen in den Unternehmen ergeben sich zu- kanntmachungen/de/2017/08/1399_bekanntma- gleich neue Rollenbilder von Führung und neue chung.html (22.2.2022) Anforderungen an Führungskräfte. Zentral sind dabei die internen Interaktionen mit den Geführ- Böhle, F., M. Weihrich (2020): Das Konzept der In- ten, aber auch die Interaktionen mit anderen Un- teraktionsarbeit; in: Zeitschrift für Arbeitswis- ternehmensbereichen oder mit der Unterneh- senschaft, Heft 74, 9-22
6 Klaus Kock, Edelgard Kutzner, Ninja Ulland Klaus Kock, Edelgard Kutzner, Ninja Ulland „Als würden die Kunden denken, dass wir Roboter sind.“ Eine Situationsanalyse von Kassiertätigkeiten im Einzelhandel 1. Einleitung was getan werden könnte, um Respekt in den In- teraktionen zwischen Kundschaft und Verkaufs- Was die Kassiererin aus einem Lebensmittel- personal mehr Geltung zu verschaffen. markt im Titelzitat anspricht, erleben viele Be- Bei RespectWork handelt es sich um ein sog. Ver- schäftigte im Einzelhandel. Ihre Leistungen wer- bundprojekt. 1 Beteiligt sind neben der Sozialfor- den zwar in Anspruch genommen, als Personen schungsstelle der TU Dortmund, die den wissen- fühlen sie sich jedoch von der Kundschaft oftmals schaftlichen Part übernommen hat, die Deutsche herabgesetzt oder missachtet. „Seit ich im Ein- Angestellten-Akademie GmbH DAA Westfalen, zelhandel arbeite, hasse ich Menschen“ lautete die Beratungsstelle Arbeit & Gesundheit e.V. in beispielsweise eine Überschrift im Magazin Hamburg und der Handelsverband NRW Westfa- „Stern“ (Graen 2019). Allgemein wird in den letz- len-Münsterland e.V. Praxispartner des Projekts ten Jahren von einer zunehmenden Respektlosig- ist die B. Frieling Service- und Dienstleistungen keit der Kund*innen berichtet, was sich manifes- GmbH & Co. KG in Coesfeld mit sieben hagebau- tiert in einem fordernden oder gar herausfordern- Märkten im Münsterland. Assoziiert sind weiter- den Verhalten gegenüber dem Verkaufspersonal. hin ein Edeka-Markt sowie die Gewerkschaft Für die Beschäftigten kann dies in hohem Maße ver.di. In der Zusammenarbeit zwischen Ak- belastend wirken. Die Ergebnisse einer Sonder- teur*innen aus Wissenschaft, Beratung, Weiter- auswertung des DGB-Index Gute Arbeit von 2018 bildung und Unternehmen werden gemeinsam zeigen, dass 35 Prozent derjenigen Beschäftig- Aufgaben definiert und konkrete Maßnahmen und ten, die oft mit Kundschaft, Patient*nnen, Kli- Empfehlungen entwickelt. ent*innen etc. zu tun haben, oft ihre Gefühle bei der Arbeit verbergen müssen, 18 Prozent müssen Im Folgenden präsentieren wir erste Ergebnisse Konflikte oder Streitigkeiten mit der Kundschaft unserer sozialwissenschaftlichen Untersuchun- durchstehen, 11 Prozent erfahren herablassende gen aus drei Filialen der Baumarktkette. Vorange- Behandlung durch andere (Institut DGB-Index stellt ist ein kurzer Überblick über den soziologi- Gute Arbeit 2018, 9). schen Hintergrund sowie über Fragestellung und methodische Anlage der Studie. Dies war Anlass und Ausgangspunkt für unsere Untersuchung zum Respekt im Einzelhandel. Respekt gehört zu den Regeln und Verbindlichkei- 2. Respekt – der theoretische ten, die ein Zusammenleben der Menschen erst Hintergrund möglich machen, Respekt ist eine Frage der Mo- ral. Wir fragen in unserem Projekt RespectWork Respekt und andere moralische Normen sind danach, welche Regeln und Verbindlichkeiten in nicht in Gesetzen und Urteilen festgeschrieben, der Situation des Einkaufens im Einzelhandel gel- Menschen empfinden und erkennen sie als ten, warum sie oft nicht eingehalten werden und Pflichten für ihr Handeln in der Gesellschaft. Res- 1 Das Projekt wird im Rahmen des Programms „Zukunft der Arbeit“ vom Bundesministerium für Bildung und For- schung und dem Europäischen Sozialfonds gefördert und vom Projektträger Karlsruhe (PTKA) betreut. Die Verant- wortung für den Inhalt liegt bei den Autor*innen.
Situationsanalyse von Kassiertätigkeiten 7 pekt ist eine Haltung gegenseitiger Rücksicht- Respekt ist kein Altruismus, sondern liegt durch- nahme. Es macht einen Unterschied für das Re- aus im eigenen Interesse jedes Individuums. den und Handeln einer Person, dass andere an- Menschen sind gesellschaftliche Wesen, sie wesend sind. Eine Person handelt respektvoll, brauchen die Anerkennung von anderen, um wenn sie in Betracht zieht, dass die andere Per- Selbstbewusstsein zu entwickeln und Sicherheit son mit gleichem Recht Ansprüche an ihr Verhal- in ihrem Verhalten zu gewinnen. Dies ist dadurch ten stellt wie umgekehrt (Dillon 2018; Lindner möglich, dass Menschen sich in andere hinein- 2016). versetzen und das eigene Handeln aus der Per- spektive der anderen betrachten. Respekt impli- Die Pflicht, andere Menschen zu respektieren, ziert, dass ein Individuum in seinem Verhalten hat zum Inhalt, sie als rationale und freie Perso- das der anderen berücksichtigt und sich damit nen anzuerkennen. Nach einer bekannten Formu- auseinandersetzt (Respect Research Group o.J.). lierung von Immanuel Kant ist der Mensch keine Sache, „mithin nicht etwas, das bloß als Mittel Respekt ist insofern zu unterscheiden von Tole- gebraucht werden kann, sondern muss bei allen ranz. Respekt meint immer eine Form der sozia- seinen Handlungen jederzeit als Zweck an sich len Beziehung, Toleranz dagegen heißt: Die betei- ligten Personen dulden einander nur, verhalten selbst betrachtet werden“ (Kant 2008, 70). Jeder sich aber so, als sei die jeweils andere Person Mensch soll von den anderen als Subjekt angese- nicht von Bedeutung für das eigene Handeln hen werden, das Anspruch darauf hat, selbstbe- (Bauman 2005, 22 und 370 f.). Oder um es mit stimmt zu handeln. Goethe zu sagen: „Toleranz sollte eigentlich nur Bezogen auf die Dienstleistungsbeziehung be- eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss deutet dies, dass eine Haltung der Anerkennung zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidi- gen.“ (zit. n. Forst 2004, 1) Verkäufer*innen emp- gefordert ist, mit der die beteiligten Personen finden es beispielsweise als respektlos und ent- sich gleichberechtigt begegnen und miteinander würdigend, wenn ihr freundlicher Gruß von umgehen, und eben nicht als „König Kunde“ und Kund*innen nicht erwidert wird – als würden sie seine Dienerschaft. Stephan Voswinkel (2005, das Personal gar nicht wahrnehmen oder als Teil 314 f.) hat dies aus anerkennungstheoretischer des Inventars betrachten. Sicht als „zivile Dienstleistungsarbeit“ bezeich- net. Die Frage nach einer Erklärung für Respekt- In der Theorie der Anerkennung wird Respekt un- losigkeit in der Verkaufsbeziehung ist eine Frage terschieden von Wertschätzung (Honneth 1992, nach den Gründen der Beteiligten, im zwischen- 148 ff.). Wertschätzung meint, dass die individu- menschlichen Verhalten mit zivilen Umgangsfor- ellen Fähigkeiten einer Person und ihre Beiträge men gleichberechtigter Subjekte zu brechen. zu gemeinsamen Zielen von den anderen aner- kannt und für wichtig befunden werden. Das ge- Allerdings liegt es in der Natur der Sache, dass schieht im Betrieb zumeist im Team und durch die sich Beschäftigte und Kund*innen beim Kaufen Vorgesetzten, aber auch durch Dankbarkeit von und Verkaufen gegenseitig instrumentalisieren. Kund*innen für Bedienung und Beratung. Res- Das Personal dient der Kundschaft als Mittel, um pekt dagegen bezieht sich darauf, als Mensch mit etwas zu kaufen. Die Kundschaft dient umgekehrt gleichen Rechten behandelt zu werden, ohne da- dem Personal als Mittel, um Geld einzunehmen nach zu fragen, was diese Person leistet. Respekt für das Unternehmen und damit das eigene Ein- schuldet ein Mensch dem anderen, er muss nicht kommen zu sichern. Der Widerspruch, als autono- erworben werden. Respekt steht somit am An- mes Subjekt zugleich den Zwecken anderer Sub- fang jeder Interaktion, er ist in gewisser Weise jekte dienen zu müssen, lässt sich nicht vermei- ihre Voraussetzung. Er kann sich weiterentwi- den, im Alltag muss dafür eine Umgangsweise ge- ckeln zur Wertschätzung. funden werden. Das soziologische Interesse rich- tet sich auf die Untersuchung dieser wider- Umgangssprachlich wird der Begriff Respekt oft sprüchlichen sozialen Beziehung. gebraucht im Sinne von Furcht oder Angst als Re-
8 Klaus Kock, Edelgard Kutzner, Ninja Ulland sultat von Einschüchterung. Das kann Respekt sachliche Kontroversen angesehen, sondern immer vor der „Obrigkeit“ sein, aus Angst vor Strafe hält auch als psycho-soziale Probleme erlebt. Als „sozi- man sich an die Gesetze. Oder eine bestimmte ale Stressoren“ in diesem Sinne gelten u. a. Person schüchtert eine andere so ein, dass diese tut, was jene sagt. So wussten sich beispiels- außergewöhnliche Anforderungen, d. h. wenn weise viele Einzelhandelsgeschäfte im Zuge der einige Kund*innen besondere Behandlung er- Corona-Pandemie nicht anders zu helfen, als warten; Wachpersonal vor dem Eingang zu postieren, um persönliche Angriffe, von ungerechtfertigter die Einhaltung der Hygiene-Regeln zu erzwingen. Kritik über Beleidigungen und Beschimpfun- Respekt zeigt sich darin, dass eine solche Ein- gen bis hin zu körperlicher Aggression; schüchterung nicht notwendig ist, weil alle sich Zwang zur Bedienung unangenehmer aus Einsicht und Verantwortung gegenüber den Kund*innen; Mitmenschen an die Regeln halten. Abstimmungsschwierigkeiten mit der Kund- schaft, wenn deren Wünsche widersprüchlich oder unklar sind (Holz et al. 2004, 285; vgl. 3. Fragestellungen des Projekts Yagil 2017). RespectWork Im Projekt RespectWork untersuchen wir Akte In Forschungen zur Interaktionsarbeit (Böhle/ des Kaufens und Verkaufens als Situationen in- Weihrich 2020) werden Belastungen und Bean- terpersonalen Handelns. Unter bestimmten Um- spruchungen interaktiver Arbeit in Zusammen- ständen, die zu analysieren sind, treffen Men- hang gestellt mit der besonderen Struktur dieser schen aufeinander, die ihre Handlungen aneinan- Tätigkeiten. Weil die Dienstleistung im Einzelhan- der ausrichten und aufeinander abstimmen. Die del nur durch Mitwirkung der Kund*innen gelin- Situation ist bestimmt von äußeren Gegebenhei- gen kann, gewinnt die soziale Beziehung zwi- ten, im Wesentlichen aber davon, wie diese Gege- schen den Beteiligten an Bedeutung. benheiten von den Akteur*innen interpretiert werden, welche Bedeutung sie ihnen zumessen. Winfried Hacker (2009, 67 f.) bezeichnet es als Die kaufende Person muss mit der verkaufenden den Kernwiderspruch aller dialogisch-interakti- übereinkommen, was Gegenstand ihrer gemein- ven Arbeit, dass diese einerseits den Empfän- samen Handlungen sein soll und wie sie mitei- ger*innen mitmenschliche Hilfe und soziale Un- nander umgehen wollen (Dunkel/ Weihrich 2014). terstützung zukommen lassen soll, andererseits aber einen ökonomischen Tauschprozess von Dabei ist der Akt des Kaufens und Verkaufens im Leistung gegen Bezahlung darstellt. Die Beschäf- Einzelhandel in gewisser Weise definiert und vor- tigten im Einzelhandel sollen Empathie für die strukturiert, es geht um Waren, die vom Besitz kaufwillige Person zeigen, zugleich aber den wirt- des Unternehmens gegen Geld in den Besitz der schaftlichen Erfolg im Auge haben und Distanz Kundin*innen wechseln sollen. Hierfür gibt es ge- wahren zur zahlenden Kundschaft. Die Tätigkeit sellschaftlich anerkannte Gewohnheiten und Re- des Verkaufs soll sich nach den spontanen und geln, die ihre Gültigkeit aber nicht aus sich heraus zum Teil emotionalen Bedürfnissen der Kund*in- gewinnen, sondern nur dadurch, dass die Ak- nen richten, wird aber andererseits nach strikt ra- teur*innen sie befolgen und damit realisieren. tionalen Effizienzkriterien beurteilt. Wir fragen Auch Werte und Normen im zwischenmenschli- danach, wie sich diese Widersprüche im Ar- chen Umgang gelten nicht an sich, sondern wer- beitsalltag geltend machen, wie sie die Interakti- den in der jeweiligen Situation praktiziert und ak- onen in der Verkaufssituation prägen und ob ein tualisiert – oder auch nicht. Ausbalancieren zur Zufriedenheit von Beschäf- tigten, Kundschaft und Unternehmen möglich ist. Wie Beschäftigte und Kundschaft ein gemeinsa- mes Verständnis der Situation entwickeln, wie sie Weil in der Verkaufstätigkeit persönliches Enga- miteinander umgehen, welchen expliziten und gement gefordert ist, werden Konflikte mit der impliziten Regeln sie dabei folgen, wie und unter Kundschaft von den Beschäftigten nicht nur als
Situationsanalyse von Kassiertätigkeiten 9 welchen Bedingungen solche Regeln zugunsten- weniger relevant gemacht werden. Ausgeklam- gegenseitigen Respekts etabliert werden können, mert werden dagegen die als privat angesehenen sind Fragestellungen des Projekts. Die Praxis- Angelegenheiten der Beschäftigten in ihrem au- partner*innen erwarten von den Projektarbeiten ßerbetrieblichen Lebenszusammenhang. Wer vor allem Hinweise auf mögliche Maßnahmen zur „private“ Probleme hat, muss dies in der Rolle als Etablierung und Förderung eines respektvollen Dienstleister*in überspielen. Umgangs zwischen Personal und Kundschaft. Es Unter diesen Gegebenheiten formen die beteilig- geht dabei nicht nur um die Strukturierung von In- ten Personen ihre Interaktionen mit Hilfe von Bli- teraktionssituationen im Verkauf, sondern auch cken, Gesten, Haltungen und sprachlichen Äuße- um die Gestaltung betrieblicher Rahmenbedin- rungen. Dabei kommen persönliche Charakterei- gungen. genschaften und individuelle Kompetenzen zum Tragen. Es ist „subjektivierendes Arbeitshan- 4. Methoden der Untersuchung deln“ (Böhle/Weihrich 2020, 12) notwendig, um mit der Unbestimmtheit der Situation zurechtzu- Im Rahmen der wissenschaftlichen Analyse wird kommen. Es werden soziale Tatsachen hervorge- die betriebliche Realität in ihrer Vielschichtigkeit bracht und gestaltet. Die Verhaltensweisen der so umfassend wie möglich erkundet. Betriebliche beteiligten Personen verknüpfen sich miteinan- Fallstudien in den projektbeteiligten Baumärkten der und beeinflussen sich. Goffman (1986, 8) ver- und im Lebensmittelmarkt bilden die Basis der gleicht das mit der Syntax einer Sprache, also den Projektarbeit. Im Mittelpunkt der Analyse steht Regelungen darüber, wie einzelne Elemente mit- die Interaktionssituation zwischen Beschäftigten einander verknüpft werden. und Kund*innen mit allen beeinflussenden Gege- benheiten wie z.B. Aufbau des Marktes, Arbeits- Die Situation zu untersuchen, heißt also, das in abläufe oder Qualität und Preis der Ware. den Blick zu nehmen, was in einem bestimmten Kontext zwischen den Menschen entsteht, wenn Der Fokus der Analyse liegt auf der sozialen Situ- sie miteinander interagieren, „die syntaktischen ation, in der gearbeitet wird. Wir beziehen uns da- Beziehungen zwischen den Handlungen verschie- bei auf die theoretischen Konzepte zur Interakti- dener gleichzeitig anwesender Personen. […] Es onsordnung von Erving Goffman. Eine Situation geht […] nicht um Menschen und ihre Situationen, entsteht, wenn zwei oder mehr Menschen sich sondern eher um Situationen und ihre Men- zur gleichen Zeit am gleichen Ort befinden und schen.“ (ebd., 8 f.) miteinander interagieren, also ihr Handeln aufei- nander abstimmen. In den Interaktionen kommen Im Rahmen unserer Fallstudien kommen ver- gewisse Regeln zum Tragen, die dafür sorgen, schiedene Methoden der qualitativen Sozialfor- dass die Interaktion gelingt. Dieses Regelwerk schung zum Einsatz, die Einsicht in alltägliche In- nennt Goffman „Interaktionsordnung“ (Goffman teraktionssituationen und das Erleben der Be- 2001). schäftigten ermöglichen (zur Methode der Situa- Zur Situation gehört alles das, dem sich der tionsanalyse: Clarke 2012). Den wichtigsten Teil Mensch im gegebenen Moment zuwenden kann. bilden Interviews mit Beschäftigten aus verschie- Das ist zum einen die Umgebung, in der die Inter- denen Bereichen der Betriebe, in denen sie uns aktionen stattfinden. Bestimmte Gegebenheiten anhand von konkreten Situationen ihre Erfahrun- müssen die Beteiligten so hinnehmen, wie sie gen im Umgang mit der Kundschaft schildern. Die sind, z.B. das Raumklima oder das Warensorti- Sicht der Beschäftigten wird ergänzt durch Ge- ment. Bei anderen Teilen der Umgebung liegt es spräche mit der Geschäftsleitung, der Personal- im Ermessen der Beteiligten, was sie davon in die leitung und (falls vorhanden) der betrieblichen In- Interaktionen einbeziehen, ob sie beispielsweise teressenvertretung. Arbeitsplatzbeobachtungen im Verkaufsgespräch verschiedene Waren in die im Markt geben Einsicht in den Ablauf, die Anfor- Hand nehmen, ob sie im Computersystem nach- derungen und die Gestaltung alltäglicher Ver- sehen usw. Es sind Gegebenheiten, die mehr oder kaufs- und Beratungstätigkeiten. Erste Erkennt-
10 Klaus Kock, Edelgard Kutzner, Ninja Ulland nisse werden in vertiefenden Gruppendiskussio- Im Folgenden werden Kassiertätigkeiten be- nen mit mehreren Beschäftigten einer Abteilung schrieben und insbesondere kritische Situatio- besprochen. Zudem werden unternehmensbezo- nen analysiert, in denen die normalen, routini- gene Dokumente (Struktur der Belegschaft, Ge- sierten Abläufe auf die eine oder andere Weise fährdungsbeurteilungen, Leitbilder, Weiterbil- gestört werden und die Interaktionen nicht rei- dungsangebote, Stellenausschreibungen etc.) bungslos ablaufen. Gerade in solchen Situationen analysiert. Zwischen- und Endergebnisse werden zeigt sich Respekt bzw. Respektlosigkeit im Um- den Beschäftigten in geeigneter Form (z. B. in ei- gang miteinander (vgl. Joris/Schmid 2019, ner Betriebsversammlung oder in Gruppentref- Menz/Nies 2021). fen) vorgestellt und mit ihnen diskutiert. Auch die Perspektive der Kundschaft ist für eine umfas- 5.1 Kassieren – eine unterschätzte sende Analyse der Interaktionssituationen rele- Tätigkeit vant. Hierzu werden Ergebnisse vorhandener Kundenbefragungen ausgewertet und Befragun- Nach den Eindrücken der befragten Kassiererin- gen im Markt durchgeführt. nen hält ein Großteil der Kund*innen die Arbeit an der Kasse für eine anspruchslose Tätigkeit. Man- Ergänzend werden im Rahmen sogenannter Kurz- che sind überzeugt, das Ganze sofort mindestens fallstudien in einigen weiteren Unternehmen be- genauso gut, wenn nicht besser und vor allem triebliche Dokumente ausgewertet, ausführliche schneller erledigen zu können. Viele beachten die Gespräche mit der Geschäftsleitung und der be- Person an der Kasse gar nicht, sie erscheint als trieblichen Interessenvertretung geführt sowie ein Teil der Maschine. Gruppendiskussionen mit Beschäftigten organi- siert. Interviews mit Expert*innen aus Arbeitge- Die Kassiertätigkeiten werden vorwiegend von berverband, Gewerkschaft, Berufsgenossen- Frauen in Teilzeit ausgeübt. Nach einem verbrei- schaft und Wissenschaft vervollständigen die Er- teten Vorurteil arbeiten viele von ihnen als sog. kenntnisse. Zuverdienerinnen, die finanziell durch das Ein- kommen des Ehemanns abgesichert seien. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Analysen sollen zum besseren Verständnis der Interakti- Es gibt Kund*innen, die ihre Geringschätzung onssituation von Kundschaft und Beschäftigten ganz offen formulieren, wie z.B. der Vater, der im Einzelhandel beitragen. Es soll nachvollzieh- sein Kind ermahnt, in der Schule gut aufzupas- bar werden, wie Respektlosigkeiten bzw. Respekt sen, sonst werde es später auch an der Kasse sit- entstehen, um Ansatzpunkte für Veränderungen zen müssen. Die Geringschätzung der Tätigkeit zu benennen und Grundlagen für die Entwicklung wird zur Herablassung gegenüber der Person, die von Informations-, Bildungs- und Beratungsan- sie verrichtet. Dies ist eine große Belastung für geboten durch die Projektpartner*innen zu die betreffenden Kassiererinnen: schaffen. „Manchmal komme ich auch an meine Substanz, ja. Vor allem, wenn es so ungerecht ist. Wenn die dir gar 5. Situationsanalyse von nicht zuhören und dich wie so ein – so eigentlich wie: ‚Was willst du denn von mir? Hättest du in der Schule Kassiertätigkeiten besser aufgepasst, würdest du hier nicht stehen.‘ Die hier vorgestellte Analyse konzentriert sich auf Dann denke ich mir immer: Mach du mal den Job, du würdest kläglich untergehen.“ Auf die Nachfrage, Tätigkeiten im Bereich der Kassen in drei Bau- wie sie solche Respektlosigkeiten für sich verarbei- märkten. Grundlage sind jeweils eintägige Ar- tet, antwortete sie: „Eine rauchen gehen und beitsplatzbeobachtungen in den drei Märkten, 13 schreien!“ (Kassiererin) Intensivinterviews mit Beschäftigten sowie Inter- views mit dem Geschäftsleiter und der Personal- Es stellt sich die Frage, ob sich an dieser allge- referentin der Baumarkt-Kette. meinen Einstellung, an diesen Vorurteilen etwas
Situationsanalyse von Kassiertätigkeiten 11 ändern ließe. Eine Möglichkeit könnte eine ent- später von den Beschäftigten in die entspre- sprechende öffentliche Ansprache der Kund- chende Abteilung gebracht und in die Regale ein- schaft sein. Im Lebensmittel-Markt beispiels- geräumt. Unter den Kassiererinnen muss immer weise hängen große Plakate mit Portraits der Be- eine anwesend sein, die zugleich die Funktion ei- schäftigten. Damit wird seitens des Unterneh- ner Kassenaufsicht ausüben kann. Ihre Aufgabe mens Respekt für die Mitarbeiter*innen signali- ist es, die Kassiererinnen einzuarbeiten und an- siert, der sich auf die Kundschaft übertragen soll. zuleiten. In der Regel arbeitet sie selbst am In- Eine andere Möglichkeit läge in organisatori- foschalter. Wenn sich an den Kassen längere schen Änderungen. So gibt es in einem von uns Menschenschlangen bilden, wird am Infoschalter untersuchten Fahrradmarkt keine gesonderten eine zusätzliche Kasse eröffnet. Kassenkräfte; wer einen Artikel verkauft, geht mit dem Kunden/der Kundin an die Kasse und regelt Der einzelne Kassiervorgang wird dadurch einge- die Bezahlung. Eine solche Lösung ist aber nicht leitet, dass die Kund*innen die gewünschten Ar- überall machbar. tikel aus dem Einkaufswagen auf das Transport- band der Kasse legen. Die Kassiererin zieht die Der Arbeitstag einer Kassie- rerin in den untersuchten Baumärkten beginnt damit, dass sie die Kasse vorberei- tet, d. h. sie reinigt ihren Ar- beitsplatz, holt ihre persönli- che Geldschublade und mel- det sich mit ihrem Passwort an. Nur die Person, die an der jeweiligen Kasse angemeldet ist, darf dort kassieren. Zur Arbeit einer Kassiererin ge- hört auch, die Ständer mit Kleinwaren im Umfeld der Kasse nachzufüllen. Am Bild 1: Dreierlei Anforderungen im Kassiervorgang (eigene Darstellung) Schichtende nimmt die Kas- siererin ihre Schublade heraus und zählt das Geld Waren über einen Scanner, schwere Waren ver- zusammen mit einer Kollegin, um es dann im Tre- bleiben im Einkaufswagen, die Etiketten werden sor zu deponieren. Die Schublade wird wieder mit von der Kassiererin mit einem Handscanner ein- Wechselgeld gefüllt, und die Kollegin der nächs- gescannt. Kund*innen können währenddessen ten Schicht kann sie übernehmen. Kleinere Ab- ihre Kundenkarte oder weitere Rabattkarten vor- weichungen der eingenommenen Geldsumme von zeigen. Wenn alle Artikel eingescannt und Ra- den Buchungen des Kassensystems gelten als batte erfasst wurden, ermittelt das Kassensys- unproblematisch, bei größeren Fehlbeträgen wird tem den zu zahlenden Betrag, die Kassiererin nachgeforscht, was dazu geführt hat. Sanktionen nennt ihn den Kund*innen, um daraufhin das Geld seien nicht zu befürchten, berichteten die Kas- einzunehmen. Bei Kartenzahlung wird auf das siererinnen einhellig, das sei alles „sehr human Kartenlesegerät verwiesen, bei Barzahlung wird geregelt“ (Kassiererin). der gezahlte Betrag in das Kassensystem einge- geben, das daraufhin die Höhe des Rückgeldes Zum Kassenbereich gehört der zentrale Informa- berechnet und die Geldschublade öffnet. Die Kas- tionsschalter als erste Anlaufstelle für die Kund- siererin sucht dann den entsprechenden Betrag schaft. Hier werden auch Reklamationen und Um- aus der Schublade und überreicht den Kund*in- tauschwünsche bearbeitet und ggfs. in die be- nen das Geld und den Kassenzettel. Mit „Auf Wie- treffende Abteilung weitergeleitet. Zurückge- dersehen, einen schönen Tag noch“ wird die Kun- nommene Artikel werden zunächst gelagert und din/der Kunde verabschiedet.
12 Klaus Kock, Edelgard Kutzner, Ninja Ulland Eine Kassiererin muss immer zugleich darauf Art des Umgangs mit dem Problem geht auf Kos- achten, erstens korrekt mit Ware und Geld umzu- ten der Kassiererin, sie muss sich den Ärger der gehen, zweitens die Interaktion mit den Kund*in- Kund*innen anhören und individuell damit zu- nen zu gestalten und drittens die eigene Arbeit im rechtkommen. Das Problem wird subjektiv von Zusammenhang mit der von Kolleg*innen und der Kassiererin verarbeitet. Die Analyse macht Vorgesetzten zu sehen. Diese drei Anforderungen sichtbar, wo anzusetzen wäre im Hinblick auf ei- können sich widersprechen, z.B. kann der kor- nen respektvollen Umgang zwischen Beschäftig- rekte Umgang mit Ware und Geld aus Sicht der ten und Kundschaft: Kund*innen zu lange dauern. Wenn die Kassiere- Eine alternative Umgangsweise mit dem rin dagegen zu schnell ist, riskiert sie, das Wech- Problem bestünde darin, den Anlass der Irri- selgeld falsch herauszugeben usw. tation zu beseitigen, indem die betriebliche Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden Regelung, jedes Exemplar eines Artikels ein- verschiedene Situationen im Baumarkt analysiert zeln einzuscannen, hinterfragt und geändert Die Darstellung gliedert sich danach, welcher Ge- würde. genstand jeweils im Mittelpunkt der Tätigkeiten Möglich wäre auch, den Kund*innen zu erklä- steht: Ware und Geld, Kund*innen, Kolleg*innen ren, warum so verfahren wird. Dann würden und Vorgesetzte. sie verstehen, dass nicht die Kassiererin ver- antwortlich ist, sondern der Betrieb seine Gründe hat und sie sich darin fügen müssen, 5.2 Hantieren mit Waren und Geld wenn sie in diesem Markt einkaufen. Wenn die Kund*innen sich dennoch auf res- Warenetiketten scannen pektlose Weise beschweren, müsste die Kas- Die Kassiererinnen im Baumarkt sind dazu ver- siererin sie zurechtweisen, etwa: „Sie können pflichtet, an jedem Artikel einzeln das Etikett ein- sich gerne beschweren, aber nicht in diesem zuscannen, auch wenn mehrere gleiche Artikel Ton!“ auf dem Band liegen. In den Interviews wurde deutlich, dass ein Großteil der Kundschaft den Diebstahlversuche unterbinden Sinn dieser Vorgehensweise offenbar nicht ver- Ein zweiter Grund, alle Artikel einzeln einzuscan- steht, weil es anscheinend doch viel effizienter nen, liegt darin, Diebstähle zu verhindern. Es wäre, einen Artikel einzuscannen und mit der An- komme nicht selten vor, wurde in den Interviews zahl zu multiplizieren. gesagt, dass Kund*innen beispielsweise einen Der Kunde meint: „‘Ist doch zwölfmal das gleiche Besen und den dazugehörigen Stiel zusammen- Isorohr!‘ Panzerrohr in der Sanitärabteilung sieht stecken in der Hoffnung, an der Kasse werde nur haargenau gleich aus. Das Panzerrohr ist aber einen eines der beiden Etiketten erfasst. Die Kassiere- Euro teurer als das Iso. Und da – das ist dieses sor- rinnen nehmen alle zusammengesteckten Artikel tenreine Kassieren, ist für uns super und auch gut. wieder auseinander, um sie einzeln einzuscan- Aber der Kunde versteht es nicht, der geht an die De- nen. Sie sehen in alle Gefäße hinein, öffnen jeden cke wie ein HB-Männchen 2 manchmal.“ (Kassiere- nicht verklebten Karton. Dies ist ein Aspekt, auf rin) den Testkäufer*innen des Unternehmens bei ih- Es entsteht eine typische Situation, die wir als ren unangekündigten Besuchen besonders ach- „kritische Situation“ bezeichnen. Die beschrie- ten. bene Vorgehensweise ist sinnvoll aus betriebsor- Auf Seiten der Kundschaft kann solches Vorgehen ganisatorischen Gründen, nicht aber aus Sicht durchaus als Misstrauen interpretiert werden, von eiligen Kund*innen. Es kommt zu Irritationen das sie als ehrliche Menschen für nicht gerecht- auf beiden Seiten. Die im Interview geschilderte fertigt halten und das in gewissem Widerspruch 2 Der Ausdruck „HB-Männchen“ bzw. „in die Luft gehen wie ein HB-Männchen“ stammt aus der Zigarettenwer- bung für die Marke HB in den 1960er Jahren. Die Zeichentrickfigur Bruno, das „HB-Männchen“, wurde sprichwört- lich für das Verhalten eines aufbrausenden, leicht erregbaren Menschen.
Situationsanalyse von Kassiertätigkeiten 13 steht zur allgemein zuvorkommenden Haltung Auch hier wieder ist der Anlass an sich kein des Personals gegenüber der Kundschaft. Man Grund, die Kassiererin respektlos zu behandeln. wurde gut beraten, freut sich, eine schöne Tapete Trotzdem kommt es vor, und es wäre zu untersu- gefunden zu haben – dann kommt der Bruch: An chen: Muss sie das dulden? Kann der Anlass nicht der Kasse wird offenbar vermutet, man könnte et- vermieden werden, wenn Preisschilder immer ak- was stehlen wollen. Entsprechend unwirsch rea- tuell gehalten werden (wofür es technische Lö- gieren manche Kund*innen und lassen ihren Un- sungen gäbe)? Klärt man das Problem im Ge- mut an den Kassierer*innen aus. spräch? Oder muss das Personal die Kundschaft zurechtweisen? Betriebliche Veränderungsmaßnahmen könnten damit beginnen zu fragen, welche Umgangsweise Geld einnehmen und herausgeben mit dieser Irritation in der Interaktion angemes- sen wäre: Geld einzunehmen und in die Schublade zu legen, ist ein auf den ersten Blick einfacher Vorgang. Soll die Kassiererin das einfach „wegste- Wenn alle Artikel eingescannt und Rabatte er- cken“, weil es zum Beruf gehört? („Das muss fasst wurden, nennt die Kassiererin den Betrag. man abkönnen.“) Bei Barzahlung wird eingegeben, wie viel Geld je- Oder könnte der Anlass irgendwie beseitigt mand gegeben hat. Das Kassensystem rechnet werden? Z.B. könnten Diebstahlsicherungen dann die Höhe des Rückgeldes aus, und die an den Artikeln angebracht werden. Damit Schublade mit dem Bargeld öffnet sich. Die Kas- wäre das Problem technisch gelöst. siererin entnimmt den entsprechenden Betrag Kann die Kassiererin ihr Vorgehen den und reicht ihn der Kundin/dem Kunden zusam- Kund*innen erklären, indem sie z.B. sagt, men mit dem Kassenbon. Da es aber schon mal dass dies kein spezielles Misstrauen ist, son- vorkomme, dass sie eine falsche Zahl in die Kasse dern eine generelle Vorsichtsmaßnahme dar- eintippt, erläuterte eine Kassiererin im Interview, stellt? rechne sie immer auch im Kopf noch einmal nach, Ab welchem Punkt ist es zu viel, wo ist die ob alles korrekt ist. Grenze, und die Kund*innen müssen zurecht- gewiesen werden? Sie lege viel Wert darauf, betonte eine Kassiere- rin, dass die Kundschaft alles nachvollziehen Preise registrieren und berechnen kann – sowohl, was auf dem Display erscheint als auch die Summe des Wechselgeldes: Irritationen in der Interaktion zwischen Kassiere- „Es ist mir zum Beispiel auch immer wichtig im Kas- rinnen und ihrer Kundschaft entstehen auch, senbereich […], dass wirklich der Kunde auch sieht wenn der am Regal angezeigte Preis abweicht von an Wechselgeld, was er bekommt. Dass Scheine vor- dem, der im Kassensystem gespeichert ist. Wenn gezählt werden. Dass dem Kunden auch wirklich die das der Fall ist, gilt die Regel, dass der niedrigere volle Aufmerksamkeit geschenkt wird, dass man Preis zu berechnen ist. Aber die Differenz muss dem Kunden auch in die Augen schaut.“ (Kassiere- erst einmal auffallen. rin) Der Fehler kann sofort korrigiert werden, wenn Irritationen werden hier vermieden, indem alle der Kunde bzw. die Kundin das Kassendisplay Vorgänge transparent gehalten werden und in- einsehen kann, aufmerksam ist und die Kassiere- dem die Kassiererin sich ganz auf ihr Gegenüber rin darauf hinweist, dass hier etwas nicht stim- konzentriert und sich z.B. auch nicht stören lässt, men kann. Manchmal fällt der Fehler erst auf, wenn in der Warteschlange Unmutsäußerungen wenn die Kundin/der Kunde den Kassenbon prüft hörbar werden. und im Nachhinein reklamiert. Oft handelt es sich um ein Missverständnis, das schnell geklärt wer- den kann. Wenn Kund*innen aber darauf beste- hen, erfragt die Kassiererin per Telefon den kor- rekten Preis bei den Kolleg*innen in der entspre- chenden Abteilung.
14 Klaus Kock, Edelgard Kutzner, Ninja Ulland 5.3 Arbeiten mit und an der Kundschaft einmal schlechte Laune hat? „Man setzt so ein fal- sches Gesicht auf. […] Ja, man dreht sich praktisch Beziehung herstellen um und setzt halt sein Fröhlichgesicht auf. Das muss man können.“ (Kassenaufsicht) Viele Kund*innen wirken an der Kasse sehr unbe- teiligt, legen ihre Ware auf das Band und bezah- Die Leitlinien des Unternehmens zur Firmenphilo- len, ohne der Kassiererin, die sie freundlich ge- sophie betonen genau diesen Aspekt: „Wir sind grüßt hat, irgendeine Aufmerksamkeit zu schen- immer freundlich, kompetent und zuverlässig“, ken, sie anzusehen oder zu grüßen. Die Kassiere- heißt es dort, und weiter: „Wir sprechen jeden rinnen empfinden solches Verhalten als Missach- Kunden gerne an und helfen ihm, seine Wünsche tung ihrer Person. Manche wiederholen nach- zu realisieren. […] Wir setzen uns dafür ein, dass drücklich ihren Gruß, um eine Reaktion zu provo- alle Anliegen und Wünsche unserer Kunden zu zieren. Andere grüßen nur diejenigen Kund*in- deren Zufriedenheit gelöst werden.“ Es wird er- nen, die sie zumindest ansehen. Besonders är- wartet, dass die Beschäftigten in der Lage sind, gerlich ist es für die Beschäftigten, wenn Kun- ihre eigenen Gefühle zu beherrschen und die Ge- d*innen während des Kassiervorgangs weiter mit fühle der Kundschaft positiv zu beeinflussen. Sie ihren Smartphones telefonieren. erdulden Respektlosigkeiten, „schlucken sie run- ter“, oder sie argumentieren und versuchen, auf- Die Frage ist daher: Auf welche Weise wäre es brausende Kund*innen zu beruhigen. Wenn je- möglich, die Kund*innen dazu zu bewegen, ein mand unverschämt wird, müssen sie in der Lage Mindestmaß an Höflichkeit zu zeigen und zurück- sein, verbal zu kontern und die betreffende Per- zugrüßen, wenn sie angesprochen werden? Die son zurechtzuweisen – riskieren aber dann, dass Zeitung „Augsburger Allgemeine“ berichtete bei- die Situation eskaliert, oder auch, dass diese Per- spielsweise von einem Lebensmittelhändler, der son demnächst woanders einkauft. Schilder aufstellen ließ mit dem Text: „Verehrte Kunden! Wir bitten Sie, während des Bedienvor- Nähe und Distanz ausbalancieren gangs aus Gründen des Respekts gegenüber un- seren Mitarbeitern auf Telefongespräche mit Ih- Die Beschäftigten des Baumarkts werden auf der rem Handy zu verzichten. Vielen Dank.“ (Glatzer Website des Unternehmens und auf einem Schild 2019) im Eingangsbereich mit Foto, Namen und Zustän- digkeitsbereich persönlich vorgestellt. Sie tragen Positive Gefühle herstellen Namensschilder mit Vor- und Nachnamen. Bei- Eine Kassiererin, die in ihrer Funktion als Kassen- des wird auch auf dem Kassenbon vermerkt. aufsicht auch ihre Kolleginnen einarbeitet und Die Meinungen der befragten Kassiererinnen zu anleitet, betonte im Interview den interaktiven einer solchen namentlichen Hervorhebung gehen Charakter der Tätigkeiten an der Kasse. Sie sieht auseinander. Während die einen es begrüßen, von den wesentlichen Inhalt der Arbeit im zwischen- der Kundschaft mit Vornamen angeredet zu wer- menschlichen Bereich: den, weil es persönlicher wirke und dazu beitrage, „Wir sind das Aushängeschild vom [Name des Unter- schnell eine Beziehung zum Gegenüber aufzu- nehmens]. Und da erwarte ich halt auch von jeder bauen, sind andere eher skeptisch: Kollegin, dass sie dementsprechend freundlich, im- mer höflich, gut gelaunt ist, aber dabei den Blick „Also, was mich ein bisschen stört, dass die Vorna- vom Kassieren her nicht verliert, ne? […] Wie gesagt, men dabei sind. Weil das ist immer so ein bisschen der Kunde sollte mit einem Lächeln hier rausgehen, – das steht ja auf dem Bon auch drauf, der volle mit einem zufriedenen Gefühl, strahlen. Der muss Name. Das ist so ein bisschen, was mich stört. […] rausgehen und sagen – selbst wenn er sich vorher im Weil manchmal kriegt man dann auch ein bisschen Baumarkt geärgert hat, wenn irgendjemand ihm einen dummen Kommentar: ‚Gerda!‘ 3 ne? Wo ich quergekommen ist, liegt es an mir, das da vorne aus- denke, wir haben noch nicht zusammen geknickert 4, zubügeln.“ Und wenn man als Beschäftigte selbst also sprich: Wir kennen uns nicht. Das finde ich dann 3 Name geändert 4 Kinderspiel mit Murmeln
Situationsanalyse von Kassiertätigkeiten 15 manchmal auch nicht so ganz im Sinne des Erfin- als miteinander arbeitet. Erst durch eine Neuzu- ders, so ein bisschen respektlos auch.“ (Kassiererin) sammensetzung des Kassenteams sei die Zu- Respekt wird sicher nicht schon dadurch gewähr- sammenarbeit besser und ruhiger geworden. leistet, dass der Vorname auf dem Namensschild „Also jetzt ist wirklich Ruhe. Wir verstehen uns alle, fehlt. Aber vielleicht verführt doch die Nennung wir können miteinander sprechen. Man arbeitet an des Vornamens manche Kund*innen dazu, be- seinen Fehlern.“ (Kassiererin) stimmte Grenzen der Höflichkeit durch respekt- Es sei schon eine Erleichterung, sich unter Kol- loses Duzen zu überschreiten. leg*innen gegenseitig bestimmte problematische Erfahrungen mit der Kundschaft zu schildern, Kundenresonanz aufnehmen und wurde in mehreren Interviews berichtet. Wenn weitergeben darüber hinaus die Arbeiten im Team gut ineinan- Der Kassenbereich ist nach Auffassung der Be- dergreifen, gibt es weniger Anlässe für Unzufrie- fragten ein entscheidender Punkt, was Kontakte denheit auf Seiten der Kundschaft. Die Teammit- mit der Kundschaft anbelangt. Der Baumarkt ist glieder können sich gegenseitig ergänzen, unter- nach dem Selbstbedienungsprinzip aufgebaut, stützen und informieren. Wenn die Kassiererin ei- beraten werden die Kund*innen nur bei Bedarf ner Kundin etwas nicht erklären kann, übernimmt und auf Nachfrage. An der Kasse dagegen ist der der Kollege aus der Fachabteilung. Auch die Zu- Kontakt zwischen Personal und Kundschaft zwin- rechtweisung bei respektlosem Verhalten fällt gend. Die Kassiererinnen sind zusammen mit leichter, wenn eine Kollegin oder ein Kollege in dem zentralen Informationsschalter eine Art der Nähe ist und vielleicht dazukommt. Grenzstelle, an der die Kundenresonanz erfahr- Verantwortung füreinander übernehmen bar wird. Manche Etiketten an den Waren sind für den Kas- Wenn sich Beschwerden an der Kasse häufen, senscanner nicht lesbar. kann das ein Zeichen dafür sein, dass mit den Wa- ren, mit den Abläufen oder mit der Beratung et- „Gerade bei Produkten aus dem Außenbereich, Ter- was nicht stimmt. Wer sich im Ton vergreift, hat rassendielen et cetera, da ist es manchmal Kata- vielleicht inhaltlich doch nicht ganz unrecht. Das strophe, furchtbar. Weil die Etiketten sind so be- muss die Kassiererin unterscheiden können. scheiden gedruckt. […] Ich kann es nicht scannen. Und wenn ich das Etikett abreiße, kann ich die Num- Wenn sie Kritik der Kundschaft an Kolleg*innen mer nicht mehr lesen. Und ich kann nicht über – und Vorgesetzte weitergibt, könnten die Anlässe weiß ich nicht, wie viel Millionen Produkte wir hier für Beschwerden vielleicht beseitigt werden, haben – alles im Kopf wissen, was das ist, ne? […] dann hätten alle u.U. auch seltener mit respekt- Also wenn die Leute in der Abteilung ihre Arbeit nicht losem Verhalten der Kund*innen zu tun. gut machen und auch einmal darauf hören, wenn wir sagen: Leute, diese Etiketten sind nicht zu lesen, o- der hinten in den Baustoffen, du kannst da diesen 5.4 Kooperation mit Kolleg*innen aufgedruckten EAN-Code, der da drauf ist, kannst Gegenseitiges Verständnis herstellen du nicht abscannen – wenn das dann nicht mal erle- digt wird, wenn die ihre Arbeit nicht gut machen, Die Arbeit sei psychisch manchmal sehr belas- kann ich meine Arbeit an der Kasse auch nicht gut tend, klagte eine Kassiererin: machen. […] Das sind dann so diese Reibungspunkte Kasse – Markt, ne?“ (Kassiererin) „Ich bin echt ein starker Mensch. Aber selbst ich habe wirklich Phasen mit – wo ich abends zuhause Wenn solche „Reibungspunkte“ sich vermeiden sitze und heule, weil ich nicht weiß, wohin damit.“ ließen, würden sie als Anlässe für kritische Situa- Aber der Zusammenhalt im Team mache einiges tionen beseitigt. Die Zusammenarbeit im Team wett: „Ich weiß, mir kann hier nicht schnell was pas- kann auf diese Weise den Umgang mit der Kund- sieren. Wir haben ein wahnsinnig tolles Team, auch schaft erleichtern. mit der Marktleitung.“ (Kassiererin) Eine andere Kassiererin hat es erlebt, wie es ist, wenn man sich nicht gut versteht und eher gegen-
16 Klaus Kock, Edelgard Kutzner, Ninja Ulland Als Team auftreten Jahren, sagte eine befragte Kassiererin, die auch am zentralen Infoschalter arbeitet. In allen Interviews wurde betont, zur guten Arbeit gehöre es, dass man sich mit den Kolleg*innen „Und im Endeffekt versuche ich jeden Tag nur, mei- nen Job zu machen und versuche, die Aufgaben, die gut versteht. Das Team im engeren Sinne bilden mir gestellt werden, […] vernünftig umzusetzen. Und die Kassiererinnen. Im Baumarkt wechseln einige ich versuche, für die Leute eine Lösung zu finden. von ihnen auch an den zentralen Informations- Das ist mein Job, und dafür bin ich hier. Und mir fällt schalter, zumeist sind das die Personen, die auch es mittlerweile immer schwerer wirklich, damit um- als „Kassenaufsicht“ bezeichnet werden, die also zugehen, weil ich sage: Ich mache das jetzt viele eine gewisse Verantwortung für die Arbeit im Kas- senbereich insgesamt tragen. Jahre. Ich kann nicht mehr an mir arbeiten. Aber ich gehe teilweise wirklich nach Hause und zweifle an Die gute Atmosphäre in der Zusammenarbeit mir selbst.“ (Kassiererin) strahle auch aus auf die Kundschaft, war eine Kassenaufsicht überzeugt: Die Beschäftigten fühlen sich überfordert, wenn ihnen fast die gesamte Verantwortung für die Zu- „Die merken, ob – die Kunden sind so feinfühlig da- friedenheit der Kundschaft und das Gelingen oder für – die merken sofort, ob das gesamte Team sich Misslingen des Verkaufens und Beratens übertra- versteht und dass die miteinander arbeiten. Das ist gen wird. Dieses Gefühl wird eher noch verstärkt, ja – wenn ich [vom Infoschalter aus] anrufe und sage: ‚Gerd 5, ich brauche eine Werkzeuginfo, da wenn Weiterbildungsmaßnahmen vorwiegend kommt jetzt eine Dame, die braucht Hilfe, da und da Optimierungsvorschläge für individuelles Verhal- und da.‘ Und [er antwortet]: ‚Ich bin gleich da. Gib ten gegenüber der Kundschaft beinhalten, wäh- mir fünf Minuten. Sag der Kundin, ich bin [gleich] rend deren Fehlverhalten als unabänderlich hin- da.‘ Und dann schickst du die dahin, dann erklärst genommen wird und organisatorisch-technische du das. Wenn das eine Harmonie ergibt – und das Gegebenheiten kaum jemals thematisiert wer- sage ich: Das war nur das Personal, die Atmosphäre den. haben wir hier erschaffen.“ (Kassenaufsicht) Unsere sozialwissenschaftlichen Untersuchun- Bei der letzten Kundschaftsbefragung stimmten gen sollen dazu beitragen, über die subjektivie- in dem betreffenden Markt beinahe dreiviertel rende Sichtweise hinaus die Interaktionen zwi- der Befragten der Aussage zu „Man hat den Ein- schen Beschäftigten und ihren Kund*innen im je- druck, dass die Mitarbeiter hier ein Team sind, in weiligen Kontext zu verstehen. Gemäß dem Dik- dem man sich gegenseitig hilft und unterstützt.“ tum von Erving Goffman (1986, 9), es gehe nicht Wenn es so gelingt, im gesamten Markt eine gute um die Menschen und ihre Situationen, sondern Atmosphäre zu schaffen, ergeben sich von Seiten vielmehr um die Situationen und ihre Menschen, der Kundschaft weniger Anlässe für Unzufrieden- kommt es darauf an, die Gesamtumstände, in heit. Dazu kommt, dass Kolleg*innen helfend ein- welche die jeweils beteiligten Personen gestellt springen können, wenn jemand sich respektlos sind, in den Blick zu nehmen und gegebenenfalls verhält. Das Wissen, es nicht nur mit einer Per- zu verändern. Dazu gehören Verhaltensänderun- son, sondern mit dem ganzen Team zu tun zu ha- gen, mehr noch aber die Überprüfung und Gestal- ben, schreckt vielleicht auch ab, sich respektlos tung der Verhältnisse, d. h. organisatorischer und zu verhalten. technischer Gegebenheiten wie auch geltender Regelungen zum Umgang mit der Kundschaft wie z.B. Vorschriften für Reklamation und Umtausch. 6. Fazit Und schließlich wäre auch die Frage zu stellen, ob Viele der Befragten haben den Eindruck, Vorge- und auf welche Weise Kund*innen veranlasst setzte suchten nach Lösungen für kritische Situ- werden könnten, ihr Verhalten zu reflektieren und ationen vorwiegend in Verhaltensänderungen der im Sinne von mehr Respekt für das Personal zu Beschäftigten. Sie mache den Job jetzt seit vielen verändern. Man dürfe die Kundschaft nicht zu 5 Name geändert
Situationsanalyse von Kassiertätigkeiten 17 sehr verwöhnen, gab ein Verkäufer aus dem Bau- der Interaktion zwischen Verkaufspersonal und markt im Interview zu bedenken: Kundschaft zu benennen, die zugunsten von mehr „Man muss halt auch seine Kunden sich erziehen. Respekt verändert werden könnten. Welche orga- Dass man halt guckt: Die Kunden müssen auch wis- nisatorischen, technischen und personellen Maß sen, dass sie […] auch mal Wartezeit haben oder nahmen dann als sinnvoll erachtet und umgesetzt dass sie nicht der einzige Kunde im Laden sind. werden, kann letztlich nur von den betrieblichen Manche Kunden, die denken ja, wir sind nur dazu da, Akteur*innen selbst entschieden werden. Ein we- um sie zu beraten. Die anderen Kunden sind ja quasi sentlicher Erfolgsfaktor dürfte darin liegen, das nur Luft, ja. Da muss man halt schauen.“ (Verkäufer) Wissen der Beschäftigten dafür nutzbar zu ma- Die oben dargestellte Situationsanalyse von Kas- chen. siertätigkeiten zeigt, dass sich bestimmte Mo- mente im Kontext und in der Interaktion selbst Literatur herausarbeiten lassen, an denen Veränderungen zugunsten einer respektvollen Beziehung anset- Bauman, Z. (2005): Moderne und Ambivalenz, zen könnten. Kritische Situationen entstehen im Hamburg Arbeitsalltag immer wieder. Schon aufgrund der Widersprüchlichkeit der Dienstleistungsarbeit Böhle, F., M. Weihrich (2020): Das Konzept der In- als zwischenmenschliche Beziehungsarbeit und teraktionsarbeit; in: Zeitschrift für Arbeitswis- sachlich-ökonomischer Tauschakt lassen sich senschaft, Heft 74, 9-22 Unstimmigkeiten nicht vermeiden. Es kommt da- Clarke, A.E. (2012): Situationsanalyse. Grounded rauf an, wie mit ihnen umgegangen wird. Aus der Theory nach dem Postmodern Turn, Wiesbaden Situationsanalyse konnten bislang vier mögliche Verfahrensweisen herausgearbeitet werden: Dillon, R.S. (2018): Respect; in: Stanford Encyclopedia of Philosophy 1. Subjektive Verarbeitung: Ansatzpunkte für (https://plato.stanford.edu/entries/respect) Veränderungen werden im Verhalten der Be- (22.2.2022) schäftigten gesucht. Sie sollen lernen, indivi- duell mit respektlosem Verhalten von Teilen Dunkel, W., M. Weihrich (2014): Interaktive Arbeit: der Kundschaft zurechtzukommen. Die soziale Dimension von Dienstleistungsarbeit; in: Sydow, J., D. Sadowski, P. Conrad (Hg.): Ma- 2. Beseitigung des Anlasses: Veränderungen nagementforschung 24, 245-289 richten sich auf die äußeren Gegebenheiten. Der jeweilige Anlass für respektloses Verhal- Forst, R. (2004): Anerkennung und Toleranz; in: ten wird ermittelt und durch organisatorische fiph-Journal Nr. 3, 1-4 oder technische Mittel beseitigt. Glatzer, K. (2019): Handy unerwünscht an der 3. Reflexion der Situation: Die Kundschaft wird Wursttheke; in: Augsburger Allgemeine, 24.05. einbezogen, indem (durch Hinweise, Anspra- (https://www.augsburger- che und im Dialog) versucht wird, Verständnis allgemeine.de/bayern/Handel-Handy- für die jeweilige Situation zu wecken und Ein- unerwuenscht-an-der-Wursttheke- vernehmen darüber herzustellen, wie jeweils id54397446.html) (22.2.2022) zu verfahren ist. Goffman, I. (1986): Interaktionsrituale, Frankfurt 4. Zurechtweisung: Der Kundschaft werden a.M. Grenzen des Verhaltens aufgezeigt. Die Be- Goffman, I. (2001): Die Interaktionsordnung; in: schäftigten weisen respektlose Kund*innen ders.: Interaktion und Geschlecht, 2. Aufl., Frank- zurecht und drohen mit Konsequenzen bis hin furt a.M., New York, 50-104 zum Hausverbot. Graen, A. (2019): Kassierer und Verkäufer berich- Im Fortgang der Projektarbeiten sollen weitere ten: „Seit ich im Einzelhandel arbeite, hasse ich Tätigkeiten im Einzelhandel auf diese Weise ana- Menschen“; in: Stern vom 7.6.2019 lysiert werden mit dem Ziel, solche Momente in
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