BELARUS NACH DEN WAHLEN - Insider analysieren, Initiativen berichten.
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01 / 11 Winter 2011 ISSN 1616-7619 4,- € K 46699 Insider analysieren, Initiativen berichten. BELARUS NACH DEN WAHLEN
Editorial Liebe Leserinnen und Leser, „Belarus nach den Wahlen“ lautet der Titel dieser Umständen überhaupt Sinn, die Kooperationen, die Ausgabe der Belarus Perspektiven. beispielsweise im Rahmen des Förderprogramms Den 19. Dezember und die Ereignisse infolge der Belarus in den letzten Jahren entstanden sind, Wahlen werden viele Menschen in Belarus und in fortzusetzen oder sollten sich zivilgesellschaftliche Deutschland lange nicht vergessen. Das unerwartet Initiativen eher zurückziehen? Nein, das sollten sie harte Vorgehen der Regierung gegen die Demonst- keinesfalls, so Martin Schön, der das Förderpro- ranten hat der belarussischen Gesellschaft wie auch gramm Belarus koordiniert. Denn weder der dritte denjenigen in Deutschland, die sich seit Jahren mit Sektor in Belarus noch die belarussische Regie- Belarus beschäftigen, einen tiefen Schock versetzt. rung ist ein monolithischer Block. Einige zivilge- Während in den letzten Jahren der Dialog zwischen sellschaftliche Akteure haben in den letzten Jahren Belarus und der EU auf eine Liberalisierung des Kooperationen mit Vertretern staatlicher Instituti- östlichen Nachbars hindeutete, hat das Regime nun onen aufgebaut und werden von diesen oftmals als die Tür zum Westen zugeschlagen und sich erneut Experten eines relevanten Themas wahrgenom- in Richtung Russland orientiert (Seite 6). Nichts- men, so beispielsweise im Bereich Erneuerbare destotrotz müssten die Debatten um die politische Energien. Dieser Dialog müsse auch in schweren Zukunft des Landes mit der belarussischen Regie- Zeiten unbedingt fortgeführt werden (Seite 31). rung weitergeführt werden – so Aleksandr Klaskovs- kij, der auf den Seiten sieben und acht im Interview In den letzten Tagen schaut die Welt ratlos auf ein erklärt, warum die EU einer differenzierten Bela- anderes Land: die Bilder vom explodierten Reaktor rus-Strategie bedarf. Besonders in Polen wird die in Fukushima schockierten Atomgegner wie auch Frage nach der politischen Zukunft der Belarussen Befürworter der Atomenergie weltweit. Während diskutiert. Polen hat sich in den vergangenen Jah- wir noch vor kurzem dafür kämpfen mussten, dass ren stärker als die meisten anderen EU-Mitglieder Tschernobyl nicht aus der öffentlichen Debatte für Belarus engagiert und so mit Deutschland eine verschwindet, findet sich in den letzten Tagen in Vorreiterrolle in der Ost-Politik der EU eingenom- fast jeder deutschen Zeitung eine Chronologie der men. Auf die heutige Situation in Belarus reagierte Ereignisse vom April und Mai 1986. Dringender Polen schnell und zielgerichtet (Seiten 9 bis 11). denn je stellt sich die Frage, warum aus Tscherno- byl keine Konsequenzen gezogen wurden, warum Neben den politischen Akteuren (Opposition: die Mahnung verpuffte und nun erneut Menschen Seiten 20 und 21) sind allerdings auch weitere ge- zu Opfern einer Technologie wurden, die vielerorts sellschaftliche Bereiche von den staatlichen Re- als sicher und ungefährlich gilt. Waren Begriffe pressionen betroffen. Maryna Rachlej beschreibt wie „Sperrzone“ und „Sarkophag“ gestern noch in ihrem Artikel auf den Seiten 12 bis 14, inwie- Tschernobyl vorbehalten, so hat sich dies durch Fu- fern Journalisten zu Opfern der Ereignisse am 19. kushima verändert. Dezember wurden. Unabhängig davon, dass einige Journalisten für ihr gesellschaftliches Engagement Unsere Gedanken sind heute bei den Menschen in abgestraft wurden, stellt sich grundsätzlich die Fra- Japan, die unter dieser furchtbaren Tragödie lei- ge, wie Journalisten ihrer Pflicht, die Bevölkerung den. Gleichzeitig hoffen wir, dass gesellschaftliche auch über Ereignisse wie die Demonstration am und politische Akteure weltweit endlich verstehen, 19. Dezember zu informieren, nachgehen können, „dass das kriegerische und das friedliche Atom ohne staatlichen Repressionen ausgesetzt zu sein. Zwillinge sind“ (Swetana Alexijewitsch „Tscherno- byl. Eine Chronologie der Zukunft“). Auch die NGO-Szene ist durch die Ereignisse tief verunsichert. Wie kann die Arbeit zivilgesellschaft- licher Organisationen unter solchen Bedingungen Ihr fortgesetzt werden? Macht es unter den gegebenen Peter Junge-Wentrup
Inhalt 6 12 Foto: bymedia.net Foto: bymedia.net Belarus in der Falle? Vor Gericht und hinter Gittern Wie Russland die Präsidentschafts- Journalisten in Belarus wahlen 2010 für seine Interessen nutzte Mit den Präsidentschaftswahlen 2010 kam die Der 19. Dezember 2010 veränderte das Leben Gefahr auf, dass Belarus dem Einfluss Moskaus unabhängiger Journalisten in Belarus schlagartig. entgleiten könnte. Dieses systemische Versagen Einerseits gibt es viel mehr Arbeit: Mehr Gerichts- wäre unumkehrbar gewesen, deshalb entschied verhandlungen und mehr Beschwerdeanrufe von sich der östliche Nachbar für eine Strategie, die Lesern in den Redaktionen. Andererseits wird Belarus dauerhaft in seinen Einflussbereich zu- nun über Journalisten Gericht gehalten. rückholen sollte Außenpolitik Innenpolitik Belarus in der „Kreml-Falle“ 6 Journalisten in Belarus 12 Dialog mit der EU 7 Politische Gefangene 15 Beziehungen zu Polen 9 Opposition in der Krise 20 Wirtschaft & Umwelt 25 Jahre nach Tschernobyl Belarussische Wirtschaft nach SPD lädt Initiativen ein 26 dem 19. Dezember 22 Publikation zur Solidaritätsbewegung 26 „Verlorene Orte / Gebrochene Biografien“ 27 4 Belarus Perspektiven Nr. 51 01 / 11
Inhalt 26 31 Foto: Ukrinform-Archiv Foto: IBB Debatte zu Tschernobyl Dialog in schweren Zeiten SPD-Fraktion lädt Initiativen in den Kooperationen müssen fortgesetzt Bundestag ein werden Eine Einladung nach Berlin zur Konferenz „Tscher- Das Förderprogramm Belarus der Bundesregie- nobyl mahnt“ hat die SPD-Bundestagsfraktion an rung setzt seit acht Jahren auf einen Dialogansatz die Vereine und Initiativen ausgesprochen, die sich in der Förderung der belarussischen Zivilgesell- in der Tschernobyl-Hilfe engagieren. Für den 13. schaft: NGOs kooperieren auf Arbeitsebene mit April 2011 ab 13 Uhr haben die Bundestagsabge- Behörden und können so mittelfristig Erfolge ordneten Oliver Kacmarek, René Röspel und Uta erzielen. Durch die Ereignisse des 19. Dezember Zapf eine Konferenz vorbereitet, die Dr. Frank- und das harte Vorgehen der Staatsmacht sind gro- Walter Steinmeier, Vorsitzender des SPD-Bundes- ße Teile der Zivilgesellschaft verunsichert. Welche tagsfraktion eröffnen wird. Konsequenzen ergeben sich dadurch für die Dia- logstrategie? NGO/Gesellschaft Publikationen Zivilgesellschaft in Belarus 28 Lesebuch Polozk 33 Dialog in schweren Zeiten 31 Buch über Johannes Rau 34 Belarus-Veranstaltungen in Berlin 32 Editorial 3 Inhalt 4 Chronologie 18 Impressum 35 01 / 11 Nr. 51 Belarus Perspektiven 5
Außenpolitik Die Wahlen 2010: Belarus in der Kreml-Falle Mit den Präsidentschaftswahlen 2010 kam die Gefahr auf, dass Belarus dem Einfluss Moskaus entgleiten könnte. Dieses systemische Versagen wäre unumkehrbar gewesen, deshalb entschied sich der östliche Nachbar für eine Strategie, die Belarus dauerhaft in seinen Einflussbereich zurückholen sollte. Ein Kommentar von Leonid Zaiko, Minsk Den Verlust von Belarus hätte das russische Volk den Wahlen in Belarus nichts Gutes erwarte. In nie verziehen – weder Medvedev, noch Putin. Die Belarus hingegen formierte sich zunehmend die russische Führung war also gezwungen, Maßnah- Ansicht, dass der Kreml die Wahlergebnisse nicht men zu ergreifen. Was war zu tun? Auf die Abset- anerkennen würde. Den Westen stimmten diese zung des unliebsamen belarussischen Präsidenten, Aussichten hingegen optimistisch. Man hatte sich der in den vergangenen Jahren zunehmend auch mit gar nicht so sehr ins Zeug legen müssen und der dem Westen geliebäugelt hatte, durch die Wahlen Kreml ließ Lukašenko scheinbar trotzdem ziehen. hinarbeiten? Es gab zu wenig Zeit und auch kaum Gleichzeitig vermutete eine Reihe von Politik- entsprechend entwickelte Szenarien. Lukašenko beobachtern, vor allem aus Russland, dass einige mit politischen Mitteln aus dem Amt zu befördern, Länder der EU die Wahlen anerkennen würden. machte also wenig Sinn. Solche Maßnahmen hätten Es entstand eine allgemeine Begeisterung im Wes- zudem dazu führen können, dass die EU zukünftig ten über den bevorstehenden Sieg über das dikta- den Kreml ersetzen könnte. Dies wäre eine stra- torische Regime. Beim Kreml gingen die Alarm- tegische Niederlage gewesen und der schleichende glocken an, dass ihn sowohl Lukašenko, als auch Zerfall der Zollunion eine schwere Beschädigung der Westen ausspielen könnte. Es war an der Zeit, der Organisation des Vertrags über Kollektive Si- diesen Aktivitäten ein Ende zu setzen und Bela cherheit (OVKS). Zwar bereitete eine Reihe von rus wieder auf seine Seite zu ziehen. Ende No- Spezialisten pro-russische Kandidaten vor, aber vember, Anfang Dezember wurde die Situation die vergangene unfähige russische Außenpoli- ernster. Nicht nur in Minsk, sondern auch in den tik gegenüber Belarus erlaubte keine Lösung des benachbarten Hauptstädten sorgten die Medien für „Personalproblems“ in der Gegenwart. Lukašenko großen Lärm. Das polnisch-deutsche Außenminis- beobachtete gereizt dieses Spiel und machte die terduo besuchte Belarus, zuvor war Grybauskaite pro-russischen Kandidaten zu seiner Zielscheibe. da gewesen. Moskau befürchtete einen point of no Vladimir Nekljaev und Andrej Sannikov wurden return. Das hätten den Zerfall der Zollunion und als „pro-russische Alternative“ gehandelt und von eine Krise in der OVKS bedeutet, Belarus wäre in allen oppositionellen Präsidentschaftskandidaten Brüssels Einflusszone geraten. Wie also das Prob- galt ihnen die meiste öffentliche Aufmerksamkeit. lem lösen? Putin beschloss Lukašenko in die Enge Die Medien stellten sie als Moskaus Kandidaten zu treiben, ihn unumkehrbar in die russische Sphä- vor und suggerierten gleichzeitig, dass alles, was re zu ziehen. Er griff auf eine bewerte Methode aus sie taten, anti-belarussisch und pro-russisch sei. sowjetischen Zeiten zurück: „Erwürgen durch Um- Aus diesem Grund waren sie zum Scheitern verur- armung“. Diese Methode hatten vor allem westli- teilt und der Kreml konnte nicht auf die absehbare che Geheimdienste im Kalten Krieg angewendet. Niederlage setzen. So etwas konnte sich Vladimir Die neue Generation der belarussischen Eliten Putin als KGB-Spezialist der Sowjetzeit nicht er- erinnert sich nicht mehr daran, doch Putin hatte lauben. Im Umgang mit Lukašenko mussten feine- bei Menschen gelernt, die professionell mit solchen re Mechanismen zum Einsatz kommen. Noch im Techniken gearbeitet hatten. Sidorski fuhr also November tat der Kreml so, als seien die Wahlen nach Moskau, um einige Fragen der Zollunion zu in Belarus eine zweitrangige Angelegenheit. Med- besprechen und beachtenswert ist, dass Putin und vedev äußerte Journalisten gegenüber, dass er von er rein gar nichts vereinbarten – die „Nullnummer“ 6 Belarus Perspektiven Nr. 51 01 / 11
Außenpolitik sozusagen. Putin wollte, Lukašenko nach Moskau mung des Regierungsgebäudes in Minsk am Abend locken und schuf während der Gespräche mit Si- nach der Stimmenauszählung. Moskau schürte die dorski eine Atmosphäre der möglichen Zusammen- Ängste der belarussischen Regierung, Ziel war ein arbeit. Diese Chance konnte sich Lukašenko nicht „starkes Handeln des Regimes zur Verteidigung entgehen lassen, er musste nach Moskau reisen. In der konstitutionellen Ordnung“. Putin genügte es, Moskau ereignete sich dann ein Wunder: Medve- dass der Westen wegen der Gewaltanwendung auf dev änderte seine Position und unterschrieb alles die Zusammenarbeit mit Lukašenko verzichtete. im Zusammenhang mit der Zollunion. Lukašenko Es musste nur noch die Jugend zum Regierungsge- wurde zum Vorsitzenden der OVKS. Die demokra- bäude geleitet werden, dazu nutze Moskau die Op- tisch eingestellten Eliten in Belarus fühlten sich position. Zudem mussten die Polizeikräfte in ihrer plötzlich wie in einer Szene aus Gogols „Der Revi- anti-westlichen Wut angestachelt werden. Auch sor“: „Was? Warum? Wieso?“ Nur zehn Tage vor dies gelang. Die Bilanz: mit unserem heutigen Prä- den Wahlen stand der Kreml plötzlich auf der Sei- sidenten wird Belarus per Definition niemals in te Lukašenkos und sicherte ihm eine jährliche Zu- Richtung Westen gehen können. Finanziell und wendung von vier Milliarden Dollar zu. Lukašenko politisch ist jetzt nur noch eine Ausrichtung auf jubelte – nur ein paar Tage in Moskau und er kam den Kreml möglich, der Kreml schuf einen „Krei- mit 20 Milliarden Dollar für die nächsten fünf Jah- dekreis“ um das belarussische Regime. Dabei galt: re zurück. Dazu noch Erdöl zum Abwinken. Sieg! Je mehr Verhaftete, umso besser für Moskau. Putin Sieg! Das war die erste Phase der Kreml-Falle. Die hat gewonnen, er hat Belarus in die Kreml-Falle ge- anschließenden Wahlen waren lächerlich und un- trieben. Er diskreditierte Lukašenko in den Augen nötig geworden. Phase zwei im Szenario begann. der europäischen, amerikanischen und russischen Putin und seine Helfer mussten nun nur noch Intellektuellen endgültig und unumkehrbar – diese Aleksandr Lukašenko auf die EU und die USA het- Niederlage müssen wir ruhig und besonnen aner- zen. Dies erwies sich nicht als besonders schwer. kennen. Doch es ist an der Zeit, dass wir auch ler- Man streute Informationen über die bevorstehen- nen gegen den Kreml zu gewinnen. Alle zehn Prä- den Aktivitäten der Opposition, seltsamerweise sidentschaftskandidaten müssen dies lernen, allein wussten einige unserer hochgestellten Beamten das könnte sie vereinen – im Namen eines Landes, schon Tage zuvor von der bevorstehenden Stür- das Gefahr läuft, sich selbst zu verlieren. Die Zusammenarbeit zwischen der EU und Belarus bedarf einer differenzierteren Herangehensweise Der politische Journalist Aleksandr Klaskovskij bezeichnet in seinem Interview mit der Deutschen Welle, die Entwicklung der belarussisch-europäischen Beziehungen als einen „Test auf Handhabung der Moralprinzipien“. Der Experte meint, der Dialog sei nach dem 19. Dezember mehr als notwendig, die Sanktionen müssten „ausgewogen dosiert“ werden. Das Interview ist am 10. Februar 2011 auf www.dw-world.de/belarus erschienen und wird mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Welle abgedruckt. Wie sollten sich die Beziehungen der EU zu Bela Belarus ist ein multidimensionaler Begriff. Die rus, nach dem Verhängen von Einreiseverboten für Regierungspropaganda stellt das Land zwar sehr belarussische höhere Beamte, gestalten? In wel- einseitig dar, aber die Soziologen sprechen von chen Bereichen und mit welchen gesellschaftlichen einer gesellschaftlich-politischen Spaltung. Grob Gruppen wäre eine belarussisch-europäische Zu- gesagt ist ein Drittel der Gesellschaft entschieden sammenarbeit möglich? gegen die heutige Regierung. Die EU reduziert 01 / 11 Nr. 51 Belarus Perspektiven 7
Außenpolitik ihre Kontakte zu den staatlichen Strukturen auf wille steht: „Je härter desto besser, noch ein Hieb ein Minimum, legt aber hohen Wert auf die Zu- und das kriminelle Regime wird fallen“. Doch die- sammenarbeit auf gesellschaftlicher Ebene. Diese se Strategien verschlechtern nur die Situation der differenzierte Herangehensweise ist hier eine op- belarussischen Zivilgesellschaft, wenn nicht sogar timale Formel. Natürlich ist es in der Praxis sehr die globalen Zukunftsperspektiven des Landes. Es schwierig, die „Sterilität“ dieser Strategie einzuhal- wäre vielleicht sinnvoll, das Instrumentarium der ten. Ich glaube, dass der Kontakt zu den Staatsbe- Sanktionen zu variieren. Beispielweise fürchtet amten auch nicht vollständig abgebrochen werden sich heute das belarussische Regime viel mehr vor sollten, denn diese Gruppe ist ebenfalls sehr he- Russland als vor der EU. Eventuell wäre eine An- terogen. Selbstverständlich sind viele eingeschüch- drohung wirtschaftlicher Sanktionen richtig. Denn tert und trauen sich nicht ihre Meinung offen zu die Androhung ist manchmal effektiver als ihre tat- äußern. Wir können nicht davon ausgehen, dass sächliche Umsetzung. Dies alles liegt im Feld der sie alle Dickschädel sind, denen die Sanktionen, politischen Diskussionen in der EU. Missachtung und eventuelle Lustration ganz egal sind. Eine Veränderung kann in dieser Hinsicht nur durch Einmischung von Seiten der EU initiiert Sie haben die Unvermeidlichkeit politischer Debat- werden. Das belarussische Regime ist eine harte ten über die Situation in Belarus angesprochen. Ist Nuss. Daher ist es eine Art Test auf Handhabung denn die belarussische Regierung bereit, diese Art der Moralprinzipien, selbst für Europa. von Debatten mit der EU und der Opposition zu führen? Wie schätzen Sie die Aufrufe ein, belarussische Innerlich ist die Regierung dazu bereit. In dieser Sportler von den internationalen Wettbewerben Situation wäre es naiv, komplizierte Denkvor- auszuschließen oder die Hockey-Weltmeisterschaft gänge zu erwarten. Diese Regierung rechnet nur in Belarus 2014 zu boykottieren? mit Gewalt. Aber auch andere Methoden könnten wirksam sein, wie zum Beispiel Visa-Sanktionen Das ist eine schwierige Frage. Viele kritisieren die oder eine „geopolitische Zange“, wenn Russland EU und ihre angeblich zu schwachen Sanktionen ebenfalls den Druck erhöht. Und natürlich die Un- gegen Belarus. Dabei entsteht jedoch die Frage, in- terstützung der Zivilgesellschaft. Dieser Faktoren wiefern totale Sanktionen überhaupt möglich wä- könnten dazu beitragen, dass in Belarus künftig ren, und inwiefern diese die gesellschaftliche An- nicht nur ein Pseudo-Rat mit dem Präsidenten an tipathie der Diktatur gegenüber fördern würden. der Spitze tagt. Vielleicht wird die Regierung be- Ich nehme an, die belarussische Regierung wird greifen, dass ohne Diskussion, ohne einen nationa- die Gefühle der Enttäuschung der Fans ausspielen len „Runden Tisch“ die Entwicklung des Staates in und Europa in einem ungünstigen Licht darstel- einer Sackgasse enden wird. Polen hatte ebenfalls len, so als wäre für die EU nichts heilig, wenn sie ein verknöchertes kommunistisches System, doch sogar den Sport politisch instrumentalisiert. Je- es wurde ein Höhepunkt erreicht und die Kom- denfalls müssten die Sanktionen ausgewogen do- munisten setzten sich mit der Opposition an einen siert sein. Es wäre naiv anzunehmen, dass man die Tisch. Das System wurde transformiert. Wenn sich letzte Diktatur Europas auf Anhieb stürzen kann. zuvor schon ein solch steifes Regime weiterentwi- Ich bin der Meinung, dass hinter den gradlinigen ckeln konnte, würde ich die Situation in Belarus Strategien der Opposition auch egoistischer Eigen- keinesfalls als fatal einschätzen. 8 Belarus Perspektiven Nr. 51 01 / 11
Außenpolitik Mehr als andere für Belarus… Polen reagierte erstaunlich schnell auf die Ereignisse in Belarus nach dem 19. Dezember. Auch zwei Monate später bleibt Bela rus ein Thema auf Polens Agenda, das mitunter in innenpolitischen Debatten instrumentalisiert wird. Aleksej Šhota, Krakau Als die EU den Dialog mit Belarus forcierte, erhoff- als direkte Anerkennung der Legitimität der anste- te sie sich wenigstens minimale Verbesserungen in henden Wahlen betrachtet. Zudem wurde der pol- der Frage der Menschenrechte und der Rechts- nischen Regierung mit der Bürgerplattform an der staatlichkeit. Auf die Zusammenarbeit mit Belarus Spitze auch schon früher überzogener politischer setzten vor allem die Nachbarn, die angrenzenden Realismus, mangelnde Unterstützung der illegalen Staaten der EU und des Schengener Raums, Polen polnischen Union und die Koketterie mit Lukašenko und Litauen. Auch Deutschland blieb nicht außen vorgeworfen. Nicht wenige Stimmen kritisierten vor – der unumstrittene Anführer der Ostpolitik im auch die pro-russische Orientierung des Premier- vereinten Europa. Während die litauisch-belarus- ministers Donald Tusk. Gerade deshalb musste die sischen Beziehungen keine bedeutenden Probleme Reaktion Polens auf den 19. Dezember und die fol- aufwiesen (der einzige Streitpunkt war der Bau ei- genden Tage eindeutig und radikal sein. Das der nes AKWs in der unmittelbaren Nähe zur litaui- Versuch, Lukašenko zu demokratisieren, geschei- schen Grenze), war das Verhältnis zu Polen in den tert war, hätten einige auch als Sikorskis persönli- letzten fünf Jahren angespannt. ches Scheitern betrachten können. Polen ergriff deshalb selbst eine Reihe von Maßnahmen und Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2006 ent- setzte sich für Sanktionen im Rahmen der EU ein. brannte im Verband der Polen in Belarus ein Streit Sikorski veröffentlichte mit Guido Westerwelle, über die Legitimität der Mitgliederversammlung, Carl Bildt und Karel Schwarzenberg in der New die Angelika Borys zur Vorsitzenden gewählt hatte. York Times einen Artikel mit dem für sich spre- Ein Teil der Mitglieder wählte mit Unterstützung chenden Titel „Lukashenko the loser”. Auf seine des belarussischen Regimes einen eigenen Vorsit- vermeintlich vertraulich erhaltene Informationen zenden. Seit über fünf Jahren existieren im Land verweisend, bekräftigte er darin die umstrittene also zwei polnische Verbände: einer, der in Polen Diagnose, wonach Lukašenko lediglich circa 30 anerkannt ist, aber nicht in Belarus, und einer, des- Prozent der Stimmen erhalten habe. Wie die Mehr- sen Situation genau umgekehrt ist. Dieses Problem heit der Sanktionen der EU, tragen auch die polni- vergiftet seit Jahren die Beziehungen beider Staa- schen Maßnahmen hauptsächlich moralischen und ten und verhindert eine Intensivierung des Dialogs. symbolischen Charakter. Sie sind eher ein PR-Ver- Ein weiterer wichtiger Grund für Unstimmigkeiten such, der Welt zu zeigen, dass Polen die Situation zwischen Belarus und Polen ist die bedingungslose jenseits des Flusses Bug nicht egal ist. So war einer Unterstützung der belarussischen Opposition, die der ersten Schritte, den später auch Litauen und in Warschau schon seit Langem offizielle Politik Estland unterstützten, die Abschaffung von Konsu- ist. Das polnische Interesse an den Wahlen in largebühren bei der Erteilung polnischer Visa. Dies Belarus war dieses Mal größer, weil einer der oppo- erwies sich allerdings als Pseudoerleichterung, da sitionellen Kandidaten, der Wirtschaftsexperte die Mehrheit der Belarussen sich für die kurzzeiti- Jaroslav Romančuk, im gewissen Sinne ein „eige- gen Schengen-Visa bewirbt. Und von denjenigen, ner“ Kandidat für die polnische Minderheit war – die sich in der Vergangenheit um ein langfristiges ethnischer Pole und Ehrenmitglied der polnischen nationales Visum bemühten, fielen die meisten oh- Union. Die Versuche, die Beziehungen zu normali- nehin in die Kategorie von Bewerbern, die von den sieren, die Radosław Sikorski und Guido Wester- Gebühren befreit sind (Studenten, Kulturschaffen- welle gemeinsam unmittelbar vor den Wahlen un- de, Sportler usw.). Wie schon vor fünf Jahren zeigte ternahmen, wurden von vielen, besonders in den sich Polen bereit, belarussische Studenten aufzu- radikalen Kreisen der belarussischen Opposition, nehmen, die aus politischen Motiven von ihren 01 / 11 Nr. 51 Belarus Perspektiven 9
Außenpolitik Hochschulen suspendiert wurden. Die Ministerin len in Belarus hielt zwar nur ungefähr eine Woche für Wissenschaft und Hochschulbildung Barbara an, doch später erschienen noch einzelne themati- Kudrycka appellierte an die Solidarität der Hoch- sche Publikationen, mitunter auch seitenlange schulrektoren und so wird sich schon bald eine Analysen. Periodika, die sich seit Längerem für die Gruppe belarussischer Studenten auf den Weg Thematik interessieren, hielten das Interesse der nach Warschau machen, um dort einen Schnell- Gesellschaft über einen längeren Zeitraum wach. kurs Polnisch zu absolvieren. Diesmal wurden Sti- Mitte Januar brachte die Krakauer Wochenzeitung pendien für 150 Studenten, 50 Doktoranden und Tygodnik Powszechny eine umfassende Sonderbei- zehn wissenschaftliche Mitarbeiter bereitgestellt. lage heraus, in der polnische und belarussische Ex- Polen hat als erstes der westlichen Länder die Ein- perten die Ereignisse analysierten und Prognosen führung einer eigenen „Schwarze Liste“ mit bela- stellten. Zu den ständigen Beobachtern der Situati- russischen Staatsdienern verkündet, die in das on in Belarus zählen auch die Tageszeitungen Ga- Land nicht einreisen dürfen. Allem Anschein nach zeta Wyborcza und Rzeczpospolita. Das „Polni- ist die polnische Liste wesentlich länger als die, auf sche Radio” richtete auf seiner Internetseite eine die sich die EU verständigt hat. All diese Maßnah- spezielle Rubrik ein, in der ständig Hintergründe men ergriff Polen außerordentlich schnell, noch zu Belarus beleuchtet werden. Unterstützt wurde vor Ende 2010. Im neuen Jahr änderte sich die Po- die belarussische Zivilgesellschaft auch von den sition Polens nicht. Im Januar fand in Warschau einfachen polnischen Bürgern sowie Belarussen, eine Konferenz unter dem Titel „Kriegszustand in die in Polen leben, arbeiten oder studieren. In Belarus? Wie kam es dazu und was nun?“ statt, Warschau, Krakau und Lublin fanden Solidaritäts- auf die neben den Experten auch Verwandte von bekundungen statt. Am zentralen Platz in Krakau Polithäftlingen eingeladen wurden. Einem Teil von versammelten sich 200 Menschen, was für ein so ihnen wurde die Ausreise verweigert. Im Februar wenig populäres Thema wie Belarus, eine beachtli- wurde ebenfalls in Warschau eine Geberkonferenz che Zahl ist. In vielen Städten wurden Experten- veranstaltet, auf der Vorschläge von Polen, der EU treffen, Präsentationen und Konzerte organisiert. und den USA zur Unterstützung der belarussischen Eine große Solidaritätsaktion in mehreren Städten Opposition vorgestellt und ein Fond zur Unterstüt- gleichzeitig ist für den 25. März, den Unabhängig- zung der Demokratie ins Leben gerufen wurden. keitstag der Republik Belarus, geplant. Koordiniert Die Verwaltung des zentralen Stadtbezirks in War- wird das Vorhaben von der Inicjatywa Wolna schau versprach, der oppositionellen Internet- Białoruś, einer Warschauer Organisation, die Bela Plattform Charta-97 ein Büro zur Verfügung zu- russen und interessierte Polen in ihren Reihen ver- stellen. Auch der polnische Präsident Bronisław eint. Die Aktivitäten der polnischen Regierung Komorowski unterstützt die Regierung und im blieben allerdings nicht ohne Reaktion der bela- Speziellen das Außenministerium. Anfang Februar russischen Seite. Recht schnell unterstellten die sagte er, Polen tue mehr als andere EU-Mitglieder Sprachrohre der Präsidentenpropaganda, die Zei- für die belarussische Opposition, und äußerte sein tung „Sowjetisches Belarus“ und das Staatsfernse- Bedauern über das Fehlen eines guten Programms hen, Deutschland und Polen den Versuch eines für die Ostpolitik der EU. Gleichzeitig wies er dar- Staatsstreichs. Neben Sikorski und Westerwelle auf hin, dass für Veränderungen jedoch eine innere geriet auch der Vorsitzende des Europaparlaments Situation heranreifen müsse. Grundlegend anderer Jerzy Buzek ins Fadenkreuz: er wurde der Zusam- Meinung ist der Anführer der oppositionellen Par- menarbeit mit dem CIA und der Mitwirkung bei tei Recht und Gerechtigkeit Jarosław Kaczyński. der Verhaftung des anstößigen polnischen Populis- Nach ihm ist die Ostpolitik Polens gescheitert, weil ten Andrzej Lepper bezichtigt. Lepper, dessen Po- sie auf PR und kaltem Kalkül aufgebaut war. pularität in Polen die statistische Fehlertoleranz Kaczyński schonte in seiner Kritik auch Minister nicht übersteigt, erschien nach den Wahlen mehr- Sikorski nicht: er habe den Präsidentschaftskandi- mals im belarussischen Fernsehen, wo er als Ex- daten Nekljaev vor allem unterstützt, weil dieser perte und renommierter Politiker das Handeln der ein pro-russisches Image habe. Dies ist nicht die polnischen Regierung kritisierte. Etwas später war erste Situation in Polen, in der Belarus zu einem eine Ausgabe der neuen Talkshow „Offenes For- Instrument im innenpolitischen Kampf wird. Das mat“ im wichtigsten Fernsehkanal der „unfreundli- Problem blieb auch in den polnischen Medien nicht chen Politik“ Polens gewidmet. Direkt im An- unbeachtet. Das allgemeine Interesse an den Wah- schluss wurde der Dokumentarfilm „Der polnische 10 Belarus Perspektiven Nr. 51 01 / 11
Außenpolitik Bruch“ gezeigt, der Polen der Repressionen gegen- sischen Politik. Eine neue Maßnahme ist jedoch, über der belarussischen Bevölkerung in den polni- dass innerpolnische Debatten zur Diskreditierung schen Ostgebieten während der Zwischenkriegs- Polens bei den belarussischen Bürgern instrumen- zeit, der Politik der Polonisierung, der talisiert werden. Dass sich die Beziehungen pers- Kollaboration mit Hitler, des Antisemitismus und pektivisch normalisieren könnten, scheint momen- vieler anderer Verbrechen beschuldigt. Der Presse- tan nicht in Sicht, obwohl Lukašenko gezwungen sekretär des belarussischen Außenministeriums sein wird, künftig eine gute Zusammenarbeit mit Andrej Savinych bediente sich typischer sowjeti- der EU aufzubauen, wenn er nicht vollends unter scher Kriegsrhetorik, als er die Reaktionen der EU Moskaus Kontrolle geraten will. Der beste Weg auf die Situation in Belarus als Entfesselung eines zu solch einer Zusammenarbeit führt über Ver- Informationskrieges mit „allerlei Lügen und Pro- handlungen mit den Anführern der europäischen vokationen“ bezeichnete. Nicht wählerisch in sei- Ostpolitik, namentlich mit Deutschland und Po- nen Äußerungen zeigte sich auch das Staatsober- len. Aber Polen, das sein Gesicht nicht verlieren haupt. Aleksandr Lukašenko sprach von will und dessen Regierung sich den Vorwürfen der territorialen Ansprüchen, die Polen angeblich ge- eigenen Opposition stellen muss, beteuert offen, genüber Belarus hege. Seiner Meinung nach gibt es dass bis zur Freilassung aller politischer Gefan- gewisse Kreise, die davon träumen, dass „die Gren- gener eine Normalisierung nicht möglich sei. Die ze künftig bei Minsk“ verlaufe. In eine neue Runde belarussische Führung wird wohl versuchen, den ging auch der Streit um die „Polnische Karte“, de- bereits erprobten Weg zu gehen und entweder ei- ren Ausgabe die belarussische Führung seit deren nen Häftling nach dem anderen zu entlassen oder Einführung im März 2008 missbilligt. Die Abge- die Haftbedingungen zu verbessern, was bereits ordneten des belarussischen Parlaments haben jetzt abzusehen ist. Für jeden Schritt wird sie eine eine Untersuchung des Dokuments durch das Ver- entsprechende Reaktion des Westens erwarten. fassungsgericht initiiert, weil sie der Meinung wa- Für den Westen und damit auch für Polen ist es ren, dass diese die internationalen Rechtsnormen wichtig, nicht in diese Falle zu laufen und einen breche. Igor Karpenko, Mitglied der Repräsentan- zynischen Handel zu vermeiden. Die Zurückhal- tenkammer und einer der Initiatoren der Klage tung der westlichen Länder im Bezug auf Sanktio- zweifelt nicht daran, dass „das Gesetzt über die nen ist leicht erklärbar. Einerseits stimmt es, dass Polnische Karte, das ohne die Zustimmung der die wirtschaftlichen Sanktionen primär die Bevöl- belarussischen Seite verabschiedet wurde, den kerung treffen würden, was Lukašenko leicht zur Prinzipien der guten Nachbarschaft und des gegen- Dämonisierung des Westens missbrauchen könnte. seitigen Respekts zwischen den Staaten wider- Andererseits sollte aber auch nicht vergessen wer- spricht“. Als grundlegendes Problem betrachtet er den, dass die EU-Mitglieder eigene Interessen an die Diskriminierung einiger Bürger von Belarus. der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Belarus haben und die Einführung wirtschaftlicher Sank- Seine Meinung teilt auch der Vorsitzende des offi- tionen auch aus der Sicht dieser Interessen uner- ziellen Polen-Verbandes in Belarus, der Geschäfts- wünscht wäre. Die belarussischen Nachbarn Polen mann Stanislav Semaško. Die Karte teile die Polen und Litauen sind hier keine Ausnahmen. Gerade in „richtige“ und „falsche“ ein und sei überhaupt deshalb ist das völlige wirtschaftliche Embargo, das eine direkte Einmischung in die Angelegenheiten Jarosław Kaczyński vorschlägt, ein effektives, aber des benachbarten Staates. Empört ist Semaško ein unmögliches Instrument der Einflussnahme. auch über die Aufnahme seines Namens in die Die Antwort, die Kaczyński vom ehemaligen pol- „Schwarzen Liste“. Er hält es für eine Erniedrigung nischen Botschafter in Minsk Henryk Litwin auf und beabsichtigt sich an europäische Instanzen zu den Seiten der Zeitung Rzeczpospolita erhielt, war wenden. Es ist offensichtlich, dass das belarussi- in diesem Zusammenhang ein echter Ausdruck des sche Regime außer abgenützter Schablonen nach politischen Realismus: Polen kann den Dialog zur sowjetisch-imperialistischen Zuschnitt keine neu- Zeit nur von einer schwachen Position aus führen. en Ideen für einen medialen Kampf gegen Polen Damit ist es weder in der Lage, auf die Situation hat. Was nicht verwunderlich ist, dominiert doch der polnischen Union, noch auf die der Häftlinge diese Praxis schon die letzten 16 Jahre der belarus- wirklichen Einfluss zu nehmen. 01 / 11 Nr. 51 Belarus Perspektiven 11
Innenpolitik Vor Gericht und hinter Gintern Journalisten in Belarus Was den repressiven Umgang mit Journalisten angeht, so sind in Belarus bereits alle Rekorde gebrochen. So kommentier- te jedenfalls die Vorsitzende des belarussischen Journalistenverbandes Žanna Litvinna den Schuldspruch gegen Aleksandr Otroščenkov, Journalist und Pressesprecher des Ex-Präsidentenschaftskandidaten Andrej Sannikov. Wegen der Teilnahme an den Massenunruhen am 19. Dezember wurde Otroščenkov zu vier Jahren Haft verurteilt. Der 19. Dezember 2010 veränderte das Leben unabhängiger Journalisten in Belarus schlagartig. Einerseits gibt es viel mehr Arbeit: Mehr Gerichtsverhandlungen und mehr Beschwerdeanrufe von Lesern in den Redaktionen. Andererseits wird nun über Journalisten Gericht gehalten. Maryna Rachlei, Berlin In Belarus hatten die Mitarbeiter der politisch unabhängigen Zeitungen bereits vor den Wahlen weniger Chancen als ihre Kollegen aus der Staats- presse. Wenn ein Journalist die Regierungspolitik in Belarus kritisiert, kann für ihn die Akkreditie- rung für Presse-Konferenzen und offiziellen Ver- anstaltungen problematisch werden. Mahnungen und gerichtliche Vorladungen wird er hingegen zahlreich erhalten. Kurz vor dem Wahltag wandte sich der belarussische Journalistenverband an den Innenminister Anatolij Kulešov und seine Staats- sekretäre, um das Recht der Journalisten auf Prä- senz bei den Straßenaktionen anzusprechen. Ob eine Demonstration erlaubt ist oder nicht, die an- wesenden Journalisten erfüllen – genau wie die Mi- liz – ihre berufliche Pflicht, betonten die Bürger- rechtler. Viel erreichen konnte der Verband jedoch nicht: Am 19. Dezember wurden nach Angaben des belarussischen Journalistenverbandes 17 Verbands- mitglieder festgenommen und wegen der Teilnah- me an den Massenunruhen zu zehn bis 15 Tagen Haft verurteilt. Zwei Dutzend belarussischer und ausländischer Korrespondenten verbrachten einige Tage in Untersuchungshaft. Weitere zwei Dutzend Journalisten wurden beim Auseinanderjagen der Demonstranten verletzt. Vielen Journalisten wurde die Ausrüstung sowie jegliche Datenträger wegge- nommen oder beschädigt. 16 der Inhaftierten nach den Massenunruhen am 19. Dezember wurden von Amnesty International als politische Häftlinge an- Dar‘ ja Korsak, die erkannt. Sechs davon sind Mitglieder des unabhän- Ehefrau von gigen belarussischen Journalistenverbandes. Dazu Aleksandr gehören Natalja Radina, Redakteurin der Websei- Otroščenkov bei einer te Charta-97 und Irina Chalip, die Auslandskorre- Solidaritätsaktion. spondentin der russischen Novaja Gazeta und Ehe- Foto: bymedia.net frau des Ex-Präsidentenschaftskandidaten Andrej 12 Belarus Perspektiven Nr. 51 01 / 11
Innenpolitik Sannikov, der Chefredakteur der Zeitung Tovariš Eine Solidaritäts- Sergej Voznjak, sowie weitere Publizisten und Ak- kundgebung wird von tivisten wie Pavel Severinec, Aleksandr Feduta und den Sicherheitskräf- Dmitrij Bondarenko. Nicht alle von ihnen sind ten aufgelöst. Journalisten, dennoch setzt sich der Journalisten- Foto: bymedia.net verband für ihre Rechte ein. Bereits am 25. Dezember 2010 wurde die Redakti- on vom „Europäischen Radio für Belarus“ durch- sucht. Drei Tage später folgte die Durchsuchung der Redaktion von Naša Niva sowie der Wohnung des Waisenhaus, und erst nach dem die Öffentlich- Chefredakteurs Andrej Skurko. Nach der Durchsu- keit sich darüber empörte, wurde der Mutter von chung bei der Zeitungsredaktion von Borisovskije Chalip die beantragte Patenschaft zugesprochen. Novosti ist nur ein Wasserkocher zurückgeblieben. Chalip befindet sich seit dem 29. Dezember un- Nikolaj Aleksandrov, Chefredakteur der unabhän- ter Hausarrest und ist rund um die Uhr von zwei gigen Zeitung Brestskij Kurjer erhielt einen Brief KGB-Beamten umgeben. Es ist ihr verboten, Tele- mit Beleidigungen und Drohungen, unterzeichnet fonate entgegen zu nehmen oder die Wohnung zu von den „Belarussischen Patrioten“. Am 12. Janu- verlassen. Auch Sergej Voznjak wurde inzwischen ar wurde der Redakteur der Zeitung Novyj Čas entlassen, jedoch nur gegen die schriftliche Erklä- Aleksej Korol´ verhört, weil sein Mobiltelefon von rung, den Aufenthaltsort nicht zu verlassen. Kon- seinem Anbieter während der Demonstration auf takte zur Presse sind ihm nicht gestattet. Am 28. dem Platz der Unabhängigkeit lokalisiert wurde. Januar ist Natalja Radina freigekommen, ebenfalls Auch andere Journalisten wurden auf diese Weise gegen eine schriftliche Erklärung, den Aufent- vorgeladen, obwohl sie auf dem Unabhängigkeits- haltsort nicht zu verlassen sowie zu ihrem Sachver- platz ihrer Arbeit nachgingen. Der Radiokorres- halt zu schweigen. Alle Entlassenen werden nach pondent von Radio Racja Boris Goreckij kam ins wie vor der Organisation oder der Teilnahme an Gefängnis, nachdem er am 17. Januar vor dem den Massenunruhen bezichtigt. Zudem hatte das KGB-Gebäude die Angehörigen von Inhaftierten Justizministerium die Lizenzen der Anwälte ent- interviewt hatte. Zunächst wurde er zur „Prüfung zogen, die Chalip und ihren Ehemann, oder auch der Dokumente“ festgenommen, schließlich ver- die Politiker Pavel Severinec und Zmicer Daškevič urteilte ihn das Gericht wegen der Teilnahme an sowie den Ex-Präsedentenschaftskandidaten Ales‘ einer nicht erlaubten Demonstration zu 14 Tagen Michalevič verteidigt hatten. Angeblich wurde Haft. Das Gericht argumentierte, dass die Erfül- Chalips Anwälten die Lizenzen entzogen, weil sie lung der journalistischen Pflicht die Teilnahme an ihr die Rechtshilfe verweigert hatten. Den Fami- der Demonstration nicht ausschließe. Ein Zeuge lienangehörigen der Journalistin nach, hatte der von der Polizeit habe Goreckij dabei beobachtet, KGB die Anwälte unter Druck gesetzt. wie er politische Parolen ausrief. Aus dem selben Auch jetzt noch befinden sich drei Mitglieder des Grund wurde am 11. Februar der Korrespondent Journalistenverbandes in der Untersuchungshaft- der polnischen Gazeta Wyborcza Andrzej Poczo- anstalt des KGB – Pavel Severinec, Aleksandr Fedu- but zu 15 Tagen Haft verurteilt. Übrigens von einer ta und Dmitrij Bondarenko, sowie der Pressespre- Richterin, gegen die bereits ein Einreiseverbot in cher Andrej Sannikovs, Aleksandr Otroščenkov. die EU ausgesprochen wurde. Poczobut wurde im Über den Zustand von Dmitrij Bondarenko gibt Januar schuldig gesprochen und musste mit einer es kaum Informationen. Sein Anwalt hat ihn seit Strafe von 400 Euro büßen. Die Staatsanwaltschaft dem 29. Dezember nicht mehr gesehen. Auch dem legte gegen das Urteil Berufung ein – es sei nicht Anwalt von Aleksandr Feduta war der Kontakt streng genug gewesen. Symptomatisch ist die Situa- zu seinem Klienten zwischen dem 29. Dezember tion von Irina Chalip, die am 19. Dezember festge- und dem 1. Februar untersagt. In einem kurzen nommen wurde. Als sie vom Unabhängigkeitsplatz Gespräch mit seiner Frau, berichtete Otroščenkov dem russischen Radiosender Echo Moskvy über von Foltermethoden in dem KGB-Gefängnis. Die das brutale Vorgehen der Miliz beim Auseinan- Häftlinge würden gezwungen, gefesselt zu stehen derjagen der Demonstration berichtete, rissen ihr – nackt und breitbeinig. Sie würden in die Kälte die Milizionäre das Telefon aus der Hand. Ihrem rausgebracht, das Licht in der Zelle würden die dreijährigen Sohn drohte die Einweisung in ein Wächter nie ausschaltet. Außerdem werde der Zel- 01 / 11 Nr. 51 Belarus Perspektiven 13
Innenpolitik lenboden mit Farben auf Azetonbasis gestrichen, Präsidentenadministration, dem Repräsentanten- sodass die Häftlinge schädliche Dämpfe einatmen haus der Nationalversammlung, dem Ministerrat müssten. Am 2. Februar wurde Otroščenkov zu und dem Ministerium für Nachrichtenwesen ein vier Jahren Haft verurteilt, wegen angeblicher Be- offizielles Schreiben eingereicht und darin zu ei- weise, dass er den Präsidentenschaftskandidaten ner öffentlichen Diskussion des Mediengesetzes der Opposition begleitet und einen Bericht für ein aufgerufen. Es wurde darauf hingewiesen, dass die litauisches Internetportal angefertigt habe, mit derzeitige Gesetzespraxis erhebliche Schwächen dem er seit langer Zeit zusammenarbeite. Žanna und undemokratische Seiten aufzeige. Freiberufli- Litvina, die Vorsitzende des belarussischen Jour- che Journalisten würden gesetzlich nicht geschützt nalistenverbandes, bezeichnete diesen Schuld- und die Medienarbeit im Internet sei streng reg- spruch als „politisch motiviert“: Otroščenkov sei lementiert. Dunya Miyatowič hat als Vertreterin für seine Teilhabe an gesellschaftlich-politischen der OSZE den betroffenen Journalisten in Belarus Ereignissen bestraft worden. Im Januar erschien ihre Solidarität ausgesprochen. In ihrem Brief an eine Serie von Publikationen und Dokumentar- Natalja Radina betonte sie, dass sie mit Sorge die filmen, die angeblich von staatlichen Journalisten Entwicklung der Situation in Belarus verfolge und auf der Grundlage von Akten der Ordnungskräf- alles Mögliche im Rahmen ihres Amtes unterneh- te angefertigt worden waren. Viele von denen, die me. Sie versicherte, dass sie sich weiterhin bemü- heute hinter Gittern sitzen, wurden als Verbrecher hen werde, den Journalisten zu helfen, solange sie dargestellt. Als Beweise wurden aufgenommene sich in Gefahr befänden. Miyatowič überreichte Telefongespräche und Skype-Korrespondenzen he- den Journalistinnen eine Brosche in Form eines Solidaritätsaktion für rangezogen. Denjenigen, die sich durch diese Do- Herzen – als Symbol dafür, dass die Herzen Euro- die Politischen Gefan- kumentarfilme persönlich beleidigt fühlten, stehe pas mit den unabhängigen Journalisten in Belarus genen am 19. Januar der Rechtsweg offen, so die Staatsanwaltschaft. schlagen. Die belarussischen JournalistenInnen 2011 in Minsk. Apropos Rechtsweg: Am 8. Februar hat der Euro- setzen derweil ihre Arbeit fort – für sich und ihre Foto:bymedia.net päische Journalistenverband bei der belarussischen Kollegen, die ungewollt pausieren. 14 Belarus Perspektiven Nr. 51 01 / 11
Innenpolitik Wir wollen hier weg... Seit den Präsidentschaftswahlen in Belarus sind einige Monate vergangen, doch die Welle der Repression, die das Land seit der „blutigen Nacht“ des 19.Dezembers erfasste, lässt nicht nach. Zwar wurden längst diejenigen Demonstranten entlassen, die nur zwei Wochen Haft oder Geldstrafen für die Teilname an einer unerlaubten Demonstration bekamen. Diejenigen aber, die sich aktiver gezeigt hatten, Politiker, Aktivisten, Journalisten, die Vertrauten der oppositionellen Kandidaten, insgesamt 42 Personen, erwarten noch ihre Strafverfahren. Ein Kommentar von Jeanna Krömer, Berlin Nach Angaben des Menschenrechtezentrums Vjas- na befinden sich 32 Personen in Haft, zwei ste- hen unter Hausarrest und acht weitere dürfen die Stadt, in der sie gemeldet sind, nicht verlassen. 12 Verdächtige haben es geschafft, ins Ausland zu flie- hen. Nach Artikel 293 zu den „Massenunruhen“ können die Verdächtigen wegen der Teilnahme an der Demonstration vom 19. Dezember zu drei bis fünf Jahren Haft oder wegen der Organisation dieser zu fünf bis 15 Jahren verurteilt werden. Die ersten Urteile sind bereits gefallen, vier Aktivisten wurden zu Haftstrafen von drei bis vier Jahren ver- urteilt. Depressives Volk „Die Wochen nach den Wahlen waren der totale Horror“ – so eine junge Aktivistin von der Jungen Front. „Die Büros von allen unabhängigen Medien wurden von der Polizei aufgebrochen und geplün- 2010, am Tag nach den Wahlen und der Demons- Foto: bymedia.net dert“ – berichtet sie. „ Aktivisten und Politiker tration in Minsk schreibt der Journalist Aleksandr wurden nachts zu Hause verhaftet und von Unbe- Otroščenkov in seinem Facebook-Konto: kannten weggebracht. Von vielen hörte man dann wochenlang nichts. Die Anwälte hatten keinen 5:11 „Das Büro von Charter-97 wird demoliert.“ Zugang zu ihren Mandanten. Es gab Gerüchte, 6:37 „Um 6 Uhr morgens stürmte die Polizei die dass der schwer verletzte Präsidentschaftskandidat Wohnung von Dmitrij Bondarenko.“ (Koordinator Vladimir Nekljaev nicht mehr am Leben ist. Die der Kampagne „Europäisches Belarus“ und Refe- Handyanbieter arbeiten mit der Staatsführung zu- rent von Andrej Sannikov) sammen und diejenigen, deren Handy am 19. De- 6:52 „Die Polizei bricht bei mir ein.“ zember in der Nähe des Unabhängigkeitsplatzes lokalisiert wurde, werden zu Verhören in die Poli- Das war die letzte Nachricht von Otroščenkov. zei gerufen. Die Leute sind einfach geschockt. Ich Über zwei Monate hat er danach im KGB-Gefäng- leide seitdem an Schlaflosigkeit und und meinen nis verbracht. Otroščenkov ist Journalist und Pres- Bekannten geht es auch so. Viele sagen, dass sich sesekretär des Präsidentschaftskandidaten Andrej die Autokratie in Belarus nun endgültig in eine Sannikov. Am 19. Dezember hatte er der Demons- Diktatur verwandelt habe. Sie wollen ausreisen und tration beigewohnt. Die Videos, die dem Gericht sehen keinen anderen Ausweg. Man hatte nicht als Beweis für seine Teilnahme dienten, zeigen einmal Kraft und Lust, Weihnachten und Silvester lediglich, dass Otroščenkov keine rechtswidrigen zu feiern, alle sprachen über die Ereignisse. Wir Handlungen ausgeübt hat. Der Journalist leugnete nennen es Volksdepression“. Am 20. Dezember jegliche Schuld, nichtsdestotrotz wurde er zu vier 01 / 11 Nr. 51 Belarus Perspektiven 15
Innenpolitik Jahren Haft verurteilt. Die Vorsitzende der Bela- wurde. Blass und ohne die Augen zu heben, las er russischen Journalisten-Assoziation (BAJ) Žanna vor laufenden Kameras von einem Papier ab. Er Litvina kommentiert das Gerichtsurteil folgender- sagte sich los von seinen Mitstreitern, beschuldigte maßen: „Alle politischen Kampagnen dieser Grö- einige von Ihnen der „Organisation der Massen- ßenordnung enden in unserem Land damit, dass unruhen“ und benannte die „Schuldigen“. Dass der Druck auf Medien und Journalisten erhöht dies das Ende seiner politischen Karriere war, war wird. Unsere Kollegen sind erneut im Epizentrum allen sofort klar. Aus welcher Feder seine Worte Solidarität mit der der Repressionen, zusammen mit den Politikern allerdings stammten, fragen sich viele noch heute. Familie Chalip/ und den Menschenrechtlern. Diesmal wurden je- Gerüchten zufolge wurde Romančuk erpresst. In Sannikov. doch alle Rekorde, was die Repressionen gegen einem Radio-Interview ließ er diese Frage unbe- Foto: bymedia.net Journalisten angeht, gebrochen.“ Der Menschen- antwortet. Nikolaj Chalesin, der Leiter des „Freien rechtler Valjantsin Stefanovič beurteilt das Urteil Theaters“, der selbst seit Jahren verfolgt wird und so: „Das ist nur die Rache an diesen Leute. Es dessen ganze Theatergruppe nach den Wahlen aus liegen keine Beweisen für „Massenunruhen“ oder Belarus floh, behauptet in seinem Blog, der KGB den bewaffneten Widerstand vor.“ Amnesty Inter- habe Romančuk mit intimen Videos, die ihn mit national hat Aleksandr Otroščenkov inzwischen einem Mann zeigen, erpresst. In einem Land, in als Gewissensgefangenen anerkannt. dem Homosexualität vielerorts als Krankheit gilt, ein durchaus mögliches Szenario. Verräter, Helden, Opfer Nach den Wahlen und der blutigen Niederschla- Der Präsidentschaftskandidat Ales‘ Michalevič gung der Demonstration wurden alle Präsiden- wurde am 19. Februar aus dem KGB-Gefängnis tenkandidaten verhaftet. Viele von ihnen wurden entlassen, nachdem er unterschrieb, dass er die verletzt, so zum Beispiel Vladimir Nekljaev, der 64- Stadt nicht verlassen werde. Kurz danach erklär- jährige belarussische Dichter, der neben Sannikov te er, dass er gefoltert worden sei und beobachtet einer der populärsten oppositionellen Kandidaten habe, wie andere Häftlinge gefoltert wurden. Zu- war. Nekljaev und seine Gefolgsleute wurden auf dem erzählte er, dass man ihn erpresst habe, einen dem Weg zur Demonstration überfallen. Die An- Vertrag über die Zusammenarbeit mit dem Ge- greifer waren gut ausgerüstet, handelten professio- heimdienst zu unterschrieben und er nur aus die- nell und schlugen die Aktivisten brutal zusammen. sem Grund aus dem Gefängnis freigelassen wor- Die anwesenden Journalisten sollten sich „mit dem den sei. Michalevič behauptete, dass die Häftlinge Maul in den Schnee legen“. In Propaganda-Videos mit Licht und nur in einer bestimmten Position wurde später im belarussischen Fernsehen berich- schlafen dürften und deswegen an Schlaflosigkeit tet, dass sich in dem Bus der Aktivisten Waffen litten. Man habe die Häftlinge mit breit auseinan- befunden hätten. Die Journalisten hingegen sagten der gespreizten Beinen und mit den Händen an der aus, nur Tontechnik gesehen zu haben. Vladimir Wand in der Kälte stehen lassen. Die Aufseher hät- Nekljaev wurde mit einem Schädelhirntrauma auf ten immer wieder gegen die Innenseiten der Beine die Intensivstation eines Krankenhauses geliefert. der Häftlinge geschlagen. Im Gegensatz zu ande- Doch wenige Stunden später wurde er von „Män- ren Schlägen hinterließe diese Methoden keine nern in Schwarz“ entführt, die ihn auf einer De- Spuren der Folter. Den Häftlingen würden keine cke über den Boden schleiften. Der leitende Arzt Briefe zugestellt, sie hätten keine Möglichkeit, sich des Krankenhauses verharmloste die Diagnose des mit ihren Anwälten zu treffen. Einige Zellen sei- Patienten in den Dokumenten und gab am nächs- nen so überfüllt, dass man nur abwechselnd sitzen ten Tag sogar ein Interview, in dem er behauptete, könnte. Michalevič berichtete auch, dass in diesen Nekljaev habe die Klinik gesund und auf eigenen überfüllten Zellen der Fußboden mit einer stark Beinen verlassen. Nicht nur dieser Arzt wurde zum nach Azeton riechenden Farbe gestrichen worden Mittäter der Propaganda. Manch ein oppositio- sei, sodass die Häftlinge keine Luft und Kopf- neller Politiker, der soeben noch Mitstreiter war, schmerzen bekämen. „Diese Menschen werden wurde am Folgetag zum „Verräter“. Dies wurde vor mitten in der Hauptstadt gefoltert. Jemand muss allem dem Ex-Präsidentschaftskandidaten Jaroslav diesem Konzentrationslager ein Ende bereiten.“ Romančuk vorgeworfen – dem bekannten, jun- – so der Politiker. Der Leiter des KGB-Informa- gen Wirtschaftsexperte, der am Morgen nach den tionszentrums Aleksandr Antonovič dementierte Wahlen entlassen und direkt im Fernsehen gezeigt die Schilderungen von Michalevič: „Was die Folter 16 Belarus Perspektiven Nr. 51 01 / 11
Innenpolitik angeht, so entsprechen diese Behauptungen nicht Anklägern werden, die allen geforderten Urteilen der Wirklichkeit.“ Auch andere Häftlinge spra- zustimmen“ – so der Menschenrechtler. Sogar Kin- chen von Folter, so beispielsweise die Journalistin der werden in diesem Kampf zu Instrumenten, so Natalja Radina, die bis zu ihrem Gerichtsverfah- der Sohn von Irina Chalip und Andrej Sannikov, ren das Dorf, in dem sie gemeldet war, nicht ver- den die Behörden seiner Großmutter wegnehmen lassen darf. Nachdem sie behauptet hatte, dass sie und in einem Heim unterbringen wollten. Auch „Elektroschockgeräten“ aus den Nachbarzellen im der oppositionellen Aktivistin und Wahlbeobach- KGB-Untersuchungsgefängnis gehört habe, wurde terin Alena Davidovič aus der Stadt Masty hatte sie zur örtlichen Polizei bestellt und davor gewarnt, man gedroht, das Sorgerecht wegzunehmen. weitere Kommentare zu diesem Thema abzugeben – sonst müsse sie damit rechnen, wieder im Gefäng- Liberalisierung gescheitert nis zu landen. Nur wenige Informationen geraten Die Liberalisierung des Landes, die sich die EU- aus dem Gefängnis an die Öffentlichkeit. Unklar Länder und die belarussische Opposition erhofft bleibt, wie es oppositionellen Politikern wie Andrej hatten und an die sie schon fast geglaubt hatten, Sannikov, Nikolaj Statkevič und Anatolij Lebedko ist nicht gelungen. Nach den Täuschungsmanövern geht, dem Wissenschaftler Aleksandr Feduta, meh- vor den Wahlen hat im Lande eine präzedenzlose rere jüngeren Aktivisten oder auch einigen Men- Welle der Repressionen stattgefunden. In den ver- schen, die eher zufällig in Haft geraten sind und gangenen 14 Jahren wurde eine friedliche Demons- nun von dem Regime als Geiseln genutzt werden, tration nie so hart niedergeschlagen und die Me- um später von Europa und den USA möglichst viel dien litten nie so stark unter dem Würgegriff des zu erpressen. Regimes wie heute. Nie hatte es eine Situation ge- geben, in der alle oppositionellen Anführer gleich- No Rules zeitig im Gefängnis waren. Lukašenkos Aussage Anwälte, die es wagen politische Gefangene zu zu den Protesten war bezeichnend: „Ich spucke auf schützen, verlieren desöfteren ihre Lizenz und ihre Kommentare. Das sind böse Menschen, die können ihren Beruf nicht mehr ausüben. Mindes- die Ehre vergessen haben. […] Diese Opposition tens sechs Anwälten, die sich bereit erklärt hatten, wird das volle Programm an die Birne bekommen, die Interessen der Angeklagten nach dem 19. De- wenn sie die Situation im Lande destabilisieren zember zu vertreten, wurde die Lizenz entzogen. will“. In Anbetracht der heutigen Lage muss man Valjantsin Stefanovič meint dazu: „Es ist offen- die Aussagen des Präsidenten wortwörtlich verste- Proteste am 19. De- sichtlich, dass die Machthaber die Anwälte inst- hen und sollte sich sicherlich keine Illusionen über zember 2010 in Minsk rumentalisieren wollen. Die Verteidiger sollen zu eine baldige Liberalisierung machen. Foto: bymedia.net 01 / 11 Nr. 51 Belarus Perspektiven 17
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