BELARUS NACH DEN WAHLEN - Insider analysieren, Initiativen berichten.

Die Seite wird erstellt Lui-Horst Hanke
 
WEITER LESEN
01 / 11 Winter 2011 ISSN 1616-7619 4,- € K 46699

                                                   Insider analysieren, Initiativen berichten.

                                BELARUS NACH DEN WAHLEN
Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

„Belarus nach den Wahlen“ lautet der Titel dieser       Umständen überhaupt Sinn, die Kooperationen, die
Ausgabe der Belarus Perspektiven.                       beispielsweise im Rahmen des Förderprogramms
Den 19. Dezember und die Ereignisse infolge der         Belarus in den letzten Jahren entstanden sind,
Wahlen werden viele Menschen in Belarus und in          fortzusetzen oder sollten sich zivilgesellschaftliche
Deutschland lange nicht vergessen. Das unerwartet       Initiativen eher zurückziehen? Nein, das sollten sie
harte Vorgehen der Regierung gegen die Demonst-         keinesfalls, so Martin Schön, der das Förderpro-
ranten hat der belarussischen Gesellschaft wie auch     gramm Belarus koordiniert. Denn weder der dritte
denjenigen in Deutschland, die sich seit Jahren mit     Sektor in Belarus noch die belarussische Regie-
Belarus beschäftigen, einen tiefen Schock versetzt.     rung ist ein monolithischer Block. Einige zivilge-
Während in den letzten Jahren der Dialog zwischen       sellschaftliche Akteure haben in den letzten Jahren
Belarus und der EU auf eine Liberalisierung des         Kooperationen mit Vertretern staatlicher Instituti-
östlichen Nachbars hindeutete, hat das Regime nun       onen aufgebaut und werden von diesen oftmals als
die Tür zum Westen zugeschlagen und sich erneut         Experten eines relevanten Themas wahrgenom-
in Richtung Russland orientiert (Seite 6). Nichts-      men, so beispielsweise im Bereich Erneuerbare
destotrotz müssten die Debatten um die politische       Energien. Dieser Dialog müsse auch in schweren
Zukunft des Landes mit der belarussischen Regie-        Zeiten unbedingt fortgeführt werden (Seite 31).
rung weitergeführt werden – so Aleksandr Klaskovs-
kij, der auf den Seiten sieben und acht im Interview    In den letzten Tagen schaut die Welt ratlos auf ein
erklärt, warum die EU einer differenzierten Bela-       anderes Land: die Bilder vom explodierten Reaktor
rus-Strategie bedarf. Besonders in Polen wird die       in Fukushima schockierten Atomgegner wie auch
Frage nach der politischen Zukunft der Belarussen       Befürworter der Atomenergie weltweit. Während
diskutiert. Polen hat sich in den vergangenen Jah-      wir noch vor kurzem dafür kämpfen mussten, dass
ren stärker als die meisten anderen EU-Mitglieder       Tschernobyl nicht aus der öffentlichen Debatte
für Belarus engagiert und so mit Deutschland eine       verschwindet, findet sich in den letzten Tagen in
Vorreiterrolle in der Ost-Politik der EU eingenom-      fast jeder deutschen Zeitung eine Chronologie der
men. Auf die heutige Situation in Belarus reagierte     Ereignisse vom April und Mai 1986. Dringender
Polen schnell und zielgerichtet (Seiten 9 bis 11).      denn je stellt sich die Frage, warum aus Tscherno-
                                                        byl keine Konsequenzen gezogen wurden, warum
Neben den politischen Akteuren (Opposition:             die Mahnung verpuffte und nun erneut Menschen
Seiten 20 und 21) sind allerdings auch weitere ge-      zu Opfern einer Technologie wurden, die vielerorts
sellschaftliche Bereiche von den staatlichen Re-        als sicher und ungefährlich gilt. Waren Begriffe
pressionen betroffen. Maryna Rachlej beschreibt         wie „Sperrzone“ und „Sarkophag“ gestern noch
in ihrem Artikel auf den Seiten 12 bis 14, inwie-       Tschernobyl vorbehalten, so hat sich dies durch Fu-
fern Journalisten zu Opfern der Ereignisse am 19.       kushima verändert.
Dezember wurden. Unabhängig davon, dass einige
Journalisten für ihr gesellschaftliches Engagement      Unsere Gedanken sind heute bei den Menschen in
abgestraft wurden, stellt sich grundsätzlich die Fra-   Japan, die unter dieser furchtbaren Tragödie lei-
ge, wie Journalisten ihrer Pflicht, die Bevölkerung     den. Gleichzeitig hoffen wir, dass gesellschaftliche
auch über Ereignisse wie die Demonstration am           und politische Akteure weltweit endlich verstehen,
19. Dezember zu informieren, nachgehen können,          „dass das kriegerische und das friedliche Atom
ohne staatlichen Repressionen ausgesetzt zu sein.       Zwillinge sind“ (Swetana Alexijewitsch „Tscherno-
                                                        byl. Eine Chronologie der Zukunft“).
Auch die NGO-Szene ist durch die Ereignisse tief
verunsichert. Wie kann die Arbeit zivilgesellschaft-
licher Organisationen unter solchen Bedingungen         Ihr
fortgesetzt werden? Macht es unter den gegebenen        Peter Junge-Wentrup
Inhalt

                       6                                                       12

                                                           Foto: bymedia.net                                        Foto: bymedia.net
                       Belarus in der Falle?                                   Vor Gericht und hinter Gittern
                       Wie Russland die Präsidentschafts-                      Journalisten in Belarus
                       wahlen 2010 für seine Interessen nutzte

                       Mit den Präsidentschaftswahlen 2010 kam die             Der 19. Dezember 2010 veränderte das Leben
                       Gefahr auf, dass Belarus dem Einfluss Moskaus           unabhängiger Journalisten in Belarus schlagartig.
                       entgleiten könnte. Dieses systemische Versagen          Einerseits gibt es viel mehr Arbeit: Mehr Gerichts-
                       wäre unumkehrbar gewesen, deshalb entschied             verhandlungen und mehr Beschwerdeanrufe von
                       sich der östliche Nachbar für eine Strategie, die       Lesern in den Redaktionen. Andererseits wird
                       Belarus dauerhaft in seinen Einflussbereich zu-         nun über Journalisten Gericht gehalten.
                       rückholen sollte

                       Außenpolitik                                            Innenpolitik

                       Belarus in der „Kreml-Falle“ 		  6                      Journalisten in Belarus 			                   12
                       Dialog mit der EU			   7                                Politische Gefangene		                        15
                       Beziehungen zu Polen		        	  9                      Opposition in der Krise 			                   20

                       Wirtschaft & Umwelt                                     25 Jahre nach Tschernobyl

                       Belarussische Wirtschaft nach                           SPD lädt Initiativen ein			              26
                       dem 19. Dezember		 	   22                               Publikation zur Solidaritätsbewegung     26
                                                                               „Verlorene Orte / Gebrochene Biografien“ 27

4   Belarus Perspektiven                                                                                            Nr. 51    01 / 11
Inhalt

26                                                       31

                                Foto: Ukrinform-Archiv                                              Foto: IBB
Debatte zu Tschernobyl                                   Dialog in schweren Zeiten
SPD-Fraktion lädt Initiativen in den                     Kooperationen müssen fortgesetzt
Bundestag ein                                            werden

Eine Einladung nach Berlin zur Konferenz „Tscher-        Das Förderprogramm Belarus der Bundesregie-
nobyl mahnt“ hat die SPD-Bundestagsfraktion an           rung setzt seit acht Jahren auf einen Dialogansatz
die Vereine und Initiativen ausgesprochen, die sich      in der Förderung der belarussischen Zivilgesell-
in der Tschernobyl-Hilfe engagieren. Für den 13.         schaft: NGOs kooperieren auf Arbeitsebene mit
April 2011 ab 13 Uhr haben die Bundestagsabge-           Behörden und können so mittelfristig Erfolge
ordneten Oliver Kacmarek, René Röspel und Uta            erzielen. Durch die Ereignisse des 19. Dezember
Zapf eine Konferenz vorbereitet, die Dr. Frank-          und das harte Vorgehen der Staatsmacht sind gro-
Walter Steinmeier, Vorsitzender des SPD-Bundes-          ße Teile der Zivilgesellschaft verunsichert. Welche
tagsfraktion eröffnen wird.                              Konsequenzen ergeben sich dadurch für die Dia-
                                                         logstrategie?

NGO/Gesellschaft                                         Publikationen

Zivilgesellschaft in Belarus 		             28           Lesebuch Polozk        		                  33
Dialog in schweren Zeiten 		                31           Buch über Johannes Rau 		                  34
Belarus-Veranstaltungen in Berlin           32

                                                         Editorial				                              3
                                                         Inhalt					                                4
                                                         Chronologie 				                           18
                                                         Impressum 				                             35

01 / 11   Nr. 51                                                                                            Belarus Perspektiven   5
Außenpolitik

Die Wahlen 2010:
Belarus in der Kreml-Falle
Mit den Präsidentschaftswahlen 2010 kam die Gefahr auf, dass Belarus dem Einfluss Moskaus entgleiten könnte. Dieses
systemische Versagen wäre unumkehrbar gewesen, deshalb entschied sich der östliche Nachbar für eine Strategie, die Belarus
dauerhaft in seinen Einflussbereich zurückholen sollte.
                                                                               Ein Kommentar von Leonid Zaiko, Minsk

                       Den Verlust von Belarus hätte das russische Volk     den Wahlen in Belarus nichts Gutes erwarte. In
                       nie verziehen – weder Medvedev, noch Putin. Die      Belarus hingegen formierte sich zunehmend die
                       russische Führung war also gezwungen, Maßnah-        Ansicht, dass der Kreml die Wahlergebnisse nicht
                       men zu ergreifen. Was war zu tun? Auf die Abset-     anerkennen würde. Den Westen stimmten diese
                       zung des unliebsamen belarussischen Präsidenten,     Aussichten hingegen optimistisch. Man hatte sich
                       der in den vergangenen Jahren zunehmend auch mit     gar nicht so sehr ins Zeug legen müssen und der
                       dem Westen geliebäugelt hatte, durch die Wahlen      Kreml ließ Lukašenko scheinbar trotzdem ziehen.
                       hinarbeiten? Es gab zu wenig Zeit und auch kaum      Gleichzeitig vermutete eine Reihe von Politik-
                       entsprechend entwickelte Szenarien. Lukašenko        beobachtern, vor allem aus Russland, dass einige
                       mit politischen Mitteln aus dem Amt zu befördern,    Länder der EU die Wahlen anerkennen würden.
                       machte also wenig Sinn. Solche Maßnahmen hätten      Es entstand eine allgemeine Begeisterung im Wes-
                       zudem dazu führen können, dass die EU zukünftig      ten über den bevorstehenden Sieg über das dikta-
                       den Kreml ersetzen könnte. Dies wäre eine stra-      torische Regime. Beim Kreml gingen die Alarm-
                       tegische Niederlage gewesen und der schleichende     glocken an, dass ihn sowohl Lukašenko, als auch
                       Zerfall der Zollunion eine schwere Beschädigung      der Westen ausspielen könnte. Es war an der Zeit,
                       der Organisation des Vertrags über Kollektive Si-    diesen Aktivitäten ein Ende zu setzen und Bela­
                       cherheit (OVKS). Zwar bereitete eine Reihe von       rus wieder auf seine Seite zu ziehen. Ende No-
                       Spezialisten pro-russische Kandidaten vor, aber      vember, Anfang Dezember wurde die Situation
                       die vergangene unfähige russische Außenpoli-         ernster. Nicht nur in Minsk, sondern auch in den
                       tik gegenüber Belarus erlaubte keine Lösung des      benachbarten Hauptstädten sorgten die Medien für
                       „Personalproblems“ in der Gegenwart. Lukašenko       großen Lärm. Das polnisch-deutsche Außenminis-
                       beobachtete gereizt dieses Spiel und machte die      terduo besuchte Belarus, zuvor war Grybauskaite
                       pro-russischen Kandidaten zu seiner Zielscheibe.     da gewesen. Moskau befürchtete einen point of no
                       Vladimir Nekljaev und Andrej Sannikov wurden         return. Das hätten den Zerfall der Zollunion und
                       als „pro-russische Alternative“ gehandelt und von    eine Krise in der OVKS bedeutet, Belarus wäre in
                       allen oppositionellen Präsidentschaftskandidaten     Brüssels Einflusszone geraten. Wie also das Prob-
                       galt ihnen die meiste öffentliche Aufmerksamkeit.    lem lösen? Putin beschloss Lukašenko in die Enge
                       Die Medien stellten sie als Moskaus Kandidaten       zu treiben, ihn unumkehrbar in die russische Sphä-
                       vor und suggerierten gleichzeitig, dass alles, was   re zu ziehen. Er griff auf eine bewerte Methode aus
                       sie taten, anti-belarussisch und pro-russisch sei.   sowjetischen Zeiten zurück: „Erwürgen durch Um-
                       Aus diesem Grund waren sie zum Scheitern verur-      armung“. Diese Methode hatten vor allem westli-
                       teilt und der Kreml konnte nicht auf die absehbare   che Geheimdienste im Kalten Krieg angewendet.
                       Niederlage setzen. So etwas konnte sich Vladimir     Die neue Generation der belarussischen Eliten
                       Putin als KGB-Spezialist der Sowjetzeit nicht er-    erinnert sich nicht mehr daran, doch Putin hatte
                       lauben. Im Umgang mit Lukašenko mussten feine-       bei Menschen gelernt, die professionell mit solchen
                       re Mechanismen zum Einsatz kommen. Noch im           Techniken gearbeitet hatten. Sidorski fuhr also
                       November tat der Kreml so, als seien die Wahlen      nach Moskau, um einige Fragen der Zollunion zu
                       in Belarus eine zweitrangige Angelegenheit. Med-     besprechen und beachtenswert ist, dass Putin und
                       vedev äußerte Journalisten gegenüber, dass er von    er rein gar nichts vereinbarten – die „Nullnummer“

6   Belarus Perspektiven                                                                                         Nr. 51   01 / 11
Außenpolitik

sozusagen. Putin wollte, Lukašenko nach Moskau        mung des Regierungsgebäudes in Minsk am Abend
locken und schuf während der Gespräche mit Si-        nach der Stimmenauszählung. Moskau schürte die
dorski eine Atmosphäre der möglichen Zusammen-        Ängste der belarussischen Regierung, Ziel war ein
arbeit. Diese Chance konnte sich Lukašenko nicht      „starkes Handeln des Regimes zur Verteidigung
entgehen lassen, er musste nach Moskau reisen. In     der konstitutionellen Ordnung“. Putin genügte es,
Moskau ereignete sich dann ein Wunder: Medve-         dass der Westen wegen der Gewaltanwendung auf
dev änderte seine Position und unterschrieb alles     die Zusammenarbeit mit Lukašenko verzichtete.
im Zusammenhang mit der Zollunion. Lukašenko          Es musste nur noch die Jugend zum Regierungsge-
wurde zum Vorsitzenden der OVKS. Die demokra-         bäude geleitet werden, dazu nutze Moskau die Op-
tisch eingestellten Eliten in Belarus fühlten sich    position. Zudem mussten die Polizeikräfte in ihrer
plötzlich wie in einer Szene aus Gogols „Der Revi-    anti-westlichen Wut angestachelt werden. Auch
sor“: „Was? Warum? Wieso?“ Nur zehn Tage vor          dies gelang. Die Bilanz: mit unserem heutigen Prä-
den Wahlen stand der Kreml plötzlich auf der Sei-     sidenten wird Belarus per Definition niemals in
te Lukašenkos und sicherte ihm eine jährliche Zu-     Richtung Westen gehen können. Finanziell und
wendung von vier Milliarden Dollar zu. Lukašenko      politisch ist jetzt nur noch eine Ausrichtung auf
jubelte – nur ein paar Tage in Moskau und er kam      den Kreml möglich, der Kreml schuf einen „Krei-
mit 20 Milliarden Dollar für die nächsten fünf Jah-   dekreis“ um das belarussische Regime. Dabei galt:
re zurück. Dazu noch Erdöl zum Abwinken. Sieg!        Je mehr Verhaftete, umso besser für Moskau. Putin
Sieg! Das war die erste Phase der Kreml-Falle. Die    hat gewonnen, er hat Belarus in die Kreml-Falle ge-
anschließenden Wahlen waren lächerlich und un-        trieben. Er diskreditierte Lukašenko in den Augen
nötig geworden. Phase zwei im Szenario begann.        der europäischen, amerikanischen und russischen
Putin und seine Helfer mussten nun nur noch           Intellektuellen endgültig und unumkehrbar – diese
Aleksandr Lukašenko auf die EU und die USA het-       Niederlage müssen wir ruhig und besonnen aner-
zen. Dies erwies sich nicht als besonders schwer.     kennen. Doch es ist an der Zeit, dass wir auch ler-
Man streute Informationen über die bevorstehen-       nen gegen den Kreml zu gewinnen. Alle zehn Prä-
den Aktivitäten der Opposition, seltsamerweise        sidentschaftskandidaten müssen dies lernen, allein
wussten einige unserer hochgestellten Beamten         das könnte sie vereinen – im Namen eines Landes,
schon Tage zuvor von der bevorstehenden Stür-         das Gefahr läuft, sich selbst zu verlieren.

        Die Zusammenarbeit zwischen
       der EU und Belarus bedarf einer
  differenzierteren Herangehensweise
Der politische Journalist Aleksandr Klaskovskij bezeichnet in seinem Interview mit der Deutschen Welle, die Entwicklung der
belarussisch-europäischen Beziehungen als einen „Test auf Handhabung der Moralprinzipien“. Der Experte meint, der Dialog
sei nach dem 19. Dezember mehr als notwendig, die Sanktionen müssten „ausgewogen dosiert“ werden. Das Interview ist am
10. Februar 2011 auf www.dw-world.de/belarus erschienen und wird mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Welle
abgedruckt.

Wie sollten sich die Beziehungen der EU zu Bela­      Belarus ist ein multidimensionaler Begriff. Die
rus, nach dem Verhängen von Einreiseverboten für      Regierungspropaganda stellt das Land zwar sehr
belarussische höhere Beamte, gestalten? In wel-       einseitig dar, aber die Soziologen sprechen von
chen Bereichen und mit welchen gesellschaftlichen     einer gesellschaftlich-politischen Spaltung. Grob
Gruppen wäre eine belarussisch-europäische Zu-        gesagt ist ein Drittel der Gesellschaft entschieden
sammenarbeit möglich?                                 gegen die heutige Regierung. Die EU reduziert

01 / 11   Nr. 51                                                                                        Belarus Perspektiven   7
Außenpolitik

                       ihre Kontakte zu den staatlichen Strukturen auf          wille steht: „Je härter desto besser, noch ein Hieb
                       ein Minimum, legt aber hohen Wert auf die Zu-            und das kriminelle Regime wird fallen“. Doch die-
                       sammenarbeit auf gesellschaftlicher Ebene. Diese         se Strategien verschlechtern nur die Situation der
                       differenzierte Herangehensweise ist hier eine op-        belarussischen Zivilgesellschaft, wenn nicht sogar
                       timale Formel. Natürlich ist es in der Praxis sehr       die globalen Zukunftsperspektiven des Landes. Es
                       schwierig, die „Sterilität“ dieser Strategie einzuhal-   wäre vielleicht sinnvoll, das Instrumentarium der
                       ten. Ich glaube, dass der Kontakt zu den Staatsbe-       Sanktionen zu variieren. Beispielweise fürchtet
                       amten auch nicht vollständig abgebrochen werden          sich heute das belarussische Regime viel mehr vor
                       sollten, denn diese Gruppe ist ebenfalls sehr he-        Russland als vor der EU. Eventuell wäre eine An-
                       terogen. Selbstverständlich sind viele eingeschüch-      drohung wirtschaftlicher Sanktionen richtig. Denn
                       tert und trauen sich nicht ihre Meinung offen zu         die Androhung ist manchmal effektiver als ihre tat-
                       äußern. Wir können nicht davon ausgehen, dass            sächliche Umsetzung. Dies alles liegt im Feld der
                       sie alle Dickschädel sind, denen die Sanktionen,         politischen Diskussionen in der EU.
                       Missachtung und eventuelle Lustration ganz egal
                       sind. Eine Veränderung kann in dieser Hinsicht
                       nur durch Einmischung von Seiten der EU initiiert        Sie haben die Unvermeidlichkeit politischer Debat-
                       werden. Das belarussische Regime ist eine harte          ten über die Situation in Belarus angesprochen. Ist
                       Nuss. Daher ist es eine Art Test auf Handhabung          denn die belarussische Regierung bereit, diese Art
                       der Moralprinzipien, selbst für Europa.                  von Debatten mit der EU und der Opposition zu
                                                                                führen?

                       Wie schätzen Sie die Aufrufe ein, belarussische          Innerlich ist die Regierung dazu bereit. In dieser
                       Sportler von den internationalen Wettbewerben            Situation wäre es naiv, komplizierte Denkvor-
                       auszuschließen oder die Hockey-Weltmeisterschaft         gänge zu erwarten. Diese Regierung rechnet nur
                       in Belarus 2014 zu boykottieren?                         mit Gewalt. Aber auch andere Methoden könnten
                                                                                wirksam sein, wie zum Beispiel Visa-Sanktionen
                       Das ist eine schwierige Frage. Viele kritisieren die     oder eine „geopolitische Zange“, wenn Russland
                       EU und ihre angeblich zu schwachen Sanktionen            ebenfalls den Druck erhöht. Und natürlich die Un-
                       gegen Belarus. Dabei entsteht jedoch die Frage, in-      terstützung der Zivilgesellschaft. Dieser Faktoren
                       wiefern totale Sanktionen überhaupt möglich wä-          könnten dazu beitragen, dass in Belarus künftig
                       ren, und inwiefern diese die gesellschaftliche An-       nicht nur ein Pseudo-Rat mit dem Präsidenten an
                       tipathie der Diktatur gegenüber fördern würden.          der Spitze tagt. Vielleicht wird die Regierung be-
                       Ich nehme an, die belarussische Regierung wird           greifen, dass ohne Diskussion, ohne einen nationa-
                       die Gefühle der Enttäuschung der Fans ausspielen         len „Runden Tisch“ die Entwicklung des Staates in
                       und Europa in einem ungünstigen Licht darstel-           einer Sackgasse enden wird. Polen hatte ebenfalls
                       len, so als wäre für die EU nichts heilig, wenn sie      ein verknöchertes kommunistisches System, doch
                       sogar den Sport politisch instrumentalisiert. Je-        es wurde ein Höhepunkt erreicht und die Kom-
                       denfalls müssten die Sanktionen ausgewogen do-           munisten setzten sich mit der Opposition an einen
                       siert sein. Es wäre naiv anzunehmen, dass man die        Tisch. Das System wurde transformiert. Wenn sich
                       letzte Diktatur Europas auf Anhieb stürzen kann.         zuvor schon ein solch steifes Regime weiterentwi-
                       Ich bin der Meinung, dass hinter den gradlinigen         ckeln konnte, würde ich die Situation in Belarus
                       Strategien der Opposition auch egoistischer Eigen-       keinesfalls als fatal einschätzen.

8   Belarus Perspektiven                                                                                             Nr. 51   01 / 11
Außenpolitik

                         Mehr als andere für Belarus…
Polen reagierte erstaunlich schnell auf die Ereignisse in Belarus nach dem 19. Dezember. Auch zwei Monate später bleibt Bela­
rus ein Thema auf Polens Agenda, das mitunter in innenpolitischen Debatten instrumentalisiert wird.

Aleksej Šhota, Krakau

Als die EU den Dialog mit Belarus forcierte, erhoff-    als direkte Anerkennung der Legitimität der anste-
te sie sich wenigstens minimale Verbesserungen in       henden Wahlen betrachtet. Zudem wurde der pol-
der Frage der Menschenrechte und der Rechts-            nischen Regierung mit der Bürgerplattform an der
staatlichkeit. Auf die Zusammenarbeit mit Belarus       Spitze auch schon früher überzogener politischer
setzten vor allem die Nachbarn, die angrenzenden        Realismus, mangelnde Unterstützung der illegalen
Staaten der EU und des Schengener Raums, Polen          polnischen Union und die Koketterie mit Lukašenko
und Litauen. Auch Deutschland blieb nicht außen         vorgeworfen. Nicht wenige Stimmen kritisierten
vor – der unumstrittene Anführer der Ostpolitik im      auch die pro-russische Orientierung des Premier-
vereinten Europa. Während die litauisch-belarus-        ministers Donald Tusk. Gerade deshalb musste die
sischen Beziehungen keine bedeutenden Probleme          Reaktion Polens auf den 19. Dezember und die fol-
aufwiesen (der einzige Streitpunkt war der Bau ei-      genden Tage eindeutig und radikal sein. Das der
nes AKWs in der unmittelbaren Nähe zur litaui-          Versuch, Lukašenko zu demokratisieren, geschei-
schen Grenze), war das Verhältnis zu Polen in den       tert war, hätten einige auch als Sikorskis persönli-
letzten fünf Jahren angespannt.                         ches Scheitern betrachten können. Polen ergriff
                                                        deshalb selbst eine Reihe von Maßnahmen und
Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2006 ent-         setzte sich für Sanktionen im Rahmen der EU ein.
brannte im Verband der Polen in Belarus ein Streit      Sikorski veröffentlichte mit Guido Westerwelle,
über die Legitimität der Mitgliederversammlung,         Carl Bildt und Karel Schwarzenberg in der New
die Angelika Borys zur Vorsitzenden gewählt hatte.      York Times einen Artikel mit dem für sich spre-
Ein Teil der Mitglieder wählte mit Unterstützung        chenden Titel „Lukashenko the loser”. Auf seine
des belarussischen Regimes einen eigenen Vorsit-        vermeintlich vertraulich erhaltene Informationen
zenden. Seit über fünf Jahren existieren im Land        verweisend, bekräftigte er darin die umstrittene
also zwei polnische Verbände: einer, der in Polen       Diagnose, wonach Lukašenko lediglich circa 30
anerkannt ist, aber nicht in Belarus, und einer, des-   Prozent der Stimmen erhalten habe. Wie die Mehr-
sen Situation genau umgekehrt ist. Dieses Problem       heit der Sanktionen der EU, tragen auch die polni-
vergiftet seit Jahren die Beziehungen beider Staa-      schen Maßnahmen hauptsächlich moralischen und
ten und verhindert eine Intensivierung des Dialogs.     symbolischen Charakter. Sie sind eher ein PR-Ver-
Ein weiterer wichtiger Grund für Unstimmigkeiten        such, der Welt zu zeigen, dass Polen die Situation
zwischen Belarus und Polen ist die bedingungslose       jenseits des Flusses Bug nicht egal ist. So war einer
Unterstützung der belarussischen Opposition, die        der ersten Schritte, den später auch Litauen und
in Warschau schon seit Langem offizielle Politik        Estland unterstützten, die Abschaffung von Konsu-
ist. Das polnische Interesse an den Wahlen in           largebühren bei der Erteilung polnischer Visa. Dies
Belarus war dieses Mal größer, weil einer der oppo-     erwies sich allerdings als Pseudoerleichterung, da
sitionellen Kandidaten, der Wirtschaftsexperte          die Mehrheit der Belarussen sich für die kurzzeiti-
Jaroslav Romančuk, im gewissen Sinne ein „eige-         gen Schengen-Visa bewirbt. Und von denjenigen,
ner“ Kandidat für die polnische Minderheit war –        die sich in der Vergangenheit um ein langfristiges
ethnischer Pole und Ehrenmitglied der polnischen        nationales Visum bemühten, fielen die meisten oh-
Union. Die Versuche, die Beziehungen zu normali-        nehin in die Kategorie von Bewerbern, die von den
sieren, die Radosław Sikorski und Guido Wester-         Gebühren befreit sind (Studenten, Kulturschaffen-
welle gemeinsam unmittelbar vor den Wahlen un-          de, Sportler usw.). Wie schon vor fünf Jahren zeigte
ternahmen, wurden von vielen, besonders in den          sich Polen bereit, belarussische Studenten aufzu-
radikalen Kreisen der belarussischen Opposition,        nehmen, die aus politischen Motiven von ihren

01 / 11   Nr. 51                                                                                            Belarus Perspektiven   9
Außenpolitik

                       Hochschulen suspendiert wurden. Die Ministerin           len in Belarus hielt zwar nur ungefähr eine Woche
                       für Wissenschaft und Hochschulbildung Barbara            an, doch später erschienen noch einzelne themati-
                       Kudrycka appellierte an die Solidarität der Hoch-        sche Publikationen, mitunter auch seitenlange
                       schulrektoren und so wird sich schon bald eine           Analysen. Periodika, die sich seit Längerem für die
                       Gruppe belarussischer Studenten auf den Weg              Thematik interessieren, hielten das Interesse der
                       nach Warschau machen, um dort einen Schnell-             Gesellschaft über einen längeren Zeitraum wach.
                       kurs Polnisch zu absolvieren. Diesmal wurden Sti-        Mitte Januar brachte die Krakauer Wochenzeitung
                       pendien für 150 Studenten, 50 Doktoranden und            Tygodnik Powszechny eine umfassende Sonderbei-
                       zehn wissenschaftliche Mitarbeiter bereitgestellt.       lage heraus, in der polnische und belarussische Ex-
                       Polen hat als erstes der westlichen Länder die Ein-      perten die Ereignisse analysierten und Prognosen
                       führung einer eigenen „Schwarze Liste“ mit bela-         stellten. Zu den ständigen Beobachtern der Situati-
                       russischen Staatsdienern verkündet, die in das           on in Belarus zählen auch die Tageszeitungen Ga-
                       Land nicht einreisen dürfen. Allem Anschein nach         zeta Wyborcza und Rzeczpospolita. Das „Polni-
                       ist die polnische Liste wesentlich länger als die, auf   sche Radio” richtete auf seiner Internetseite eine
                       die sich die EU verständigt hat. All diese Maßnah-       spezielle Rubrik ein, in der ständig Hintergründe
                       men ergriff Polen außerordentlich schnell, noch          zu Belarus beleuchtet werden. Unterstützt wurde
                       vor Ende 2010. Im neuen Jahr änderte sich die Po-        die belarussische Zivilgesellschaft auch von den
                       sition Polens nicht. Im Januar fand in Warschau          einfachen polnischen Bürgern sowie Belarussen,
                       eine Konferenz unter dem Titel „Kriegszustand in         die in Polen leben, arbeiten oder studieren. In
                       Belarus? Wie kam es dazu und was nun?“ statt,            Warschau, Krakau und Lublin fanden Solidaritäts-
                       auf die neben den Experten auch Verwandte von            bekundungen statt. Am zentralen Platz in Krakau
                       Polithäftlingen eingeladen wurden. Einem Teil von        versammelten sich 200 Menschen, was für ein so
                       ihnen wurde die Ausreise verweigert. Im Februar          wenig populäres Thema wie Belarus, eine beachtli-
                       wurde ebenfalls in Warschau eine Geberkonferenz          che Zahl ist. In vielen Städten wurden Experten-
                       veranstaltet, auf der Vorschläge von Polen, der EU       treffen, Präsentationen und Konzerte organisiert.
                       und den USA zur Unterstützung der belarussischen         Eine große Solidaritätsaktion in mehreren Städten
                       Opposition vorgestellt und ein Fond zur Unterstüt-       gleichzeitig ist für den 25. März, den Unabhängig-
                       zung der Demokratie ins Leben gerufen wurden.            keitstag der Republik Belarus, geplant. Koordiniert
                       Die Verwaltung des zentralen Stadtbezirks in War-        wird das Vorhaben von der Inicjatywa Wolna
                       schau versprach, der oppositionellen Internet-           Białoruś, einer Warschauer Organisation, die Bela­
                       Plattform Charta-97 ein Büro zur Verfügung zu-           russen und interessierte Polen in ihren Reihen ver-
                       stellen. Auch der polnische Präsident Bronisław          eint. Die Aktivitäten der polnischen Regierung
                       Komorowski unterstützt die Regierung und im              blieben allerdings nicht ohne Reaktion der bela-
                       Speziellen das Außenministerium. Anfang Februar          russischen Seite. Recht schnell unterstellten die
                       sagte er, Polen tue mehr als andere EU-Mitglieder        Sprachrohre der Präsidentenpropaganda, die Zei-
                       für die belarussische Opposition, und äußerte sein       tung „Sowjetisches Belarus“ und das Staatsfernse-
                       Bedauern über das Fehlen eines guten Programms           hen, Deutschland und Polen den Versuch eines
                       für die Ostpolitik der EU. Gleichzeitig wies er dar-     Staatsstreichs. Neben Sikorski und Westerwelle
                       auf hin, dass für Veränderungen jedoch eine innere       geriet auch der Vorsitzende des Europaparlaments
                       Situation heranreifen müsse. Grundlegend anderer         Jerzy Buzek ins Fadenkreuz: er wurde der Zusam-
                       Meinung ist der Anführer der oppositionellen Par-        menarbeit mit dem CIA und der Mitwirkung bei
                       tei Recht und Gerechtigkeit Jarosław Kaczyński.          der Verhaftung des anstößigen polnischen Populis-
                       Nach ihm ist die Ostpolitik Polens gescheitert, weil     ten Andrzej Lepper bezichtigt. Lepper, dessen Po-
                       sie auf PR und kaltem Kalkül aufgebaut war.              pularität in Polen die statistische Fehlertoleranz
                       Kaczyński schonte in seiner Kritik auch Minister         nicht übersteigt, erschien nach den Wahlen mehr-
                       Sikorski nicht: er habe den Präsidentschaftskandi-       mals im belarussischen Fernsehen, wo er als Ex-
                       daten Nekljaev vor allem unterstützt, weil dieser        perte und renommierter Politiker das Handeln der
                       ein pro-russisches Image habe. Dies ist nicht die        polnischen Regierung kritisierte. Etwas später war
                       erste Situation in Polen, in der Belarus zu einem        eine Ausgabe der neuen Talkshow „Offenes For-
                       Instrument im innenpolitischen Kampf wird. Das           mat“ im wichtigsten Fernsehkanal der „unfreundli-
                       Problem blieb auch in den polnischen Medien nicht        chen Politik“ Polens gewidmet. Direkt im An-
                       unbeachtet. Das allgemeine Interesse an den Wah-         schluss wurde der Dokumentarfilm „Der polnische

10   Belarus Perspektiven                                                                                            Nr. 51   01 / 11
Außenpolitik

Bruch“ gezeigt, der Polen der Repressionen gegen-      sischen Politik. Eine neue Maßnahme ist jedoch,
über der belarussischen Bevölkerung in den polni-      dass innerpolnische Debatten zur Diskreditierung
schen Ostgebieten während der Zwischenkriegs-          Polens bei den belarussischen Bürgern instrumen-
zeit, der Politik der Polonisierung, der               talisiert werden. Dass sich die Beziehungen pers-
Kollaboration mit Hitler, des Antisemitismus und       pektivisch normalisieren könnten, scheint momen-
vieler anderer Verbrechen beschuldigt. Der Presse-     tan nicht in Sicht, obwohl Lukašenko gezwungen
sekretär des belarussischen Außenministeriums          sein wird, künftig eine gute Zusammenarbeit mit
Andrej Savinych bediente sich typischer sowjeti-       der EU aufzubauen, wenn er nicht vollends unter
scher Kriegsrhetorik, als er die Reaktionen der EU     Moskaus Kontrolle geraten will. Der beste Weg
auf die Situation in Belarus als Entfesselung eines    zu solch einer Zusammenarbeit führt über Ver-
Informationskrieges mit „allerlei Lügen und Pro-       handlungen mit den Anführern der europäischen
vokationen“ bezeichnete. Nicht wählerisch in sei-      Ostpolitik, namentlich mit Deutschland und Po-
nen Äußerungen zeigte sich auch das Staatsober-        len. Aber Polen, das sein Gesicht nicht verlieren
haupt. Aleksandr Lukašenko sprach von                  will und dessen Regierung sich den Vorwürfen der
territorialen Ansprüchen, die Polen angeblich ge-      eigenen Opposition stellen muss, beteuert offen,
genüber Belarus hege. Seiner Meinung nach gibt es      dass bis zur Freilassung aller politischer Gefan-
gewisse Kreise, die davon träumen, dass „die Gren-     gener eine Normalisierung nicht möglich sei. Die
ze künftig bei Minsk“ verlaufe. In eine neue Runde     belarussische Führung wird wohl versuchen, den
ging auch der Streit um die „Polnische Karte“, de-     bereits erprobten Weg zu gehen und entweder ei-
ren Ausgabe die belarussische Führung seit deren       nen Häftling nach dem anderen zu entlassen oder
Einführung im März 2008 missbilligt. Die Abge-         die Haftbedingungen zu verbessern, was bereits
ordneten des belarussischen Parlaments haben           jetzt abzusehen ist. Für jeden Schritt wird sie eine
eine Untersuchung des Dokuments durch das Ver-         entsprechende Reaktion des Westens erwarten.
fassungsgericht initiiert, weil sie der Meinung wa-    Für den Westen und damit auch für Polen ist es
ren, dass diese die internationalen Rechtsnormen       wichtig, nicht in diese Falle zu laufen und einen
breche. Igor Karpenko, Mitglied der Repräsentan-       zynischen Handel zu vermeiden. Die Zurückhal-
tenkammer und einer der Initiatoren der Klage          tung der westlichen Länder im Bezug auf Sanktio-
zweifelt nicht daran, dass „das Gesetzt über die       nen ist leicht erklärbar. Einerseits stimmt es, dass
Polnische Karte, das ohne die Zustimmung der           die wirtschaftlichen Sanktionen primär die Bevöl-
belarussischen Seite verabschiedet wurde, den          kerung treffen würden, was Lukašenko leicht zur
Prinzipien der guten Nachbarschaft und des gegen-      Dämonisierung des Westens missbrauchen könnte.
seitigen Respekts zwischen den Staaten wider-          Andererseits sollte aber auch nicht vergessen wer-
spricht“. Als grundlegendes Problem betrachtet er      den, dass die EU-Mitglieder eigene Interessen an
die Diskriminierung einiger Bürger von Belarus.        der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Belarus
                                                       haben und die Einführung wirtschaftlicher Sank-
Seine Meinung teilt auch der Vorsitzende des offi-     tionen auch aus der Sicht dieser Interessen uner-
ziellen Polen-Verbandes in Belarus, der Geschäfts-     wünscht wäre. Die belarussischen Nachbarn Polen
mann Stanislav Semaško. Die Karte teile die Polen      und Litauen sind hier keine Ausnahmen. Gerade
in „richtige“ und „falsche“ ein und sei überhaupt      deshalb ist das völlige wirtschaftliche Embargo, das
eine direkte Einmischung in die Angelegenheiten        Jarosław Kaczyński vorschlägt, ein effektives, aber
des benachbarten Staates. Empört ist Semaško           ein unmögliches Instrument der Einflussnahme.
auch über die Aufnahme seines Namens in die            Die Antwort, die Kaczyński vom ehemaligen pol-
„Schwarzen Liste“. Er hält es für eine Erniedrigung    nischen Botschafter in Minsk Henryk Litwin auf
und beabsichtigt sich an europäische Instanzen zu      den Seiten der Zeitung Rzeczpospolita erhielt, war
wenden. Es ist offensichtlich, dass das belarussi-     in diesem Zusammenhang ein echter Ausdruck des
sche Regime außer abgenützter Schablonen nach          politischen Realismus: Polen kann den Dialog zur
sowjetisch-imperialistischen Zuschnitt keine neu-      Zeit nur von einer schwachen Position aus führen.
en Ideen für einen medialen Kampf gegen Polen          Damit ist es weder in der Lage, auf die Situation
hat. Was nicht verwunderlich ist, dominiert doch       der polnischen Union, noch auf die der Häftlinge
diese Praxis schon die letzten 16 Jahre der belarus-   wirklichen Einfluss zu nehmen.

01 / 11   Nr. 51                                                                                         Belarus Perspektiven   11
Innenpolitik

Vor Gericht und hinter Gintern
Journalisten in Belarus

Was den repressiven Umgang mit Journalisten angeht, so sind in Belarus bereits alle Rekorde gebrochen. So kommentier-
te jedenfalls die Vorsitzende des belarussischen Journalistenverbandes Žanna Litvinna den Schuldspruch gegen Aleksandr
Otroščenkov, Journalist und Pressesprecher des Ex-Präsidentenschaftskandidaten Andrej Sannikov. Wegen der Teilnahme an
den Massenunruhen am 19. Dezember wurde Otroščenkov zu vier Jahren Haft verurteilt. Der 19. Dezember 2010 veränderte
das Leben unabhängiger Journalisten in Belarus schlagartig. Einerseits gibt es viel mehr Arbeit: Mehr Gerichtsverhandlungen
und mehr Beschwerdeanrufe von Lesern in den Redaktionen. Andererseits wird nun über Journalisten Gericht gehalten.

                                                                                                    Maryna Rachlei, Berlin

                                                                          In Belarus hatten die Mitarbeiter der politisch
                                                                          unabhängigen Zeitungen bereits vor den Wahlen
                                                                          weniger Chancen als ihre Kollegen aus der Staats-
                                                                          presse. Wenn ein Journalist die Regierungspolitik
                                                                          in Belarus kritisiert, kann für ihn die Akkreditie-
                                                                          rung für Presse-Konferenzen und offiziellen Ver-
                                                                          anstaltungen problematisch werden. Mahnungen
                                                                          und gerichtliche Vorladungen wird er hingegen
                                                                          zahlreich erhalten. Kurz vor dem Wahltag wandte
                                                                          sich der belarussische Journalistenverband an den
                                                                          Innenminister Anatolij Kulešov und seine Staats-
                                                                          sekretäre, um das Recht der Journalisten auf Prä-
                                                                          senz bei den Straßenaktionen anzusprechen. Ob
                                                                          eine Demonstration erlaubt ist oder nicht, die an-
                                                                          wesenden Journalisten erfüllen – genau wie die Mi-
                                                                          liz – ihre berufliche Pflicht, betonten die Bürger-
                                                                          rechtler. Viel erreichen konnte der Verband jedoch
                                                                          nicht: Am 19. Dezember wurden nach Angaben des
                                                                          belarussischen Journalistenverbandes 17 Verbands-
                                                                          mitglieder festgenommen und wegen der Teilnah-
                                                                          me an den Massenunruhen zu zehn bis 15 Tagen
                                                                          Haft verurteilt. Zwei Dutzend belarussischer und
                                                                          ausländischer Korrespondenten verbrachten einige
                                                                          Tage in Untersuchungshaft. Weitere zwei Dutzend
                                                                          Journalisten wurden beim Auseinanderjagen der
                                                                          Demonstranten verletzt. Vielen Journalisten wurde
                                                                          die Ausrüstung sowie jegliche Datenträger wegge-
                                                                          nommen oder beschädigt. 16 der Inhaftierten nach
                                                                          den Massenunruhen am 19. Dezember wurden von
                                                                          Amnesty International als politische Häftlinge an-
     Dar‘ ja Korsak, die                                                  erkannt. Sechs davon sind Mitglieder des unabhän-
           Ehefrau von                                                    gigen belarussischen Journalistenverbandes. Dazu
               Aleksandr                                                  gehören Natalja Radina, Redakteurin der Websei-
Otroščenkov bei einer                                                     te Charta-97 und Irina Chalip, die Auslandskorre-
     Solidaritätsaktion.                                                  spondentin der russischen Novaja Gazeta und Ehe-
 Foto: bymedia.net                                                        frau des Ex-Präsidentenschaftskandidaten Andrej

12    Belarus Perspektiven                                                                                     Nr. 51   01 / 11
Innenpolitik

Sannikov, der Chefredakteur der Zeitung Tovariš                                                             Eine Solidaritäts-
Sergej Voznjak, sowie weitere Publizisten und Ak-                                                           kundgebung wird von
tivisten wie Pavel Severinec, Aleksandr Feduta und                                                          den Sicherheitskräf-
Dmitrij Bondarenko. Nicht alle von ihnen sind                                                               ten aufgelöst.
Journalisten, dennoch setzt sich der Journalisten-                                                          Foto: bymedia.net
verband für ihre Rechte ein.
Bereits am 25. Dezember 2010 wurde die Redakti-
on vom „Europäischen Radio für Belarus“ durch-
sucht. Drei Tage später folgte die Durchsuchung der
Redaktion von Naša Niva sowie der Wohnung des         Waisenhaus, und erst nach dem die Öffentlich-
Chefredakteurs Andrej Skurko. Nach der Durchsu-       keit sich darüber empörte, wurde der Mutter von
chung bei der Zeitungsredaktion von Borisovskije      Chalip die beantragte Patenschaft zugesprochen.
Novosti ist nur ein Wasserkocher zurückgeblieben.     Chalip befindet sich seit dem 29. Dezember un-
Nikolaj Aleksandrov, Chefredakteur der unabhän-       ter Hausarrest und ist rund um die Uhr von zwei
gigen Zeitung Brestskij Kurjer erhielt einen Brief    KGB-Beamten umgeben. Es ist ihr verboten, Tele-
mit Beleidigungen und Drohungen, unterzeichnet        fonate entgegen zu nehmen oder die Wohnung zu
von den „Belarussischen Patrioten“. Am 12. Janu-      verlassen. Auch Sergej Voznjak wurde inzwischen
ar wurde der Redakteur der Zeitung Novyj Čas          entlassen, jedoch nur gegen die schriftliche Erklä-
Aleksej Korol´ verhört, weil sein Mobiltelefon von    rung, den Aufenthaltsort nicht zu verlassen. Kon-
seinem Anbieter während der Demonstration auf         takte zur Presse sind ihm nicht gestattet. Am 28.
dem Platz der Unabhängigkeit lokalisiert wurde.       Januar ist Natalja Radina freigekommen, ebenfalls
Auch andere Journalisten wurden auf diese Weise       gegen eine schriftliche Erklärung, den Aufent-
vorgeladen, obwohl sie auf dem Unabhängigkeits-       haltsort nicht zu verlassen sowie zu ihrem Sachver-
platz ihrer Arbeit nachgingen. Der Radiokorres-       halt zu schweigen. Alle Entlassenen werden nach
pondent von Radio Racja Boris Goreckij kam ins        wie vor der Organisation oder der Teilnahme an
Gefängnis, nachdem er am 17. Januar vor dem           den Massenunruhen bezichtigt. Zudem hatte das
KGB-Gebäude die Angehörigen von Inhaftierten          Justizministerium die Lizenzen der Anwälte ent-
interviewt hatte. Zunächst wurde er zur „Prüfung      zogen, die Chalip und ihren Ehemann, oder auch
der Dokumente“ festgenommen, schließlich ver-         die Politiker Pavel Severinec und Zmicer Daškevič
urteilte ihn das Gericht wegen der Teilnahme an       sowie den Ex-Präsedentenschaftskandidaten Ales‘
einer nicht erlaubten Demonstration zu 14 Tagen       Michalevič verteidigt hatten. Angeblich wurde
Haft. Das Gericht argumentierte, dass die Erfül-      Chalips Anwälten die Lizenzen entzogen, weil sie
lung der journalistischen Pflicht die Teilnahme an    ihr die Rechtshilfe verweigert hatten. Den Fami-
der Demonstration nicht ausschließe. Ein Zeuge        lienangehörigen der Journalistin nach, hatte der
von der Polizeit habe Goreckij dabei beobachtet,      KGB die Anwälte unter Druck gesetzt.
wie er politische Parolen ausrief. Aus dem selben     Auch jetzt noch befinden sich drei Mitglieder des
Grund wurde am 11. Februar der Korrespondent          Journalistenverbandes in der Untersuchungshaft-
der polnischen Gazeta Wyborcza Andrzej Poczo-         anstalt des KGB – Pavel Severinec, Aleksandr Fedu-
but zu 15 Tagen Haft verurteilt. Übrigens von einer   ta und Dmitrij Bondarenko, sowie der Pressespre-
Richterin, gegen die bereits ein Einreiseverbot in    cher Andrej Sannikovs, Aleksandr Otroščenkov.
die EU ausgesprochen wurde. Poczobut wurde im         Über den Zustand von Dmitrij Bondarenko gibt
Januar schuldig gesprochen und musste mit einer       es kaum Informationen. Sein Anwalt hat ihn seit
Strafe von 400 Euro büßen. Die Staatsanwaltschaft     dem 29. Dezember nicht mehr gesehen. Auch dem
legte gegen das Urteil Berufung ein – es sei nicht    Anwalt von Aleksandr Feduta war der Kontakt
streng genug gewesen. Symptomatisch ist die Situa-    zu seinem Klienten zwischen dem 29. Dezember
tion von Irina Chalip, die am 19. Dezember festge-    und dem 1. Februar untersagt. In einem kurzen
nommen wurde. Als sie vom Unabhängigkeitsplatz        Gespräch mit seiner Frau, berichtete Otroščenkov
dem russischen Radiosender Echo Moskvy über           von Foltermethoden in dem KGB-Gefängnis. Die
das brutale Vorgehen der Miliz beim Auseinan-         Häftlinge würden gezwungen, gefesselt zu stehen
derjagen der Demonstration berichtete, rissen ihr     – nackt und breitbeinig. Sie würden in die Kälte
die Milizionäre das Telefon aus der Hand. Ihrem       rausgebracht, das Licht in der Zelle würden die
dreijährigen Sohn drohte die Einweisung in ein        Wächter nie ausschaltet. Außerdem werde der Zel-

01 / 11   Nr. 51                                                                                       Belarus Perspektiven      13
Innenpolitik

                         lenboden mit Farben auf Azetonbasis gestrichen,      Präsidentenadministration, dem Repräsentanten-
                         sodass die Häftlinge schädliche Dämpfe einatmen      haus der Nationalversammlung, dem Ministerrat
                         müssten. Am 2. Februar wurde Otroščenkov zu          und dem Ministerium für Nachrichtenwesen ein
                         vier Jahren Haft verurteilt, wegen angeblicher Be-   offizielles Schreiben eingereicht und darin zu ei-
                         weise, dass er den Präsidentenschaftskandidaten      ner öffentlichen Diskussion des Mediengesetzes
                         der Opposition begleitet und einen Bericht für ein   aufgerufen. Es wurde darauf hingewiesen, dass die
                         litauisches Internetportal angefertigt habe, mit     derzeitige Gesetzespraxis erhebliche Schwächen
                         dem er seit langer Zeit zusammenarbeite. Žanna       und undemokratische Seiten aufzeige. Freiberufli-
                         Litvina, die Vorsitzende des belarussischen Jour-    che Journalisten würden gesetzlich nicht geschützt
                         nalistenverbandes, bezeichnete diesen Schuld-        und die Medienarbeit im Internet sei streng reg-
                         spruch als „politisch motiviert“: Otroščenkov sei    lementiert. Dunya Miyatowič hat als Vertreterin
                         für seine Teilhabe an gesellschaftlich-politischen   der OSZE den betroffenen Journalisten in Belarus
                         Ereignissen bestraft worden. Im Januar erschien      ihre Solidarität ausgesprochen. In ihrem Brief an
                         eine Serie von Publikationen und Dokumentar-         Natalja Radina betonte sie, dass sie mit Sorge die
                         filmen, die angeblich von staatlichen Journalisten   Entwicklung der Situation in Belarus verfolge und
                         auf der Grundlage von Akten der Ordnungskräf-        alles Mögliche im Rahmen ihres Amtes unterneh-
                         te angefertigt worden waren. Viele von denen, die    me. Sie versicherte, dass sie sich weiterhin bemü-
                         heute hinter Gittern sitzen, wurden als Verbrecher   hen werde, den Journalisten zu helfen, solange sie
                         dargestellt. Als Beweise wurden aufgenommene         sich in Gefahr befänden. Miyatowič überreichte
                         Telefongespräche und Skype-Korrespondenzen he-       den Journalistinnen eine Brosche in Form eines
Solidaritätsaktion für   rangezogen. Denjenigen, die sich durch diese Do-     Herzen – als Symbol dafür, dass die Herzen Euro-
die Politischen Gefan-   kumentarfilme persönlich beleidigt fühlten, stehe    pas mit den unabhängigen Journalisten in Belarus
 genen am 19. Januar     der Rechtsweg offen, so die Staatsanwaltschaft.      schlagen. Die belarussischen JournalistenInnen
       2011 in Minsk.    Apropos Rechtsweg: Am 8. Februar hat der Euro-       setzen derweil ihre Arbeit fort – für sich und ihre
     Foto:bymedia.net    päische Journalistenverband bei der belarussischen   Kollegen, die ungewollt pausieren.

14   Belarus Perspektiven                                                                                          Nr. 51   01 / 11
Innenpolitik

                                                        Wir wollen hier weg...
Seit den Präsidentschaftswahlen in Belarus sind einige Monate vergangen, doch die Welle der Repression, die das Land seit der
„blutigen Nacht“ des 19.Dezembers erfasste, lässt nicht nach. Zwar wurden längst diejenigen Demonstranten entlassen, die
nur zwei Wochen Haft oder Geldstrafen für die Teilname an einer unerlaubten Demonstration bekamen. Diejenigen aber, die
sich aktiver gezeigt hatten, Politiker, Aktivisten, Journalisten, die Vertrauten der oppositionellen Kandidaten, insgesamt 42
Personen, erwarten noch ihre Strafverfahren.

Ein Kommentar von Jeanna Krömer, Berlin

Nach Angaben des Menschenrechtezentrums Vjas-
na befinden sich 32 Personen in Haft, zwei ste-
hen unter Hausarrest und acht weitere dürfen die
Stadt, in der sie gemeldet sind, nicht verlassen. 12
Verdächtige haben es geschafft, ins Ausland zu flie-
hen. Nach Artikel 293 zu den „Massenunruhen“
können die Verdächtigen wegen der Teilnahme
an der Demonstration vom 19. Dezember zu drei
bis fünf Jahren Haft oder wegen der Organisation
dieser zu fünf bis 15 Jahren verurteilt werden. Die
ersten Urteile sind bereits gefallen, vier Aktivisten
wurden zu Haftstrafen von drei bis vier Jahren ver-
urteilt.

Depressives Volk
„Die Wochen nach den Wahlen waren der totale
Horror“ – so eine junge Aktivistin von der Jungen
Front. „Die Büros von allen unabhängigen Medien
wurden von der Polizei aufgebrochen und geplün-         2010, am Tag nach den Wahlen und der Demons-          Foto: bymedia.net
dert“ – berichtet sie. „ Aktivisten und Politiker       tration in Minsk schreibt der Journalist Aleksandr
wurden nachts zu Hause verhaftet und von Unbe-          Otroščenkov in seinem Facebook-Konto:
kannten weggebracht. Von vielen hörte man dann
wochenlang nichts. Die Anwälte hatten keinen            5:11 „Das Büro von Charter-97 wird demoliert.“
Zugang zu ihren Mandanten. Es gab Gerüchte,             6:37 „Um 6 Uhr morgens stürmte die Polizei die
dass der schwer verletzte Präsidentschaftskandidat      Wohnung von Dmitrij Bondarenko.“ (Koordinator
Vladimir Nekljaev nicht mehr am Leben ist. Die          der Kampagne „Europäisches Belarus“ und Refe-
Handyanbieter arbeiten mit der Staatsführung zu-        rent von Andrej Sannikov)
sammen und diejenigen, deren Handy am 19. De-           6:52 „Die Polizei bricht bei mir ein.“
zember in der Nähe des Unabhängigkeitsplatzes
lokalisiert wurde, werden zu Verhören in die Poli-      Das war die letzte Nachricht von Otroščenkov.
zei gerufen. Die Leute sind einfach geschockt. Ich      Über zwei Monate hat er danach im KGB-Gefäng-
leide seitdem an Schlaflosigkeit und und meinen         nis verbracht. Otroščenkov ist Journalist und Pres-
Bekannten geht es auch so. Viele sagen, dass sich       sesekretär des Präsidentschaftskandidaten Andrej
die Autokratie in Belarus nun endgültig in eine         Sannikov. Am 19. Dezember hatte er der Demons-
Diktatur verwandelt habe. Sie wollen ausreisen und      tration beigewohnt. Die Videos, die dem Gericht
sehen keinen anderen Ausweg. Man hatte nicht            als Beweis für seine Teilnahme dienten, zeigen
einmal Kraft und Lust, Weihnachten und Silvester        lediglich, dass Otroščenkov keine rechtswidrigen
zu feiern, alle sprachen über die Ereignisse. Wir       Handlungen ausgeübt hat. Der Journalist leugnete
nennen es Volksdepression“. Am 20. Dezember             jegliche Schuld, nichtsdestotrotz wurde er zu vier

01 / 11   Nr. 51                                                                                         Belarus Perspektiven     15
Innenpolitik

                           Jahren Haft verurteilt. Die Vorsitzende der Bela-      wurde. Blass und ohne die Augen zu heben, las er
                           russischen Journalisten-Assoziation (BAJ) Žanna        vor laufenden Kameras von einem Papier ab. Er
                           Litvina kommentiert das Gerichtsurteil folgender-      sagte sich los von seinen Mitstreitern, beschuldigte
                           maßen: „Alle politischen Kampagnen dieser Grö-         einige von Ihnen der „Organisation der Massen-
                           ßenordnung enden in unserem Land damit, dass           unruhen“ und benannte die „Schuldigen“. Dass
                           der Druck auf Medien und Journalisten erhöht           dies das Ende seiner politischen Karriere war, war
                           wird. Unsere Kollegen sind erneut im Epizentrum        allen sofort klar. Aus welcher Feder seine Worte
     Solidarität mit der   der Repressionen, zusammen mit den Politikern          allerdings stammten, fragen sich viele noch heute.
       Familie Chalip/     und den Menschenrechtlern. Diesmal wurden je-          Gerüchten zufolge wurde Romančuk erpresst. In
               Sannikov.   doch alle Rekorde, was die Repressionen gegen          einem Radio-Interview ließ er diese Frage unbe-
     Foto: bymedia.net     Journalisten angeht, gebrochen.“ Der Menschen-         antwortet. Nikolaj Chalesin, der Leiter des „Freien
                           rechtler Valjantsin Stefanovič beurteilt das Urteil    Theaters“, der selbst seit Jahren verfolgt wird und
                           so: „Das ist nur die Rache an diesen Leute. Es         dessen ganze Theatergruppe nach den Wahlen aus
                           liegen keine Beweisen für „Massenunruhen“ oder         Belarus floh, behauptet in seinem Blog, der KGB
                           den bewaffneten Widerstand vor.“ Amnesty Inter-        habe Romančuk mit intimen Videos, die ihn mit
                           national hat Aleksandr Otroščenkov inzwischen          einem Mann zeigen, erpresst. In einem Land, in
                           als Gewissensgefangenen anerkannt.                     dem Homosexualität vielerorts als Krankheit gilt,
                                                                                  ein durchaus mögliches Szenario.
                           Verräter, Helden, Opfer
                           Nach den Wahlen und der blutigen Niederschla-          Der Präsidentschaftskandidat Ales‘ Michalevič
                           gung der Demonstration wurden alle Präsiden-           wurde am 19. Februar aus dem KGB-Gefängnis
                           tenkandidaten verhaftet. Viele von ihnen wurden        entlassen, nachdem er unterschrieb, dass er die
                           verletzt, so zum Beispiel Vladimir Nekljaev, der 64-   Stadt nicht verlassen werde. Kurz danach erklär-
                           jährige belarussische Dichter, der neben Sannikov      te er, dass er gefoltert worden sei und beobachtet
                           einer der populärsten oppositionellen Kandidaten       habe, wie andere Häftlinge gefoltert wurden. Zu-
                           war. Nekljaev und seine Gefolgsleute wurden auf        dem erzählte er, dass man ihn erpresst habe, einen
                           dem Weg zur Demonstration überfallen. Die An-          Vertrag über die Zusammenarbeit mit dem Ge-
                           greifer waren gut ausgerüstet, handelten professio-    heimdienst zu unterschrieben und er nur aus die-
                           nell und schlugen die Aktivisten brutal zusammen.      sem Grund aus dem Gefängnis freigelassen wor-
                           Die anwesenden Journalisten sollten sich „mit dem      den sei. Michalevič behauptete, dass die Häftlinge
                           Maul in den Schnee legen“. In Propaganda-Videos        mit Licht und nur in einer bestimmten Position
                           wurde später im belarussischen Fernsehen berich-       schlafen dürften und deswegen an Schlaflosigkeit
                           tet, dass sich in dem Bus der Aktivisten Waffen        litten. Man habe die Häftlinge mit breit auseinan-
                           befunden hätten. Die Journalisten hingegen sagten      der gespreizten Beinen und mit den Händen an der
                           aus, nur Tontechnik gesehen zu haben. Vladimir         Wand in der Kälte stehen lassen. Die Aufseher hät-
                           Nekljaev wurde mit einem Schädelhirntrauma auf         ten immer wieder gegen die Innenseiten der Beine
                           die Intensivstation eines Krankenhauses geliefert.     der Häftlinge geschlagen. Im Gegensatz zu ande-
                           Doch wenige Stunden später wurde er von „Män-          ren Schlägen hinterließe diese Methoden keine
                           nern in Schwarz“ entführt, die ihn auf einer De-       Spuren der Folter. Den Häftlingen würden keine
                           cke über den Boden schleiften. Der leitende Arzt       Briefe zugestellt, sie hätten keine Möglichkeit, sich
                           des Krankenhauses verharmloste die Diagnose des        mit ihren Anwälten zu treffen. Einige Zellen sei-
                           Patienten in den Dokumenten und gab am nächs-          nen so überfüllt, dass man nur abwechselnd sitzen
                           ten Tag sogar ein Interview, in dem er behauptete,     könnte. Michalevič berichtete auch, dass in diesen
                           Nekljaev habe die Klinik gesund und auf eigenen        überfüllten Zellen der Fußboden mit einer stark
                           Beinen verlassen. Nicht nur dieser Arzt wurde zum      nach Azeton riechenden Farbe gestrichen worden
                           Mittäter der Propaganda. Manch ein oppositio-          sei, sodass die Häftlinge keine Luft und Kopf-
                           neller Politiker, der soeben noch Mitstreiter war,     schmerzen bekämen. „Diese Menschen werden
                           wurde am Folgetag zum „Verräter“. Dies wurde vor       mitten in der Hauptstadt gefoltert. Jemand muss
                           allem dem Ex-Präsidentschaftskandidaten Jaroslav       diesem Konzentrationslager ein Ende bereiten.“
                           Romančuk vorgeworfen – dem bekannten, jun-             – so der Politiker. Der Leiter des KGB-Informa-
                           gen Wirtschaftsexperte, der am Morgen nach den         tionszentrums Aleksandr Antonovič dementierte
                           Wahlen entlassen und direkt im Fernsehen gezeigt       die Schilderungen von Michalevič: „Was die Folter

16    Belarus Perspektiven                                                                                               Nr. 51   01 / 11
Innenpolitik

angeht, so entsprechen diese Behauptungen nicht         Anklägern werden, die allen geforderten Urteilen
der Wirklichkeit.“ Auch andere Häftlinge spra-          zustimmen“ – so der Menschenrechtler. Sogar Kin-
chen von Folter, so beispielsweise die Journalistin     der werden in diesem Kampf zu Instrumenten, so
Natalja Radina, die bis zu ihrem Gerichtsverfah-        der Sohn von Irina Chalip und Andrej Sannikov,
ren das Dorf, in dem sie gemeldet war, nicht ver-       den die Behörden seiner Großmutter wegnehmen
lassen darf. Nachdem sie behauptet hatte, dass sie      und in einem Heim unterbringen wollten. Auch
„Elektroschockgeräten“ aus den Nachbarzellen im         der oppositionellen Aktivistin und Wahlbeobach-
KGB-Untersuchungsgefängnis gehört habe, wurde           terin Alena Davidovič aus der Stadt Masty hatte
sie zur örtlichen Polizei bestellt und davor gewarnt,   man gedroht, das Sorgerecht wegzunehmen.
weitere Kommentare zu diesem Thema abzugeben
– sonst müsse sie damit rechnen, wieder im Gefäng-      Liberalisierung gescheitert
nis zu landen. Nur wenige Informationen geraten         Die Liberalisierung des Landes, die sich die EU-
aus dem Gefängnis an die Öffentlichkeit. Unklar         Länder und die belarussische Opposition erhofft
bleibt, wie es oppositionellen Politikern wie Andrej    hatten und an die sie schon fast geglaubt hatten,
Sannikov, Nikolaj Statkevič und Anatolij Lebedko        ist nicht gelungen. Nach den Täuschungsmanövern
geht, dem Wissenschaftler Aleksandr Feduta, meh-        vor den Wahlen hat im Lande eine präzedenzlose
rere jüngeren Aktivisten oder auch einigen Men-         Welle der Repressionen stattgefunden. In den ver-
schen, die eher zufällig in Haft geraten sind und       gangenen 14 Jahren wurde eine friedliche Demons-
nun von dem Regime als Geiseln genutzt werden,          tration nie so hart niedergeschlagen und die Me-
um später von Europa und den USA möglichst viel         dien litten nie so stark unter dem Würgegriff des
zu erpressen.                                           Regimes wie heute. Nie hatte es eine Situation ge-
                                                        geben, in der alle oppositionellen Anführer gleich-
No Rules                                                zeitig im Gefängnis waren. Lukašenkos Aussage
Anwälte, die es wagen politische Gefangene zu           zu den Protesten war bezeichnend: „Ich spucke auf
schützen, verlieren desöfteren ihre Lizenz und          ihre Kommentare. Das sind böse Menschen, die
können ihren Beruf nicht mehr ausüben. Mindes-          die Ehre vergessen haben. […] Diese Opposition
tens sechs Anwälten, die sich bereit erklärt hatten,    wird das volle Programm an die Birne bekommen,
die Interessen der Angeklagten nach dem 19. De-         wenn sie die Situation im Lande destabilisieren
zember zu vertreten, wurde die Lizenz entzogen.         will“. In Anbetracht der heutigen Lage muss man
Valjantsin Stefanovič meint dazu: „Es ist offen-        die Aussagen des Präsidenten wortwörtlich verste-      Proteste am 19. De-
sichtlich, dass die Machthaber die Anwälte inst-        hen und sollte sich sicherlich keine Illusionen über   zember 2010 in Minsk
rumentalisieren wollen. Die Verteidiger sollen zu       eine baldige Liberalisierung machen.                   Foto: bymedia.net

01 / 11   Nr. 51                                                                                          Belarus Perspektiven       17
Sie können auch lesen