Berliner Ärzt:innen - Status quo: Zwei Jahre "Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst"
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Berliner MITGLIEDERZEITSCHRIFT ÄRZTEKAMMER BERLIN AUSGABE 08 / 2022 Ärzt:innen Status quo: Zwei Jahre „Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst“
BERLINER ÄRZT:INNEN EDITORIAL AUSGABE 08 / 2022 Liebe Kolleg:innen, der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) ist die dritte Säule des deutschen Ge- sundheitswesens, eine Säule, die schon lange mit Defiziten zu kämpfen hat. Und trotz zahlreicher Hinweise aus der Ärzt:innenschaft brauchte es augenscheinlich eine Pandemie, damit Bund und Länder reagieren. Im September 2020 war es so weit: Die Politik hat den „Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst“ beschlossen, Dr. med. Kathleen Chaoui um diesen laut dem damaligen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ist Fachärztin für Hals-Nasen- so aufzustellen, „dass er für künftige Pandemien gerüstet ist.“ Seit 2021 fließen Ohrenheilkunde mit Zusatz- die Mittel. Die Autorin des Titelthemas dieser Ausgabe fragt, was damit bereits bezeichnung Allergologie und Mitglied des Vorstandes der erreicht wurde und vor allem, wie es weitergeht. Ärztekammer Berlin. Foto: André Wagenzik In Deutschland gibt es rund 400 Gesundheitsämter, zu deren Aufgaben nicht nur die in der Pandemie priorisierte Bekämpfung und Begrenzung von Infektionsaus- brüchen gehört. Die Mitarbeitenden des ÖGD sind auch für die Beratungs- und Unterstützungsangebote für Schwangere, Familien, chronisch oder psychisch kran- ke Menschen sowie Menschen mit körperlichen Behinderungen und nicht zuletzt für die Durchführung von Kita- und Schuleingangsuntersuchungen zuständig. Daneben gibt es noch weitere Aufgaben im Bereich der Krankenhaushygiene, der Gesundheitsberichterstattung und der Beratung der Politik. Dafür braucht es aus- reichend Personal und eine moderne Ausstattung. Die Pandemie hat beides vieler- orts an die Grenzen der Belastbarkeit gebracht. Auch mit Personalverschiebungen und dem Einsatz von Studierenden sowie der Bundeswehr sind wichtige Aufgaben der Gesundheitsämter, zum Beispiel die jähr- lichen Schuleingangsuntersuchungen, zu kurz gekommen. Diese müssen nun zügig nachgeholt werden, um die Schultauglichkeit der angehenden Schulkinder medi- zinisch festzustellen und Kinder, die Unterstützung benötigen, an geeignete Maß- nahmen heranzuführen. Insbesondere für Kinder aus in sozial schwierigen Ver- hältnissen lebenden Familien ist es problematisch, wenn Schuleingangsunter- suchungen nicht stattfinden. Die Ärztekammer Berlin hat sich hierzu regional und überregional positioniert und engagiert. Abschließend möchte ich Ihren Blick noch auf einen weiteren Arbeitsplatz im Ge- sundheitswesen lenken: den Arbeitsplatz ärztliche Praxis. Wie berichtet, erarbei- tet die Ärztekammer Berlin derzeit eine Kampagne, um die Attraktivität des Aus- bildungsberufes Medizinische:r Fachangestellte:r und des Arbeitsortes ärztliche Praxis zu fördern. In der aktuellen auf qualitativ hohem Niveau stattfindenden Prüfungskampagne der Medizinischen Fachangestellten bereiten wir unsere zu- künftigen Mitarbeitenden in der ambulanten Versorgung auf die Berufsausübung vor. Dafür sucht die Ärztekammer Berlin ärztliche Ausschussmitglieder zur Durch- führung der Abschlussprüfungen. Welche Aufgaben Sie als Ausschussmitglied erwarten, berichten Ihnen auf Seite 29 zwei erfahrene Kolleg:innen. Wir brauchen ein starkes und handlungsfähiges Gesundheitssystem in allen Säulen der Versorgung! Ihre 3
Inhalt EDITORIAL AUS DER KAMMER Begrüßung von Kathleen Chaoui 3 Alle brauchen sie, viele suchen sie – wir prüfen sie! 29 Die Ärztekammer Berlin sucht Ärzt:innen für die Prüfungsausschüsse zur Abnahme der Prüfungen KURZ NOTIERT der Medizinischen Fachangestellten (MFA) Aktuelles / Nachrichten 6 Ärztliche Fortbildungen 30 Veranstaltungskalender der Ärztekammer Berlin AUS DER KAMMER Die Ärztekammer Berlin wird digitaler, 22 POLITIK & PRAXIS transparenter und flexibler Bericht von der Delegiertenversammlung 3 Fragen an … Leonor Heinz 34 am 15. Juni 2022 Von Ole Eggert Lust auf Forschung in der hausärztlichen Praxis 35 Von Leonor Heinz Wo drückt der Schuh? 23 Bericht vom Treffen der CIRS ambulant 37 Assistentensprecherinnen und Notfall am Telefon nicht erkannt Assistentensprecher am 20. Juni 2022 Von Ole Eggert KULTUR & GESCHICHTE Weiterbildung 24 Bestandene Facharztprüfungen Vor 75 Jahren: Die zehn medizinethischen 38 Mai und Juli 2022 Gebote aus Nürnberg Ein Kommentar von Matthias David Veranstaltungen der Weiterbildung 26 Freitagabend. 39 Medizinische Fachangestellte 27 Tischgespräche von Eva Mirasol Informationen zur Ausbildung und Weiterqualifizierung Impressum 40 Die fotografische Begleitung des Titelthemas Die Fotos für das Titelthema der vorliegenden Ausgabe hat Tamara Eckhardt von der Agentur OSTKREUZ gemacht. Dafür war sie im Gesundheitsamt Neu- kölln unterwegs und hat vor Ort den Arbeitsalltag der Mitarbeitenden aus den verschiedenen Fachbereichen sowie des Pandemiestabes dokumentiert. Titelbild Kinderärztin Betül Bayri im Gesundheitsamt Neukölln. 4
BERLINER ÄRZT:INNEN AUSGABE 08 / 2022 IM FOKUS Das Faxgerät bekommt Gesellschaft 10 Mit dem „Pakt für den Öffentlichen Gesundheits- dienst“ wollte der Bund bis 2026 rund vier Milliarden Euro für mehr Personal und eine bessere Ausstattung bereitstellen. Seit 2021 fließen die Mittel. Was haben sie bisher gebracht und was muss noch passieren? Von Angela Misslbeck Die Digitalisierung der Gesundheitsämter: 20 Ein Pakt ist nicht genug Von Kerstin Weber und Nicolai Savaskan Teamsitzung im Gesundheits- amt Neukölln. Mit Mitteln aus dem „Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst“ konnten hier bislang 14 neue Kolleg:innen eingestellt werden. 5
KURZ NOTIERT Ausstellung „Das ist fabelhaft hier“ – Postkarten aus Alt Rehse von Dr. Paul Mühlenkamp Die „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“ in Alt Rehse, Mecklenburg-Vorpommern, war während der NS-Zeit eine „reichsweit“ einmalige Einrichtung und diente der ideologi- schen Schulung von deutschen Ärzt:innen, Hebammen und Apotheker:innen sowie von Angehörigen der gesundheits- politischen Institutionen. Dafür wurden die alten Gutshäuser des Dorfes abgerissen und der Ort zu einem nationalsozialisti- schen Musterdorf umgestaltet. Nach der Eröffnung 1935 be- suchten führende Nationalsozialisten die Schule, die schnell ei- ne zentrale Rolle innerhalb der ärztlichen Fortbildung einnahm. Den beispielhaften Verlauf einer Fortbildung an der „Führer- schule der Deutschen Ärzteschaft“ können die Besucher:in- nen der Ausstellung „‘Das ist fabelhaft hier‘ – Postkarten aus Appellplatz und Schlafhaus 3: „Also am 1. Morgen kann ich schon Alt Rehse von Dr. Paul Mühlenkamp“ unter anderem anhand sagen ‚das ist fabelhaft hier‘“. von neun Schwarz-Weiß-Fotoansichtskarten nachvollziehen. Abbildung: Sammlung EBB Alt Rehse, Die Karten vermitteln einen Eindruck von der begeisterten Privatsammlung Dr. Sebastian Prüfer, Berlin Stimmung, die unter den Teilnehmenden herrschte und zei- gen, wie akademisch gebildete Männer und Frauen in einem sozialen Beruf zu Täter:innen in einem verbrecherischen poli- der Verein den Lern- und GeDenkOrt Alt Rehse ab August tischen System werden konnten. 2022 wieder regelmäßig an den Wochenenden zu öffnen. Aktuelle Informationen dazu werden auf der Website unter Geschrieben hat sie der 29-jährige Kinderarzt Dr. med. Paul → www.ebb-alt-rehse.de veröffentlicht. ∕ Mühlenkamp aus Düsseldorf, der an einem der ersten Lehr- gänge in Alt Rehse teilnahm. Adressiert an „Frau Dr. Mühlen- kamp“ zeigen die Karten auf der Vorderseite Motive der „Füh- rerschule der Deutschen Ärzteschaft Alt Rehse“. Auf der Rück- Die Biografie von Dr. med. Paul Mühlen- seite hat Mühlenkamp mit Bleistift gut leserlich in sauberer kamp (14.01.1906–21.03.1953) steht „deutscher Normalschrift“, die ab 1941 per Führererlass ver- stellvertretend für viele andere seiner bindlich war, seine Eindrücke notiert. Generation: Für die Ausstellung wurde den Karten jeweils ein bestimmter →g eboren und aufgewachsen in Aspekt – „Der Ort“, „Der Lehrgang“ – zugeordnet. Zudem sind Düsseldorf Schriftstücke und Fotos mit Angaben zur Biografie Mühlen- → Medizinstudium in Freiburg, kamps aus dem „Reichsärzteregister“ sowie aus dem „Haus- Münster und Düsseldorf buch Aachener Str. 208“ des Düsseldorfer Stadtarchivs und → 1932 Dissertation über die Auswirkungen der Syphilis aus zahlreichen kleineren Fundstellen im Internet zu sehen. auf Neugeborene → 1. Mai 1932 Eintritt in die NSDAP Durch die Karten ist ihr Verfasser einer von maximal 30 na- → ab 1933 Arzt in der Hitlerjugend (HJ), mentlich bekannten Frauen und Männern, die die Kurse der später HJ-Gebietsarzt „Führerschule“ besucht haben. Gemessen an der vermuteten → 1933 Hochzeit mit Elfriede Bob Gesamtzahl von rund 12.000 Kursteilnehmenden ist das eine → 1935 Geburt des Sohnes Hans Peter verschwindend kleine Gruppe. Die Postkarten hat Dr. Sebas- → ab Dezember 1939 Wehrdienst, zunächst als Sanitäter, tian Prüfer 2015 auf einer Internetauktion erworben und nach November 1942 bis April 1944 Russlandfeldzug einer Sonderausstellung im Jahr 2018 dem EBB Alt Rehse e. V. → Juni 1945 Entlassung aus amerikanischer Kriegs als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt. gefangenschaft → ab September 1945 stellvertretender Arzt, nach 1947 Interessierte können die Ausstellung gern nach Anmeldung niedergelassener Kinderarzt in Staufen unter E info@ebb-alt-rehse.de besichtigen. Zudem plant 6
BERLINER ÄRZT:INNEN AUSGABE 08 / 2022 Leitungswechsel und neue Strukturen Aus Berliner Krankenhäusern wurden uns folgende Änderungen gemeldet: Informationen über Veränderungen in Ihrem Haus senden Sie bitte an: E redaktion@aekb.de Gemeinschaftskrankenhaus DRK Kliniken Berlin Westend Bundeswehrkrankenhaus Berlin Havelhöhe (GKH) Ab dem 1. Juli 2022 verstärkt der renom- Die Oberfeldärztin Dr. med. Nicole Seit dem 1. Juli 2022 führen Dr. med. mierte Bauchchirurg und Experte für Müller ist seit dem 01.April 2022 neue Patricia Dé-Malter und Hatem Tay minimal-invasive und robotik-gestützte Klinische Direktorin der Inneren Klinik Abou-Ghazalé die Abteilung für Chi- Operationen, Prof. Dr. med. Gero Puhl, am Bundeswehrkrankenhaus Berlin. rurgie/Viszeralchirurgie und das Darm- als Leitender Arzt das Team für Klinik Sie ist Fachärztin für Innere Medizin, krebszentrum im GKH in kollegialer für Allgemein-, Viszeral- und Minimal- Hämato-Onkologie und Gastroentero- Leitung. Dé-Malter ist Fachärztin für invasive Chirurgie der DRK Kliniken logie mit Zusatzbezeichnung Palliativ- Chirurgie, Viszeral- und Gefäßchirurgie Berlin Westend. Puhl soll dort mit dem medizin. Nach Abschluss ihres Human- und hat die Leitung der Abteilung be- robotischen Chirurgie-Assistenzsystem medizinstudiums an der Humboldt- reits 2017 übernommen. Seit 2000 ar- „da Vinci“ Hightech-Medizin etablieren. Universität zu Berlin durchlief Müller beitete Dé-Malter als Oberärztin in der In den vergangenen sechs Jahren war die verschiedenen fachlichen und mili- Chirurgie im GKH und seit 2013 war sie Puhl Chefarzt der Bauch-, Tumor- und tärischen Weiterbildungsabschnitte stellvertretende Ärztliche Leiterin der minimal-invasiven Chirurgie der Askle- inklusive eines Jahres tropenmedizi- Abteilung. pios Klinik Altona, wo er unter anderem nischer Weiterbildung in Manaus, Bra- Abou-Ghazalé ist Facharzt für Chirurgie das da Vinci Zentrum Hamburg aufbau- silien und war seit 2012 als Oberärztin und war zuvor 22 Jahre als Chirurg in te und leitete. Zuvor war er als langjäh- und Leiterin der Interdisziplinären Tu- den DRK Kliniken Westend tätig, seit riger Leitender Oberarzt an der Charité – morkonferenz am Bundeswehrkran- zwölf Jahren als Oberarzt in der Klinik Universitätsmedizin Berlin und als Chef- kenhaus Hamburg tätig. Sie folgt auf für Allgemein-, Viszeral- und Minimal- arzt im Vivantes Klinikum im Friedrichs- Oberstarzt Dr. med. Ulrich Baum- invasive Chirurgie. ∕ hain tätig. ∕ garten. ∕ Anzeige 7
KURZ NOTIERT Leserbrief Sehr geehrte Damen und Herren, Kommentar der Redaktion ich beziehe mich auf Ihre Ausgabe vom Juni 2022 und den Weder der Artikel noch der Infokasten im Beitrag „Wach- Artikel „Wachsendes Wissen“ von Dr. Adelheid Müller-Lissner sendes Wissen“ (BÄ 06/2022) beinhalten die Aussage, dass mit dem Infokasten zur Definition PLURV auf Seite 19.Zu- sich die genannten Personen nicht äußern dürfen. Aller- nächst mit Interesse und zunehmend großem Befremden dings sollte sich jede Person, die sich öffentlich zu einem las ich hier, ergänzend zu der Erklärung „P“: Pseudoexpert:in- Thema äußert – insbesondere zu einem so viel diskutierten nen – die Anmerkung (durch die Verfasserin), dass zu den Thema wie den Corona-Maßnahmen –, auch der möglicher- Pseudoexpert:innen auch z. B. Professor Sucharit Bhakdi weise folgenden Kritik stellen. und Dr. Wodarg gehören. Nun ergeben sich 2 Fragen für mich hieraus: Der Begriff „Pseudoexpert:innen“ mag als abwertend wahr- 1. Dürfen sich nur noch ausgewiesene Virologen oder Epi- genommen werden. Im Text wird aber deutlich, dass der demiologen als Fachleute zu der Corona-Thematik äu- Begriff hier im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie ßern? Und diese Äußerungen sind dann einzig richtig? verwendet wird. Dem genannten Prinzip PLURV zufolge 2. Werden inzwischen in einer Kammer-Zeitschrift Kollegen gelten als Pseudoexpert:innen Wissenschaftler:innen, die verunglimpft und mit Namen benannt, weil sie nicht der oftmals einen Doktor- oder Professorentitel haben, aber allgemeinen Auffassung entsprechen? Dürfte ich also im nicht auf dem betreffenden Gebiet forschen. Dies ist so- Umkehrschluss als Verfasserin eines Artikels Kollegen na- wohl bei Prof. Dr. med. Sucharit Bhakdi als auch bei Dr. med. mentlich benennen, deren Äußerungen oder Taten mir Wolfgang Wodarg der Fall. Dennoch wurden beide Perso- missfallen und die ich als Fehler ansehe? nen von Teilen der Öffentlichkeit als Experten auf dem Gebiet der Infektionsforschung bzw. Epidemiologie im In einer Zeit, in der die Medien stärker als zuvor polarisieren, Zusammenhang mit Corona-Viren wahrgenommen und sollte doch zumindest in einer Mitgliederzeitschrift umsich- haben dieser Auffassung auch nicht widersprochen. tiger mit derartigen Äußerungen zu Kollegen umgegangen werden. Dies ist zumindest irreführend – insbesondere da sie wie- derholt anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnissen Mit freundlichen Grüssen widersprochen haben. ∕ Dr. I. Taufmann ∕ Leserbrief Guten Tag, ich bin Hausärztin in einer großen Gemeinschaftspraxis im während der Pandemie belastet hat und wie wenig Kraft übrig Berliner Süden. Ich habe mich teilweise sehr über den Artikel geblieben ist. Ich würde gerne einen positiven und versöhn- „Wachsendes Wissen – Welche Rolle spiel(e) die Wissenschaft lichen Schluss über die Arbeit in einer Hausarztpraxis schrei- für Berliner Ärzt:innen in der Corona-Zeit“ in 06/22 geärgert ben. Das ist mir allerdings in der augenblicklichen Situation, und möchte den Artikel nicht unkommentiert stehen lassen. in der wir mit Kollegenmangel in den Bezirken, immer noch Den Aussagen zur Wissensgewinnung stimme ich im Wesent- völlig überlasteten Krankenhäusern, Pflegeheimen, die sich lichen zu. Fassungslos gemacht hat mich allerdings die Aus- mit überbordender Bürokratie in Zeiten von Pflegekräfte- sage, dass in den Praxen, über die berichtet wurde, nach ein mangel beschäftigen müssen, nicht möglich. paar Wochen alles wieder beim Alten gewesen sei. Ich war immer gerne Kassenärztin. Ich kann jetzt erstmalig Wir haben in unserer Praxis fast 2 Jahre im Ausnahmezustand Kolleginnen verstehen, die ihre KV-Zulassung zurückgeben verbracht. Von Januar 2020 (erster COVID-19-Patient) bis März und die Praxis abschließen. 2022 haben wir und die MFA unserer Praxis weit über unsere Belastungsgrenzen hinweg gearbeitet. Jetzt, nach der Pan- demie bzw. in der Pandemiepause machen wir einfach weiter Mit freundlichen Grüßen wie vorher. Ich merke allerdings, wie sehr mich die Situation Dr. med. K. Grandke ∕ 8
BERLINER ÄRZT:INNEN AUSGABE 08 / 2022 Klimawandel Arzt SUCHT Hilfe – problematischem Subs- Hitzeschutzpläne jetzt online abrufbar Suchtproblematik tanzkonsum professionell und kollegial. Suchen Sie bei Ärztinnen und Hilfe, Beratung, Unter- Ärzten stützung? Nutzen Sie die Möglich- Suchen Sie Hilfe, keit, um mit uns in Kontakt zu kommen: Beratung, E kontakt-suchtpro- Unterstützung? gramm@aekb.de Das Interventionspro- Weitere Informationen gramm der Ärztekammer finden Sie auf der Website Berlin berät und begleitet → www.aekb.de/sucht- Ärztinnen und Ärzte mit intervention PD Dr. med. Peter Bobbert, Präsident der Ärztekammer Berlin, stellt agen Sie uns Ihre Meinung zu den Artikeln S im Juni 2022 die Hitzeschutzpläne auf einer Pressekonferenz vor. in „Berliner Ärzt:innen“. Foto: André Wagenzik Schreiben Sie uns: E redaktion@aekb.de Der Klimawandel gehört zu den größten Gesundheitsbedro- Anzeige hungen der Menschheit. Eine der Folgen sind häufigere und längere Hitzewellen – auch hierzulande. Zum Schutz von Pa- tient:innen und der Bevölkerung vor den gesundheitlichen Belastungen der extremen Wärme hat das „Aktionsbündnis Hitzeschutz Berlin“ – initiiert durch die Ärztekammer Berlin, die Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit e. V. (KLUG) und die Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesund- heit, Pflege und Gleichstellung – Musterhitzeschutzpläne er- arbeitet. Am 20. Juni 2022 wurden sie im Rahmen einer Pres- sekonferenz vorgestellt, siehe „Berliner Ärzt:innen“ 07/2022 Seite 6. Entwickelt wurden die Pläne für Krankenhäuser, ambulante Praxen, stationäre Pflegeeinrichtungen, ambulante Pflege- dienste und Bezirksämter. Sie dienen als Grundlage für die Erstellung eigener Hitzeschutzpläne in den jeweiligen Ein- richtungen. Ab sofort können die Musterhitzeschutzpläne sowie hilfreiche Schulungsmaterialien im Internet unter: → https://hitzeschutz-berlin.de/ abgerufen werden. ∕ Berliner Ärzt:innen können Sie auch auf unserer Website lesen: → www.aekb.de/ mitgliederzeitschrift 9
IM FOKUS Das Faxgerät bekommt Gesellschaft Vier Milliarden Euro wollte der Bund bis 2026 für mehr Perso- nal und eine bessere Ausstattung im Öffentlichen Gesund- heitsdienst (ÖGD) bereitstellen. Seit 2021 fließen die Mit- tel. Doch nun scheint das Förderprogramm ins Stocken zu gera- ten. Was hat es bisher gebracht und was muss noch passieren? Text: Angela Misslbeck Fotos: Tamara Eckhardt, Noch dominieren Aktenordner den Arbeitsalltag im Gesundheitsamt Neukölln. OSTKREUZ / Ärztekammer Berlin 10
BERLINER ÄRZT:INNEN AUSGABE 08 / 2022 Im Sozialpsychiatrischen Dienst des Gesundheitsamtes Neu- kölln steht das Fax an seinem angestammten Platz. „Wir ge- Zahlen, Daten, Fakten ben unser Faxgerät nicht ab“, sagt Fachbereichsleiterin Ines Gögelein-Mahfouz mit einem Augenzwinkern. Doch das Fax- Der Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) gerät ist in Verruf geraten. Denn es ist zum Symbol für die tech- wurde am 5. September 2020 von der Gesundheitsminister- nische Rückständigkeit der Gesundheitsämter in Deutsch- konferenz beschlossen. Er hat ein Finanzvolumen von vier land geworden. Der ehemalige Bundesgesundheitsminister Milliarden Euro, die bundesweit nach dem Königsteiner Jens Spahn (CDU) hatte ihm den Kampf angesagt. Seine Schlüssel auf die Länder verteilt werden. Mit diesen Mitteln Waffe: Der Pakt für den ÖGD, den er mit Unterstützung der verfolgt der Pakt vier zentrale Ziele: damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und gemein- sam mit den Ländern im Herbst 2020 schnürte. Da war der Personalaufbau: Dafür stehen insgesamt 3,1 Milliarden desolate Zustand vieler Gesundheitsämter aufgrund der Coro- Euro zur Verfügung, die in zwei Tranchen ausgereicht wer- na-Pandemie nicht mehr zu leugnen. den. Bis Ende 2021 sollten mindestens 1.500 neue, unbe- fristete Vollzeitstellen in den Behörden des Öffentlichen Knapp zwei Jahre später haben die Faxgeräte in den deut- Gesundheitsdienstes geschaffen und besetzt sein. Bis Ende schen Gesundheitsämtern immer noch viel zu tun. Und das 2022 sollen mindestens 3.500 weitere Vollzeitstellen ein- dürfte auch noch ein Weilchen so bleiben. „Solange die Amts- gerichtet werden. gerichte technisch nicht aufgerüstet sind, solange die Digi- talisierung immer noch Schnittstellenbrüche verursacht, so- Digitalisierung: Für diesen Bereich sind 800 Millionen Euro lange der Datenschutz als Verhinderung eingesetzt wird und vorgesehen. Etwa 180 Millionen Euro behält sich der Bund an der Lebenswelt der Menschen vorbeigeht, solange brau- für die Entwicklung und Bereitstellung zentraler Dienste chen wir das Faxgerät vielleicht als Symbol, als Mahnung all vor. Rund 620 Millionen Euro werden den Ländern in meh- dessen“, meint der Neuköllner Amtsarzt PD Dr. med. habil. reren Schritten ausbezahlt. 2021 flossen insgesamt 65 Mil- Nicolai Savaskan. lionen Euro. Zuvor hatte der Bund schon Soforthilfen von 50 Millionen Euro für die technische Modernisierung des Momentan steht das Faxgerät jedoch nicht nur als Mahnsym- ÖGD bereitgestellt. Für dieses Jahr stehen rechnerisch bol, sondern aus blanker Notwendigkeit in den Gesundheits- 220 Millionen Euro zur Verfügung. Sie können auf der Basis ämtern. Und es hat Gesellschaft bekommen: Konferenzsyste- eines digitalen Reifegradmodells beantragt werden. So me, Laptops und Handys sind eingezogen. Ein Soforthilfe- bestimmen die Ämter und Institutionen ihren Status quo programm des Bundes im Coronajahr 2020 und die erste anhand verschiedener Dimensionen. Ziel ist es, den Digi- Tranche des ÖGD-Paktes haben die technische Ausstattung talisierungsgrad mit den aktuellen Fördermitteln in min- der meisten Ämter bereits deutlich verbessert. In Berlin-Rei- destens drei Dimensionen um mindestens zwei Stufen zu nickendorf ist sie inzwischen so gut, dass Amtsarzt Patrick verbessern. Larscheid kaum mehr weiß, für welche Hardware er weitere Mittel aus dem Pakt noch verwenden soll. „Der Digitalisie- Steigerung der Attraktivität des ÖGD: Dieses Ziel um- rungsbedarf ist unterschiedlich groß. Aber am stärksten fasst mehrere Maßnahmen: Zum einen haben die Bundes- brennen uns allen die Softwarelösungen unter den Nägeln“, länder erklärt, dass sie eine attraktive Bezahlung für das sagt er. Womit wir schon beim ersten Problem wären. Doch ärztliche Personal anstreben, die auch für verbeamtetes schauen wir zunächst, was bisher gut gelaufen ist. Personal gelten soll. Zum anderen sollen Medizinstudie- rende bereits im Studium stärker an die Themen und Die Erfolge: Rund 2.300 neue Stellen Aufgaben des Öffentlichen Gesundheitsdienstes heran- Eine Erfolgsmeldung kam im Juni 2022 aus dem Bundesge- geführt werden. Dazu werden nun Famulaturen und das sundheitsministerium (BMG): Demnach sind bis zum 31. De- Praktische Jahr im ÖGD ermöglicht. Angestrebt ist auch zember 2021 in den Behörden des ÖGD insgesamt 2.290 un- ein Ausbau der Fort- und Weiterbildung und eine Kampa- befristete Stellen neu geschaffen und besetzt worden. Davon gne, die den Gesundheitsdienst in seiner Aufgabenbreite werden 1.775 Stellen aus Bundesmitteln im Rahmen des Pak- und Bedeutung sichtbarer und verständlicher macht. tes für den ÖGD finanziert, teilte das BMG mit. „Der ÖGD-Pakt wirkt“, konstatierte Bundesgesundheitsminister Karl Lau- Umsetzung internationaler Vorschriften zur Gesund- terbach (SPD) bei diesem Anlass. heitssicherheit: 50 Millionen Euro sind für ein Förderpro- gramm zur Umsetzung internationaler Vorschriften vor- Die neu geschaffenen Stellen stehen dabei nicht nur für gesehen. Dabei geht es etwa darum, schnelles Reagieren ärztliches Personal zur Verfügung. Aufholbedarf hatten auf zukünftige Pandemien sicherzustellen. die Ämter auch beim Sozialdienst und in der Verwaltung. 11
IM FOKUS Doch im ärztlichen Dienst hat sich die Lage besonders zuge- Die Kehrseite: Fast ein Drittel unbesetzte Arztstellen spitzt. Denn zwischen 1998 und 2018 hat die Zahl der Ärz- Berlin hat 2021 aus den Pakt-Mitteln insgesamt 202 neue tinnen und Ärzte im ÖGD um rund 27 Prozent abgenommen – Stellen im ÖGD geschaffen, wie die Senatsverwaltung für von 1.072 auf 7841. Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung auf Anfrage mitteilte. Davon wurden 180 Stellen in den Bezirken Nach Angaben des Bundesverbandes der Ärzt:innen im Öffent- geschaffen und 22 auf Landesebene. Mit dieser Verteilung lichen Gesundheitsdienst (BVÖGD) standen den knapp 400 ist nicht jeder einverstanden. „Wenn es Geld gibt, ist jeder Gesundheitsämtern in Deutschland am 31. Dezember 2020 ÖGD, wenn es Probleme gibt, sind es die Gesundheitsämter. gerade einmal 407 entsprechende Fachärztinnen und Fach- Dieser Mechanismus funktioniert sehr zuverlässig“, sagt etwa ärzte zur Verfügung (Pressemitteilung des BVÖGD vom Larscheid. Er würde es begrüßen, wenn die Pakt-Mittel zu 11.04.2022). „Je nach regionaler Verteilung arbeiten damit 100 Prozent in die Gesundheitsämter fließen. Doch geschaffe- in den Gesundheitsämtern in Deutschland nur ein bis zwei ne Stellen sind nicht gleich besetzte Stellen. Von aktuell ins- Fachärztinnen oder Fachärzte für Öffentliches Gesundheits- gesamt 2.053 vollzeitäquivalenten Stellen im Berliner ÖGD wesen – mitunter auch gar keine“, so der BVÖGD-Vorsitzende waren nach Senatsangaben am 31. Dezember 2021 knapp Dr. med. Johannes Nießen. Er lobt, dass die Kommunen mit 19 Prozent unbesetzt. Die mit Abstand größte Vakanz gibt Mitteln aus dem Pakt zusätzliches Personal einstellen könn- es mit 28,6 Prozent unbesetzten Stellen bei den ärztlichen ten. „Wichtig ist aber, dass wir eine langfristige Perspektive Beschäftigten. Das Problem: Wenn die Stellen aus dem ÖGD- bieten können und nicht nur befristete Verträge“, so Nießen Pakt nicht innerhalb der Förderfrist besetzt werden können, (siehe Interview). verfallen die bereitgestellten Mittel. 1 Peter Tinnemann: Quantifizierung der Entwicklungen des Mangels an Fachärzten/innen für Öffentliches Gesundheitswesen im Öffentlichen Gesundheitsdienst und seine Auswirkungen Ein Fachbereich des Gesundheitsamtes Neukölln ist der Kinder- und Jugendgesundheitsdienst. Das Team besteht unter anderem aus Ärzt:innen, Medizinischen Fachangestellten, Sozialarbeiter:in- nen und einer Ernährungsberaterin. Zu den zentralen Aufgaben des Fachbereichs gehören die Schuleingangsuntersuchungen. 12
BERLINER ÄRZT:INNEN AUSGABE 08 / 2022 „Da bin ich guter Hoffnung, wenn da nicht noch die Gehaltsunterschiede wären …“ Angela Misslbeck im Gespräch mit Dr. med. Johannes Nießen, Facharzt für Allgemeinmedizin, für öffent- liches Gesundheitswesen und Sozialmedizin. Er ist seit 2019 Leiter des Gesundheitsamtes der Stadt Köln und seit Mai 2022 Vorsitzender des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesund- heitsdienstes (BVÖGD). nicht auszahlt. Diese Mittelsperre des Deutschland etabliert und nicht jedes Bundesfinanzministers bringt die Kom- Gesundheitsamt allein agieren lässt. munen in Unsicherheiten. Folglich trau- Dieser Wildwuchs wird durch den Pakt en sich viele Kämmerer:innen nicht, die in seiner jetzigen Gestaltung richtig- entsprechenden Stellen einzurichten. gehend gefördert. Das macht es eben Denn sie wollen zunächst die Gewiss- nicht möglich, dass die Gesundheits- JN Dr. med. Johannes Nießen heit, dass das Geld auch wirklich fließt. ämter untereinander Kontakt haben. Foto: Martina Goyert Der BVÖGD hat auch kritisiert, dass Was wäre also nötig, damit die Digi- viele der neu geschaffenen Stellen be- talisierung im Öffentlichen Gesund- AM Herr Dr. Nießen, mit dem „Pakt fristet sind, weil die Mittel befristet heitsdienst wirklich vorankommt? für den ÖGD“ hat die Politik im sind. Das Bundesgesundheitsministe- Corona-Sommer 2020 anerkannt, dass rium sprach Ende Juni 2022 aber von Das Grundproblem besteht darin, dass es im Öffentlichen Gesundheitsdienst 2.290 unbefristeten Stellen, die geschaf- das Thema Gesundheit föderal in den an Personal und Technik mangelt. Was fen und besetzt worden seien. Wie passt Ländern verortet ist und der Bund zwar ist seitdem passiert? das zusammen? unterstützen, aber nur teilweise verbind- liche Vorgaben machen kann. Es muss JN Die ersten Mittel aus dem Pakt Nach unseren Informationen sind viele darauf geachtet werden, dass bei der sind schon 2021 geflossen. Aus der neu geschaffenen Stellen befristet. Digitalisierung im öffentlichen Gesund- der ersten Tranche mit einem angestreb- Es ist eine Forderung von uns als BVÖGD, heitswesen standardisiert vorgegangen ten Stellenaufbau von 1.500 Stellen sind diese befristeten Stellen zu entfristen. und eine einheitliche Software ange- insgesamt 2.290 Stellen besetzt worden. Das ist unabdingbar, um die Handlungs- wandt wird, mit der man sowohl mit- Ein Teil der teuren Stellen wurde also fähigkeit der Gesundheitsämter lang- einander als auch mit dem Robert Koch- günstiger gemacht. Dadurch sind nicht fristig zu gewährleisten. Institut (RKI) und den Landesgesund- nur Ärztinnen und Ärzte eingestellt wor- heitsbehörden kommunizieren kann. den, sondern zum Beispiel auch Sozial- Müssen dann auch die Bundesmittel arbeitende und -helfende und Verwal- entfristet werden? Braucht es aus Ihrer Sicht also mehr Wei- tungsbeamte. Etwa 25 Prozent der Stel- sungsbefugnisse des Bundes in Form len aus der ersten Tranche wurden für Man sollte sich auf Bundes- und Länder- einer neuen Bundesoberbehörde oder Ärztinnen und Ärzte beantragt. Das ebene auf eine dauerhafte Finanzierung wahlweise mehr zentrale Führungs- zweite Viertel betraf Verwaltungsbeam- einigen. Eine 50:50-Regelung würde den kompetenzen für das RKI? te. Jedes Gesundheitsamt meldet eben Kommunen schon sehr helfen und auch seinen spezifischen Bedarf. Das ist auch die letzten Ängstlichen dazu bewegen, Ich hätte großes Interesse an so einer gut so. den Antrag für die nächste Tranche aus- Einrichtung. Das RKI arbeitet sehr gut, zufüllen. aber im Föderalismus kann es nicht Das ist ein erster Effekt, aber es sind mehr als Empfehlungen geben. Ich wür- noch lange nicht die versprochenen Personal ist das eine Thema, das andere de mir manchmal etwas mehr Durch- 5.000 neuen Stellen. Wie geht es weiter? ist die Digitalisierung: Wo hat es hier schlagskraft wünschen, so wie in Frank- bereits Effekte gegeben? reich. Dann macht man eine Regelung Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela für das ganze Land und alle wissen, dass Merkel hat vor zwei Jahren gesagt, es Das Hardware-Geld ist da. Wo früher in Toulouse das gleiche Vorgehen gilt gibt 5.000 Stellen und vier Milliarden noch über Faxgeräte gelächelt wurde, wie in Paris. Hier kocht jedes Bundes- Euro für die Gesundheitsämter. Davon stehen heute Konferenzsysteme. Jetzt land sein eigenes Süppchen, zum Bei- ist bei Weitem noch nicht alles ange- geht es um die Software. Ich hätte mir spiel bei Verstößen gegen die einrich- kommen. Das stockt momentan, weil gewünscht, dass man ein einheitliches tungsbezogene Impfpflicht. Dieser der Bund die Fördergelder an die Länder Dokumentationssystem für den ÖGD in Föderalismus kostet Ressourcen und 13
IM FOKUS macht uns manchmal auch gegenüber Wie weit ist die Angleichung gediehen? oder einen Infektionsschutzbeauftrag- den Bürger:innen unglaubhaft. Der ÖGD te:n. Diese Person würde bei einer Pan- würde an einigen Stellen besser funk- Auch dafür sieht der Pakt Mittel vor. Das demie in die Landes-Task Force ge- tionieren, wenn er klare Ansagen von wird noch wenig genutzt, aber die Op- schickt, um dort sofort mitzuwirken. einem Amt aus Berlin hätte und nicht tion besteht. Zehn Prozent des Geldes Das würde die Reaktionszeit des ÖGD jedes Bundesland seine eigenen Regeln für Personal können für Gehaltssteige- eklatant verkürzen. aufstellt. rungen verwendet werden. Wann rechnen Sie flächendeckend Gehen die Maßnahmen des Paktes Diese Gehaltssteigerungen scheitern mit spürbaren Veränderungen durch denn insgesamt in die richtige Rich- ja mitunter nicht einmal an den Ar- den Pakt für den ÖGD? tung oder bräuchte es zusätzliche oder beitgeber, sondern an den Vertretun- gar ganz andere Maßnahmen? gen der Arbeitnehmer:innen … Die ersten Veränderungen sind ja jetzt zum Glück schon zu spüren, und für die Der Pakt tut an der Stelle gut, wo der Ja, das schürt Neid zwischen den Be- weitergehenden Veränderungen muss Schwerpunkt liegt, nämlich beim Per- rufsgruppen in den Ämtern. Aber die das Bundesfinanzministerium die vor- sonal. Da ist es positiv, dass die Frei- Krankenhausärzt:innen verdienen nun gesehenen Mittel freigeben, damit die heiten der einzelnen Gesundheitsämter mal einfach 10 bis 30 Prozent mehr als Länder das Geld weitergeben können. zum Tragen kommen. Aber es hakt noch die Ärztinnen und Ärzte im Gesundheits- Bei der Digitalisierung hängen wir noch: an zwei Stellen. Das ist zum einen die dienst. Es wäre schön, wenn die Verei- Wir haben die Hardware schon bekom- Frage, wie wir bei der Digitalisierung nigung der kommunalen Arbeitgeber:in- men und sind damit in den Startblöcken mit den Füßen auf die Erde kommen nen (VKA) akzeptieren würde, dass es für die einheitliche Software. Aber die- und zum anderen die Entfristung der eigene ärztliche Tarifverträge gibt. Dann ses Ziel erreichen wir nur, wenn wir eine Stellen nach fünf Jahren. Das ist bei- könnte man die Neiddebatte verlassen. lange Mittelstrecke laufen. Auch dafür des noch nicht auf dem besten Weg. Beim Medizinischen Dienst der Kran- wäre eine Entfristung der Pakt-Mittel kenkassen hat es funktioniert. Aber die sinnvoll. ∕ Eines der vier Ziele des Paktes ist ja kommunalen Arbeitgeber sind eine Be- auch die Attraktivitätssteigerung. Wie tonwand. weit ist man auf dem Weg zu diesem Ziel vorangekommen? Was der Pakt nicht vorsieht, sind größere Umstrukturierungen. Ist In einigen Großstädten hat der ÖGD so etwas aus Ihrer Sicht nötig? durch die Pandemie einen regelrechten Hype erlebt. Denn viele Medizinstudie- Das ist eine spannende Frage. Wir haben rende haben dort mitgeholfen, anstatt in der Krise festgestellt, dass wir ziem- zu kellnern und so Einblicke bekommen. lich viel Zeit gebraucht haben, um rich- Das ist wieder abgeflaut. Dafür sind seit tig loszulegen. Daher gibt es nun ver- Mai die Famulatur und das Praktische schiedene Überlegungen, mit dem Geld Jahr im ÖGD möglich. Das bewerben wir aus dem Pakt auch gewisse Umstruk- jetzt noch einmal, und da bin ich guter turierungen auf den Weg zu bringen. Hoffnung, wenn da nicht noch die Ge- Angedacht ist etwa eine Art Task Force. haltsunterschiede wären … Dabei hätte jedes Gesundheitsamt eine „Berlin profitiert wie alle anderen Bundesländer deutlich vom Angemeldet: Millionenförderung für Digitalisierung Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst“, erklärte Ge- Im Bereich Digitalisierung standen für Berlin 2021 laut Se- sundheitsstaatssekretär Dr. Thomas Götz „Berliner Ärzt:in- natsgesundheitsverwaltung 3,37 Millionen Euro zur Verfü- nen“. Wie viel Geld aus dem Pakt bereits in Berlin angekom- gung, die zu 80 Prozent auf die Bezirke verteilt wurden. Die men ist und verwendet wurde, ließ sich indes nicht eruieren. restlichen 20 Prozent werden für zentrale landesweite Vor- Man findet hier und da mal eine Zahl. Aber einen Gesamtüber- haben verwendet. Für 2022 kann Berlin maximal 16 Millionen blick hat offenbar derzeit niemand, auch die Senatsgesund- Euro abrufen. Diese Summe hat das Land den Senatsangaben heitsverwaltung nicht. zufolge bereits im Juni vorangemeldet. Bis zum 1. August 14
BERLINER ÄRZT:INNEN AUSGABE 08 / 2022 Mit Monitor und Stadtplan: Dr. med. Frank Kunitz ist Leiter des Bereichs Infektionsschutz & umweltbezogener Gesundheitsschutz des Gesund- heitsamtes Neukölln. Kunitz wechselte während der Pandemie vom Gesundheitsamt Berlin-Lichtenberg nach Neukölln. Hier kümmert er sich um die Bereiche „Infektionsschutz“, „Hygieneüberwachung von Einrichtungen“ sowie „Umweltmedizin“ und „Trinkwasserhygiene“. mussten die Förderanträge gestellt sein. Ist der Zuschlag er- die Klärung einer zukünftig zentralen Betriebsumgebung für teilt, müssen die Projekte noch in diesem Jahr starten, damit die Fachverfahren sowie die frühzeitige Einbindung von Be- die Mittel nicht verfallen. Zur Vermeidung von Doppelförde- schäftigtenvertretungen und Datenschutz“, so der Staats- rung finde eine sehr intensive Abstimmung zwischen den Län- sekretär. Für die weitere Umsetzung des Paktes stehe das dern sowie innerhalb Berlins mit den Bezirken und anderen Land in gutem Austausch mit dem Bund und den Bezirken. Stakeholdern statt, so die Senatsverwaltung auf Anfrage im „Gemeinsam mit allen Beteiligten wollen wir den Öffentlichen Juni dieses Jahres.. Gesundheitsdienst umfassend modernisieren“, so Götz. „Vorrangiges Ziel ist die Entwicklung einer modular aufge- Die Lage: „Weit vom Normalbetrieb entfernt“ bauten, anwenderzentrierten, intuitiven und einheitlichen Es tut sich also etwas im ÖGD, möchte man meinen, schenkt Software, die sowohl fachliche als auch übergreifende An- man der Politik Glauben. Doch wie ist der Ist-Zustand in den forderungen zu IT-Sicherheit und Datenschutz erfüllt“, so die Ämtern im Sommer 2022? Der Sozialpsychiatrische Dienst Senatsverwaltung weiter. Zentral sei die Etablierung von im Gesundheitsamt Neukölln befindet sich trotz vorläufigem Schnittstellen zu Fachanwendungen wie der elektronischen Rückgang der Infektionszahlen „weit von einem Normalbe- Patientenakte, der Telematikinfrastruktur sowie die Kompa- trieb entfernt“, berichtet Ines Gögelein-Mahfouz. „Der derzei- tibilität mit dem Onlinezugangsgesetz (OZG). tige Ärzt:innenmangel zwingt uns bei Kriseninterventionen zur Priorisierung auf ein Mindestmaß. Im Ergebnis versuchen Gesundheitsstaatssekretär Götz spricht in diesem Zusam- wir hier, die hoheitlichen Aufgaben der Gefahrenabwehr auf- menhang von einer ersten Entlastung der Bezirke durch die rechtzuerhalten“, so die Fachbereichsleiterin weiter. zentrale Koordinierung und Steuerung der Gesundheitsver- waltung entsprechend dem E-Government-Gesetz. „Hier geht Der Neuköllner Amtsarzt Savaskan fürchtet den Herbst. es um den Austausch mit anderen Bundesländern mit dem Denn im Oktober laufen die Verträge für das Personal aus, Ziel der Harmonisierung der IT-Fachverfahrenslandschaft, das aus anderen Bereichen für die Pandemiebewältigung 15
IM FOKUS angeworben wurde, und eine Verlängerung war bei Redak- tionsschluss nicht in Sicht. „Wenn es mit der mindestens gro- ßen Krankheitswelle durch die Omikron BA.5-Varianten los- geht, haben wir kein Personal außer unser Stammpersonal“, so Savaskan. Zusätzlich zur Pandemie seien die Regelauf- gaben durch gesetzliche Änderungen gestiegen. Als Stich- worte nennt er die einrichtungsbezogene Corona-Impfpflicht, das Masernschutzgesetz und die Teststellenüberwachung. „On top kommt die Versorgung Geflüchteter, aktuell aus der Ukraine. Jedes schulpflichtige Kind hat ein Anrecht auf eine Zuzugsuntersuchung. Und das alles neben den Regelaufga- ben“, sagt der Neuköllner Amtsarzt. Problem I: Befristete Mittel verfallen Ist also doch nicht alles Gold, was beim ÖGD-Pakt glänzt? In der Tat scheint es mehrere Probleme zu geben. Eines davon ist die Befristung der Mittel. Für sämtliche Förderwellen des Paktes gelten Fristen. Werden sie nicht eingehalten, verfallen die Mittel. So muss beantragte Hardware bis zu einem be- stimmten Zeitpunkt geliefert sein und neu geschaffene Stel- len müssen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt besetzt sein. „Das macht uns große Schwierigkeiten“, erklärt der Reini- ckendorfer Amtsarzt Larscheid. Denn Ärzt:innen für den ÖGD sind nicht erst seit gestern Mangelware und Lieferfristen in Zeiten von Chipmangel und Logistikproblemen einiger- maßen unkalkulierbar. „Ein Teil der Digitalisierungsmittel ist 2021 verfallen, weil Hardware nicht bis zum Jahresende geliefert werden konnte“, sagt Larscheid. Die Vorsitzende des Landesverbandes Berlin-Brandenburg der ÖGD-Ärzt:innen (LVÖGD), Dr. med. Kristina Böhm, kriti- siert, dass bei der aktuellen zweiten Digitalisierungsförder- welle die Antragsfrist zu kurz ist. „Die Zeitschiene ist so ab- surd, dass man den Eindruck bekommen könnte, dass gar nicht beabsichtigt ist, das zur Umsetzung zu bringen“, sagt sie. Gefordert ist von jedem Gesundheitsamt das Abarbeiten eines elfseitigen Reifegradmodells. Wer dazu nicht auf IT- Spezialist:innen in der Verwaltung zurückgreifen kann, hat es schwer. Und IT-Spezialist:innen für die Verwaltung zu ge- winnen, ist schon lange nicht mehr einfach. Doch das ist ein anderes Problem. Problem II: Softwarelösungen fehlen „Digitalisierung scheitert bereits auf der ersten Stufe, wenn bezirkliche IT-Stellen den aktuell generierten Arbeitsdruck mangels Personal nicht bewältigen können“, sagt der Neuköll- ner Amtsarzt Savaskan. Doch selbst wenn das Personalprob- lem gelöst wäre, käme die Digitalisierung der Gesundheits- ämter nur schleppend voran. „Uns fehlt die vernünftige Soft- ware“, erklärt Amtsärzt:innen-Sprecherin Dr. med. Nicoletta Das Team vom Pandemiestab des Gesundheitsamtes Neukölln ist Wischnewski. Diese einzurichten, sei mit sehr vielen Schritten regelmäßig im Bezirk unterwegs und informiert zu den geltenden verbunden. „Wir versuchen, das im Gleichklang mit der Senats- Infektionsbestimmungen und zum Thema Coronaprävention. gesundheitsverwaltung zu erarbeiten“, sagt Wischnewski – 16
BERLINER ÄRZT:INNEN AUSGABE 08 / 2022 Modernes Medienformat: Seit Oktober 2020 berichtet der Pandemiestab des Gesundheitsamtes Neukölln mit seinem Podcast „Feierabendfunk“ aus dem Alltag der Kontaktnachverfolgung, der Corona-Hotline und anderen Bereichen. Der Podcast ist direkt und mit einem Augenzwinkern auf den Punkt. während ihr Reinickendorfer Kollege Larscheid, ebenso wie Problem III: Mittelsperre und Personalplanung kollidieren LVÖGD-Chefin Böhm fürchtet, dass das in der vorgegebenen Probleme gibt es auch bei der Personalgewinnung. Dabei zeigt Frist überhaupt nicht machbar ist. die Befristung der Pakt-Mittel bis 2026 eine weitere Kehrseite: „Weil die Mittel befristet sind, sind die Kommunen zurück- Hinzu kommt die fehlende Einheitlichkeit der Softwarelösun- haltend bei der Einrichtung unbefristeter Stellen“, erklärt gen. „Es gibt keine einzige länderübergreifende Maßnahme Böhm. Hinzu kommt aktuell ein weiteres Hindernis: Der Bund bei der Digitalisierung“, kritisiert Savaskan. Kommen also hat die Pakt-Mittel für die zweite Tranche Personal noch nicht 16 Insellösungen? Savaskan ahnt Böses: „Die Gewinner des an die Länder weitergereicht. Warum das so ist, hat das Bun- ÖGD-Paktes werden mit aller Wahrscheinlichkeit die Vertrags- desfinanzministerium trotz mehrfacher Nachfrage nicht er- partner der Ministerien sein.“ Er fordert stattdessen „Public klärt. Das Bundesgesundheitsministerium teilte immerhin Money, Public Code“2. Ein Vorbild sei die Corona-Warn-App. mit, sie „wird für das Haushaltsjahr 2022 nach Abschluss der Im Bereich des Infektionsschutzes hat auch die Software Änderung des Finanzausgleichsgesetzes den Ländern aus- „SORMAS“ nach Savaskans Meinung Verbesserungen ge- gezahlt.“ Laut BMG werden die Mittel voraussichtlich im vier- bracht. „Das ist ein bundesweites Verfahren, keine Insel- ten Quartal 2022 ausgezahlt. „Der Zahlungsverkehr im Rah- lösung.“ men der Umsatzsteuer folgt eingespielten, automatisierten Verfahren bei Bund und Ländern. Bereits für die erste Tranche kam der im Pakt für den ÖGD genannte Zahlungstermin 2 www.oeffentliche-it.de/-/public-money-public-code-digitale- → (1. Juli 2022) daher nicht zur Anwendung“, so ein Sprecher souveraenitaet-der-verwaltung-mit-freier-software auf Nachfrage. 17
„Digitalisierung scheitert bereits auf der ersten Stufe, wenn bezirkliche IT-Stellen den aktuell generierten Arbeitsdruck mangels Personal nicht bewältigen können“, sagt der Neuköllner Amtsarzt PD Dr. med. Nicolai Savaskan. 18
BERLINER ÄRZT:INNEN AUSGABE 08 / 2022 Solange die Gelder nicht zur Verfügung stehen, fürchtet der und Brandenburg und Präsident der Ärztekammer Berlin. Verband der ÖGD-Ärzt:innen große Zurückhaltung bei der „Somit haben wir strukturell das Problem, dass die Attrak- Stellenplanung. „Die Haushaltsplanungen für 2023 laufen tivität und die Bezahlung im Vergleich zum stationären und auf Hochtouren und damit auch die Stellenplanungen. Die ambulanten Sektor schlechter sind. Dadurch fehlt die Nach- Kämmerer:innen sind aber zurückhaltend, Gelder zu verpla- frage“, erklärt Bobbert. Er verweist auf den dramatischen nen, die nicht freigegeben sind“, sagt Böhm. Aus ihrer Sicht Rückgang der Ärztinnen und Ärzte im ÖGD um rund ein Drittel wären die zusätzlichen Stellen aus dem Pakt auch ohne Pan- seit 1995. „Der gordische Knoten wäre tatsächlich aufgelöst, demie legitim. „Wenn man bedenkt, dass wir die Pflichtauf- wenn es einen arztspezifischen Tarifvertrag gäbe und damit gaben in den vergangenen zwei Jahren schleifen lassen muss- auch ein klares Bekenntnis dazu, dass Ärztinnen und Ärzte ten, ist der Druck nach mehr Personal groß“, so die LVÖGD- im ÖGD wirklich ärztliche Tätigkeiten ausüben und nicht als Vorsitzende, die damit gleich das nächste Problem benennt: Verwaltungsmitarbeitende geführt werden.“ „Bei der Fachkräftegewinnung graben wir uns gegenseitig das Wasser ab.“ Mit Blick auf den Pakt im Allgemeinen zeigt Bobbert sich über- zeugt, dass mit ihm ein richtiger Weg eingeschlagen wurde. Problem IV: Fachkräfte fehlen Deutliche Kritik übt er jedoch am aktuellen Mittelstopp für Larscheid formuliert es ähnlich: „Wir fischen in einem Gewäs- die zweite Tranche Personal: „In Anbetracht der Tatsache, ser, in dem sich ohnehin nicht allzu viele Fische tummeln.“ dass wir über einen möglichen neuen Corona-Herbst spre- Das gilt seiner Meinung nach für IT-Fachleute ebenso wie für chen, verwundert es schon, dass man jetzt auf diesem Weg Ärzt:innen oder andere Fachkräfte im ÖGD. „Jeder Arzt kann eine Pause einlegt. Das ist ein fatales Signal.“ ∕ sich seinen Arbeitsplatz heutzutage aussuchen, und wenn die Differenz beim Gehalt vierstellig ist, dann muss man schon Überzeugungstäter sein“, sagt der Reinickendorfer Amtsarzt. „Wir bewerben uns bei den Bewerber:innen“ berichtet auch die Neuköllner Bereichsleiterin Gögelein-Mahfouz. Doch die Stellenbesetzungsverfahren im Öffentlichen Dienst machen es Interessent:innen nicht unbedingt leicht. Gögelein-Mahfouz Angela Misslbeck fordert daher: „Wir brauchen schnelle, zugewandte Bewer- Fachjournalistin für Gesundheitspolitik bungsverfahren und einen grundsätzlich veränderten Blick Foto: privat auf den Bewerber:innenmarkt.“ Auch sie weist ausdrücklich darauf hin, dass im IT-Bereich ebenfalls Mitarbeitende fehlen. 100 Laptops und 70 Handys seien durch den ÖGD-Pakt in ihrem Amt angekommen. „Nichts davon ist nutzbar mangels IT-Kapazitäten zur Einbindung dieser Geräte ins Hausnetz. Es mangelt nicht nur bei uns an Ressourcen.“ Problem V: Ungleiche Bezahlung Die Umsetzung des Paktes stößt aber auch bei einem altbe- kannten Problem an Grenzen: IT-Spezialist:innen und Ärzt:in- nen verdienen in anderen Bereichen einfach – zum Teil deut- lich – mehr Geld als in der öffentlichen Verwaltung. Auch zur Angleichung der Gehälter sieht der Pakt im Prinzip Mittel vor. Doch bleibt fraglich, ob es damit gelingt, den Gordischen Knoten zu durchschlagen, der eine finanzielle Besserstellung der ÖGD-Ärztinnen und -Ärzte durch einen arztspezifischen Tarifvertrag verhindert. Seit anderthalb Jahren laufen formal Verhandlungen zwi- schen dem Marburger Bund und der Vereinigung der Kom- munalen Arbeitgeber (VKA). „Allerdings weigert sich die VKA Gespräche zu führen“, sagt PD Dr. med. Peter Bobbert, Vor- sitzender des Marburger Bund Landesverbandes in Berlin 19
IM FOKUS Die Digitalisierung der Gesundheits- ämter: Ein Pakt ist nicht genug Das digitale Arbeiten im Gesundheitsamt Neukölln ist schnell erklärt: Es gab einen Prä-Pandemie-Zustand. Dann kam die Pandemie, die eine Zäsur aller Digitalisierungs- prozesse markiert. Und mittendrin wurde der „Pakt für den Öffentlichen Gesundheits- dienst (ÖGD)“ zur Digitalisierung aufgesetzt. Vor der Pandemie hatten vier der fünf Fachbereiche des Ge- Um einen Überblick über die gemeldeten Fälle zu behalten, sundheitsamtes Neukölln inselhafte, also für sich alleinste- wurde aus der Not heraus eine Excel-Tabelle erstellt, an der hende Softwarelösungen. Ein Fachbereich arbeitete sogar allerdings nur fünf Mitarbeitende gleichzeitig arbeiten konn- nur mit Excel und Papier. Zwischen den Lösungen der Fach- ten. Zudem sprengten die einzugebenden Datensätze schnell bereiche bestand keine Kompatibilität. Die Papierakte war die Tabellenkapazität. Das Gesundheitsamt Neukölln brauchte das Werkzeug für die geordnete Schriftstückverwaltung und ab dem 15.000 Fall bzw. der 15.000 Kontaktperson eine andere die parallele Dateneingabe in die Fachsoftware nur eine läs- Lösung. Diese kam aus dem Kreis der Mitarbeitenden, die eine tige Doppelarbeit. Sie diente der gesetzlichen Meldepflicht Access-Datenbank als Lösung vorschlugen. Trotz des Wissens an obere Landesbehörden und als digitale Karteikarte. und deutlicher Hinweise der bezirklichen IT-Fachleute, dass Access ab 2021 keinen Support mehr vom Hersteller Microsoft Das Medium für die Kommunikation mit Krankenhäusern, erhält, war diese Datenbank der Rettungsanker in den ers- Arztpraxen, Laboren, Gerichten und den Bürger:innen war ten drei Pandemie-Wellen und ermöglichte eine planvolle und schlichtweg das Fax. Fiel dieses aus, waren die Mitarbeitenden bürgernahe Bearbeitung der COVID-19-Fälle. quasi von der Außenwelt abgeschnitten und erarbeiteten sich mühsam einen Weg, Dokumente zu scannen und anschlie- Das Pandemiegeschehen hatte mit der 1. Welle die Politik auf- ßend per E-Mail zu versenden. Oder man verschob den Daten- gerüttelt und damit den Weg für ein umfassendes Förderpro- austausch auf den nächsten Tag, in der Hoffnung, dass das gramm für den ÖGD gebahnt: 800 Millionen Euro für 383 Ge- Fax wieder funktionstüchtig war. sundheitsämter. Würde man meinen. Aber unter dem ÖGD laufen auch Landesbehörden, Bundesbehörden und Minis- Einen horizontalen Datenaustausch innerhalb des Gesund- terien, in denen auch die Entscheider der Geldflüsse sitzen. heitsamtes oder zwischen den Berliner Gesundheitsämtern So sind im Gesundheitsamt Neukölln bislang rund 225.000 oder bundesweit gab und gibt es bis heute nicht. Vor der Euro für Hardware angekommen. Die Ironie der Geschichte Pandemie bedeutete „Digitalisierung“ Arbeiten mit einem ist jedoch: Alle bestellten Laptops und Handys können kapa- Computer, manchmal mit einem zweiten Bildschirm, mit zitätsbedingt bis heute nicht ins bezirkseigene Hausnetz ein- einem Kopierer, der auch scannen konnte, und ein schnel- gebunden werden. Es muss erst einmal die Basisarchitektur les Faxgerät. Homeoffice war unter diesen Umständen un- für die Digitalisierung in den Behörden geschaffen werden, denkbar. und solange liegen die Laptops ungenutzt in den Regalen. Digitalisierung in der Pandemie Ein nennenswerter Meilenstein für den ÖGD war die bundes- Während der Pandemie wurde die Verwaltung aus dem digi- einheitliche Einführung des IT-Fachverfahrens SORMAS, das talen Analphabetismus katapultiert. Die Anzahl der Corona- eine wachsende Open User Community und zusätzliche Fälle stieg so rasant, dass eine manuelle Dateneingabe in die Schnittstellen zum Einlesen der Meldedaten aus den Laboren Fachsoftware mit dem vorhandenen Gesundheitsamtsper- ermöglicht. Keine Papierakten mehr, keine Faxabhängigkeit, sonal nicht mehr zu schaffen war. Externes Personal wurde wenige Medienbrüche. Ab diesem Zeitpunkt konnten die Ge- als Unterstützung hinzugezogen. Dennoch kam es zu Ver- sundheitsämter digital miteinander kommunizieren. Dadurch zögerungen bei der Dateneingabe und Quarantänebeschei- entwickelte sich parallel zur finanziellen Spritze und der bun- dung. Das zog wiederum Doppelarbeit oder Datenverluste deseinheitlichen Softwareausstattung ein neues Mindset nach sich. Eine bundeseinheitliche Softwarelösung war nicht für die Digitalisierung. Die Bewusstseinsschärfung bei den in Sicht und die bis zu diesem Zeitpunkt verpflichtende Melde- Mitarbeitenden im Gesundheitsamt schaffte ein neues software „SurvNet“ nicht ausreichend auf ein pandemisches Verständnis dafür, was „Digitalisierung“ überhaupt bedeu- Geschehen ausgelegt. tet: medienbruchfreies, schnittstellenoffenes, mobiles und 20
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