DAS NATIONALPARK GESÄUSE MAGAZIN | WINTER 2021 - Nationalpark Gesäuse

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DAS NATIONALPARK GESÄUSE MAGAZIN | WINTER 2021 - Nationalpark Gesäuse
DAS NATIONALPARK GESÄUSE MAGAZIN | WINTER 2021
DAS NATIONALPARK GESÄUSE MAGAZIN | WINTER 2021 - Nationalpark Gesäuse
INHALT

 Inhalt 2
 3
 3
 Inhalt | Impressum
 Vorwort Herbert Wölger
 Freiwilliger Druckkostenbeitrag
 4 Landschaft im Wandel
 8 Artportrait
 12 Die Seite der Landesforste
 15 Baumportrait
 18 Natur
 22 Forscher*innen über die Schulter
 schauen
 23 Landwirtschaft & Lärm
 24 Nationalpark Fotoschule
 28 Ansel Adams
 32 Gesäuse Partner
 35 Weltweit einzigartig – Endemiten
 36 Rauminstallation „Rieseln“
 37 Wissensvermittlung aktuell
 38 Naturschutz
 40 Ranger worldwide
 44 Nachthimmel
 46 Junior Ranger
 48 Gut beobachtet
 49 Veranstaltungen Herbst/Winter
 49 Strategischer Managementplan
 50 Umweltschutz
 52 Gipfelkreuz
 53 Gesäuse CleanUP Days
 54
 Impressum 55
 Stift Admont
 Gseiserl
 Im Gseis Nr. 37, Winter 2021
 Herausgeber, Medieninhaber und für den Inhalt verantwortlich:

 Nationalpark Gesäuse GmbH
 Anschrift: A-8913 Admont, Weng 2
 Telefon: +43 3613 210 00, Fax: +43 3613 210 00-18
 E-Mail: office@nationalpark-gesaeuse.at
 Internet: www.nationalpark-gesaeuse.at

 Namentlich gekennzeichnete Beiträge liegen inhaltlich in der Verantwor-
 tung der jeweiligen Autoren. Copyright für alle Beiträge: Nationalpark
 Gesäuse GmbH. Nachdruck nur mit Einwilligung des Herausgebers.

 Layout: fuernholzer design-photography-werbung, St. Gallen
 Druck: Printkompensiert gedruckt in der Medienfabrik Graz

 Gendergerechtes Schreiben erfordert Kompromisse. So sind die bisher übli-
 chen Begriffe wie Nationalpark Ranger, Besucher etc. gleichberechtigt weib-
 lich wie männlich zu verstehen.

 Titelseite: Blick vom Buchsteinhaus zur Milchstraße, Fotograf: Michael
 Kleinburger
 Seite 2: Frost an der Enns, Fotograf: Martin Hartmann
 Rückseite: Frost im Gesäuseeingang, Fotograf: Martin Hartmann

 ISSN-Nummer: 1993 – 8926 (Printausgabe) / 1993 – 9485 (Webausgabe)

2 Im Gseis | Nationalpark Gesäuse
DAS NATIONALPARK GESÄUSE MAGAZIN | WINTER 2021 - Nationalpark Gesäuse
VORWORT
 Der Nationalpark
 Gesäuse in 10 Jahren
 Der Historiker Philipp Blom sprach in sei-
 „Zukunft entsteht, ner Eröffnungsrede für das Grazer Festival
 wenn Gegenwart Elevate davon, dass durch die Aufklärung
 gestaltet wird“ aus der Idee, im Auftrag Gottes die Erde zu
 (Philipp Blom) beherrschen, die technische und wissen-
 schaftliche Naturbeherrschung geworden sei.
 „Aber die Idee der Naturbeherrschung selbst
 wurde nicht in Frage gestellt.“ Er sprach wei-
 Wir können uns treiben lassen – oder ter davon, „wie aberwitzig und völlig wahn-
Szenarien entwickeln, wie die Zukunft aus- sinnig diese Ambition eigentlich ist, als klei-
sehen könnte, wenn wir uns bemühen. Das nes Säugetier sich zu denken, dass wir die
gilt für unsere Gesellschaft, für die Politik, für ganze Natur unterjochen und ihre Prozesse
Unternehmen und auch für die Nationalpark- bestimmen können.“ Philipp Blom sieht uns
verwaltung. Wo sehen wir den Nationalpark in einem großen zusammenhängenden Sys- Herbert Wölger, Nationalparkdirektor
Gesäuse in 10 Jahren? Um Visionen zu ent- tem, nicht an der Spitze und schon gar nicht Bild: Stefan Leitner
wickeln, braucht es Arbeit, Kreativität und außerhalb, erhaben über die Natur, sondern
auch ein bisschen Mut. Statuserhalt ist das mittendrin und gezwungen, uns einem Platz
eine Konzept. Als gelernte Prozessschützer im System zu schaffen. Denn sonst gibt es Statuserhalt hinaus Visionen formulieren
wissen wir: Veränderung ist das erfolgrei- keinen Ort für uns. Als Nationalpark haben und diese möglichst im Gleichklang der Re-
chere Konzept. Ökologisch besprochen heißt wir die Aufgabe, eine Insel in diesem System gion stehen.
das, wer sich anpasst, überlebt. Und philoso- zu bilden, einen Pol, an dem wir nicht den
phisch könnten wir ergänzen: wer gestaltet, Grad der möglichen Naturbeherrschung er- Mit unseren Zielen übernehmen wir nur
kann sich leichter anpassen. kunden, sondern an dem wir „sein lassen“. einen sehr kleinen Teil der Mammutaufga-
 be, die Zukunft für unsere Gesellschaft zu
 Deshalb haben wir einen strategischen Bei der Zielformulierung zu den Visionen gestalten. Wir machen das mit Freude und
Managementplan erarbeitet, der sowohl Visi- eines perfekten Nationalparks wurde schnell Enthusiasmus. Jeder Puzzlestein ist wertvoll
onen, als auch Ziele für die nächsten 10 Jah- klar, dass die Nationalparkverwaltung in ei- und ein Ganzes wird ohne viele kleine Teile
re vorgibt. Das oberste Ziel im Nationalpark nem Netz von Abhängigkeiten und äußeren nicht wachsen können. Ich möchte sie mit
ist es, der Natur freien Lauf zu lassen. Wir Einflüssen agiert, dass rechtliche Grundla- dem Satz jetzt allein lassen, mit dem Blom
wollen auf unseren 12.000 ha einen Flecken gen unterschiedliche Ziele verfolgen und sich sein Eröffnungspublikum allein gelassen hat:
erhalten, wo wir uns die Erde nicht untertan scheinbar widersprechen, dass die Zukunfts- „Weißt du, für Pessimismus ist es ein biss-
machen wollen! Diese Fläche erreicht übri- gestaltung in vielen Bereichen nur gemein- chen zu spät.“
gens nicht einmal unter Einbeziehung der sam mit anderen Organisationen möglich ist.
Fläche des neues Wildnisgebietes im Las- Wenn wir uns also etwas wünschen dürfen, Herbert Wölger
singtal 1 % der steirischen Landesfläche. dann, dass auch unsere Mitspieler über den Nationalparkdirektor

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 Wir bedanken uns bei allen Leserinnen und Lesern, die einen Druckkostenbeitrag leisten!
Dadurch kann Im Gseis auch weiterhin in gewohnter Qualität erscheinen. Diesmal senden
wir es neben der erweiterten Nationalparkregion auch an die Haushalte von Radmer, Selz-
thal, Lassing, Gaishorn, Hohentauern, Windischgarsten, Rosenau und Laussa. Und natürlich
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 Das Nationalpark Gesäuse Magazin | Winter 2021 3
DAS NATIONALPARK GESÄUSE MAGAZIN | WINTER 2021 - Nationalpark Gesäuse
LANDSCHAFT IM WANDEL

 Eine flussbauliche
 Spurensuche an der
 Enns im Gesäuse
 RICHARD KUNTNER

 Der Mensch hat den Lauf der Enns in den men eine intensive Waldwirtschaft betrieben.
 letzten anderthalb Jahrhunderten stark Daran hat sich bis Ende des 19. Jahrhunderts
 verändert. So wurde die Steirische Enns vermutlich wenig geändert.
 zwischen der Salzburger Landesgrenze Im Rahmen des Baus der „Kronprinz-Ru-
 und dem Gesäuseeingang begradigt, ge- dolf-Bahn“ durch das Gesäuse zwischen
 streckt und ihr Lauf um rund 20 % ver- 1869 und 1872 entstanden entlang der Bahn-
 kürzt. Im Gesäuse hingegen (zwischen linie auch Häuser für die Streckenwärter. Die-
 dem Gesäuseeingang und der Gstatterbo- se lebten auf Grund der isolierten Lage oft in
 denbrücke) beschränken sich die Eingriffe sehr bescheidenen wirtschaftlichen Verhält-
 des Menschen auf lokale Schutzmaßnah- nissen. Um die Lebensverhältnisse der Stre-
 men für Bahn und Straße. Auf weiten ckenwärter zu verbessern, entschied sich die
 Strecken wird der Lauf der Enns weiterhin Staatsbahn 1921, die Landesforstverwaltung
 von der Natur geformt. Doch schauen wir zu ersuchen, die großen Schlagflächen im
 uns das ein bisschen genauer an und be- Gesäuse in landwirtschaftliche Grundstücke
 geben uns auf eine flussbauliche Zeitreise. umzuwandeln und der Bahn zu vermieten. In
 der Folge wurde der Talboden im Gesäuse
 (inkl. der ehemaligen Almen) zwischen 1920
 Unsere Reise beginnt am Ende der letzten und 1965 intensiv als Grünland genutzt. Es
 Eiszeit: Grundmoränen bei Weng und End- erscheint jedoch wenig wahrscheinlich, dass
 moränen in der Buchau zwingen die Enns, dieses Grünland im größeren Stil gegen
 die Nördlichen Kalkalpen zu durchbrechen Hochwasser der Enns geschützt und die ent-
 und sich einen Weg durch das Kerbtal des sprechenden Ufer der Enns befestigt wurden. die Schutzmaßnahmen laufend angepasst.
 Gesäuses zu suchen. Das Gesäuse ist ein Im Zuge der Umstellung des Bahnbetrie- Viele der Schutzmaßnahmen sind neueren
 schluchtartiger, mit quartären Schottern und bes ab 1965 wurden die Weideflächen nicht Datums und wurden nach dem Bau der Bahn-
 Konglomeraten gefüllter Talabschnitt, der mehr benötigt. Sie wurden teilweise mit Fich- linie erstellt bzw. seither erneuert.
 durch hohe Felsmassive begrenzt wird. Sei- ten bepflanzt und wieder waldwirtschaftlich Aus einer flussbaulichen Optik wurde und
 tenbäche transportieren regelmäßig große genutzt. wird die natürliche Entwicklung der Enns
 Geschiebemengen aus den beidseitig steil durch den Bau der Eisenbahn nur wenig ein-
 aufragenden Felswänden und formen im Tal Nach diesem Sprung in das letzte Jahrhun- geengt.
 ausgedehnte Schuttkegel. Im Zusammen- dert wollen wir noch kurz zum Eisenbahnbau
 spiel mit den Seitenbächen schafft die Enns zurückkehren. Der Bau der Eisenbahn (1869 In der Mitte des 20. Jahrhunderts begann
 eine sich ständig verändernde, durch Erosi- bis 1872) entlang der linken Talflanke war an der Enns das Zeitalter der energiewirt-
 ons-, Auflandungs- und Umlagerungsprozes- der erste größere Eingriff des Menschen im schaftlichen Nutzung. So wurde 1949 das
 se geprägte Flusslandschaft. Dabei haben Gesäuse. Es wurden große Materialmengen erste Kraftwerk am Enns-Zubringer Salza er-
 Erosionsprozesse langfristig gesehen domi- verschoben und beispielsweise bei der Krap- richtet. Es folgten der Bau des Kraftwerkes
 niert, sodass sich die Enns bis zu 60 m tief in falm ein bis zu 15 m hoher Bahndamm ge- Hieflau und des Wehres bei Gstatterboden
 die Schotter und Konglomerate eingefressen schüttet. Wo die Enns in unmittelbarer Nähe 1953 und der Kraftwerke am Sölkbach 1978
 und eine Terrassenstruktur geschaffen hat. des Dammfusses fließt, wurden die Ufer lokal und am Mandlingbach 1985. Die energie-
 mit Blocksätzen, Mauern und Buhnen befes- wirtschaftliche Nutzung der Enns macht sich
 Erste Spuren bedeutenderer menschlicher tigt. Damit ist der Bahndamm vor Beschädi- über den Sunk- und Schwallbetrieb und den
 Aktivitäten begegnen uns im Mittelalter in gung durch Erosion geschützt. Um die Bahn- Eintrag von Feinsediment während Stausee-
 Form von Beweidung / Waldweiden. So geht linie auch vor Hochwassern und Geschiebe spülungen auch im Gesäuse oberhalb der
 aus schriftlichen Überlieferungen hervor, aus den Seitenbächen zu schützen, wurden Gstatterbodenbrücke bemerkbar. Die Ge-
 dass die Krapfalm – die größte Alm im Ge- gewisse Gerinne lokal angepasst und das Ge- schiebedynamik wird dadurch jedoch nicht
 säuse – bereits im Spätmittelalter vergeben schiebe gezielt unter (Durchlässe, Brücken) maßgebend beeinflusst.
 und genutzt wurde. Auch im Rauchboden und oder über der Bahnlinie (Galerien) in den Tal-
 in den Bereichen Haslau, Langleiten und Gstat- grund geführt. Nachdem sich die Situation Den nächsten Etappenhalt auf unserer
 terbodenbrücke bestanden Waldweiden. Zu- seit dem Bau der Eisenbahn ständig verän- flussbaulichen Zeitreise legen wir in den
 dem wurde auf der Krapfalm und anderen Al- dert hat und nach wie vor verändert, werden 1960er Jahren ein. Wir befinden uns in den

 4 Im Gseis | Nationalpark Gesäuse
DAS NATIONALPARK GESÄUSE MAGAZIN | WINTER 2021 - Nationalpark Gesäuse
Bild oben: Natürlich entstanden, oder vom Mensch geschaffen? Bild: Richard Kuntner
 Bild unten: Das digitale Geländemodell und ein Querprofil lassen verschiedene Terrassen und
Jahren, als die Bundesstraße durch das Ge- Abschnitte des früheren Ennsverlaufes (alte Flussläufe) erkennen. Bild: GIS Steiermark
säuse ausgebaut wurde. Im Rahmen des Aus-
baus der Bundesstraße (heute Landesstraße
B 146) wurden verschiedene kleinere fluss-
bauliche Eingriffe an der Enns vorgenommen.
Sie liegen schon viele Jahrzehnte zurück und
sind bereits so gut in die Landschaft integ-
riert, dass sie dem Wanderer normalerweise
verborgen bleiben. Erst ein Vergleich der Luft-
bilder verschiedener Jahrzehnte erlaubt den
Veränderungen auf die Schliche zu kommen
und sie dann auch im Gelände zu erkennen.
 Der erste Eingriff befindet sich in der Zi-
geunerau, auf der Höhe des Westportals
des Tunnels. Auf dem Luftbild aus dem Jah-
re 1954 fließt die Enns direkt auf die Straße
zu. Im Luftbild von 1973 ist das rechte Ufer
(flussabwärts gesehen) gleichmäßig ausge-
rundet und verläuft weiter von der Straße
entfernt. 2019 ist der gesamte Bereich zwi-
schen neuem Ufer und Straße bewaldet.

 Der zweite Eingriff befindet sich unmittel-
bar oberhalb (flussaufwärts) der Leierrunse
(Räucherlboden Nord). Wie sich aus den Luft-
bildern erkennen lässt, wurde zwischen 1954
und 1973 ein rund 100 m langer Blocksatz
eingebaut.

 Das Nationalpark Gesäuse Magazin | Winter 2021 5
DAS NATIONALPARK GESÄUSE MAGAZIN | WINTER 2021 - Nationalpark Gesäuse
LANDSCHAFT IM WANDEL
 Interessant ist der Umstand, dass das
 rechte Ufer (in Fließrichtung) zwischen 1954
 und 1973 lokal um beinahe 75 m nach Süden
 gerückt ist und 2019 an der gleichen Stelle
 eine teilweise bewaldete Schotterbank zu
 beobachten ist. Dies zeigt die Dynamik und
 Komplexität flussmorphologischer Prozesse.

 Der dritte Eingriff befindet sich oberhalb
 (flussaufwärts) der Gstatterbodenbrücke
 (Wegmacher) und ist auf dem Titelbild des
 Beitrages dargestellt. (Damit wäre auch die
 entsprechende Frage auf dem Titelbild be-
 antwortet: Dieser Uferabschnitt wurde vom
 Menschen geschaffen...). Der Ennslauf wurde
 um 200 bis 300 m verkürzt und die alte Fluss-
 schlaufe verfüllt. Das Titelbild zeigt somit das
 neue künstliche rechte Ufer und der dichte,
 im Schatten liegende Wald deckt in etwa die
 Die Dämme im Rot- und im Kühgraben lenken Hochwasserabflüsse mit Geschiebe Fläche der ehemaligen Flussschlaufe ab.
 und Murgänge ins Gerinne zurück, wo sie kontrolliert über oder unter der
 Bahn bis in die Enns fließen können. Bild: GIS Steiermark Auf unserer Reise sind wir bei der Jahrtau-
 sendwende angekommen und können 2003
 die offizielle Anerkennung des Nationalpark
 Gesäuse feiern. Mittlerweile hat sich die Ein-
 Buhnen und Blocksatz zum Schutz des Bahndammes auf der Höhe sicht durchgesetzt, dass die Steirische Enns
 der Lettmair Au. Diese Schutzmaßnahmen wurden im Nachgang bezüglich Hochwassersicherheit, Ökologie
 des Hochwassers von 2002 eingebaut. Bild: BBL Liezen und sozio-ökonomischer Aspekte größere
 Defizite aufweist, die in der einen oder an-
 deren Form behoben werden müssen. In der
 Folge hat die Steiermärkische Landesregie-
 rung 2006 die Erarbeitung der Leitlinie Enns
 in Auftrag gegeben. Mit der Leitlinie, die
 unter der Leitung der Universität für Boden-
 kultur in Wien erarbeitet wurde, liegt eine
 zentrale Planungsgrundlage für die Entwick-
 lung der Steirischen Enns zwischen Mandling
 und Hieflau vor.
 Zeitgleich hat auch der neu geschaffe-
 ne Nationalpark im Rahmen des LIFE Pro-
 grammes ein Projekt eingereicht. Mit dem
 Projekt sollten auch in diesem Teil der
 Nördlichen Kalkalpen rasch die negativen
 Begleiterscheinungen von Tourismus, Alm-
 bewirtschaftung, Forstwirtschaft, Fluss- und
 Wildbachverbauungen reduziert werden. Der
 Projektantrag wurde genehmigt und das
 Der Blocksatz am Finstergraben sollte verhindern, dass LIFE Projekt LIFE05 NAT/A/00078 „Natur-
 sich die Enns ihren Weg zu nahe an der Straße sucht. schutzstrategien für Wald und Wildfluss im
 Bild: Nationalpark Gesäuse Gesäuse“ zwischen 2005 und 2010 durchge-
 führt. (LIFE ist das 1992 geschaffene Förder-
 programm der EU für Naturschutzprojekte in
 NATURA 2000 Europaschutzgebieten).
 Im Rahmen dieses LIFE Projektes wurden
 die Enns-Leitlinie für den Abschnitt zwischen
 Selzthal und Hieflau weiter konkretisiert,
 flussbauliche Revitalisierungsprojekte rea-
 lisiert, Waldstandorte in Richtung standort-
 gerechter Mischwälder umgestaltet und Ma-
 nagementkonzepte u.a. für die Almen und die
 Besucherlenkung erarbeitet. Die flussbau-
 lichen Revitalisierungsmaßnahmen umfass-
 ten die Schaffung eines neuen Ennstal-Groß-
 biotopes bei der Mündung der Palten, das
 Öffnen eines stark verlandeten Ennsarmes
 durch die Lettmair Au und die Revitalisierung
 des Johnsbaches auf einer Länge von 4,7 km.

 6 Im Gseis | Nationalpark Gesäuse
DAS NATIONALPARK GESÄUSE MAGAZIN | WINTER 2021 - Nationalpark Gesäuse
LANDSCHAFT IM WANDEL
 Zigeunerau, Luftbilder der Jahre 1954, 1973 und
Zusammen mit der Aufgabe der Kiesgewin- 2019. In den 60er Jahren wurde das Ufer der Enns
nung im Johnsbachtal wurde so der ungehin- im Bereich der Zigeunerau lokal angepasst.
derte Geschiebetransport aus dem Johns- Bild: Nationalpark Gesäuse
bach in die Enns wieder hergestellt.

 Zwischen 2011 und 2015 wurden dank
 des LIFE Projektes (LIFE 09 NAT/A/000224,
„Landschaftsentwicklung Enns“) im Raum
 Öblarn und Admont auf der Basis der Enns-
 Leitlinie verschiedene Revitalisierungspro-
 jekte an der Enns im Detail geplant und um-
 gesetzt.
 Damit sind wir wieder in der Gegenwart
 und am Ende unserer flussbaulichen Zeitrei-
 se angelangt. Zusammenfassend lässt sich
 sagen, dass die Enns im Gesäuse zu Recht
 den Ruf des letzten naturnahen Flussab-
 schnittes genießt. Trotz kleinerer menschli-
 cher Eingriffe sind die Enns und die geschie-
 beliefernden Seitenbäche die Baumeister der
 Flusslandschaft im Gesäuse.
 Wir wollen unsere Reise jedoch nicht
 ohne einen kleinen Ausblick in die Zukunft
 abschließen. 2018 wurde das LIFE Projekt Räucherlboden Nord, Luftbilder der Jahre 1954, 1973
 IRIS (LIFE17 IPE/AT/0000006), ein Projekt und 2019. Auf dem Luftbild von 1973 ist ein rund
 zum integrativen Flussraummanagement ge- 100 m langer Blocksatz (weiße Linie) zu erkennen.
 startet. Im Rahmen dieses Projektes werden Bild: Nationalpark Gesäuse
 für 7 Gewässer in Österreich übergeordnete
 Gewässerentwicklungs- und Risikomanage-
 mentkonzepte erarbeitet und Pilotmaßnah-
 men geplant, umgesetzt, kontrolliert und am
 Ende der Projektlaufzeit – nach 9 Jahren
– evaluiert. Die Enns in der Steiermark ist
 eines der 7 Gewässer, die im Rahmen des
 Projektes bearbeitet werden.
 Für das Gesäuse zwischen dem Gesäuse-
 eingang und der Gstatterbodenbrücke weist
 das Projekt verschiedene interessante An-
 knüpfungspunkte auf. So wirkt sich eine Re-
 duktion der Auswirkungen des Schwall- und
 Sunkbetriebes und der Stauseespülungen
 der oberliegenden Kraftwerke günstig auf
 die Entwicklung verschiedener aquatischer
 Habitate aus. Daneben bietet das Projekt
 auch die Gelegenheit, bei der Zigeunerau und
 unterhalb der Gstatterbodenbrücke allfällige
 Möglichkeiten eines teilweisen Rückbaus der
 Ufersicherung genauer zu untersuchen. Wegmacher, Luftbilder der Jahre 1954, 1973
 und 2019.
 Bild: Nationalpark Gesäuse

 Wesentliche Literatur:

 Hasitschka, J., (2007): Die Geschichte
 der Almen und Halten im Gesäusetal

 Hohensinner, S., Muhar, S., Jungwirth,
 M., Pohl , G., Eichberger, A., Blanda, U.,
 Porzer, W. & Seebacher, F. (BOKU/IHG,
 STADTLAND & DONAUCONSULT ) (2008):
 Leitlinie Enns; Konzept für die Entwick-
 lung des Fluss-Auen-Systems Steirische
 Enns (Mandling-Hieflau): Hochwasser-
 schutz – Gewässerökologie – Flussland-
 schaftsentwicklung – Siedlungsentwick-
 lung – Erholungsnutzung.

 Das Nationalpark Gesäuse Magazin | Winter 2021 7
DAS NATIONALPARK GESÄUSE MAGAZIN | WINTER 2021 - Nationalpark Gesäuse
Im Gespräch mit
 einem Wurmfarn

 BARBARA BOCK aber vermutlich daran, dass die meisten wohlklingend erscheint mir allerdings mein
 von uns grelles Licht meiden und lieber ein wissenschaftlicher Name – Dryopteris filix-mas.
 Schattendasein führen.
 Farne – jeder kennt sie und jeder hat sie Und wie geht es Ihnen so als Farn?
 schon einmal gesehen und doch bleiben Es gibt ca. 12.000 Farne weltweit. Laut un- Wurmfarn: Danke, sehr gut.
 sie meist unbeachtet. Grün in grün und serem derzeitigen Forschungsstand kommen
 ohne bunte, duftende Blüten würden sie nur 31 davon im Nationalpark Gesäuse vor. Aber stehen denn nicht Verwandte von
 vielen erst dann auffallen, wenn sie feh- Das erscheint doch etwas wenig. Ihnen im Gesäuse auf der Roten Liste Öster-
 len. Denn ein Märchenwald wie er im Wurmfarn: Die meisten Farne finden sich reichs?
 Buche steht, wäre ohne sie unvorstellbar. heute in den Tropen, wo sie in manchen Ge- Wurmfarn: Vor einigen Jahren wurde ein
 Wie leben Farne, was treibt sie an und bieten, z.B. in Berg-Nebelwäldern, sogar be- Exemplar der als gefährdet eingestuften Ge-
 was sind ihre Geheimnisse? standsbildend sind. Nur wenige Farnarten, wöhnlichen Natternzunge am Weg zum Ta-
 also etwa 100, mögen das Wetter in Mittel- mischbachturm wiederentdeckt, die bereits
 Wir haben mit dem Gemeinen Wurmfarn europa. Wir sind gewissermaßen an die Kälte Pater Gabriel Strobl irgendwann zwischen
 über Sex, Giftmischerei und fossile Ener- angepasste Spezialisten! 1866 und 1881 dort notiert hatte. Aber sonst
 gie gesprochen. gilt keiner von uns als bedroht, zumindest
 So gesehen, kann ja sogar fast ein Drittel nicht in den Alpen – nicht einmal die selten
 aller in Mitteleuropa vorkommenden Farn-Ar- anzutreffende Echte Mondraute. Einige Arten,
 Im Gseis: Sehr geehrter Wurmfarn, Sie ten im Gesäuse bewundert werden, also doch wie Grüner Streifenfarn und Straußenfarn,
 haben sich, stellvertretend für alle Farne im nicht so schlecht. Sie selbst gehören der Spe- gelten jedoch im Alpenvorland als gefährdet.
 Nationalpark, für ein Interview bereit erklärt. zies Gemeiner Wurmfarn an? Allerdings muss ich zugeben, dass mich die vo-
 Danke dafür. Sie müssen zugeben, es kommt Wurmfarn: Das ist richtig, obwohl mir ranschreitende Lebensraumzerstörung und
 nicht allzu oft vor, dass Farne im Rampenlicht die Bezeichnung Echter Wurmfarn deutlich Bodenversiegelung sehr wohl ängstigt. Öster-
 stehen ... besser gefällt. Manche nennen mich auch reich liegt EU-weit ja leider ganz weit vorne.
 Wurmfarn: Das stimmt wohl, das liegt Männerfarn. Besonders schmeichelhaft und

8 Im Gseis | Nationalpark Gesäuse
DAS NATIONALPARK GESÄUSE MAGAZIN | WINTER 2021 - Nationalpark Gesäuse
ARTPORTRAIT
 Die Echte Mondraute – eine Bewohnerin felsiger
 Magerrasen und magerer Weiden.
 Bild: Alexander Ch. Mrkvicka

 Der Grüne Streifenfarn liebt
 kalkhaltige Felsspalten.
 Bild: Barbara Bock

 Die großen, gefiederten Blätter der
 Farne werden Wedel genannt.
 Bild: Andreas Hollinger

 Das kann ich gut verstehen. Ich hoffe, Ih- eine zu hohe Dosis zur Anwendung kam. Bei Mit Herrn Nilson von Pippi Langstrumpf?!
nen hilft die Gewissheit, dass Sie zumindest Versagen moderner Bandwurmmittel werde Dann würde es mich jetzt aber doch brennend
im Nationalpark vor dieser Bedrohung sicher ich aber immer noch zu Rate gezogen. interessieren, wie Sie sonst zu Ihrem Nach-
sind. Aber vor Ihren natürlichen Feinden wird wuchs kommen.
Sie auch der Nationalpark nicht schützen. In dem Fall wäre es gut zu wissen, ob man Wurmfarn: Ja, das hat euch Menschen
 Wurmfarn: Die paar Tierchen, die da und Sie leicht mit anderen Farnen verwechseln auch früher schon viel Kopfzerbrechen berei-
dort mal an uns herum knabbern, stören uns kann. Es könnte ja durchaus sein, dass nach tet. Damals wurden wir als „Hexenleiter“ be-
nicht weiter. Es ist eher umgekehrt – manch- Erscheinen dieses Artikels Interessierte im zeichnet, da man bei uns weder Samen noch
mal ist es gar nicht ungefährlich, sich an uns Gelände unterwegs sind, um Sie persönlich Keimlinge fand. Man glaubte, dass wir nur in
gütlich zu tun. Mein größter Verwandter in kennen zu lernen. der Johannisnacht, am 24. Juni, blühen und
Österreich, der Adlerfarn, ist der giftigste Wurmfarn: Hm, so richtig ähnlich sehen „Farnsamen“ Glück und übernatürliche Fä-
unter uns. Er bildet gleich mehrere verschie- uns Wurmfarnen eigentlich nur der Bergfarn higkeiten verleihen. Es heißt nicht umsonst
dene Giftstoffe aus und wird zu Recht von und der Frauenfarn. schon bei Shakespeare: „Wir gehen unsicht-
den meisten Weidetieren gemieden. Und bar, denn wir haben Farnsamen bekommen.“
trotzdem gibt es manche von euch, die junge Moment, der Frauenfarn? Jetzt bin ich Natürlich findet man bei uns keine Samen,
Adlerfarn-Blätter als Wildsalat verspeisen. verwirrt. Ich dachte immer, Männerfarn und wie zum Beispiel bei Radieschen, Bohne und
 Frauenfarn ... naja, Sie wissen schon ... Co. Wir bilden auf der Unterseite fruchtender
 An Ihnen sollen sich aber auch schon Men- Wurmfarn (kräuselt amüsiert die Wedel): Wedel Sporen aus, die mit Wind und Wasser
schen vergiftet haben, sogar mit tödlichem Wir Echten Wurmfarne werden zwar auch verbreitet werden. Landet eine Spore auf
Ausgang. Männerfarn genannt, aber mit dem Frauen- einem geeigneten Fleckchen, geht es dann
 Wurmfarn: Das stimmt, aber das lag an farn – Athyrium filix-femina – läuft da trotzdem richtig zur Sache. Fast so ein bisschen, wie
mangelnder medizinischer Expertise bei der gar nichts. Wir sind zwei unterschiedliche Ar- bei euch ...
Verwendung meiner Wurzeln. In ihnen sind ten und befinden uns gerade mal in derselben
Substanzen enthalten, die zur Bandwurmbe- Ordnung. Das wäre so, als würden Sie mit
handlung eingesetzt werden, wobei leider oft einem Totenkopfäffchen Nachwuchs zeugen.

 Das Nationalpark Gesäuse Magazin | Winter 2021 9
DAS NATIONALPARK GESÄUSE MAGAZIN | WINTER 2021 - Nationalpark Gesäuse
ARTPORTRAIT
 a) b)

 c) d)

 e) f)

 Überraschende Vielfältigkeit bei einem Blick
 auf die Unterseite: Sporenbehälter von
 a) Echter Wurmfarn, b) Rippenfarn,
 c) Wald-Frauenfarn, d) Brauner Streifenfarn,
 e) Hirschzunge, f ) Dorniger Schildfarn,
 g) Tüpfelfarn, h) Bergfarn
 Bilder: Barbara Bock

 g) h)

10 Im Gseis | Nationalpark Gesäuse
ARTPORTRAIT
Junge Farnwedel sind zu Beginn
eingerollt und werden wegen ihrem Im Gegensatz zu den meisten anderen Farnen ist der
charakteristischen Aussehen Starre Wurmfarn eine Lichtpflanze und somit an
Bischofsstab genannt. Standorte mit starker Sonneneinstrahlung angepasst.
Bild: Barbara Bock Bild: Toni Kerschbaumer

Die Farnwedel des Straußenfarns bilden Die Mauerraute zählt zu
einen dichten, aufrechten Trichter, der den Kleinfarnen, sie wird
bis zu 1,5 Meter hoch werden kann. selten größer als 15 cm.
Bild: Herbert Wölger Bild: Barbara Bock

 Was meinen Sie damit? aber ich versuche es kurz zu erklären. Ge- gerne auf Karrenfeldern. Den Straußenfarn
 Wurmfarn: Naja, die Spore macht sich naugenommen umfasst der Begriff „Farne“ sollte man hingegen unten am Fluss suchen.
zuerst ein gemütliches Lager (= Prothallium, nicht nur die grünen Wedel im Wald. Auch Er mag Auenwälder und bildet mit Hilfe sei-
Anm. der Redaktion) mit männlichen und alle Schachtelhalme und Natternzungenge- ner Ausläufer große Kolonien aus. Die Mau-
weiblichen Fruchtkörpern. Bei genügend wächse fallen darunter, und eben die Echten erraute wiederum stört es überhaupt nicht,
Feuchtigkeit schwimmen begeißelte männ- Farne, zu denen auch ich mich zählen darf. wenn es mal richtig trocken und heiß wird.
liche Geschlechtszellen zu den weiblichen Alle Farne wiederum gehören zusammen mit Sie fühlt sich auf kalkhaltigem Gestein in den
Fruchtkörpern, in denen je eine Eizelle sitzt, den Bärlappgewächsen zu den Gefäßsporen- kleinsten Felsspalten richtig wohl und scheut
die dann befruchtet wird. Aus jeder befruch- pflanzen. Wir sind also Gefäßpflanzen, die nicht einmal vor Siedlungsgebieten zurück,
teten Eizelle wächst ein neuer Farnwedel. keine Samen, sondern Sporen ausbilden. wo sie erfolgreich Mauerfugen besiedelt.
 Auch Moose vermehren sich durch Sporen,
 Und wie alt kann so ein Farn dann werden? sind aber keine Gefäßpflanzen. Und die Pilze Das heißt eigentlich, Augen offenhalten,
 Wurmfarn: Älter als man meinen würde. mit ihren Sporen lassen wir jetzt mal kom- Farne findet man auch an unerwarteten Orten.
In Finnland wurde einmal ein Adlerfarn mit plett aus dem Ganzen heraus, das sind ja Wurmfarn: Durchaus! Sogar der gute
dem stolzen Alter von 1500 Jahren entdeckt. nicht mal Pflanzen. Verständlich? alte Tüpfelfarn ist für Überraschungen zu
Aber noch viel interessanter ist eigent- haben. In Schluchtwäldern, wie z.B. im Hart-
lich, dass wir Echten Farne zu den ältesten Das ist allerdings schon ziemlich komplex. elsgraben, lohnt sich ein Blick nach oben auf
Pflanzen der Erde zählen. Uns gab es schon Wurmfarn: Naja, aber ausgedacht habt bemoosten Bergahorn, wo es ihm ausge-
vor 400 Millionen Jahren. Gemeinsam mit ihr euch diese Einteilung – mir ist das ehrlich sprochen gut gefällt. Das ist deshalb so be-
Schachtelhalmen und Bärlappgewächsen gesagt, egal. sonders, weil es außerhalb der Tropen, mal
bildeten wir riesige Wälder, die ihr nun als abgesehen von Moosen und Flechten, nur
Steinkohle wieder zu Tage fördert. Was ich Wenn man sich aber nun auf die Suche ganz wenige Epiphyten, also Pflanzen, die auf
übrigens doch etwas pietätlos finde, ich bin nach Echten Farnen machen möchte, begibt Pflanzen wachsen, gibt.
als persönlich Betroffener kein Freund von man sich am besten in feuchte, schattige
fossilen Energieträgern. „Märchenwälder“? Guter Tipp. Vielen Dank für die vielen un-
 Wurmfarn: Wenn man mir begegnen will, terhaltsamen Einblicke in die faszinierende
 Stimmt eigentlich, so habe ich das noch nie dann auf jeden Fall. Auf Hirschzunge, Rip- Welt der Farne! Eine letzte Frage noch: was
betrachtet. Aber Sie haben eben von „Echten penfarn und Schildfarn trifft das ebenso zu. würden Sie sich für die Zukunft wünschen?
Farnen“ gesprochen, gibt es denn auch ge- Aber den Starren Wurmfarn wird man dort Wurmfarn (lacht unhörbar): Einen „Tag
fälschte? nicht zu Gesicht bekommen. Um ihn zu tref- des Farns“ am 24. Juni!
 Wurmfarn (krümmt sich etwas): Ich weiß, fen, muss man sich in höhere Lagen wagen.
das ist auf den ersten Blick etwas kompliziert, Dort wächst er im Kalk-Geröll und besonders

 Das Nationalpark Gesäuse Magazin | Winter 2021 11
LANDESFORSTE

 Die Seite
 des Waldes
 ANDREAS HOLZINGER Die Natur auf unserer Seite Schattbaumarten, Pionieren, Schlusswald-
 baumarten und Sträuchern als Antwort auf
 Drei wesentliche, naturgegebene Voraus- die Vielfalt der Standorte. Die Natur also
 Vital, stabil und vielfältig in die setzungen helfen uns dabei, die Ziele zu errei- selbst als Lehrmeister und Gestalter!
 nächsten Jahre chen: Erstens das bodenbildende Grundge-
 stein Kalk als laubbaumfördernde Unterlage, Symbolische Vielfalt und „Natur-
 Immer wieder werde ich als Forstmann ge- zweitens die übers Jahr gleichmäßig ver- verjüngung“ auch im Management
 fragt, was wir denn im Waldmanagement teilten Niederschläge – in den Nordstaula- der Gesäusewälder
 im Nationalpark tun würden, um den gen vom Ausseerland bis Mariazell – bis zu
 Herausforderungen des Klimawandels zu 1.800 mm, also auch kein Minimumfaktor im Die Sommermonate sind immer auch eine
 begegnen, um den klimafitten Wald zu ge- Gesäuse und drittens die Genetik der natur- Zeit der Pflichtpraktika junger Försterschüler
 stalten und den Zielen des Naturschutzes, verjüngten Bäume, da schon die samentra- oder Forststudenten. Lassen wir an dieser
 wie auch denen der naturliebenden Er- genden Mutterbäume der Altbestände aus Stelle unsere heurige BOKU-Praktikantin zu
 holungssuchenden gleichermaßen gerecht mehreren Generationen naturverjüngter In- Wort kommen, die ein fünfwöchiges Prakti-
 zu werden? Meine Antwort ist – viel- dividuen entstanden sind und damit mehrere kum bei den Steiermärkischen Landesfors-
 leicht ein bisschen banal, aber stereotyp hundert Jahre lokalklimatische Anpassung ten absolviert hat:
 und irgendwie logisch: „So weitermachen an die Standorte im Gesäuse eine künftige
 wie bisher!“ Soll heißen: Konsequent jede Adaption an den Klimawandel leichter mög- Um mich kurz vorzustellen: ich bin Luisa
 natürlich vorkommende Mischbaumart lich macht oder zumindest erwarten lässt! Schenke, 21 Jahre alt und studiere in Wien an
 im Wachstum fördern, den Fichten-Bor- der Universität für Bodenkultur (BOKU) Forst-
 kenkäfer in der Naturzone kontrolliert Dabei sollte die Vitalität breitkroniger wirtschaft im 2. Semester.
 zulassen, einzelne Fichtenstämme vor- Laubbäume wie Buche und Bergahorn, die Gebürtig komme ich aus einem kleinen Dorf
 sichtig zu entnehmen und Reh-, Gams- Stabilität der Tiefwurzler Tanne, Kiefer oder nahe Bad Köstritz in Thüringen, Deutschland.
 und Rotwild moderat reduzieren! Lärche ebenso ihren Beitrag leisten wie Mein Studium führte mich also von meinem
 die Vielfalt der Mischungen von Licht- und verschlafenen Heimatdorf in das mitunter

12 Im Gseis | Nationalpark Gesäuse
LANDESFORSTE
 Herbstlich bunter Bergmischwald Lichtbaumart, Pfahlwurzler und
 im Nationalpark damit Stabilisator Lärche
 Bild: Ernst Kren Bild: Ernst Kren

ebenso verschlafene Gesäuse. Bei den abendlichen „Campfire-Talks“
 Nachdem ich an der BOKU erste theoreti- für unsere Gäste, welche immer freitags ab
sche Einblicke in die Forstwirtschaft erlangt 20:00 Uhr auf dem Campingplatz in Gstatter-
hatte und eine Exkursion im Fach Forstliche boden stattfinden, ist mir aufgefallen, dass für
Biometrie erleben durfte, wollte ich mehr viele Zuhörer*innen der Beruf Jäger*in oder
sehen und zwar in Aktion. Mein erster Prak- Förster*in ein Mysterium ist. Wenn ich den
tikumstag führte mich in die Forstdirektion in Beruf selbst aber mit einem Wort beschrei-
Admont und Herr Forstdirektor DI Holzinger ben müsste, so wäre es „Vielfalt“. Das Zweite
stellte mir das Verwaltungsteam und den Be- wäre mit Sicherheit „Flexibilität“.
trieb der Steiermärkischen Landesforste vor.
Ich wohnte auf dem Campingplatz Forstgar- Mit der Zeit merkte ich, dass viele Dinge,
ten in Gstatterboden und vor mir standen fünf die ich im Laufe meines bisherigen Studiums
Wochen forstlicher und jagdlicher Eindrücke. gelernt hatte, zwar theoretisch funktionieren,
Die Tätigkeiten und Aufgabenbereiche waren in der Praxis jedoch anders aussehen. Es ist
genauso vielfältig wie die mich umgebenen wichtig, offen dafür zu sein, dass man stets
Charaktere. Von Jagdsteigen ausputzen, Kä- dazu lernen muss, egal wieviel man studiert
ferbäume auszeigen, Salzsteine legen über oder schon gearbeitet hat.
administrative Aufgaben bis hin zu Bauver-
handlungen für eine neue Wildfütterung in In diesem Sinne bedanke ich mich bei allen
Johnsbach, war alles dabei. Damen und Herren der Steiermärkischen Lan-
 Mein Hauptaugenmerk lag auf dem Wild- desforste, die mir dies ermöglicht haben und
einflussmonitoring mit Aufnahme von Ver- freue mich, nächstes Jahr wieder zahlreiche
gleichsflächenpaaren (Verbisskontrollzäune Eindrücke gewinnen zu dürfen! BOKU-Praktikantin Luisa
und Nullflächen) als Weiserflächen in den Hö- Bild: Luisa Schenke
henstufen und auf allen Expositionen.

 Das Nationalpark Gesäuse Magazin | Winter 2021 13
LANDESFORSTE

 Pferderückung
 Bild: Christian Mayer

 Berufsjäger Josef Atschreiter – ein neues Neue, schattige Abstellplätze für „Campfire-Talk“ jeden Freitag zur
 Gesicht im Wald der Landesforste Campingbusse, Bild: Anita Watzl Gästeinformation, Bild: Stefan Leitner
 Bild: Josef Atschreiter

 Verjüngt auch das Team der
 Berufsjäger

 So streift fortan mit Josef Atschreiter ein
 junger, geländegängiger (in diesem Revier
 Voraussetzung) Berufsjäger – aus dem ober-
 österreichischen Aflenz stammend – durch
 das Revier Johnsbach-Sonnseite/Gofer, sorgt
 dabei für ausgeglichenen Wildstand und
 Geschlechterverhältnis bei Schalenwild und
 betreut mit seinen Kollegen Christian und
 Heimo die Wildfleischvermarktung „Gesäuse-
 wild“ und die Rotwild-Fütterung im Gseng.
 Keine Zeit also für Rast und Ruhe!

 Waldbau mit zwei PS!
 Reingard und … Anita vorm Check-In
 Fast schon vertrauter Anblick ist unser Bild: Anita Watzl Bild: Reingard Krump
 Freund Branco mit seinen starken Ardennen-
 Hengsten, der mittlerweile schon ein halbes
 Jahr die besonders bodenschonende Pfer-
 derückung in den Landesforste-Wäldern im Wussten Sie eigentlich, dass man von un- und Anita, die – von den frischen Morgen-
 Nationalpark betreibt – und ein Ende dieser serem Campingplatz aus gleich vier Schutz- brötchen über Auskünfte aller Art bis zum
 besonnenen Waldarbeit ist nicht abzusehen. hütten zu Fuß erreichen kann? Nein? – Okay, Check-In und Check-Out – einfach alles aus
 zugegeben: Sie liegen nicht ums Eck, son- der Hand schütteln.
 Frischer Wind auch am Campingplatz! dern müssen mit Kondition erwandert wer-
 den. Aber wer einmal auf der Veranda von Als besonderes Service werden heuer
 Eine Kernaufgabe der Gästebetreuung Hesshütte, Haindlkarhütte, Buchsteinhaus noch – nach Saisonschluss – die Sanitär-
 und Besucherlenkung ist ein kundenfreund- oder Ennstalerhütte bei Schweinsbraten, anlagen komplett erneuert, Parkraum er-
 liches Management am Campingplatz „Forst- Kaiserschmarren und Jägerlatein gesessen weitert, über das Winter-Halbjahr Prospekte
 garten“. Mit der Erweiterung der Abstellplät- ist und die archaische Felskulisse vis-à-vis gedruckt und so manche buchbare Almhütte
 ze am schattigen Waldrand, den wöchentlich betrachtet hat, der kann stolz sein auf sei- runderneuert. Sie werden staunen, wenn Sie
 freitags stattfindenden „Campfire-Talks“ zur ne Wanderleistung und wird dafür mehr- 2022 wieder unsere Gäste sind! Ihr Feed-
 Gratis-Info unserer Gäste über Wissenswer- fach entschädigt! Zurück nun aber zum back ist uns wichtig, Ihre (positive) Kritik
 tes im Nationalpark, dem dunkelsten Nacht- Ausgangspunkt: Für die Rundumbetreuung unser bester Lohn.
 himmel mit Sternenbeobachtung und der am Campingplatz sorgen unsere tüchtigen
 erlebbaren Waldwildnis rund um Gstatter- Reinigungskräfte Claudia und Barbara aus Auf ein Wiedersehen 2022 freut sich das
 boden ist unser Campingplatz ein Naturjuwel Gstatterboden-City und unser charmantes Team der Landesforste und Ihr Forstdirektor
 mitten im Nationalpark. Empfangsduo in der Verwaltung, Reingard Andreas Holzinger.

14 Im Gseis | Nationalpark Gesäuse
BAUMPORTRAIT
 Balancekünstler, Minimalisten
 oder einfach Sonderlinge?
 Pionierbaumarten im Nationalpark
 Mutig und verwegen im ausgesetzten Fels – die Weißkiefer
 Bild: Ernst Kren

 ANDREAS HOLZINGER

Sie trauen sich ebenso hinauf auf die
 steilsten Felsen, besetzen jede mögliche
Nische, wie hinein in die nassen Moore
– sie sind schon da, wenn andere sich erst
mühsam das Areal erobern – sie sind die
 genügsamen, ausdauernden Wegbereiter
 für ihre anspruchsvolleren Freunde, sind
 neugierig, wollen immer die Ersten sein,
 sind wind- und frosthart und zäh, aber
auf alle Fälle Lichtgestalten!

 Hallo – schon wer da?

 Als vor ca. 12.000 bis 10.000 Jahren im
Alpenbogen die letzte Eiszeit zu Ende ging, Blickt vom Himbeerstein in die Gesäuseschlucht –
wanderten die Baumarten aus ihren Refu- die Kiefer, Bild: Ernst Kren
gialgebieten im Süden und Osten Europas
wieder langsam ein in die unwirtlichen –
mittlerweile eisfreien – Alpentäler, die noch
voller Moränenschutt, Steine und Wasserla- Somit war der Weg frei für Birke, Hasel Oberboden, denn es gab ja noch keinen bio-
cken, kurz, sehr ungemütlich waren. Dass und Kiefer, die im Postglacial als Erste ein- genen „Baumabfall“ oder Grobmoder. Daher
dabei Baumarten mit flugfähigen Samen in gewandert sind. Ein weiterer Vorteil war da- machte sich gleich eine weitere Eigenschaft
ihrer Verbreitung schneller vorankamen als bei sicher der Lichtgenuss für die gemein- dieser Baumarten bezahlt – ihre Anspruchs-
schwerfrüchtige Samen ohne Flugeinrich- hin heute als Lichtbaumarten bezeichneten losigkeit und Genügsamkeit.
tung, liegt auf der Hand. Bäume. Was aber fehlte, war der Humus im

 Das Nationalpark Gesäuse Magazin | Winter 2021 15
BAUMPORTRAIT

 Bergkiefer (Latsche) als wichtiger
 Bodenpionier im Gesäuse Stark verästelte Kiefernkrone
 Bild: Viktoria Hadler Bild: Ernst Kren

 Licht, Wasser und Nährstoffe

 Für die lichthungrigen Bäume waren nun
 die Voraussetzungen einmal günstig, auch
 Wasser war ausreichend – eher mehr als
 genug – vorhanden, nur die Nährstoffe fehl-
 ten noch für ein üppiges Gedeihen. Diese
 mussten dem Rohboden erst mühsam ab-
 gerungen werden. So erfüllten die ersten
 feinen Wurzeln, die in den Boden getrieben
 wurden, nicht nur eine Stabilitätsfunktion,
 sondern hatten auch die Aufgabe, mög-
 lichst viele Nährstoffe – auch aus tieferen
 Schichten – aufzunehmen, um die hungrige
 Blattmasse oberirdisch zufrieden zu stellen.
 Und schließlich schloss sich der Kreislauf:
 Je mehr Blätter, Nadeln und Zweige, umso Orangeroter Schaft der geselligen Kiefern
 mehr herbstliches Falllaub, umso besser Bild: Ernst Kren
 die Bodenauflage, biologische Aktivität
 im Oberboden, Nährstoffmobilisierung im
 nächsten Frühjahr – bessere Blattproduk-
 tion, intensiveres Wurzelwerk – größere Wegbereiter im wahrsten Sinne den Pioniere. Sie hatten ja nun ihre Schuldig-
 Baumkrone und Blattwerk, wieder mehr des Wortes keit getan und den Boden aufbereitet für ihre
 produzierte Biomasse und so weiter… Damit anspruchsvolleren Genossen und mussten
 konnten sich schrittweise und langsam rei- Mit dem Einwandern der Bäume und Ver- sich neue Standorte suchen.
 fere Böden für anspruchsvollere Geschwis- dichten der Wälder durch schattentolerante
 ter bilden. Und die zunehmende Erwärmung Baumarten wie Buche, Fichte und Tanne, de- Extremer, höher, hagerer die
 trug das Ihre zur Baum- und Waldentwick- ren Verbreitung durch die schwereren Früch- Standorte – aber endlich konkurrenzlos
 lung bei! te auch langsamer vonstatten ging, erfolgte
 aber auch ein „Ausdunkeln“ der lichtlieben- Unbedankt für ihre wichtige Pionierleis-

16 Im Gseis | Nationalpark Gesäuse
BAUMPORTRAIT
 Schlanker weißer Schaft der Birke Farbenspiel im Spätherbst
 Bild: Ernst Kren Bild: Ernst Kren

 Rote Traubendolde der Eberesche Weiße Blütensterne der Felsenbirne
 Bild: Ernst Kren Bild: Ernst Kren

tung wanderten die nach wie vor genügsa- rakteristisch ihre stark verästelte Krone mit im Herbst. Wird vom Wild geliebt und da-
men Kiefern, Latschen und Birken in höhere dem orangeroten, hellen Schaft. her stark verbissen! Macht nix, treibt eben
Gefilde, auf Kalkfelsen, wanderten in Hochla- Harzreichstes Nadelholz der heimischen wieder aus, durch diese Ausschlagsfähigkeit
gen ein, stabilisierten frische Rohböden oder Wälder, ist unentbehrlich auf trockenen und wichtige Schutzwald-Baumart.
Schuttströme (Thum beschreibt im Frühjahr ärmeren Standorten, behält nur drei bis ma-
2005 „Im Gseis“ bereits die „Weißkiefernwäl- ximal fünf Nadeljahrgänge am Stamm, die in Mehlbeere (Sorbus aria)
der“ im Gesäuse). Bald gesellten sich auch Kurztrieben zu je zwei Nadeln am Zweig sit-
andere Vorwaldbauarten dazu, eher mit ge- zen. Dafür sind sie aber wesentlich länger als Lichtbaumart mit leicht abbaubarer Streu,
ringerem Wuchs, aber jahreszeitlich rundum die von Fichte und Tanne. Lebt gerne gesellig deshalb wertvoll für die Bodenbildung und
schöner Färbung – vom leuchtenden Weiß unter ihresgleichen! Humusanreicherung; verbessert den Was-
der Blütensterne der Felsenbirne über die serhaushalt auf flachgründigen, trockenen
mehlig weißen Blattunterseiten der Mehl- Birke (Betula pendula od. pubescens) Rendzinen, stabilisiert den Boden mit ihrer
beere bis zum Scharlach-Rot der Beeren und Herzwurzel.
Blätter der herbstlichen Vogelbeere. Wenn War die „Erste“ nach der Eiszeit – gilt heute Belebendes Landschaftselement durch
sich dann das Dunkelgrün der Latschenfel- als Symbol des Frühlings. dekoratives Laub im Frühjahr. Liebt die Ge-
der mit dem Goldgelb der Birke und dem Anspruchslos, aber lichthungrig und sellschaft mit Latsche und ...
Orangen-Rot der Vogelbeeren vom grauen raschwüchsig in der Jugend. Ihr luftiger
Fels richtig abhebt und Wind und Sonne in Same fliegt weit und keimt leicht. Histori- Felsenbirne (Amelanchier ovalis)
den Blättern spielt – kommen sie wieder sche Nutzung von der „züchtigenden Rute“
richtig zur Geltung und unser Staunen und bis zum Besen. Schlanker, blanker, heller Aufrechter bis drei Meter hoher Strauch
Bewundern ist ihr schönster Lohn. Leib – leuchtendes Herbstgold. mit unterseitig weißfilzigen Blättern, im
 Sie haben es sich aber wirklich verdient – Frühling leuchtend weiße zarte Blütenster-
die Pioniere der Gesäuseberge. Latsche (Pinus mugo) ne, im Herbst leuchtend orange-scharlachrot,
 Im Gseis Nr. 33 ausführlich beschrieben! schwarze Früchte, begehrte Vogelweide.
 Kurze Vorstellung der Hungerkünstler
im Einzelnen – Die Weißkiefer Eberesche (Sorbus aucuparia) Auf die große Gruppe der Weidenarten
(Pinus sylvestris) als Erstbesiedler an Bächen und an der Enns
 Einziger Subalpiner Laubbaum, resistent konnte aus Platzgründen (noch) nicht einge-
 Genügsame Vorwaldbaumart auf Extrem- gegen Winter- und Spätfröste. Auffallend gangen werden.
standorten, braucht und liebt das Licht, cha- leuchtend rote Beeren und Blätterfärbung

 Das Nationalpark Gesäuse Magazin | Winter 2021 17
NATUR

 Natur 1

 unberührt, idyllisch,
 überwältigend, reichhaltig,
 grausam, unerbittlich,
 unberechenbar

 FLORIAN WERNER

 Das Wort Natur kommt vom lateinischen als feindselige Wildnis, gegen die sich der der in seinen beiden Diskursen (1750/55)
 natura, das wiederum auf das Verb nasci, Mensch behaupten musste, oder als Res- die menschliche Zivilisationsgeschichte als
 „geboren werden“, zurückgeht. Seiner ety- source, die er ausnutzen konnte, wurde sie eine des Niedergangs, der dépravation be-
 mologischen Wurzel nach ist die Natur also im Lauf des 18. Jahrhunderts in den Status schrieben hatte. Erst mit der Urbarmachung
 etwas Ursprüngliches, Unvorhersehbares, einer mütterlichen Lehrmeisterin erhoben. der egalitären, freiheitlichen Natur, so Rous-
 Unbeflecktes: noch nicht von der mensch- „Mir leuchtet es immer mehr und mehr ein, seau, seien die Lüge, die Ungleichheit und
 lichen Gesellschaft verdorben, sondern rein dass die Bücher schlechte Sittenlehrer sind“, die Knechtschaft in die Welt gekommen.
 und unschuldig wie ein neugeborenes Kind. ließ Heinrich von Kleist 1800 seine Verlob- Im Naturzustand sei der Mensch aufrichtig
 Zugleich ist sie ein Ort, an dem wir auch als te Wilhelmine von Zenge wissen. „Was wahr gewesen – durch seinen verhängnisvollen
 Erwachsene zu unserem vorzivilisatorischen ist, sagen sie uns wohl, (…) aber es dringt in Drang zur Reflexion wurde er diesem seligen
 Menschsein zurückfinden können; wo wir, die Seele nicht ein. Einen Lehrer gibt es, der Dasein entfremdet. Der Mensch, der nach-
 indem wir wandern, gereinigt und neu gebo- ist vortrefflich, wenn wir ihn verstehen; es denkt, sei „ein entartetes Tier“.
 ren werden. Zumindest nach romantischem ist die Natur.“ Diese Vorstellung geht maß-
 Verständnis: Galt die Natur zuvor wahlweise geblich auf Jean-Jacques Rousseau zurück,

 1
 aus: Werner, Florian: Auf Wanderschaft: Ein Streifzug durch Natur und Sprache. S. 78 - 82. © 2019 Bibliographisches Institut GmbH (Duden), Berlin

18 Im Gseis | Nationalpark Gesäuse
Immerhin kann er auf Wanderungen noch fes: Der Adlige war bei Ausflügen in seine Juragebirge im Norden, im Süden den Golf
einen Abglanz dieses verlorenen Paradieses Kutsche eingesperrt und auf seine Knechte von Marseille – doch dann besann er sich
erhaschen. Im Gefolge Rousseaus wurde die angewiesen – der Bürger wanderte, ganz mit einem Mal auf die Bekenntnisse des Au-
Natur zum Sehnsuchtsort schlechthin erho- Herr seiner selbst, durch die freie Natur. gustinus, die er stets als Wanderlektüre mit
ben: Hier konnte der Mensch sich von den sich führte: „Und es gehen die Menschen, zu
Zumutungen der Industrialisierung erholen Möglich wurde dieses neue Naturverhält- bestaunen die Gipfel der Berge und die un-
und seine „Modernisierungsschäden“ (Odo nis nicht zuletzt durch eine säkulare Welt- geheuren Fluten des Meeres und die weit
Marquard) auskurieren. Hier fanden Dichte- sicht, die den Blick auf diesseitige Phänome- dahinfließenden Ströme und den Saum des
rinnen und Dichter Inspiration und spürten, ne schärfte, aufwertete, ja allererst möglich Ozeans“, las er dort, „und haben nicht Acht
unbehelligt von Gefühls- und Verhaltens- machte. Als der Renaissancedichter und ihrer selbst.“ Beschämt von den Worten des
konventionen, ihren feinsten Empfindungen Proto-Bergsteiger Francesco Petrarca im Kirchenvaters wandte Petrarca den Blick von
nach. Nicht zuletzt zelebrierte der Citoyen April 1336 den Mont Ventoux bestieg, blieb den Naturschönheiten ab und beschloss,
hier seine stolze Unabhängigkeit gegenüber er zwar gebannt auf dem Gipfel stehen und sich statt auf die Physis auf seine unsterb-
den gekünstelten Umgangsformen des Ho- bewunderte die fantastische Aussicht, das liche Psyche zu konzentrieren.

 Das Nationalpark Gesäuse Magazin | Winter 2021 19
NATUR

 Bis zum modernen Naturverständnis, das Firnis verdeckten animalischen Wesenskern. ist. Dann knöpfen Sie vielleicht vorsichtig
 den Genuss eines Bergpanoramas als Wert Ähnlich erprobt eine Wanderin in Klaus Mo- Ihre Hose auf und lassen diesen Eindruck auf
 an sich gelten lässt und nicht in Opposition dicks Roman Ins Blaue (1985) die Rückkehr sich wirken. Alles Weitere, glauben Sie mir,
 zur Seelenschau denken muss, war es noch zur tierischen Natur des Menschen, indem sie ergibt sich von selbst.“
 ein weiter Weg. auf das Tragen von Stiefeln verzichtet: „Sie
 geht barfuß, scheint über den Steinen, Disteln, In der Tat erweist sich der Weg retro ad
 Mittlerweile gilt die Vorstellung, dass die Zweigen, die auf dem Pfad liegen, zu schwe- naturam aber als steiniger, als gedacht. Mo-
 Natur per se schön, wahr und bewahrens- ben (…). Das Gehen, sagt sie einmal beiläufig, dicks Erzähler zerkratzt sich, als er es seiner
 wert sei, als selbstverständlich: Sie bildet die ist einfacher, wenn man ohne Schuhe läuft. hippiesken Wandergefährtin gleichtun will,
 Hintergrundstrahlung für unzählige Gemälde, (…) Deine Füße finden schon ihren Weg. Lass die Füße an Disteln und Dornen. Und Eb-
 Gedichte, Romane, Filme und Lieder und ist sie laufen.“ In der Erzählung Nackedei (2001) meyers Nacktwanderer wird von empörten
 durch diese tief in unser kollektives Unbe- des Schriftstellers Michael Ebmeyer schließ- Städtern gefangen, fotografiert und sozial
 wusstes eingesickert. „So habe ich es gern“, lich entledigt sich der Erzähler nicht bloß sei- geächtet. Wir haben als moderne Angehö-
 erklärt der Beatnik-Bergsteiger Japhy Ryder nes Schuhwerks, sondern gleich sämtlicher rige der Spezies Homo sapiens eben keine
 in Jack Kerouacs The Dharma Bums (1958), kulturellen Membrane, um der Natur beim schwieligen Pfoten mehr, dafür aber interna-
 „wenn du wirklich in Fahrt kommst, brauchst Wandern so nahe wie möglich zu kommen. lisierte Schamgefühle. Die Fesseln der Zivili-
 du nichts zu sagen, so als ob wir Tiere wären „Wie Nacktlaufen sich anfühlt, wollen Sie jetzt sation, die wir seit Rousseau so schmerzhaft
 und uns einfach nur durch wortlose Gedan- wahrscheinlich wissen. (…) Am besten, Sie beschränkend zu spüren vermeinen, lassen
 kenübertragung verständigen.“ Das Gehen in fangen mit einem Waldspaziergang in ruhige- sich nicht einfach so abstreifen. Kulturelle
 der Natur der Sierra Nevada ermöglicht eine rer Umgebung an, schlagen sich seitlich des Normen, Werte und Schranken sind uns zur
 Annäherung an den von zivilisatorischem Wegs ins Unterholz, wenn Ihnen dabei wohler zweiten Natur geworden.

20 Im Gseis | Nationalpark Gesäuse
Hinzu kommt die grundsätzliche Frage, ist auch der Mensch nichts weiter als ein Wolke über den Bergen Regen an, oder ist
was mit Natur überhaupt gemeint ist; ja, ob höherentwickeltes Landsäugetier, weshalb sie Folge eines Chemieunfalls? Und ist der
es die Natur überhaupt gibt. Schließlich han-
 man seine künstlerischen Werke als Natur- plötzliche Wetterumschwung eine Laune der
delt es sich dabei um einen denkbar weit Erzeugnisse interpretieren könnte: Auch Natur oder eine Konsequenz des Klimawan-
gefassten Begriff, der vom Einzeller bis zumLiebesgedichte, den Nebenbuhler verhöh- dels?
Mount Everest eine Vielzahl von Phänome- nende Rap-Tiraden und Romane, die ande-
nen umfasst. Natur ist eben nicht nur der re Artgenossen alt aussehen lassen, wären „Was immer (die Natur) auch sein mag, sie
Sonnenaufgang am Sommermorgen, son- dieser Lesart zufolge Teil der Natur, da sie wird niemals die Konzepte und Erwartungen
dern auch der Herbststurm, der den Bann- auf Vorteile bei der sexuellen Selektion ab- erfüllen, die wir von ihr haben“, schreibt
wald umknickt; ist nicht nur die blaue Blumezielen. Zum Anderen ist gerade im Anthropo- der amerikanische Dichter und Umweltakti-
am Wegesrand, sondern auch der Knollen- zän – also dem aktuellen, maßgeblich vom vist Gary Snyder in No Nature (1992). „Den
 Menschen und seinen Emissionen geprägten
blätterpilz, ist Zecke und Blutegel und Bett- größten Respekt, den wir der Natur erweisen
wanze und Milzbrand. Anders gesagt: Der Erdzeitalter – die Unterscheidung zwischen können, ist, sie nicht begrifflich zu fixieren,
Begriff ist so umfassend und abstrakt, dass natürlich und künstlich hochkompliziert ge- sondern einzugestehen, dass sie sich uns
er kaum Trennschärfe besitzt – und sich worden, da oft ungewiss ist, wo das Natur- entzieht – und dass auch unsere mensch-
nicht unbedingt zur romantischen Idealisie- phänomen aufhört und der Einfluss des liche Natur protheisch, unbestimmt und ab-
rung eignet. Menschen beginnt. Wenn eine Rotte Wild- hängig von äußeren Einflüssen ist.“ Das heißt
 schweine durch den Vorgarten marodiert, in letzter Konsequenz: Wir müssen nicht nur
 Auch die Abgrenzung von der Kultur, der stellt das einen Einbruch der Natur in den aufhören, uns über die Natur zu erheben. Wir
die Natur meist begrifflich entgegengesetzt Stadtraum dar, oder ist es umgekehrt eine sollten auch aufhören, über sie zu schreiben.
wird, erscheint problematisch. Zum Einen Folge der urbanen Zersiedelung? Kündigt die

 Das Nationalpark Gesäuse Magazin | Winter 2021 21
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