Datenlandschaft im Aufbau - Das Magazin zur Verteilungsdebatte ISSN: 2625-3313 Ausgabe 53 - November 2020 - Gerechte Gesundheit

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Datenlandschaft im Aufbau - Das Magazin zur Verteilungsdebatte ISSN: 2625-3313 Ausgabe 53 - November 2020 - Gerechte Gesundheit
Das Magazin zur
                                                          Verteilungsdebatte
                                                          ISSN: 2625-3313
                                                          Ausgabe 53 – November 2020

   Datenlandschaft
   im Aufbau

Forschung                    Debatte                      Ökonomisierung

Daten nutzen und Patienten   Rezepte gegen hochpreisige   Wie geht es mit den DRGs
beteiligen                   Arzneimittel                 weiter?
Datenlandschaft im Aufbau - Das Magazin zur Verteilungsdebatte ISSN: 2625-3313 Ausgabe 53 - November 2020 - Gerechte Gesundheit
• Seite 2   GERECHTE GESUNDHEIT   November 2020                                                                                   Seite 3 •

                                  Dicke Bretter

                                                           Eine Vielzahl von Strategien hat die Bundesregierung verabschiedet,
                                                           um dem digitalen Wandel den Weg zu bereiten. Ein ungelöstes
                                                           Problem: Im Gesundheitswesen bleibt noch immer ein Großteil der
                                                           täglich produzierten Daten ungenutzt. Ihre Verwendung für die
                                                           Forschung oder zur Verbesserung der Versorgung stößt auf zahlreiche
                                                           Hürden. Kann die sogenannte Datenspende die Lösung sein? Einige
                                                           Forscher glauben daran, doch um einen solchen Paradigmenwechsel
                                                           hierzulande durchzusetzen, werden ganz dicke Bretter zu bohren sein.

                                                           Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen

                                                           Ihre Antje Hoppe, Chefredakteurin

                                  Inhalt
                                  Im Fokus
                                  4      Placebo-Reform oder echter Fortschritt?
                                         Debatte zu DRG-Weiterentwicklung und Ökonomisierung hält an

                                  7      Kontroverse zu Corona- Immunitätsbescheinigung
                                         Pro & Contra mit Prof. Simon und Prof. Gethmann vom deutschen Ethikrat

                                  10     Höchstgrenzen, vierte Hürde und Co.
                                         Welche Rezepte gegen hochpreisige Arzneimittel diskutiert werden

                                  15     Datenlandschaft im Aufbau
                                         Mehr Nutzung, Akzeptanz und Autonomie

                                  Im Gespräch
                                  18     „Keiner möchte keine Forschung“
                                         Prof. Eva Winkler über Datennutzung und Patientenbeteiligung

                                  In Kürze
                                  20     Gesundheit und Gerechtigkeit bei der Arbeit

                                  20     Mauerblümchendasein ade bei der Integrierten Versorgung?

                                  22     Unterversorgung: Zuschläge für Kindermedizin

                                  23     Reha-Loch: Schwerverletzte nicht fit genug für Reha

                                  24     Wie Europa auf Arzneimittelengpässe reagieren will

                                  25     Globale Gesundheit – jetzt mit Strategie

                                  26     Ohne Krankenversicherung: Braucht es eine Clearingstelle?
Datenlandschaft im Aufbau - Das Magazin zur Verteilungsdebatte ISSN: 2625-3313 Ausgabe 53 - November 2020 - Gerechte Gesundheit
• Seite 4                                             Im Fokus                               GERECHTE GESUNDHEIT   November 2020                                                     Im Fokus                                                          Seite 5 •

Placebo-Reform oder
echter Fortschritt?
Debatte zur DRG-Weiterentwicklung und Ökonomisierung hält an

• Berlin (pag) – Eine Ökonomisierung des Medizinbetriebs wird seit Jahren von Ärzten
angeprangert. Jüngstes Beispiel ist der 118. Kongress der Deutschen Ophthalmologischen
Gesellschaft (DOG). Tatsächlich geht es bei dem Konflikt um weitaus mehr als eine Weiter-                          Ein Balanceakt: Medizin und Ökonomie sollte nicht gegeneinander ausgespielt werden. Medizin kann es nicht in einem ökonomiefreien Raum geben.
entwicklung des DRG-Systems, wie sie gegenwärtig politisch angestrebt wird.                                        © iStockphoto, abadonian

Auf der DOG-Veranstaltung im Oktober sind Fehlent-         Diskussionen im Bundestag                               Hamburg, im Auftrag der Techniker Krankenkasse ver-                     berücksichtigen könne, sagt Karin Maag (CDU) und
wicklungen in der Augenheilkunde durch die zuneh-          Bei einer Anhörung zum Krankenhauszukunftsgesetz        fasst hat. „Eine Finanzierung von Vorhaltekosten für                    kündigt an: „Wir werden es liefern.“ Dr. Edgar Franke
mende Ökonomisierung ein Schwerpunktthema. „Ret-           regen kürzlich Experten im Gesundheitsausschuss         Strukturen der Leistungserbringung, beispielsweise                      (SPD) erkennt ebenfalls Reformbedarf: „Die Fallpau-
tet die Medizin! Arzt-sein zwischen Patientenwohl und      Änderungen am Abrechnungssystem des Kranken-            für seltene Erkrankungen, Notfälle und die Grund-                       schalen haben in der Vergangenheit dafür gesorgt,
Wirtschaftlichkeit“, lautet der Titel der Keynote-Lectu-   hauswesens an. „Wir sprechen uns nicht dafür aus,       versorgung auf dem Land, reduziert den finanziellen                     dass mehr operiert wurde, als eigentlich notwendig
re von Prof. Peter Pramstaller. „Wir Ärzte müssen uns      das DRG-System in Gänze abzuschaffen“, betont           Druck von Krankenhäusern, ihre Strukturen über eine                     war und das nur, um Einnahmen zu erzielen, um mehr
zum Wohl der Patienten und unserer nachfolgenden           Georg Baum, Hauptgeschäftsführer der Deutschen          Fallzahlausweitung querfinanzieren zu müssen“, lautet                   Geld zu verdienen.“ Auch beim jüngsten Krankenhaus-
augenärztlichen Generationen dem Wirtschaftlich-           Krankenhausgesellschaft. Aber die Grundfinanzierung     ein Vorschlag der Autoren. Und eine Anpassung der                       gipfel der Deutschen Krankenhausgesellschaft zeigt
keitsstreben entgegenstellen, wo es zu Verwerfungen        der Häuser müsse gesichert sein, um die Daseinsvor-     Vergütung an exogene Kostenfaktoren, die nicht der                      sich Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) offen für
führt“, sagt sein Kollege Hans Hoerauf, Direktor der       sorge zu gewährleisten. Gesundheitsökonom Prof.         Kontrolle des Krankenhauses unterliegen, sowie an                       Änderungen am Fallpauschalensystem.
Augenklinik der Universitätsmedizin Göttingen.             Jonas Schreyögg, Universität Hamburg, empfiehlt,        Versorgungsstufen, die unterschiedliche Kostenstruk-                    Änderungen ja, gänzlich abschaffen wohl eher nicht
Die Fallpauschalen im Krankenhaus gelten gemeinhin         „künftig mit Vorhaltepauschalen für bestimmte Fach-     turen mit sich bringen, erhöhe die Fairness des Vergü-                  – das dürfte der politische Kurs sein. Denn erst im
als Treiber der Ökonomisierung, werden teils synonym       abteilungen, geknüpft an enge Voraussetzungen, zu       tungssystems. Außerdem entlaste es Krankenhäuser                        Sommer hat der Minister bei einer Veranstaltung der
damit verwendet. Allerdings ist in das DRG-System in       arbeiten“. Prof. Boris Augurzky, Leibniz-Institut für   finanziell, die für ihre ungünstigen Kostenstrukturen                   Robert-Bosch-Stiftung zwar eingeräumt, dass die
jüngster Zeit Bewegung gekommen. Die Pflegeperso-          Wirtschaftsforschung, warnt vor einer kompletten Ab-    nicht verantwortlich seien.                                             DRGs nicht perfekt seien. Mit Verweis auf gleichzei-
nalkosten sind seit diesem Jahr aus den DRGs aus-          schaffung des DRG-Systems. Es müssten aber „Model-                                                                              tige Überversorgung insbesondere in den Ballungs-
gegliedert. Der GKV-Spitzenverband bezeichnet das          le zu Regionalbudgets weiter ausgearbeitet und vor                                                                              gebieten und Unterversorgung in anderen Regionen
als „die nachhaltigste Veränderung im DRG-System           allem in ausgewählten Pilotregionen praktisch erprobt   „Wir werden es liefern“                                                 stellt er jedoch klar: „Solange es keine bedarfsgerech-
seit seiner Einführung“. Dabei soll es offenbar nicht      werden“.                                                Bei der Haushaltsdebatte im Bundestag kurze Zeit                        te Versorgung gibt, ist die Idee, einfach Strukturen zu
bleiben. Denn auch wenn es das Thema kürzlich nicht        Vorschläge zur Weiterentwicklung des DRG-Systems        später verdichten sich die Anzeichen, dass die Politik                  finanzieren, nicht richtig“. Er will einen nicht effizien-
auf die Agenda der Gesundheitsministerkonferenz ge-        hat Schreyögg zuvor in einem Gutachten zur bedarfs-     die Botschaften verstanden hat. „Wir brauchen ein                       ten Ressourceneinsatz verhindern, vor der Diskussion
schafft hat, so ist es doch im Bundestag sehr präsent.     gerechten Gestaltung der Krankenhausvergütung           gestuftes Versorgungssystem und darauf aufbauend                        über ein neues Vergütungssystem seien Strukturver-
                                                           vorgestellt, das er mit Ricarda Milstein, Universität   ein Fallpauschalensystem“, das auch Vorhaltekosten                      änderungen im stationären Bereich notwendig.
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• Seite 6                                               Im Fokus                                  GERECHTE GESUNDHEIT      November 2020                                       Im Fokus                                              Seite 7 •

Krankenhausbereich – politisch unsexy                        DRG-Systems allein nicht ausreiche, um die ökonomi-                                                                                         © iStockphoto, malerapaso

Dass es zu einer solch grundsätzlichen Strukturreform        schen Fehlentwicklungen zu beheben – wenn gleichzei-
noch in dieser Legislatur kommt, ist jedoch unwahr-          tig der politische Wille fehle, die Krankenhausstruktur
scheinlich. Vielleicht sind die politischen Gestalter aber   grundlegend zu verändern. Und weiter: Die politischen
gar nicht so unglücklich darüber, dass Corona die Re-        Entscheidungsträger müssten die Bedingungen so
formagenda gehörig durcheinandergebracht hat. Denn           gestalten, dass es für alle Akteure – auch aus ökonomi-
das Thema ist ein undankbares, findet beispielsweise         scher Sicht – sinnvoll ist, sich nachhaltig auf das Patien-
Rudolf Mintrop, Vorsitzender der Geschäftsführung            tenwohl zu verhalten. Die Experten fordern einen tat-
des Klinikums Dortmund. Die Klinken seien hierzulande        sächlichen Qualitätswettbewerb unter einer geringeren,
aufgerieben zwischen den Zuständigkeitsebenen Bund,          aber besser ausgestalteten Anzahl von Krankenhäusern.
Länder, Kommunen und Selbstverwaltung und geteilt            Die politische Zurückhaltung bei der Gestaltung des
in Non-Profit- und For-Profit-Kliniken. Es gebe eine         Krankenhauswesens führe nur dazu, dass „die Probleme
Vielzahl von Vorstellungen. „Deswegen ist der Kranken-       über die DRGs auf die praktische Arbeitsebene nach
hausbereich so vernachlässigt, zerklüftet und politisch      unten durchgereicht werden“. Daraus resultierten die
unsexy”, findet der Klinikmanager.                           bekannten Probleme wie Arbeitsverdichtung, Unzufrie-
Solange aber eine grundlegende Strukturreform nicht          denheit der Mitarbeiter, Personalmangel etc.
angegangen wird, bringt eine Weiterentwicklung des
DRG-Systems nur wenig. Das ist in einem Thesenpapier         Festzuhalten ist daher, dass es bei der Kritik an einer
von Leopoldina-Wissenschaftlern nachzulesen, das             Ökonomisierung nicht darum gehen sollte, Medizin und
zwar schon einige Jährchen auf dem Buckel hat, aber          Ökonomie gegeneinander auszuspielen. Medizin kann
die gegenwärtige Situation noch immer zutreffend             es nicht in einem ökonomiefreien Raum geben. Viel-
beschreibt. Darin postulieren Gesundheitsökonomen,           mehr stehen dahinter ungelöste Strukturfragen, vor
Juristen und Ärzte, dass eine Weiterentwicklung des          denen sich die Politik noch immer drückt.               •

  Bundesrechnungshof zeichnet düsteres Bild

  Der Bundesrechnungshof regt für die Krankenhaus-           bung. Finanzierungs- und Planungsverantwortung
  versorgung eine Grundgesetzänderung an. Dadurch            sollten in eine Hand gelegt werden. „Dies schließt
  könnten Finanzierungs- und Planungsverantwor-              eine Änderung grundgesetzlicher Bestimmungen
  tung wieder zusammengeführt werden. In dem                 notwendigerweise ein“, heißt es. Generell zeich-
  Bericht „über die Prüfung der Krankenhausfinanzie-
  rung durch die gesetzliche Krankenversicherung“
  sieht die Behörde das duale Finanzierungssystem
                                                             net der Bundesrechnungshof ein düsteres Bild der
                                                             derzeitigen Krankenhauslandschaft in Deutschland:
                                                             „40 Prozent der Krankenhäuser verzeichnen Verlus-
                                                                                                                           Kontroverse zu Corona-
                                                                                                                           Immunitätsbescheinigung
  als gescheitert an. „Die Länder entscheiden nach           te, für über ein Zehntel besteht erhöhte Insolvenz-
  der gesetzlichen Systematik alleinverantwortlich           gefahr.“ Der Ab- und Umbau von Kapazitäten sowie
  über Standorte und Schwerpunkte der Versorgung.            die Schließungen von Häusern oder Abteilungen
  Ihrer Finanzierungsverantwortung kommen sie in-            verlaufe ungesteuert. „Es besteht keine übergrei-
  des nicht nach, große Teile der investiven Kosten          fende Zielsetzung zwischen Bund und Ländern, wie
  werden zweckwidrig aus Mitteln der GKV-Beitrags-           die Versorgungsstrukturen weiterentwickelt werden
                                                                                                                           Pro & Contra mit Prof. Simon und Prof. Gethmann vom deutschen Ethikrat
  gemeinschaft bestritten“, lautet die Lagebeschrei-         sollen.“

                                                                                                                           •  Berlin (pag) – Macht eine staatlich kontrollierte Immunitätsbescheinigung Sinn? Derzeit
                                                                                                                           nicht, findet der Deutsche Ethikrat einstimmig angesichts der noch bestehenden Unsicher-
                                                                                                                           heiten zur Immunität gegen das neuartige Coronavirus. Für den Fall, dass die Immunität
                                                                                                                           künftig verlässlich nachweisbar wird, gehen die Meinungen allerdings auseinander.

                                                                                                                           Die Hälfte der Ratsmitglieder kommt auf Basis risiko-    wortbar erachtet. Für die andere Hälfte der Mitglieder
                                                                                                                           ethischer Abwägungen zu dem Ergebnis, dass bei           führen praktische, ethische und rechtliche Gründe zu
                                                                                                                           günstiger Entwicklung der naturwissenschaftlich-         einer Ablehnung des Einsatzes von staatlich kont-
                                                                                                                           medizinischen Voraussetzungen mindestens eine            rollierten Immunitätsbescheinigungen – selbst dann,
                                                                                                                           stufenweise, anlassbezogen wie bereichsspezifisch an-    wenn Unsicherheiten mit Blick auf den Sachstand in
                                                                                                                           setzende Einführung einer Immunitätsbescheinigung        Zukunft nicht länger bestünden. Lesen Sie im Fol-
                                                                                                                           unter bestimmten Bedingungen sinnvoll wäre. Teilwei-     genden ein Pro und Contra der beiden Ratsmitglieder
                                                                                                                           se wird auch ein weiter reichender Einsatz für verant-   Prof. Judith Simon und Prof. Friedrich Gethmann.
Datenlandschaft im Aufbau - Das Magazin zur Verteilungsdebatte ISSN: 2625-3313 Ausgabe 53 - November 2020 - Gerechte Gesundheit
• Seite 8                                                        Im Fokus                             GERECHTE GESUNDHEIT     November 2020                                                 Im Fokus                                       Seite 9 •

Prof. Carl Friedrich Gethmann             Freiheitsbeschränkungen bewirken,          eines Immunitätsnachweises zu            Prof. Judith Simon                     Nichtinfektiosität – von bestimmten      ren Arbeitsbedingungen und/oder
Gesundheitliche Sicherheit                sondern umgekehrt im Interesse des         kommen, darüber hinaus auch Be-          Gefahr einer Zwei-Klassen-             Auflagen befreit werden. Hierfür ist     besonderen Infektionsrisiken wäre
                                          Gemeinwohls zu besonderen Ver-             trugsmöglichkeiten vieler Art. Wie                                              allerdings keine staatliche Immu-        dies eine gleichermaßen gefähr-
für alle Bürger                                                                                                               Gesellschaft
                                          pflichtungen bei der Pandemiebe-           in anderen Lebenskontexten auch                                                 nitätsbescheinigung erforderlich.        liche wie ungerechte Konsequenz.
                                          kämpfung führen. Allerdings dürfen         ist solchen Problemen regulatorisch                                             Ausreichend wäre eine Vorschrift         Weiterhin ist vor Erosionseffekten
Aus Sicht der Befürworter einer an        Immunitätsbescheinigungen grund-           (Ordnungsrecht, Strafrecht) ent-         Immunitätsbescheinigungen, welche      im Immunitätsschutzgesetz, mit           zu warnen, die vor allem ein breiter
Bedingungen geknüpften Zulassung          sätzlich nur auf Basis freiwilliger Ent-   gegenzutreten.                           im Kontext der Covid-19-Pandemie       der Ärzte ermächtigt würden, die         Einsatz freiheitsgewährleistender
von Immunitätsausweisen besteht           scheidungen angestrebt werden.                                                      individuelle Freiheiten einräumen      Immunität und Nichtinfektiosität für     Immunitätsbescheinigungen in Be-
bezüglich der Erforschung von                                                        Mit einem Teil der zwölf Ethikratsmit-   oder besondere Pflichten etablieren    diese Personengruppe auf der Basis       zug auf die Bereitschaft haben kann,
Covid-19 und seiner medizinischen         V: Hinsichtlich des Bedenkens, die         glieder unterstütze ich auch die er-     könnten, sind aus wissenschaft-        eines hinreichend aktuellen – bereits    sich an die allgemeinen Infektions-
Effekte eine so hohe Dynamik, dass        Gewährung von Immunitätsnachwei-           gänzende Positionierung, dass unter      lichen, ethischen und praktischen      derzeit zur Verfügung stehenden          schutzmaßnahmen zu halten. Die
der Exekutive vorsorglich normative       sen werde von manchen als Privi-           der Bedingung kluger Regulierung         Gründen abzulehnen.                    – PCR-Tests oder aber eines – mögli-     genannten, mit der Einführung einer
Orientierungen an die Hand gegeben        legierung betrachtet, die konvers          und sorgfältiger, fortlaufender Kon-     Zunächst erscheint es mit Blick        cherweise in Zukunft zur Verfügung       Immunitätsbescheinigung verbun-
werden sollten, nach denen im Falle       als Diskriminierung erfahren werden        trolle eine umfassende Verwendung        auf die aktuelle wissenschaftliche     stehenden – hinreichend zuverlässi-      denen Probleme stellen auch eine
einer günstigeren Evidenzlage zu          könnte, ist zu bemerken, dass die          (ohne Einschränkung auf bestimmte        Erkenntnislage unwahrscheinlich,       gen Antikörper-Tests zu bescheini-       große Herausforderung für einen
verfahren ist. Dem liegen vor allem       Rückgewähr von Freiheitsrechten            Handlungskontexte) von Immunitäts-       dass eine Infektion mit SARS-CoV-2     gen.                                     angemessenen Rechtsrahmen dar,
folgende Überlegungen zugrunde:           auch unter Pandemiebedingungen             bescheinigungen verantwortbar ist.       zu einer hinreichend lange anhal-                                               beispielsweise in Bezug auf Miss-
                                          eine Schuldigkeit des Staates ist,         Die Unvermeidbarkeit von Ungewiss-       tenden und verlässlichen Immuni-       Weiterhin gibt es praktische As-         brauchsgefahren, des Datenschut-
I: Der Grundsatz der Verhältnismä-        die – im Unterschied beispielsweise        heit im Pandemie-Kontext darf so         tät bei allen, auch asymptomatisch     pekte, die gegen die Einführung          zes sowie des Arbeitsrechts.
ßigkeit und risikoethische Erwägun-       zu ermessensbestimmten Zuwen-              wenig wie in anderen Lebensberei-        Infizierten, führt.                    von Immunitätsbescheinigungen
gen verlangen, dass grundgesetzlich       dungen – mit den Kategorien von            chen die Notwendigkeit, Freiheits-                                              sprechen. Trotz steigender Fall-         Vor dem Hintergrund der unge-
garantierte Freiheiten, die pande-        Privilegierung und Diskriminierung         beschränkungen zurückzunehmen,           Bei der ethischen Bewertung müs-       zahlen ist es aufgrund der geringen      wissen Erfolgsaussichten und der
miebedingt eingeschränkt werden,          nicht adäquat erfasst wird. Auch           infrage stellen. Die Beweislast liegt    sen individuelle Rechte und Pflich-    Dauer einer möglichen Immunität          im Gesundheitsbereich nicht nur
so weit wie möglich dem Bürger            die Metapher von der „Spaltung der         grundsätzlich aufseiten des freiheits-   ten ins Verhältnis gesetzt werden      illusorisch anzunehmen, dass der         aus ökonomischer Sicht begrenzt
zurückgegeben werden. Das bedeu-          Gesellschaft“ ist hier fehl am Platze;     beschränkenden Staates und nicht         zu Fragen der gerechten Verteilung     Einsatz von Immunitätsbescheini-         zur Verfügung stehenden Mittel,
tet, dass unter Umständen Risiken         so wie die Beschränkung der Fahr-          des freiheitsbegehrenden Bürgers.        von Be- und Entlastungen. Bei          gungen einen relevanten Effekt auf       erscheint es nicht verantwortungs-
hinzunehmen sind, wie sie auch            erlaubnis auf Führerscheinbesitzer         Ferner halte ich es mit einem Teil       einer Koppelung von Rechten oder       die Erholung der Wirtschaft oder         voll, erhebliche Ressourcen in die
sonst im klinisch-medizinischen Kon-      eine gerechtfertigte Restriktion im        der Ratsmitglieder schon jetzt für       Pflichten an den Status der Immuni-    die Versorgungslage im Sozial- und       Etablierung und gesetzliche Ver-
text und in vielen anderen Lebensbe-      Interesse aller (auch der Nicht-Füh-       erwägenswert, eine nach heutiger         tät sind ungerechte Verteilungen in    Gesundheitssystem hätte. Immuni-         ankerung von Immunitätsbeschei-
reichen akzeptiert werden. Hier wie       rerscheinbesitzer) ist, dient ein          Erkenntnis – nach überstandener          zwei Richtungen möglich: Einerseits,   tätsbescheinigungen würden zudem         nigungen – einem Instrument mit
in anderen Lebensbereichen ist ein        Immunitätsausweis der gesundheit-          Erkrankung – bestehende erhöhte          wenn Personen ohne Immunitäts-         Fehlanreize setzen, welche die           beschränktem Nutzen und hohen
Null-Risiko eine Illusion, die rationa-   lichen Sicherheit aller Bürger.            Abwehrkraft gegen SARS-CoV-2 zu          nachweis Möglichkeiten verwehrt        derzeitige Pandemie-Schutz-Stra-         Nebenwirkungen – zu investieren,
les Handeln konterkariert.                                                           nutzen, um im Rahmen eines quali-        würden (z.B. der Besuch einer Aus-     tegie konterkarieren könnten. So         wenn diese Mittel auch für erfolgs-
                                          VI: Zu den Risiken der Einführung          tätsgesicherten und freiwilligen         bildungsstätte). Andererseits, wenn    könnten sich Personen, etwa aus          versprechendere Maßnahmen ver-
II: Die gebotene Abwägung von             von Immunitätsnachweisen gehören           Verfahrens von Covid-19 genesene         Personen mit Immunitätsbeschei-        wirtschaftlicher Not oder um sich        wendet werden könnten.             •
Risiken und Chancen spricht im            Probleme des Missbrauchs beispiels-        Personen bevorzugt an Positionen         nigung für bestimmte Tätigkeiten       individuelle Vorteile zu sichern, mut-
Rahmen eines gestuften Vorgehens          weise durch gezielte Selbstinfektion,      mit höherem Infektionsrisiko einzu-      besonders in die Pflicht genommen      willig Infektionsrisiken aussetzen.
dafür, Immunitätsnachweise mindes-        um auf diese Weise in den Besitz           setzen.                                  würden (z.B. in Medizin und Pfle-      Gerade in Arbeitsfeldern mit prekä-
tens anlass- und bereichsbezogen in                                                                                           ge, Reinigung, Verkauf, Kitas oder
bestimmten, gesetzlich zu regelnden                                                                                           Schulen). Hierbei ist insbesondere
Fällen zu verwenden, beispielsweise:                                                                                          auf die Gefahr einer Verstärkung be-

                                                                                                                                                                     © Deutscher Ethikrat
                                          © Deutscher Ethikrat

zur Wahrung der Interessen von                                                          Zur Person                            stehender Benachteiligungen sowie                                                  Zur Person
Personen, die Covid-19-assoziiert be-                                                                                         die Gefahr einer Zwei-Klassen-Ge-
sonders vulnerabel sind;                                                                Der Philosoph Prof. Carl Fried-       sellschaft hinzuweisen.                                                            Prof. Judith Simon ist Profes-
zur Ausübung von Berufen, deren                                                         rich Gethmanm ist seit 2012                                                                                              sorin für Ethik in der Infor-
Ausübung eine räumliche oder phy-                                                       Professor am Forschungskol-           Es gibt nur einen Bereich, in dem                                                  mationstechnologie an der
sische Nähe zu anderen Personen                                                         leg „Zukunft menschlich ge-           ein hinreichend sicherer Nachweis                                                  Universität Hamburg. Zuvor
voraussetzt.                                                                            stalten“ der Universität Siegen.      von Immunität zur individuellen                                                    war sie u.a. Associate Profes-
                                                                                        Zuvor war er unter anderem            Rückgewähr von Freiheit genutzt                                                    sor für Wissenschaftstheorie
III: Zu gewährleisten ist eine im Lich-                                                 Direktor der Europäischen             werden dürfte: zugunsten beson-                                                    und Technikphilosophie an der
te der medizinischen Erkenntnisse                                                       Akademie zur Erforschung von          ders vulnerabler Gruppen, etwa in                                                  IT University in Kopenhagen.
zur Dauer einer Immunität vertretbar                                                    Folgen wissenschaftlich-tech-         Einrichtungen der Alten- oder Be-                                                  Sie ist Mitglied des Deutschen
begrenzte Gültigkeit einer Immuni-                                                      nischer Entwicklungen. Geth-          hindertenhilfe. Da diese Personen-                                                 Ethikrates und der Arbeits-
tätsbescheinigung. Die gesetzliche                                                      mann ist seit 2013 Mitglied           gruppen erheblich unter strengen                                                   gruppe Digitalisierung und
Regelung der Immunitätsbescheini-                                                       des Deutschen Ethikrates, von         Isolationsmaßnahmen zu leiden ha-                                                  Demokratie der Leopoldina.
gungen sollte befristet erfolgen.                                                       2000 bis 2010 war er Mitglied         ben, sollten nahestehende Personen,                                                Ferner hat Simon in der Daten-
                                                                                        der Bioethik-Kommission des           aber auch Seelsorger oder Hospiz-                                                  ethikkommission der Bundes-
IV: Immunitätsbescheinigungen                                                           Landes Rheinland-Pfalz.               dienste – auf Grundlage gesicherter                                                regierung mitgearbeitet.
können nicht nur die Rücknahme von                                                                                            Kenntnis über ihre Immunität und
Datenlandschaft im Aufbau - Das Magazin zur Verteilungsdebatte ISSN: 2625-3313 Ausgabe 53 - November 2020 - Gerechte Gesundheit
• Seite 10                                Im Fokus                       GERECHTE GESUNDHEIT   November 2020                                                       Im Fokus                                                              Seite 11 •

                                                                                               Debatte um vierte Hürde                                                    werden. Wegen der nahezu unausweichlich auf uns
                                                                                               Auf einer Tagung im Februar beschreibt der Gesund-                         zukommenden Referenzpreis-Thematik aus den USA
                                                                                               heitsökonom Prof. Jürgen Wasem, Universität Duis-                          sollten wir dies mit einem Übergang zu vertraulichen
                                                                                               burg-Essen, den Trend: Immer öfter kommen neue                             Rabatten bei Beibehalten des beim Launch gesetzten
                                                                                               Arzneimittel auf den Markt, die zum Zeitpunkt ihrer                        Listenpreises verbinden.“
                                                                                               Zulassung über eine schwache Evidenz verfügten,
                                                                                               aber sehr viel kosteten. In der Krebsbehandlung                            Preisobergrenzen für Sozialversicherung
                                                                                               addierten sich die Kosten sogar, weil Therapien oft                        Bei der Techniker Krankenkasse haben die neuen
                                                                                               miteinander kombiniert werden. Wasem sieht dadurch                         Arzneimittel des Jahres 2017 im folgenden Jahr einen
                                                                                               die Balance von Medikamentenzugang einerseits und                          Ausgabenanstieg von sieben Prozent verursacht – da-
                                                                                               Kostenkontrolle andererseits gefährdet. Er regt eine                       bei lag die Menge der verordneten Packungen rund 55
                                                                                               Diskussion zur sogenannten „vierten Hürde“ an. Diese                       Prozent unter der des Vorjahres. Der durchschnittliche
                                                                                               würde bedeuten: Arzneimittel werden nicht mehr au-                         Preis pro Packung stieg im Vergleich zum Vorjahr um
                                                                                               tomatisch nach der Zulassung von der GKV erstattet.                        knapp 140 Prozent auf 3.066 Euro. Hauptverantwort-
                                                                                               Erst nach der Preisverhandlung zwischen Kassen und                         lich für diesen enormen Kostenanstieg seien neben
                                                                                               Industrie hätten Patienten einen Leistungsanspruch.                        Spinraza fünf Arzneimittel, deren Kosten pro Packung
                                                                                                                                                                          im fünfstelligen Bereich liegen. Der TK-Vorstandsvor-
                                                                                               Nachgefragt bei Prof. Jürgen Wasem:                                        sitzende Dr. Jens Baas stellt bei der Vorstellung des In-
                                                                                               Kann eine vierte Hürde für eine verlässliche Ba-                           novationsreports die Frage nach einem angemessenen
                                                                                               lance zwischen Zugang und Kostenkontrolle bei                              Preis. Der Umstand, dass all diese kostenintensiven
                                                                                               Arzneimitteln sorgen?                                                      Arzneimittel der Behandlung schwerer Erkrankungen
                                                                                               „Deutsche GKV-Patienten haben im EU-Vergleich sehr                         dienten, mache die Preisdiskussion auch zu einer „ethi-
                                                                                               rasch Zugriff auf neue Medikamente. Dies ist auch                          schen Debatte“. Er verlangt für die Preisbildung mess-
© stock.adobe, Alexey Novikov
                                                                                               Ergebnis des Verzichts auf eine vierte Hürde. Das                          bare und transparente Kriterien und nennt konkret:
                                                                                               AMNOG hat diese Wertentscheidung für einen ra-                             eine Beurteilung des „medical need“, Versorgungssi-
                                                                                               schen Zugang unter Inkaufnahme von ggfs. zu hohen                          cherheit sowie europäische Forschungsstandorte. Auf
                                                                                               Preisen getroffen.                                                         Basis dieser Kriterien könne die Sozialversicherung
                                                                                               Daran würde ich nicht rütteln wollen. Fraglich ist                         dann Preisobergrenzen festlegen.
                                                                                               aber, ob der frei gesetzte Einstandspreis ein ganzes
                                                                                               Jahr gelten muss. Ich könnte mir vorstellen, dass                          Nachgefragt bei Dr. Jens Baas:
                                                                                               der verhandelte Erstattungsbetrag rückwirkend zum                          Lassen sich Preisobergrenzen mit dem gesetzlich
                                                                                               Zeitpunkt des G-BA-Beschlusses über die Nutzenbe-                          verankerten Anspruch auf Teilhabe am medizinischen
                                                                                               wertung greift. Da wir nach der Bundestagswahl im                          Fortschritt vereinbaren?
                                                                                               Herbst 2021 voraussichtlich vor dem Zwang erhebli-                         „Seit Jahren verzeichnen wir stark steigende Prei-
                                                                                               cher Kostendämpfung stehen werden, könnte dadurch                          se für neue Arzneimittel. Mit Blick auf die extremen
                                                                                               auch ein Beitrag zur Ausgabenbegrenzung geleistet                          Ausgabensteigerungen in der gesetzlichen Kranken-

Höchstgrenzen, vierte
Hürde und Co.
Welche Rezepte gegen hochpreisige Arzneimittel diskutiert werden

• Berlin (pag) – Hochpreisige Arzneimittel werden immer mehr zu einer Herausforderung
für das GKV-System. Viele Kassenvertreter schlagen Alarm. Es wird über Höchstgrenzen
für Arzneimittelpreise und eine vierte Hürde diskutiert. Lesen Sie, welche Experten sich
äußern und welche Vorschläge kursieren.

                                                                                               Prof. Jürgen Wasem (li.) prophezeit einen „Zwang erheblicher Kostendämpfung“. Eine „faire Preisgrenze ziehen“ will Dr. Jens Baas. © pag, Fiolka
Datenlandschaft im Aufbau - Das Magazin zur Verteilungsdebatte ISSN: 2625-3313 Ausgabe 53 - November 2020 - Gerechte Gesundheit
• Seite 12                                                       Im Fokus                                           GERECHTE GESUNDHEIT   November 2020                                                        Im Fokus                                                             Seite 13 •

versicherung ist die Frage drängender denn je, wie                      Gleiches gelte für patentfreie Nichtbiologika aus der             Nachgefragt bei Andreas Storm                                               Vorstand Roche Pharma AG, bei der Diskussion. Die
wir das System finanzierbar halten, damit sich die                      Gruppe der Krebsmedikamente. Ferner kritisieren die               Bei welchen Arzneimitteln halten Sie eine Kosten-                           Impfstoffentwicklung gegen Corona verdeutliche das
Versichertengemeinschaft den medizinischen Fort-                        Herausgeber eine schleppende Umsetzung des deut-                  Nutzen-Bewertung für sinnvoll?                                              hohe Investitionsrisiko: Von den rund 140 Projekten
schritt in Form von guten Innovationen leisten kann.                    schen Festbetragssystems.                                         „Durch die absehbare Zunahme von neuartigen, früh                           würden nur bis zu fünf übrig bleiben, der Rest blei-
Medizinischer Fortschritt kann dabei jedoch nicht die                                                                                     eingesetzten und sehr hochpreisigen Medikamenten                            be auf der Strecke. „Bei Preisen zahlen Sie nicht im
alleinige Rechtfertigung sein, Preise willkürlich in die                                                                                  wird sich der Arzneimittelmarkt in den kommenden                            vollen Umfang die Forschungs-, Entwicklungs- oder
Höhe zu treiben. Um angemessene Preise verhandeln                       Das Nutzenbewertungsverfahren mutig weiter-                       Jahren grundlegend verändern. Daher muss sich auch                          Produktionskosten, sondern die Gedankenleistung,
zu können, brauchen wir politische Rahmenbedingun-                      entwickeln                                                        unser Verständnis von Zugang, Evidenzgenerierung                            das Intellectual Property.“ Starre Grenzwerte für den
gen und objektivierbare Kriterien, anhand derer für                     Der AMNOG-Report 2020 der DAK widmet sich um-                     und Erstattung weiterentwickeln. Unabhängig von be-                         Preis neuer Arzneimittel lehnt der Medizinethiker Prof.
alle Seiten faire Preisgrenzen zu ziehen sind.“                         fänglich dem zehnjährigen Jubiläum des Verfahrens.                stimmten Wirkstoffvorschlägen ist es wünschenswert,                         Georg Marckmann zwar ab, aber Signalgrenzwerte für
                                                                        Er enthält unter anderem eine Befragung von 45                    dass die beteiligten Akteure sowie der Gesetzgeber                          das Kosten-Effektivitäts-Verhältnis kann er sich durch-
                                                                        Experten aus Krankenkassen, Verbänden, Kassen-                    kooperativ und mutig an der Fortentwicklung des                             aus vorstellen. Werden diese überschritten, müsse es
Vielfältige Rezepte gegen den „Ausgabenboom“                            ärztlichen Vereinigungen und Industrie. Demnach                   bewährten Nutzenbewertungsverfahrens arbeiten. Ich                          dafür gute Gründe geben, verlangt er, etwa dass es
Der im Herbst veröffentlichte Arzneiverordnungs-Re-                     bewerten 70 Prozent aller Befragten das AMNOG mit                 bin sicher, dass in diesem Zusammenhang die Frage                           sich um schwerwiegende oder vernachlässigte Krank-
port (AVR) moniert einen „kontinuierlichen Ausga-                       der Schulnote „gut“. Die großen Streitthemen sind                 der Bezahlbarkeit stärker in den Fokus rücken wird.                         heiten handelt. Um über verschiedene Bereiche hin-
benboom“ bei Arzneimitteln. Trotz jährlicher Ein-                       vor allem Mischpreise, Endpunkte sowie die Preis-                 Wichtig ist mir dabei, dass eine Debatte auf gesamt-                        weg vergleichen zu können, müsste dieses Verhältnis
sparungen von 16,8 Milliarden Euro durch gesetzliche                    festsetzung im ersten Jahr. Als verbesserungswürdig               gesellschaftlicher Ebene möglich ist, die auch schwie-                      in Kosten pro QALY (qualitätsgewichtetem Lebens-
Maßnahmen seien die Ausgaben im vergangenen Jahr                        werden genannt: Preisverhandlungen (32 Prozent),                  rige ethische Fragestellungen nicht auslässt.“                              jahr) angegeben werden.
um 5,4 Prozent auf 43,4 Milliarden Euro angestiegen.                    Bewertungssystematik (25 Prozent), Orphan Drugs
Dafür machen die AVR-Herausgeber Prof. Wolf-Dieter                      sowie die Kommunikation (jeweils zwölf Prozent). Bei                                                                                          Nachgefragt bei Prof. Georg Marckmann
Ludwig und Prof. Ulrich Schwabe insbesondere neue                       der Vorstellung des Reports stellt DAK-Chef Andreas               Signalgrenzwerte für das Kosten-Effektivitäts-                              Wer soll die Signalgrenzwerte festlegen?
hochpreisige patentgeschützte Arzneimittel verant-                      Storm die Frage, wie taufrisch das AMNOG-Verfahren                Verhältnis                                                                  In der Höhe des Grenzwertes für das Kosten-Effektivi-
wortlich. Neben Onkologika (8,2 Milliarden Euro, +13,7                  überhaupt noch sei. Weitere Anregungen des Vor-                   Bei einer Diskussionsrunde der Barmer zum Umgang                            täts-Verhältnis müsste sich die Zahlungsbereitschaft
Prozent im Vergleich zum Vorjahr) zeigten sich auch                     standsvorsitzenden der Kasse: Ist eine Erweiterung                mit hochpreisigen Arzneimitteln nennt Prof. Wolfgang                        für Gesundheitsgüter in einem Land wiederspiegeln.
bei Immunsuppressiva, Antithrombotika und Dermati-                      insbesondere für hochpreisige Arzneimittel notwen-                Greiner, Universität Bielefeld, kürzlich folgende Zah-                      Insofern wäre es in Deutschland beispielsweise ange-
ka überdurchschnittliche Zunahmen. Aber: Es hapere                      dig? Sollten wir von der Nutzen- zu einer Kosten-Nut-             len: Die durchschnittlichen Gesamtkosten für die Be-                        messen, wenn der Grenzwert vom Bundesministerium
auch an effektiven Marktregulierungsmechanismen                         zen-Betrachtung kommen?                                           handlung hätten sich bei neuen Wirkstoffen von 2011                         für Gesundheit vorgegeben würde, in enger Abstim-
nach Ablauf des Patentschutzes. Biosimilars seien                                                                                         bis 2019 vervierfacht (von 40.000 auf 152.300 Euro).                        mung mit den für die GKV zuständigen Institutionen
hierzulande wesentlich teurer als in anderen Ländern,                                                                                     Allerdings werde ein Großteil der neuen Wirkstoffe                          wie Gemeinsamer Bundesausschuss und IQWiG. Wenn
                                                                                                                                          inzwischen für relativ kleine Patientengruppen ge-                          ein Medikament mit dem vom Pharmaunternehmen
                                                                                                                                          macht, meint der Gesundheitsökonom. 40 Prozent der                          vorgeschlagenen Preis deutlich über dem Kosten-Ef-
                                                                                                                                          neuen Arzneimittel hätten eine Zielgruppe, die unter                        fektivitäts-Grenzwert liegt, kann man dies als gewich-
                                                                                                                                          1.000 Patienten liege. „Innovationen können grund-                          tiges Argument in den Preisverhandlungen nutzen. •
                                                                                                                                          sätzlich nicht günstig sein“, sagt Dr. Hagen Pfundner,

                                                                                                                                          Andreas Storm (li.) will die „Bezahlbarkeit stärker in den Fokus rücken“. Prof. Georg Marckmann plädiert für einen „Grenzwert für das Kosten-Effek-
Die großen Streitthemen des AMNOG sind Mischpreise, Endpunkte und die Preisfestsetzung im ersten Jahr. © iStockphoto, Feodora Chiosea     tivitäts-Verhältnis. © pag
Datenlandschaft im Aufbau - Das Magazin zur Verteilungsdebatte ISSN: 2625-3313 Ausgabe 53 - November 2020 - Gerechte Gesundheit
• Seite 14   Im Fokus   GERECHTE GESUNDHEIT   November 2020                                        Im Fokus                                            Seite 15 •

                                              Datenlandschaft im Aufbau
                                              Mehr Nutzung, Akzeptanz und Autonomie

                                              Berlin (pag) – Im Gesundheitswesen wird eine Vielzahl von Daten produziert. Doch noch immer
                                              stößt deren Nutzung auf vielfältige Hindernisse. Ist die Zeit reif, grundlegend umzudenken?

                                              Im Herbst haben gleich drei Ministerien – das Bundes-     Die wissenschaftsbasierte Auswertung gesundheits-
                                              ministerium für Bildung und Forschung (BMBF), das         relevanter Daten soll die Patientenversorgung verbes-
                                              Bundesgesundheitsministerium (BMG) und das Bun-           sern, der medizinische Fortschritt soll vorangetrieben
                                              desministerium für Wirtschaft und Energie (BMWI)          werden und – last but not least – geht es den drei
                                              – eine Roadmap zur Initiative „Daten für Gesundheit“      Ressorts darum, die Innovationskraft des Standorts
                                              veröffentlicht. Folgende Ziele werden darin postuliert:   Deutschland zu steigern.
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• Seite 16                                                        Im Fokus                                           GERECHTE GESUNDHEIT   November 2020                                           Im Fokus                                               Seite 17 •

Strategien, Gesetze und Initiativen                                      zung ihres Strategiepapiers „Interoperabilität 2025“.             Zenker und Semler plädieren bei der Datenspende für          die Patientenautonomie steigern wir nicht durch eine
Diese Initiative ist nur eine von vielen, die dem digitalen              Die Vielzahl an Strategien, Gesetzen und Initiativen              ein einfach auszuübendes Widerspruchsmodell (opt-            Vielzahl immer länger werdender Informations- und
Wandel den Weg bereiten soll. Die Bundesregierung                        zeigt die Komplexität des Themas. Viel tut sich – end-            out). Besonders wichtig ist ihnen: Die Spende sollte         Einwilligungsunterlagen“, sagt Semler. Solche Prozesse
hat die engere Vernetzung von Patientenversorgung                        lich auch an Stellen, an denen lange Zeit Blockade auf            zeitlich und räumlich vom Kontext einer medizinischen        sollten sinnvoll organisiert werden, das bedeutet: leist-
und Gesundheitsforschung bei der Nutzung von digita-                     der Tagesordnung stand, wie bei der Gematik. Dennoch              Behandlung entkoppelt und stattdessen im normalen            bar für die eine Seite sowie verständlich, überschaubar
len Gesundheitsdaten zu einer ihrer zwölf Missionen in                   ist der Befund in einem Gutachten mehrerer Wissen-                Alltagsleben verankert werden. „Die Akutversorgung ist       und beurteilbar für die andere Seite – die Bürger bzw.
der Hightech-Strategie 2025 erklärt. Außerdem werden                     schaftler, das kürzlich veröffentlicht wurde, noch immer          ein ungünstiger Zeitpunkt, um sich mit einer längeren        Patienten. Für Semler macht das Ganze nur dann Sinn,
in der Roadmap genannt: die Umsetzungsstrategie                          ziemlich ernüchternd: „Für eine Nachnutzung seitens               Aufklärung zu Forschungsprojekten zu befassen – insbe-       wenn man aus dem Projektzusammenhang hinausgeht.
Digitalisierung, die Datenstrategie sowie die Strategie                  der medizinischen Forschung interessante und relevan-             sondere, wenn diese komplexe Fragestellungen verfol-         „Damit brauche ich einen neuen Akteur, der die grund-
Künstliche Intelligenz und die Blockchain-Strategie der                  te Daten sind im Gesundheitssystem vielfach vorhan-               gen oder infrastrukturell angelegt sind“, sagt Semler. Die   sätzliche Spende verwaltet.“
Bundesregierung. Hinzu kommen die Digitalstrategie                       den, aber verteilt über viele Akteure und Institutionen           Bürger sollten besser angesprochen werden, bevor sie
„Gestaltung der digitalen Zukunft Europas“ und die                       und zudem rechtlich und technisch nur sehr begrenzt               in eine medizinische Notsituation kommen. „Denn eine         Wie geht es weiter?
Europäische Datenstrategie (European Strategy for                        verfügbar und verknüpfbar.“                                       informierte Entscheidung fällt leichter, wenn man sie mit    Eine solche projektübergreifende Entität, wie Semler es
Data) der Europäischen Kommission.                                                                                                         relativ freiem Kopf fällen kann“, argumentiert Zenker.       nennt, sollte völlig unabhängig von derzeit laufenden
Strategien, wohin man auch schaut.                                                                                                                                                                      Verfahren gedacht werden. „Würde man neue Anfor-
Auch auf der Ebene der Gesetzgebung ist das BMG                          Was bringt eine Datenspende?                                      Mehr Nutzung, Akzeptanz und Autonomie                        derungen zur Datenspende beispielsweise schon jetzt
sehr aktiv, etwa mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz                      Das Gutachten im Auftrag des BMG haben unter ande-                Der ärztliche Leiter der Stabsstelle Medizinisch-Wissen-     an die ePA-Einführung richten, wäre damit das Projekt
und dem Patientendaten-Schutzgesetz. Gegenwärtig                         rem PD Dr. Sven Zenker und Sebastian C. Semler, Ge-               schaftliche Technologieentwicklung und -koordination         überfrachtet“, befürchtet der Experte. Es handelt sich
wird ein drittes Digitalisierungsgesetz auf den Weg                      schäftsführer der Technologie- und Methodenplattform              am Universitätsklinikum Bonn nennt noch einen weite-         ohnehin um eine langfristige Idee, die Strukturen von
gebracht. Wichtige Impulse werden darüber hinaus mit                     für die vernetzte medizinische Forschung (TMF), ver-              ren Grund für eine breite Bürgerbeteiligung: die deut-       morgen vorausdenken soll. Die politische Debatte dazu
der BMBF-unterstützten Medizininformatik-Initiative,                     fasst. Sie sind davon überzeugt, dass eine Datenspende            liche Selektionsverzerrung. Zum Beispiel können nur          beginnt gerade erst. Die Autoren des Gutachtens haben
dem geplanten Forschungsdatenzentrum, das beim                           für die sekundäre Datennutzung im Unterschied zum                 die Patienten der Universitätsmedizin befragt werden,        mit Patientenorganisationen wie der Bundesarbeits-
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinproduk-                       jetzigen Verfahren die Qualität, Fairness und Effizienz           die zum Zeitpunkt der Aufnahme noch ansprechbar              gemeinschaft (BAG) Selbsthilfe und dem Aktionsbünd-
te angesiedelt werden soll, und der nationalen For-                      der Gesundheitsversorgung und der medizinischen For-              und einwilligungsfähig sind, sodass bestimmte Krank-         nis Patientensicherheit einen Workshop veranstaltet.
schungsdateninfrastruktur gesetzt. Außerdem arbeiten                     schung stark fördern könnte. Die Idee ist nicht neu. Auch         heitsbilder und schwere Verläufe systematisch von der        Geplant sind jetzt Gespräche mit Abgeordneten. Fest
der Health Innovation Hub des BMG, die Gematik, der                      der Deutsche Ethikrat und Forschungs- und Digitalpoli-            Datennutzung ausgeschlossen werden. Es geht den              steht nämlich, dass sich die ehrgeizigen Pläne der
Digitalverband Bitkom und der Bundesverband Ge-                          tiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben sich mit               Wissenschaftlern also darum, ein Informationsangebot         Wissenschaftler im derzeitigen Rechtsrahmen nicht
sundheits-IT gerade im offenen Prozess an der Fortset-                   dem Thema befasst (siehe Infokasten).                             außerhalb des Akutkontextes zu schaffen. „Für mehr           verwirklichen lassen. Ein langer Atem ist gefragt. Aber
                                                                                                                                           Datennutzung brauchen wir mehr Akzeptanz, mehr Ak-           vielleicht ist es ja genau dieser Paradigmenwechsel, den
                                                                                                                                           zeptanz geschieht durch mehr Patientenautonomie und          das hiesige System so dringend benötigt.               •

                                                                                                                                             Souveräner Umgang mit Gesundheitsdaten

                                                                                                                                             Auch das BMBF fördert das Thema Datenspende: Die Voraussetzungen für einen verantwortungsvollen
                                                                                                                                             und reflektierten Umgang mit Gesundheitsdaten stehen im Zentrum eines neuen Forschungsprojekts,
                                                                                                                                             das von Informatikerinnen und Informatikern der Freien Universität Berlin koordiniert wird. Ziel des For-
                                                                                                                                             schungsvorhabens „WerteRadar – Gesundheitsdaten souverän spenden“ ist es, eine integrative und inter-
                                                                                                                                             aktive Software zur reflektierten Weitergabe von Gesundheitsdaten zu konzipieren, zu evaluieren und um-
                                                                                                                                             zusetzen. Gefördert wird WerteRadar vom BMBF mit rund 480.000 Euro, die Laufzeit beträgt drei Jahre.

                                                                                                                                             „Mit Daten Leben retten“

                                                                                                                                             Parallel zum Gesetzgebungsverfahren des Patientendaten-Schutzgesetzes haben Gesundheits-, For-
                                                                                                                                             schungs- und Digitalpolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Ende Mai ein Positionspapier verfasst.
                                                                                                                                             Der Titel lautet „Mit Daten Leben retten: Für eine bessere Patientenversorgung durch Digitalisierung und
                                                                                                                                             Gesundheitsforschung“. Sie können sich unter anderem „perspektivisch“ vorstellen, dass in Deutschland
                                                                                                                                             ansässige forschende Unternehmen der Gesundheitswirtschaft in den Kreis der Antragsberechtigten für
                                                                                                                                             das Forschungsdatenzentrum aufgenommen werden. Darüber hinaus machen sie sich für eine verlässliche
                                                                                                                                             Infrastruktur stark, in der Datenflüsse zwischen Patienten, Versorgung und Forschung koordiniert werden.
                                                                                                                                             Den Unionspolitikern schwebt eine zentrale nationale Instanz nach Vorbild des US-amerikanischen „Office
                                                                                                                                             of the National Coordinator for Health Information Technology“ vor.
Digitaler Umbruch, Paradigmenwechsel – wie lässt sich dei Transformation des hiesigen Gesundheitswesens bewerkstelligen?
© iStockphoto, Maksim Tkachenko
Datenlandschaft im Aufbau - Das Magazin zur Verteilungsdebatte ISSN: 2625-3313 Ausgabe 53 - November 2020 - Gerechte Gesundheit
• Seite 18                                                         Im Gespräch                                        GERECHTE GESUNDHEIT     November 2020                                                           Im Gespräch                                              Seite 19 •

                                                                                                                                              den Daten haben, und eine gute Auf-                        Studie. Die beiden Dinge werden         in Göttingen wird unter der Leitung
                                                                                                                                              sicht über das Ganze mit Berichts-                         gegenübergestellt, als wäre die         von Frau Prof. Silke Schicktanz unter-
                                                                                                                                              wesen, darüber, was denn am Ende                           individualisierte Medizin eine Ab-      sucht, wie Patienten strukturell be-
                                                                                                                                              als Nutzen herauskommt.                                    kehr von der evidenzbasierten           teiligt werden können, also sowohl in
                                                                                                                                                                                                         Medizin. In Wirklichkeit ist es eine    den Entscheidungsgremien als auch
                                                                                                                                              Welche Konflikte ergeben sich zwi-                         Weiterentwicklung, die aufgrund         bei der Bereitstellung von Daten
                                                                                                                                              schen Personalisierter und Big-Data-                       des Fortschritts der Erkenntnis und     beispielsweise im kardiologischen
                                                                                                                                              Medizin einerseits und den Prinzi-                         der Möglichkeiten, die Krankheit des    Anwendungsbereich, wo Patienten
                                                                                                                                              pien der evidenzbasierten Medizin                          Einzelnen besser zu charakterisieren,   durch die App schon bei der Daten-
                                                                                                                                              andererseits? Und wie lassen sich                          auch eine Weiterentwicklung unserer     generierung miteinbezogen sind.
                                                                                                                                              diese im Sinne des Patienten lösen?                        Systematik und Methodik bezüglich
                                                                                                                                                                                                         eines gut abgesicherten Nutzens         Wie erleben Sie die Bereitschaft,
                                                                                                                                              Personalisiert klingt immer etwas                          erfordert. Der Nutzennachweis muss      Daten zur Verfügung zu stellen?
                                                                                                                                              irreführend, als wenn jede einzelne                        auch weiter der Standard sein.
                                                                                                                                              Person ihre eigene Medizin erhält.                                                                 Insgesamt ist die bei Krebspatien-
                                                                                                                                              Tatsächlich beruht die stratifizierte                      Sind Patienten auch in diesen gan-      ten recht hoch, aber man muss je
                                                                                                                                              Medizin, die hier gemeint ist, auf                         zen Prozess involviert?                 nach Bedürfnis unterschiedliche
                                                                                                                                              Biomarkern, die Patientenkohorten                                                                  Intensitäten und Beteiligungsformen
                                                                                                                                              besser definieren. Deshalb werden                          Ja. Ein Schwerpunkt ist die soge-       anbieten. Einige Patienten sind mit
                                                                                                                                              die Patientengruppen immer kleiner,                        nannte Stakeholder-Beteiligung und      ihrer Krankheit beschäftigt. Aber
                                                                                                                                              große Studien lassen sich nicht mehr                       Partizipation von Patienten – sowohl    es gibt viele Patienten, die sagen,
                                                                                                                                              durchführen.                                               auf nationaler Ebene als auch im        man müsste eigentlich mehr mit den
Eine gute Aufklärung ist die erste ethische Herausforderung, sagt Prof. Eva Winkler. © pag, Fiolka                                                                                                       Rahmen von unseren medizinischen        Daten forschen, die sie bereitstellen.
                                                                                                                                              Was ist die Konsequenz dessen?                             Schwerpunktprojekten im Rahmen          Keiner möchte keine Forschung. •
                                                                                                                                                                                                         des HiGHMed-Konsortiums. Wir
                                                                                                                                              Damit verlassen wir den Goldstan-                          haben drei Standorte dafür: Göttin-
                                                                                                                                              dard der großen randomisierten                             gen, Berlin und Heidelberg. Gerade

„Keiner möchte keine Forschung“
Prof. Eva Winkler über Datennutzung und Patientenbeteiligung
Moderne Informationsinfrastrukturen sollen Ergebnisse aus der Forschung rasch in die                                                            Was ist HiGHmed?
klinische Praxis bringen. Das Ganze birgt aber nicht nur technische und rechtliche, sondern
auch ethische Herausforderungen. Mit ihnen beschäftigt sich die Ärztin Prof. Eva Winkler.                                                       Das Konsortium HiGHmed bündelt und integriert im                             ten organisations- und institutionsübergreifend zu-
Im Interview erklärt sie, warum gute Aufklärung und ein gerechter Zugang essenziell sind.                                                       Rahmen der Medizininformatik-Initiative Kompeten-                            sammen, um einen Verbund von Datenintegrations-
                                                                                                                                                zen von acht Universitätskliniken und medizinischen                          zentren aufzubauen. Anhand von drei klinischen Use
                                                                                                                                                Fakultäten sowie weiteren Partnern aus Wissen-                               Cases sollen die Zentren demonstrieren, wie Daten,
                                                                                                                                                schaft und Industrie. Das Ziel: innovative Informa-                          Informationen und Wissen aus Krankenversorgung
Können Sie anhand eines Beispiels                 Bei HiGHmed arbeiten Sie zu den                    einem konkreten Beispiel wie diesem:       tionsinfrastrukturen entwickeln und so einen schnel-                         sowie klinischer und biomedizinischer Forschung
erläutern, was Patienten konkret                  ethischen Aspekten des Projekts.                   Wenn ein Forscher herausfinden will,       leren Transfer von Ergebnissen aus der Forschung in                          zum Wohle von Patienten über die Grenzen von
von den Datenintegrationszentren                  Welche ethischen Fragen sind denn                  ob bei Bauchspeicheldrüsenkrebs ein        die klinische Praxis ermöglichen. Die Partner arbei-                         Standorten hinweg verknüpft werden können.
haben, die im Rahmen der Medizin-                 bei der datenbasierten Versorgung                  Zusammenhang mit Bluthochdruck
informatik-Initiative an den uni-                 und Forschung vorrangig zu klären?                 besteht, dann stellt er eine Anfrage       •   Use Case Onkologie: Gezieltere Krebsbehandlung durch übergreifenden Wissensaustausch
versitätsmedizinischen Standorten                                                                    an die Medizininformatik-Initiative.       •   Use Case Kardiologie: Früherkennung und Vermeidung von Krankheitsschüben bei Langzeit-Verläufen
eingerichtet wurden?                              Zuerst einmal ist es wichtig, Pa-                  Dort initiiert man eine grobe Suche,       •   Use Case Infektionskontrolle: Krankenhausinfektionen verstehen, vorhersehen und verhindern
                                                  tientinnen und Patienten genau zu                  wie viele Patientendatensätze zu
Einen direkten persönlichen Nutzen                erklären, welche Intention mit der                 der Fragestellung vorliegen und im

                                                                                                                                                                                      © NCT-Heidelberg
gibt es zunächst nicht. Die Medi-                 Nutzung der Daten verfolgt wird, zu                nächsten Schritt kann der Forscher
zininformatik-Initiative dient der                welchem Zweck wir diese Daten be-                  dann einen Antrag auf Nutzung der                                                                     Zur Person
Forschung. Dahinter steckt die Idee,              nötigen.                                           verschlüsselten Datensätze stellen. Es
die vielen klinischen Daten, die in               Damit ist eine gute Aufklärung die                 muss klare Regeln geben, wer Zugriff                                                                  Prof. Eva Winkler ist Oberärztin an der Klinik für Medizinische Onkolo-
den verschiedenen Datenbanken                     erste ethische Herausforderung, weil               hat, dass nur diese Forschungsfrage                                                                   gie, Universitätsklinikum Heidelberg. Sie leitet den Schwerpunkt „Ethik
der Kliniken und Arztpraxen liegen,               man zum Zeitpunkt der Aufklärung                   bearbeitet wird und die Daten da-                                                                     und Patientenorientierung in der Onkologie” vom Nationalen Centrum
nutzbar zu machen. Die Auswer-                    noch nicht spezifisch sagen kann,                  nach gelöscht werden. Kurz: Zu den                                                                    für Tumorerkrankungen und der Uniklinik Heidelberg. Außerdem ist sie
tungen können helfen, die Qualität                in welche Projekte die Daten genau                 ethischen Herausforderungen gehört                                                                    Projektsprecherin von EURAT – Ethische und rechtliche Aspekte der
der Versorgung zu verbessern, aber                gehen und wo genau der Nutzen                      die Aufklärung der Patienten, der ge-                                                                 Totalsequenzierung des menschlichen Genoms. Bei dem HiGHmed-
auch ganz neue Fragestellungen in                 entsteht. Wir müssen vielmehr die                  rechte Zugang für alle Forscher, klare                                                                Konsortium arbeitet Prof. Winkler als Ethik-Expertin mit.
der Forschung zu beantworten.                     Infrastruktur erklären, am besten mit              Kriterien, nach denen sie Zugang zu
• Seite 20                                             In Kürze                                 GERECHTE GESUNDHEIT       November 2020                                         In Kürze                                            Seite 21 •

Gesundheit und Gerechtigkeit bei der Arbeit                                                                               Jahr um weitere Angaben ergänzt
                                                                                                                          werden – unter anderem wird die
                                                                                                                                                                  vationen und neue Denkansätze
                                                                                                                                                                  würden dadurch im Keim erstickt,
                                                                                                                                                                                                        kenhäuser und Krankenkassen. Im
                                                                                                                                                                                                        Vergleich zu den früher eingereich-
                                                                                                                          Art der beteiligten Leistungserbrin-    schreibt der Verband in seiner        ten vollständigen Anträgen erhielt
• Berlin (pag) – Wer sich von seinem Vorgesetzten fair behandelt fühlt, fehlt seltener                                    ger genannt.                            Stellungnahme zum geplanten Ver-      der Ausschuss deutlich mehr Skiz-
krank bei der Arbeit. Zu diesem Ergebnis kommt das Wissenschaftliche Institut der AOK                                     Alle Selektivverträge und Verträ-       sorgungsverbesserungsgesetz. Es       zen. G-BA-Chef Prof. Josef Hecken
(WIdO) im Fehlzeiten-Report 2020. Die Mitherausgeber sehen Handlungsbedarf.                                               ge der hausarztzentrierten Ver-         sieht unter anderem vor, dass auch    führt die große Resonanz auf das
                                                                                                                          sorgung hat das Bundesamt für           nicht-ärztliche Leistungserbringer    neue zweistufige Verfahren zurück,
                                                                                                                          Soziale Sicherung (BAS) in einer        an besonderen Versorgungsaufträ-      das der Gesetzgeber im vergange-
Im Fokus des Reports steht der Zusammenhang von              heitswissenschaftler von der Universität Bielefeld,          Liste auf seiner Internetseite ver-     gen beteiligt werden können. Auch     nen Jahr eingeführt hat.          •
Gerechtigkeit und Gesundheit. Dafür befragte das             steht angesichts dieser Ergebnisse fest, „dass wir in        öffentlicht. Damit kommt das Amt        regional begrenzte Versorgungs-
WIdO Anfang des Jahres 2.500 Arbeitnehmer zu                 Deutschland Dinge grundsätzlich in Zukunft anders            einer Regelung aus dem Fairer-Kas-      innovationen werden ermöglicht.       Weiterführender Link
ihrem Gerechtigkeitsempfinden am Arbeitsplatz sowie          machen müssen als bisher“. Badura beklagt vor allem          senwettbewerb-Gesetz nach. Die          Vorgesehen ist ferner, dass der       https://www.bundes-
zu gesundheitlichen Beschwerden. Demnach weisen              „überkommene Vorstellungen von Führung“ und                  Vertragstransparenzstelle soll die      Nachweis der Wirtschaftlichkeit       amtsozialesicherung.
Arbeitnehmer, die ihre Führungskraft als ungerecht           „Kulturen des Misstrauens und der Angst in Unterneh-         Datengrundlagen für den Risiko-         von Selektivverträgen innerhalb       de/de/vertragstrans-
empfinden, im Durchschnitt 15 Arbeitsunfähigkeitstage        men“. Dies schade den Beschäftigten und der Volks-           strukturausgleich sichern. Zugleich     von vier Jahren entfällt. Und: Ver-   parenzstelle
pro Jahr auf. Diejenigen, die ihre Führungskraft als fair    wirtschaft gleichermaßen. Führungskräfte müssten             will das BAS Transparenz über die       sicherungsübergreifende Versor-
einstufen, kommen dagegen lediglich auf 12,7 Tage.           heute nicht nur über fachliche, sondern vor allem über       Verträge der Krankenkassen für          gungsformen und eine Beteiligung
Zudem erscheinen erstere häufiger entgegen dem Rat           soziale Kompetenz verfügen.                            •    Versicherte, Aufsichtsbehörden und      an Versorgungsinnovationen ande-
eines Arztes bei der Arbeit. „Gefühlte Ungerechtigkeit                                                                    die interessierte Fachöffentlichkeit    rer Träger, z.B. kommunaler Ein-
bringt dabei insbesondere emotionale Irritationen und                                                                     schaffen. BAS-Präsident Frank Plate     richtungen der Sozial- und Jugend-
psychosomatische Beschwerden mit sich“, erläutert                                                                         spricht von einem wichtigen Schritt     hilfe, werden ermöglicht. Insgesamt
Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer                                                                        für einen „fairen und transparenten     begrüßt der BMC diese Reformen,
des WIdO und Mitherausgeber des Fehlzeiten-Re-                                                                            Wettbewerb“ zwischen den gesetz-        kritisiert aber grundsätzlich, dass
ports. Doch auch körperliche Leiden wie Rücken- und                                                                       lichen Krankenkassen. Das Verzeich-     keine Anreize für die Skalierung
Gelenkbeschwerden, Kopfschmerzen, Atemwegs-                                                                               nis solwl im kommenden Jahr um          erfolgreicher Projekte bestehen.
erkrankungen und Herz-Kreislauf-Beschwerden treten                                                                        weitere Angaben ergänzt werden          Zumindest an Denkanstößen für
wesentlich häufiger auf, wenn sich Arbeitnehmer                                                                           – unter anderem wird die Art der be-    innovative Versorgungsformen
ungerecht behandelt fühlen. „Das war für uns über-                                                                        teiligten Leistungserbringer genannt.   scheint derzeit kein Mangel zu
raschend“, räumt Schröder ein. Im Mittel über alle                                                                                                                herrschen: Der Innovationsaus-
Beschwerden klagen Arbeitnehmer, die sich von ihrer                                                                       Innovationen im Keim erstickt           schuss beim Gemeinsamen Bun-
Führungskraft unfair behandelt fühlen, etwa viermal                                                                       Unterdessen kritisiert der Bundes-      desausschuss (G-BA) hat 136
so oft über gesundheitliche Probleme wie diejenigen,                                                                      verband Managed Care (BMC) die          Ideenskizzen im Bereich neue Ver-
die die Behandlung als fair empfinden.                                                                                    „sehr restriktive“ Prüfpraxis von       sorgungsformen erhalten. Antrag-
Für Mitherausgeber Prof. Bernhard Badura, Gesund-                                          © iStockphoto, BrianAJackson   IV-Verträgen durch das BAS. Inno-       steller sind Universitäten, Kran-

                                                                                                                                                                                                                                                 © iStockphoto, ferrantraite
Mauerblümchendasein ade bei der Integrierten                                                                                   Mit der Integrierten Versorgung die Sektorengrenzen überwinden?
                                                                                                                               Das scheint noch ein langer Weg zu sein.
Versorgung?
• Berlin (pag) – 20 Jahre nach Einführung der Integrierten Versorgung haben
Selektivverträge noch immer nicht die erwünschte Systemwirkung erzielt. Trotzdem
seien sie das wichtigste Instrument zur Überwindung der Sektorengrenzen, meint
der Bundesverband Managed Care. Aktuell plant der Gesetzgeber, die Spielräume für
Selektivverträge zu erweitern. Und auch in Sachen Transparenz tut sich etwas.

Alle Selektivverträge und Verträ-       senwettbewerb-Gesetz nach. Die          die interessierte Fachöffentlich-
ge der hausarztzentrierten Ver-         Vertragstransparenzstelle soll die      keit schaffen. BAS-Präsident Frank
sorgung hat das Bundesamt für           Datengrundlagen für den Risiko-         Plate spricht von einem wichtigen
Soziale Sicherung (BAS) in einer        strukturausgleich sichern. Zugleich     Schritt für einen „fairen und trans-
Liste auf seiner Internetseite ver-     will das BAS Transparenz über die       parenten Wettbewerb“ zwischen
öffentlicht. Damit kommt das Amt        Verträge der Krankenkassen für          den gesetzlichen Krankenkassen.
einer Regelung aus dem Fairer-Kas-      Versicherte, Aufsichtsbehörden und      Das Verzeichnis soll im kommenden
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