Demokratie in der Krise - 02/2021 Schwerpunkt - Bibliothek der Friedrich ...
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02/2021 Demokratie in der Krise Schwerpunkt Immer mehr steht auf dem Spiel Die digitale Revolution Soziale Arbeit im digitalen Wandel
S CH W ER P U N K T – D E M O K R AT I E I N D ER K R I S E 3 Immer mehr steht auf dem Spiel 17 Wie viel braucht der Mensch, Wie die Demokratie bedroht wird um zufrieden zu sein? Fragen und Antworten zu 5 Wer rettet die Demokratie? Coronafolgen Politische Bildung als Daueraufgabe zur Demokratiestärkung 18 Ein Jahr Pandemie Zum Zustand unserer Gesellschaft 7 Profiteure der Angst? Rechte Parteien und die Corona-Krise 20 »Make tomorrow new« Kultur, Kunst und das demokratische 8 »Es gibt mich, es gibt dich und es gibt uns« Miteinander Mentalisierung als demokratische Kompetenz 21 Die Entmündigung der afrikanischen Jugend 10 Wege in die toxische Polarisierung Millionen Jugendliche in Uganda Das Schüren von Ressentiments als an der S timmabgabe gehindert politische Strategie 22 Brasiliens vielfältige Krisen 11 Über Impfgegner, Querdenker Die Wechselwirkung von Wirtschaft und Pandemieschwurbler und Demokratie Die Gefahren einer stärkeren V ernetzung der Milieus 23 Ist eine globale Demokratie möglich? Die demokratische Interessen 12 »Unboxing Hate S peech« vertretung in internationalen ivilgesellschaft Wie Politik und Z Organisationen ist unzureichend dem Hass e ntgegentreten können 25 Die Provokation der Freiheit 13 Distanzen überwinden Weshalb wir eine linke Wieder Politische (Jugend-)Bildung entdeckung der Freiheit brauchen in der Pandemie 26 Demokratie der Zukunft 14 Demokratische Selbstkorrektur Ein weiteres Büro der FES in Wien Starke Zivilgesellschaft gegen die Polarisierung in Zeiten der Pandemie 15 Die Demokratisierung der Demokratie Bürgerräte als Abbild der B evölkerung THEMA Die digitale Revolution 30 Soziale Arbeit im digitalen Wandel Die Transformation der Sozial 29 Fairen Zugang sichern wirtschaft Infrastrukturregulierung in der Plattformgesellschaft 32 Erfolgsgeschichten 33 Lese-Empfehlungen Fragen an Christian Humborg, ehemaliger Stipendiat
E D I TO R I A L Liebe Leserin, lieber Leser IMPRESSUM Herausgeber Friedrich-Ebert-Stiftung Kommunikation und Grundsatzfragen Godesberger Allee 149, D-53175 Bonn D Tel. 0228_883-0 | presse@fes.de ies ist die letzte Ausgabe des »info«-Magazins der Friedrich-Ebert- www.fes.de Stiftung. Das »info« wurde 1991 zur kontinuierlichen Vermittlung des Redaktion (Text) breiten Spektrums der Leistungen der FES ins Leben gerufen. Das war Peter Donaiski, Pressestelle Berlin lange bevor die digitalen Informationsmöglichkeiten unsere Medien- Hiroshimastraße 17, D-10785 Berlin Tel. 030_269 35-7038 landschaft und die Kommunikation insgesamt revolutionierten. peter.donaiski@fes.de Heute verfügt die Friedrich-Ebert-Stiftung über eine große Bandbreite digitaler Kanäle und ist in das weltumspannende Netzwerk sozialer Medien eingebunden. Korrektorat Ulrike Schnellbach Die Informationen über die vielfältigen Tätigkeitsfelder, Arbeitsergebnisse und Veranstaltungen sind schnell und leicht zugänglich und überall auf aktuellem Redaktion (Bild) Stand abrufbar. Aus Untersuchungen wissen wir, dass dieses Angebot intensiv Katja Ulanowski, Kommunikation und Grundsatzfragen genutzt wird. Damit hat das »info« das Alleinstellungsmerkmal der kontinuierli- Godesberger Allee 149, D-53175 Bonn chen Information über die Arbeit der FES verloren, das seine hohen Herstellungs- Tel. 0228_883-7036 kosten gerechtfertigt hat. katja.ulanowski@fes.de Nach mehr als 100 Ausgaben und vielen redaktionellen und gestalterischen Layout und Satz Überarbeitungen wird das »info« nun mit dieser Ausgabe eingestellt. Leitwerk. Büro für Kommunikation www.leitwerk.com Dieses letzte »info« steht unter der Überschrift »Demokratie in der Krise«. Druck Schwerpunkt des Hefts sind die Ergebnisse der aktuellen »Mitte-Studie« der FES, Druckerei Brandt GmbH ›Die geforderte Mitte‹. Die »Mitte-Studien« untersuchen alle zwei Jahre rechts Bildnachweis extreme und demokratiegefährdende Einstellungen in der deutschen Bevölkerung. Achille Abboud / NurPhoto: Titel · Ihre Ergebnisse haben hohe Relevanz und finden regelmäßig breite Resonanz. Michel Buchmann: S. 12 · Bastian Ehl: S. 15 · Elias El Ghorchi: S. 12 · Nze Eve: Die Autor_innen der Studie sowie weitere ausgewiesene Expertinnen und S. 21 · Fehling: S. 23 · FES: S. 10, 26, 27 · Experten liefern in diesem Heft begleitende Analysen und Bewertungen zur Fotostudio Charlottenburg: S. 7 · Fragilität von Demokratie, zu den Ursachen und Erscheinungsformen der Unter- Geisler-Fotopress / Hardt: S. 18 · Heike Günther: S. 9 · Johanna Kosowska: höhlung demokratischer Konventionen. Die Studie zeigt, dass die »Mitte« gefor- S. 25 · Lidstrichleitkultur: S. 31 · Daniel dert ist, Haltung zu zeigen, Position zu beziehen und die Demokratie zu stärken. Pasche: S. 11 · picture alliance / dpa: Beispiele aus der Bildungs- und Beratungsarbeit der FES und ihrer Partner bieten S. 5, 30 · picture alliance / dpa / dpa- Zentralbild: S. 14 · picture alliance / Ansätze zum eigenen Engagement. Lothar Ferstl: S. 20 · picture alliance / REUTERS: S. 7 · picture alliance / SULUPRESS.DE: S. 11 · picture alliance / Wir wünschen Ihnen gute Lektüre und hoffen, dass Sie uns gewogen bleiben! Xinhua News Agency: S. 24 · picture- Schauen Sie auf unserer Homepage vorbei [www.fes.de], abonnieren Sie unsere alliance / ZB: S. 9 · Privat: S. 8, 24 · Newsletter, Podcasts und Messenger-Dienste und informieren Sie sich über die Jens Schicke: S. 20 · Maren Strehlau: S. 12 · Studioline Photography Hamburg: weit gefächerte gesellschaftspolitische Arbeit der FES. S. 9 · Milan Svolik: S. 4 · Fabio Teixeira / Pacific Press: S. 22 · Westend61 / Josep Dr. Roland Schmidt Rovirosa: S. 28 · Thomas Wosnitza: S. 16 · A. Zmrzlak: S. 19 · WMDE: S. 32 · Geschäftsführendes Vorstandsmitglied zz / STRF / STAR MAX / IPx: U2, S. 2 der Friedrich-Ebert-Stiftung ISSN 0942-1351 Die Meinungen der Autor_innen geben nicht in jedem Fall die Positionen der FES wieder. E ditorial 1
I NTERV IE W Immer mehr steht auf dem Spiel Wie die Demokratie bedroht wird Fragen an Milan Svolik Herr Svolik, in etlichen Ländern der Welt ist Bestrafen Wähler_innen bei einer schrittweisen Aneignung ein Prozess zu beobachten, der oft als zusätzlicher Macht die Regierung dann durch Stimmentzug? »demokratischer Rückfall« bezeichnet wird: In einer Demokratie stellen Wahlen ein Instrument der demokratischen Demokratisch gewählte Regierungen Selbstverteidigung dar. Sie geben den Wähler_innen die Macht, Politi- unterwandern die eigenen demokratischen ker_innen, die die Demokratie untergraben, durch den Urnengang zu Standards und beschneiden die Rechtsstaat- stoppen, bevor es zu spät ist. lichkeit. Wie ist das möglich? Aber ob Politiker_innen tatsächlich deshalb von den Wähler_innen Diese Frage zu beantworten, gehört meiner Mei- nicht wiedergewählt werden, ist eine Frage von Ursache und Wirkung. nung nach zu den aktuell größten intellektuellen Und es ist durchaus eine Herausforderung, die Folgen undemokrati- Herausforderungen der Sozialwissenschaften. In schen Handelns von anderen möglichen Gründen abzugrenzen, die ein der Vergangenheit waren wir meist dann besorgt Wahlergebnis negativ beeinflusst haben könnten. Betrachten wir etwa um das Überleben demokratischer Gesellschaften, die US-Präsidentschaftswahlen 2020. Wir können Trumps Niederlage wenn Akteur_innen, die nicht durch Wahlen legi- einerseits so interpretieren, dass die Amerikaner_innen ihn für die timiert waren – meist das Militär – sich in die Poli- zahlreichen Verstöße gegen demokratische Normen während seiner tik einmischten. Auf diese Weise brachte Augusto Amtszeit abgewählt haben. Aber es gibt auch alternative Erklärungen: Pinochet 1973 die chilenische Demokratie zu Fall. dass die Wähler_innen Trump für seinen Umgang mit der Corona-Pande- Und in jüngerer Zeit stürzten Militärs die demo- mie und deren wirtschaftlichen Folgen abstraften oder dass die Differenz kratisch gewählten Regierungen Ägyptens (2013) im Wahlergebnis 2016 und 2020 eher mit Joe Biden als mit Donald und Myanmars (Februar 2021). Trump zu tun hatte. Denn Biden ist ein Mann – im Gegensatz zu Hillary Seit dem Ende des Kalten Krieges ist zusätzlich Clinton –, und er ist politisch moderat eingestellt – im Gegensatz zu Trump. die Ausbreitung einer ganz anderen Bedrohung für die Demokratie zu beobachten, die Sie als »demokratischen Rückfall« bezeichnet haben. Seit den 2000er-Jahren sind vier von fünf Zusammen- Wähler_innen sind oft bereit, der von ihnen brüchen demokratischer Regierungen auf demo- kratische Rückfälle zurückzuführen. favorisierten Partei einen Freibrief ausszustellen. An dieser Entwicklung sind zwei Aspekte bemerkenswert. Erstens vollzieht sich der demo- kratische Rückfall – wie es der Begriff nahelegt – in der Regel allmählich, typischerweise über meh- Um diesem Inferenzproblem auf den Grund zu gehen, habe ich mit rere Wahlzyklen hinweg, sowie unter dem Deck- einigen Kolleg_innen ein Experiment in verschiedenen Ländern durch- mantel eines verfassungsmäßigen Prozesses, und geführt, unter anderem in Tunesien, der Türkei, Venezuela, Nordirland nicht plötzlich und gewaltsam wie ein Militär- und den Vereinigten Staaten. In jedem Land baten wir eine repräsen putsch. Deshalb stellt er auch die heimtückischere tative Gruppe Wähler_innen, sich zwischen zwei imaginären Kandi Bedrohung für die Demokratie dar. Zweitens, und dat_innen zu entscheiden. Die Kandidat_innen wurden durch eine das ist entscheidend, wird der demokratische Merkmalskombination beschrieben, etwa politische Wirkungskreise, Rückfall von demokratisch gewählten Parteien Parteislogans und demografische Attribute. und Politiker_innen initiiert – aus einer demokra- Wichtigster Punkt: Bei einigen Kandidat_innen gaben wir an, sie tischen Situation heraus. Das führt uns zur eigent- stünden für eine Politik, die sich gegen ein zentrales demokratisches lichen, zentralen Frage: In welcher Situation und Prinzip wandte. Da wir den Kandidat_innen die undemokratischen aus welchem Grund lassen Wähler_innen zu, dass Maßnahmen nach dem Zufallsprinzip zugeordnet hatten, konnten wir Politiker_innen demokratische Strukturen unter- zeigen, wie sich undemokratisches Verhalten auf ihre Wahlchancen wandern? auswirkte. S CH W ER P U N K T | D E M O K R AT I E I N D ER K R I S E 3
Unser Experiment zeigte, dass die Wähler_innen zwar In Deutschland ergab eine aktuelle Umfrage, dass Kandidat_innen abstraften, die undemokratische Positionen die politische Spaltung die Menschen mehr beunruhigt vertraten, aber nur in geringem Maß. Bei allen Konstellatio- als zum Beispiel die Zuwanderung oder wirtschaft nen war zu beobachten, dass diese Strafe umso milder aus- liche Fragen. Denken Sie, die Menschen sind sich der fiel, je ausgeprägter die politischen bzw. parteipolitischen Auswirkungen dieser Polarisierung bewusst? Unterschiede zwischen den Kandidat_innen waren und je Die verhängnisvollste Konsequenz dieser Situation ist meiner gespaltener die Wählerschaft war. Ansicht nach folgende: Mit zunehmender Polarisierung steht Mit anderen Worten: Wähler_innen zögern, Politiker_ bei Wahlen immer mehr auf dem Spiel – und die Wähler_innen innen aufgrund der Missachtung demokratischer Werte ihre zahlen einen immer höheren Preis dafür, ihre demokrati- Stimme zu entziehen, wenn dies die Abkehr von der eigenen schen Werte über parteipolitische Interessen zu stellen. favorisierten Partei oder Politik bedeutet. Oft sind sie bereit, Anders ausgedrückt: In einer gespaltenen Gesellschaft ist der eigenen Partei einen Freibrief zu geben. es wichtiger zu verhindern, dass die jeweils andere Seite an die Regierung kommt, als fair zu bleiben. Und dieses Verhal- Denken Sie, dass in Europa ein ähnlicher Mechanismus ten kann besonders tückische Formen annehmen: Die am Werk ist, auch wenn die politischen Systeme nicht Anhänger_innen der einen Seite rechtfertigen die eigenen ganz mit dem der USA vergleichbar sind? undemokratischen Handlungen mit dem Argument als Diese Frage kann nur durch weitere empirische Studien unvermeidlich, die andere Seite habe sich ihrerseits bereits geklärt werden. Aber ich habe eine gewisse Ahnung davon, dazu bekannt, die Unterwanderung der Demokratie in Kauf wie sich die Unterschiede zwischen den politischen Syste- zu nehmen. Folgen wir diesem Gedanken, kann die Wahr- men auswirken. Es gibt zwei wesentliche, relevante Unter- nehmung der eigenen Polarisierung – insofern diese tatsäch- schiede zwischen den Vereinigten Staaten und Europa: Ers- lich stark ausgeprägt ist – die Lage sogar noch weiter ver- tens wählen die meisten europäischen Länder nicht nach schlimmern. Denn beide Seiten sind davon überzeugt, dass dem »Winner-takes-all«-Prinzip, da nur wenige Staaten ein die Gegenseite ihre demokratischen Grundwerte vermutlich Präsidialsystem haben. Zweitens treten in den europäischen nicht über die eigenen parteipolitischen Interessen stellen Ländern in der Regel mehr als zwei große Parteien an. Das wird. Von daher erscheint es logisch, dass eine irrtümlich ergibt sich aus dem Verhältniswahlrecht. Und das ist gut für wahrgenommene Polarisierung potentiell ebenso schädlich die europäische Demokratie. ist, da sie zu übertriebenem gegenseitigen Misstrauen führen Der erste Unterschied führt dazu, dass bei einer Wahl in kann. Europa nicht so viel auf dem Spiel steht wie in den USA. Der zweite Unterschied bedeutet, dass insbesondere die gemäßigten Wähler_innen eine Reihe von Alternativen zur Auswahl haben, wenn ihr_e favorisierte_r Politiker_in oder Partei undemokratisch handelt. So binden sich Wähler_innen nicht bedingungslos an eine einzige Partei. Aber es gibt einen politisch sehr wichtigen Punkt, in dem ich nicht an einen systematischen Unterschied zwischen Europa und dem Rest der Welt glaube: nämlich die mensch liche Natur. Genauer gesagt: die mangelnde B ereitschaft der Wähler_innen, ihre bevorzugte Partei oder Politik zugunsten demokratischer Grundwerte aufzugeben. Die Folgen dieses Verhaltens sind in mehreren europäischen Ländern zu beob- achten, vor allem in Ungarn, Polen und der Türkei. Milan Svolik ist Professor für Politikwissenschaft an der Yale University. Als Verfasser und Co-Autor veröffentlichte er zahlreiche Fachartikel zur Politik autoritärer Regime, zu Demokratisierung und demokratischem Rückfall. Sein neuestes Buchprojekt untersucht, warum Menschen aus der Mitte der Gesellschaft Politiker_innen unterstützen, die sich gegen die Demokratie wenden. Die Fragen stellte Johanna Lutz, Leiterin des FES-Büros »Demokratie der Zukunft« mit Sitz in Wien. 4 info 02/2021
M I T T E -S T U D I E Wer rettet die Demokratie? Politische Bildung als Daueraufgabe zur Demokratiestärkung Von Sabine Achour Lässt sich die Demokratie noch retten? Negts Antwort: »Es mag ein bisschen verstaubt und anachronistisch klingen, I aber ich sehe nur eine Möglichkeit: politische Bildung.« m Inneren dieser Gesellschaft brodelt es«, mahnte der Demokratie müsse gelernt werden, immer wieder, tagtäg- Soziologe und politische Erwachsenenbildner Oskar lich, ein Leben lang. Demokratie bedarf der Förderung von Negt vor mehr als zehn Jahren in Anbetracht gesell- Mündigkeit und Aufklärung hinsichtlich ihrer Komplexität, schaftlicher Krisen, Populismus und Gefährdungen der Problem- und Konflikthaftigkeit – und zwar für alle, kontinu- Demokratie. ierlich, einladend, barrierefrei und nicht stigmatisierend Seitdem haben die Gefährdungspotenziale eher noch in der Ansprache für vermeintlich »Bildungsferne«, »Migran- zu- als abgenommen: die Belastungen durch die Covid-19- t_innen« oder »Gefährder_innen der Demokratie«. Pandemie und die dadurch verursachte Verschärfung der Die Notwendigkeit einer entsprechenden politischen Bil- sozialen Spaltung, die häufig mit einer politischen Ungleich- dung zeigt sich auch in den Ergebnissen der aktuellen heit einhergeht. Die Bedrohung des Zusammenhalts in Viel- FES-Mitte-Studie: Zwar stimmt die Mitte menschenfeindli- falt durch Menschenfeindlichkeit, auch als vermeintliche chen, antidemokratischen und rechten Einstellungen im Ver- Antwort auf eben diese soziale Frage. Der Auftrieb von Ver- gleich zu den letzten Jahren deutlich weniger zu, und im schwörungsglauben in der Pandemie als Mixtur von Demo- Rechtsextremismus sieht sie die größte gesellschaftliche kratiefeindlichkeit, Antisemitismus und Rechtsextremismus, Bedrohung. Zugleich zeigen sich aber Ambivalenzen in Bezug das sichtbare Aufbrechen völkisch-autoritär-rebellischer auf Menschenfeindlichkeit, Rassismus, Antigenderismus, Einstellungen. Misstrauen gegenüber Medien, politischen Repräsentant_in- Die Diskursverschiebungen nach rechts mit ihrer Instru- nen und dem Prinzip des Pluralismus: Etliche Befragte flüch- mentalisierung der Meta-Narrative Migration und Islam ten sich in Teils-Teils-Zustimmungen, die die häufig vorhan- bereiteten schon vor Corona den Boden für Hasstaten wie die dene Ablehnung sozialer Gruppen, vor allem Sinti_zze und Anschläge in Halle und Hanau oder den Mord an Walter Rom_nja, asylsuchender und muslimischer Menschen, bzw. Lübcke. Auch der Klimawandel zeichnet sich immer sicht die Zustimmung zum Autoritarismus verschleiern (sollen). barer als globale Gesellschafts- und Wirtschaftskrise ab. All Andere können eine gewisse Bigotterie hinsichtlich ihres das fordert die Demokratie, ihre Institutionen und ihre Rassismus gegen People of Colour nicht verstecken und die Akteure heraus und kann das Vertrauen in sie gefährden. Zustimmungen zum Antisemitismus nehmen zu. Rechts S CH W ER P U N K T | D E M O K R AT I E I N D ER K R I S E 5
populismus verschwimmt mit und verhärtet sich zu Rechts- Wiederholt zeigt sich in der Mitte-Studie 2020/21 eine extremismus sowohl auf Einstellungsebene wie auf Ebene starke Bildungsabhängigkeit demokratischer Einstellungen. der politischen Akteur_innen. Mag die AfD einen überpro- Sie werden oft schon strukturell im Kindes- und Jugendalter portionalen Teil des rechtsextremen und rechtspopulisti- angelegt: Die differenzierten Schulformen gehen einher mit schen Potenzials »aufsaugen«, so zeigen sich Zustimmungen einer entsprechend soziokulturell differenten Schüler_ zu einzelnen Elementen doch in allen Bevölkerungsgruppen. innenschaft. Die umfangreichere und didaktisch oft anspruchsvollere politische Bildung an den Gymnasien, v.a. in den Oberstufen, macht diese zu einem elitären Angebot. Da politische Orientierungen in dieser Lebensphase mit einer hohen Stabilität bis ins späte Erwachsenenalter erworben Politische Bildung eröffnet Räume und werden, bedarf es einer frühen Investition in gleichwertige soziale Netze, in denen rechte Äußerungen und Demokratieerfahrungen in schulischer und außerschulischer Handlungen begründet abgelehnt werden. politischer Bildung. Denn die Konsequenzen des soziokultu- rell ungleichen Zugangs zum Politischen scheinen sich empi- risch in der Mitte-Studie 2020 / 21 widerzuspiegeln: Sozio- kulturell Benachteiligte fühlen sich häufiger politisch macht- los und haben ein geringeres Demokratievertrauen. Dies All das zeigt, wie verkürzt die Vorstellung ist, die Demo- geht einher mit stärker menschenfeindlichen und rechtspo- kratie sei lediglich von den Rändern her gefährdet. Das pulistischen Einstellungen sowie einem geringeren Ver- Zusammenspiel von Demokratie und politischer Bildung trauen in staatliche Institutionen und Wahlen. Insgesamt muss scheitern, wenn letztere v.a. als Extremismuspräven- sieht auch nur etwa die Hälfte der Befragten Möglichkeiten, tion auf Randgruppen oder »gefährdete« Jugendliche ausge- sich in ihrem Umfeld politisch beteiligen zu können. richtet ist. Politische Bildung funktioniert nicht als Feuer- Da gerade Partizipationserfahrungen einen positiven wehr zum Löschen antidemokratischer Brände, sondern ist Effekt auf politische Einstellungen und demokratische Werte eine Daueraufgabe im Sinne der Demokratiestärkung der haben, bedarf es einer politischen Bildung, die den Abbau Mitte, die sich gegen Rechtsextremismus und Menschen- von Teilhabebarrieren mit einer Demokratisierung möglichst feindlichkeit einsetzt. aller Lebensbereiche verbindet – insbesondere für die bisher Dies erfordert zum einen Aufklärung über die Anschluss- Unterrepräsentierten in Alltagsstrukturen. Politische Bil- fähigkeit des Rechtspopulismus an autoritäre, menschen- dung findet hier nicht nur formal statt, sondern als sozial- feindliche, verschwörungsgläubige, antisemitische, sexisti- räumliche und aufsuchende Bildungsarbeit. Das Rezipieren sche Einstellungsmuster. Nicht zuletzt mit Blick auf die lange von Emotionen wie Wut, Angst, Überforderung, die häufig (politische) Ignoranz gegenüber einer »Etablierung« rechter gar nicht als »politisch« wahrgenommen werden, aber Äußerungen und einer »Normalisierung« menschenfeindli- Zugänge für Demokratiebildung darstellen, ebenso wie die chen Klimas, welche in vielen Gegenden eine »nationale Sensibilität für die Barrieren einer elaborierten »politischen Graswurzelarbeit« im Gewand sozialen Engagements mög- Sprache« können Brücken bauen, so dass Menschen sich lich machte. weniger angesprochen fühlen vom generalisierenden Eliten- Zum anderen fördert politische Bildung Haltung und bashing, der »populären« Sprache und der antipluralisti- demokratisches Handeln. Sie eröffnet Räume und soziale schen Reduktion komplexer demokratischer Aushandlungs- Netze, in denen rechte Äußerungen und Handlungen begrün- prozesse durch den Rechtspopulismus. det abgelehnt werden. Damit einher geht auch die Reflexion Nicht zuletzt zeigt sich das Feld Bildung als ein politisch von Alltagsrassismus, der für Betroffene dauerhafte Angst umkämpftes: Neben der AfD haben sich Akteure wie die par- vor verbaler und körperlicher Gewalt bedeutet. teinahe Desiderius-Erasmus Stiftung, das Institut für Staats- Politische Bildung ist antirassistische Bildung und muss politik und rechte Publikationsorgane wie die »Junge Frei- im Sinne bundesweit greifenden Antidiskriminierungsrechts heit« mit dem Ziel aufgestellt, eine rechte Elite zu fördern, mit einer Verpflichtung zur Förderung professioneller anti- um in die gesellschaftliche Breite zu wirken. rassistischer Kompetenz einhergehen: an Schulen und Uni- Ziel politischer Bildung ist ergo die Förderung der Solida- versitäten, in Kitas, Medien, Unternehmen, Vereinen, rität der etablierten politischen Akteur_innen, wenn sie Gewerkschaften und Verwaltungen. Denn nach Hasstaten angegriffen, verunsichert und sogar als Feinde der Demokra- wie in Hanau dürfen von öffentlicher Seite nie wieder zyni- tie verunglimpft werden. Als Demokratie-Unterstützer_ sche »Erklärungen« abgegeben werden wie: »ermordet, weil innen müssen sie sich gegen antidemokratische und rassis- sie anders waren«. tisch motivierte Äußerungen im öffentlichen Raum positio- 6 info 02/2021
nieren – anstatt einen (ungewollten) Beitrag zur Plausibilisierung neurech- ten Denkens und Vokabulars zu leisten. Solches bricht vermehrt auf in ver- achtenden Äußerungen gegenüber den Opfern und Verbrechen des Nationalso- zialismus. Das greift den gesellschaftli- chen Grundkonsens an, den die deut- sche Demokratie aus den Lehren des NS gezogen hat, um von rechts eine völ- kisch-heldenhafte deutsche National- geschichte zu konstruieren. I NTERV IE W Vor dem Hintergrund zunehmender Zustimmung zum Antisemitismus in der Mitte-Studie 2020 / 21 lässt sich mit Profiteure der Angst? Adorno dringlich formulieren: Ziel aller Pädagogik ist es, dass Auschwitz sich Rechte Parteien und nicht wiederhole. Deshalb brauchen wir eine starke politische Bildung für eine die Corona-Krise demokratische Mitte. Denn diese darf nicht schweigen, damit sich die men- Fragen an Verena Stern schenfeindliche Minderheit nicht mäch- tiger fühlt, als sie ist. Es gilt, die Heraus- forderungen auch anzunehmen. • Frau Stern, die Herausforderungen der Covid-19-Pandemie haben europaweit auch rechte Parteien auf den Plan Mehr zur Mitte-Studie »Die geforderte Mitte«: gerufen. Konnten extrem rechte Kräfte in Europa die Pandemie für sich nutzen? p ww.fes.de/ w Die kurze Antwort lautet: noch nicht. Die Umfragewerte für mitte-studie rechte Parteien der einzelnen Länder zeigen stagnierende oder gar sinkende Zahlen. Das lag auch daran, dass besonders zu Beginn der Pandemie die Bevölkerung den Regierungsparteien großes Vertrauen entgegenbrachte und es eine starke Zustim- mung zu deren Strategien und Maßnahmen gab. Allerdings wird dieses Bild mit Andauern der Corona-Krise vielfältiger, Menschen sind »Corona-müde« und die Politik fährt nicht immer den klaren, transparenten und aufklärenden Kurs, den es bräuchte. Rechte Parteien könnten also mittel- oder langfristig doch noch profitieren, sei es bei Wahlen, die in einigen Ländern anstehen, oder in einer möglichen nachfolgenden Wirtschafts- Prof. Dr. Sabine krise. Achour ist Profes sorin für Politische Zeigen sich Gemeinsamkeiten der europäischen rechten Bildung und Politik didaktik am Otto- Parteien im Umgang mit der Krise? Suhr-Institut für Die auffälligste Gemeinsamkeit – die allerdings nur bis zum Politikwissenschaft Ende der ersten Welle anhielt – war der Ansatz der Regierungs- an der FU Berlin. Sie arbeitet zu den parteien, der Krise konsensual mit den Oppositionsparteien ent- Themen Ideologien der Ungleich gegenzutreten. Dazu gehörten auch die extrem rechten Kräfte, wertigkeit, Diversität, Inklusion, die sich quasi im Gegenzug für diese Teilhabe unterstützend Sprachbildung. Sie ist Co-Autorin der gegenüber den Beschlüssen zeigten. Das könnte langfristig zu aktuellen »Mitte-Studie«. einer Normalisierung führen in einigen Ländern. S CH W ER P U N K T | D E M O K R AT I E I N D ER K R I S E 7
Eine weitere Gemeinsamkeit der europäischen Rechten war, dass es für alle schwer war, sich in dieser Gesundheitskrise mit eigenen Themen und Ansätzen zu profilieren. Gelöst wurde dies dann entsprechend ihrer nationalen Kontexte durchaus M I T T E -S T U D I E unterschiedlich. So setzte Frankreich beispiels- weise auf einen bereits etablierten Sicherheits-Dis- kurs, während Schweden oder Finnland die »Es gibt mich, EU-Rettungsschirme ins Visier nahmen. Auch diese historisch gewachsenen, nationalen Spezi- es gibt dich fika und Schwerpunktsetzungen haben alle unter- suchten rechten Parteien gemeinsam. und es gibt uns« Wie kann der extremen Rechten entgegen Mentalisierung getreten werden? Zum einen ist es wichtig, in der Bevölkerung auf- als demokratische kommende Themen auch aufzugreifen und diese transparent, klar und ohne Vorurteile so aufzube- Kompetenz reiten, dass möglichst viele Menschen erreicht Von Nora Rebekka Krott und werden. Gleichzeitig sollte dabei nicht mit rechten Klaus Michael Reininger Positionen und Akteur_innen interagiert werden. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Eindämmung von Verschwörungsnarrativen und Fake News in den Sozialen Medien. Diese Kanäle müssten besser beobachtet und bei Verstößen müsste ein- gegriffen werden. A Den Report von Verena Stern »Die Profiteure der Angst? uf politischer, sozialer, medialer und – Rechtspopulismus und die wie die Corona-Pandemie gezeigt Covid-19-Krise in Europa« hat – nicht zuletzt auf wissenschaft gibt es ebenso wie die bisher licher Ebene polarisieren sich Pers- Verena Stern Die Profiteure der Angst? acht Länderanalysen hier: pektiven und Meinungen. Bei vielen steigt das Rechtspopulismus und die COVID-19-Krise in Europa Ein Überblick p www.fes.de/c19rex Bedürfnis, sich eindeutig zu positionieren. Dabei scheint es, als würden immer mehr Meinungen und Überzeugungen als Fakten behandelt. Die Fähigkeit, Ambivalenzen bei sich und bei anderen auszuhalten und miteinander vermitteln zu können, nennt man Mentalisierungsfähigkeit. Diese Fähigkeit entwickeln Menschen unabhängig von ihrer Herkunft in Beziehungserfahrungen, in denen sie das Selbst und andere als getrennt voneinander und gleichzeitig im Einklang mitein- ander wahrnehmen und Ambivalenzen bei sich und Verena Stern ist wissen anderen integrieren können, nach dem Prinzip schaftliche Mitarbeiterin »Es gibt mich, es gibt dich und es gibt uns«. an der Fakultät für Sozio Menschen, die mentalisieren, können sich vor logie der Universität Biele stellen (mental repräsentieren), wie sie selbst und feld und arbeitet zu den wie andere Menschen fühlen oder denken. Die Themen Protest und Be demokratische Mitte stärkt sich aus denjenigen, wegung, Rechtsextremis die Perspektiven übernehmen und zwischen Posi- mus und Migration. tionen vermitteln, wie etwa zwischen Liberalen und Konservativen, Religiösen und Säkularen Die Fragen stellte Franziska Schröter, Leiterin oder Verunsicherten und Überzeugten. Das heißt, des FES-Projekts »Gegen Rechtsextremismus«. die demokratische Mitte mentalisiert. 8 info 02/2021
Aktuelle Daten der Mitte-Studie zeigen, dass Mentalisieren kann man lernen und im Rahmen von pro- die Mentalisierungsfähigkeit unter jenen ausge- fessionellen und privaten Beziehungen stärken. Im Austausch prägt ist, die sich als Demokrat_innen identifi mit Gefühlen, Perspektiven und Meinungen anderer lernen zieren und damit die Mitte der demokratischen wir, uns selbst und die anderen besser zu verstehen und uns in Gesellschaft bilden. Besonders Menschen, die sich Beziehung zueinander wahrzunehmen (z. B. im Rahmen von der politischen Mitte sowie dem linken politischen politischer Bildung, Schule, Familie, Arbeitsplatz). Menschen, Spektrum zuordnen, mentalisieren mehr als die mentalisieren, begegnen sowohl inneren als auch äußeren politisch Rechte. Zudem zeigen unsere Daten, Spannungen und Konflikten flexibel, offen und interessiert. dass Mentalisierungsfähigkeit einen persönlichen Sie können Spannungen und Konflikte aushalten und in Schutzfaktor darstellt, der antidemokratischem Beziehungen sowie Auseinandersetzungen vermitteln. • Denken, Fühlen und Handeln entgegenläuft. Je ausgeprägter die Mentalisierungsfähigkeit, desto geringer fallen menschenfeindliche und rechts Mehr zur Mitte-Studie populistische Einstellungen oder Gefühle der poli- »Die geforderte Mitte«: tischen Machtlosigkeit aus. Letztlich zeigt sich: Wer mentalisiert, neigt weniger dazu, Gewalt als p w ww.fes.de/mitte-studie Mittel der Durchsetzung politischer Interessen zu billigen, und zeigt weniger rechtsextreme Einstellungen sowie autoritäre Aggression. Dr. Nora Rebekka Krott ist Psychologin und forscht zu Einstellungen zur Integration, Migration und einem Zusammenleben in Vielfalt sowie deren kognitiven und emotionalen Zusammenhängen. Dr. Klaus Michael Reininger ist ehemaliger Stipendiat der FES, leitet an der Uni Hamburg das Institut für Psychotherapie und arbeitet u. a. zu Radikalisierung. S CH W ER P U N K T | D E M O K R AT I E I N D ER K R I S E 9
B EG R I F F S B E S T I M M U N G Wege in die toxische Polarisierung Das Schüren von Ressentiments als politische Strategie Von Filip Milacic Da identitätspolitische Debatten aktuell viele Länder prä- gen, könnte man zu dem Schluss kommen, dass die Demo- kratie in ernsthafter Gefahr steckt. Die Situation ist jedoch komplexer. Die Identitätsspaltung manifestiert sich nur dann in einer toxischen Polarisierung, wenn sie instrumentalisiert E wird, um mit demagogischer Rhetorik eine »Wir gegen sie«- ine Demokratie funktioniert dem polnisch- Kategorisierung im politischen System einzuführen. Sie dient amerikanischen Politikwissenschaftler den Demagog_innen dazu, eigene Wähler_innen erfolgreich Adam Przeworski zufolge dann, wenn bei zu mobilisieren und die Kontrahent_innen als eine Bedro- den Wahlen etwas auf dem Spiel steht – hung darzustellen. aber nicht zu viel. Mit anderen Worten: Ein gewisses Erst allmählich beginnen die politischen Akteur_innen Maß an Polarisierung in einem demokratischen dann, die Grundnormen des demokratischen politischen System ist wünschenswert, denn es bietet den Systems zu missachten, um ihre Macht zu sichern. Wähler_innen klare programmatische Alterna Gerrymandering und Voter Suppression, die Infrage tiven. Das erhöht ihr Interesse an p olitischen Pro- stellung der Legitimität der Opposition und der Wahlen, zessen, wodurch das demokratische System stabi- die Erosion der Überparteilichkeit bei Ernennungen von lisiert wird. Eine Gefahr für die Demokratie stellt Richter_innen, Gewalt gegen Andersdenkende sowie eine politische Dynamik dar, in der eine gesunde Angriffe auf Medien sind zu Bestandteilen des amerikani- Polarisierung in eine toxische Polarisierung kippt. schen politischen Systems geworden. Aber wann ist diese Grenze überschritten? Victor Orbán in Ungarn und Jaroslaw Kaczynski in Polen Die toxische Polarisierung kann aus mehreren inszenieren sich als Verfechter nationaler Interessen und Gründen entstehen. Sie kann sozio-ökonomischer Beschützer der ethnischen und kulturellen Identität ihrer oder werte-ideologischer Natur sein. Sie kann Länder und fördern so deren gesellschaftliche Spaltung. Das durch ein wichtiges spalterisches Thema bzw. Schüren der Ressentiments wird als politische Strategie für eine polarisierende Person provoziert werden. den Machterhalt benutzt. Oder sie kann auf einer Teilung in Pro- oder Das Untergraben der verfassungsmäßigen Ordnung erfolgt Contra-Regierungslager beruhen. durch Machtkonzentration in den Händen der Exekutive, Für die Demokratie ist jedoch diejenige durch gezielte Angriffe auf die unabhängige Justiz und vor Polarisierung am gefährlichsten, die durch Iden allem durch Schwächung von checks and balances und wird titätsthemen geschürt wird. Diese Art der Pola als Maßnahme zum Schutz der Staatsinteressen und der risierung besitzt das größte Potential, toxisch zu nationalen Souveränität gerechtfertigt. werden. Für die Zukunft der Demokratie wird entscheidend sein, Kompromissfindung und die Einigung auf ob die politischen Eliten das Allgemeinwohl im Blick haben einen für beide Seiten akzeptablen Mittelweg sind oder lieber der Erkenntnis von Stephen Webster folgen: leichter, wenn man beispielsweise über Steuer »An angry voter is a loyal voter.« • politik, Investitionsprioritäten, Sozialausgaben – also über die Verteilung des Kuchens – verhandelt anstatt über die Frage, wer zur Nation gehört, in Verbindung mit Fragen von Religion, Ethnie oder Sprache. Dies gilt auch für identitätspolitische Debatten über Gender und sexuelle Rechte. Hier Dr. Filip Milačić ist wissenschaft geht es um existentielle Fragen. Also immer dann, licher Mitarbeiter im FES-Büro wenn es nicht primär um Policy-Konflikte geht, »Demokratie der Z ukunft« sondern um Konflikte über unterschiedliche in Wien und Visiting Fellow am Weltanschauungen, steht bei Wahlen für die Institut für die Wissenschaften Menschen sehr viel auf dem Spiel. vom Menschen in Wien. 10 info 02/2021
I NTERV IE W Über Impfgegner, Querdenker und Pandemieschwurbler Die Gefahren einer stärkeren Vernetzung der Milieus Fragen an Pia Lamberty Frau Lamberti, Verschwörungserzählungen scheinen seit Jahren zuzunehmen. Geht von ihnen eine Gefahr aus? Verschwörungserzählungen gibt es schon sehr, sehr lange – trotzdem wurden sie lange nicht ernst genommen und als »Spinnereien« verharmlost. Die Covid-19-Pandemie hat das Aus meiner Sicht ist der Handlungsdruck gestiegen: Gefahrenpotenzial dieser Mythen noch einmal verdeutlicht: Wer an eine Impfverschwörung glaubt und sich nicht impfen Je stärker der Verschwörungsglaube, desto weniger werden lassen will, sieht sich jetzt auch eher im Zugzwang. Es kam Masken getragen, werden Maßnahmen oder Impfungen auch zu einer stärkeren Vernetzung der Milieus. Das kannten akzeptiert. Auch Antisemitismus ist elementarer Bestandteil wir vorher so nicht. Ich vermute, dass es zwar immer wieder von Verschwörungserzählungen. Das zeigt sich in Studien, Zeiten geben wird, in denen das Thema weniger relevant wird. aber auch bei den Inhalten, die digital oder bei Demonstra Sobald es aber zu gesellschaftlichen Spannungen kommt, tionen verbreitet werden. Es werden Feindbilder erschaffen, können diese Netzwerke reaktiviert werden – ob zur Bundes- die dann für gesellschaftliche Missstände verantwortlich tagswahl oder im K ontext des Klimawandels. Deswegen muss gemacht werden. Und das ist nicht ungefährlich: Frühere man sich auch nach der Pandemie mit Verschwör ungs- Mitte-Studien konnten zeigen, dass der Glaube an Verschwö- erzählungen beschäftigen. rungen mit einer erhöhten Gewaltbereitschaft einhergeht. Es wird immer wieder diskutiert, dass es sich bei Welche Rolle spielt die Pandemie? erschwörungsgläubigen um verunsicherte und V Krisensituationen können den Verschwörungsglauben zu besorgte Menschen handle. Was ist wissenschaftlich sätzlich befeuern. Sie sind ein Beispiel für einen kollektiv dran an dieser These? erlebten Kontrollverlust; und eine Kompensationsstrategie Bereits bei Pegida, aber auch jetzt im Kontext von Querdenken ist eben der Glaube an Verschwörungen. Man sieht dann wird immer wieder diese These aufgestellt. Daran knüpft plötzlich auch da Muster, wo keine sind. Insgesamt ist es für die Frage an, wen oder was Menschen mit ausgeprägter Ver- Menschen schwer, mit abstrakten Bedrohungen umzugehen. schwörungsmentalität eigentlich als Bedrohung wahrneh- Das sieht man auch beim Thema Klimawandel. Die ver- men. In der Mitte-Studie kamen wir zu dem Ergebnis, dass meintlichen Verschwörer sind dagegen greifbarer, kon diese Menschen insbesondere Zuwanderung, Globalisierung, kreter – und können für die schlechte Lage verantwortlich Linksextremismus oder Islamismus als Probleme sehen. Der gemacht werden. Klimawandel oder auch Rechtsextremismus sind für sie dagegen weniger eine Bedrohung der Gesellschaft. Und wer Und was sagt die neue FES-Mitte-Studie? etwas nicht als Problem sieht, der tut auch weniger dagegen. Gibt es einen Anstieg? Wird das Thema auch nach der Pandemie noch relevant sein? Viele haben den Eindruck, dass während der Pandemie der Glaube an Verschwörungen zugenommen habe. Mit Blick auf Pia Lamberty ist Sozialpsychologin die aktuelle Studienlage lässt sich das so aber nicht halten. Ich und Autorin (u.a. »Fake Facts« und vermute, dass hier zwei Dinge passiert sind: Zum einen könnte FES-Mitte-Studien) und ist Geschäfts ein Normeffekt eingetreten sein. Dadurch, dass das Thema führerin beim Center für Monitoring, gesellschaftlich diskutiert wurde, haben sich Menschen stär- Analyse und Strategie (CeMAS), ker positioniert, die vorher vielleicht eher indifferent waren. das sich interdisziplinär mit Ver Ich befürchte aber auch, dass wir teilweise Menschen schwe- schwörungsideologien, Desinforma rer durch Studien erreichen, weil Wissenschaft noch einmal tion, Antisemitismus beschäftigt. mehr zum Feindbild geworden ist in bestimmten Milieus als vor der Krise. Wer Wissenschaft als Teil einer Verschwörung Die Fragen stellte Franziska Schröter, Leiterin des sieht, nimmt dann vielleicht auch nicht mehr an Studien teil. FES-Projekts »Gegen Rechtsextremismus«. S CH W ER P U N K T | D E M O K R AT I E I N D ER K R I S E 11
KO N F E R E N Z Zivilgesellschaft und mehr politische Bildung und »Unboxing Hate S peech« Medienkompetenz bis hin zu gelebten demokra tischen Werten und dem Engagement jedes / jeder Wie Politik und Z ivil- Einzelnen, z. B. durch aktive Gegenrede im Netz und auf der Straße. Anlass, dem Hass entgegenzutreten, gibt es leider gesellschaft dem Hass genug. Besonders gilt es, öffentlich Solidarität mit Betroffenen zu zeigen, denn oft sollen bestimmte entgegentreten können Gruppen aus dem demokratischen Diskurs gedrängt werden – durch antifeministischen Hass gegen Von Alina Fuchs, Kristin Linke und Yvonne Lehmann Frauen oder rassistische Hetze gegen marginalisierte Gruppen. Der Hass trifft besonders häufig auch Men- schen, die sich für unser Gemeinwesen engagieren, sei es im Kleinen vor Ort oder in der großen Politik. W Wenn Menschen sich aus dem Engagement zurück- enn sich Auseinandersetzungen in unserer Gesell- ziehen oder politische Aushandlungsprozesse nicht schaft in Hass, Ausgrenzung und verbaler Gewalt mehr auf ein gemeinsames Fundament von Werten entladen, dann bedeutet das eine reale Gefahr – und Regeln bauen können, dann hat unsere Demo- eine Gefahr für das solidarische Miteinander in kratie ein Problem. Vielfalt, für das demokratische Ringen um politische Lösungen, für Dass sie nicht zulassen werden, dass Hate Speech die Demokratie als solche. Hate Speech verletzt Menschenrechte, unsere Demokratien und unser Miteinander ver greift Diskussionskultur und Solidarität an und drängt Menschen giftet, haben die Teilnehmenden aus ganz Europa aus dem öffentlichen Raum. Und auf Worte folgen oft Taten. eindrücklich deutlich gemacht. Dem giftigen Paket Wie sich Politik und Zivilgesellschaft dieser Gefahr europaweit Hate Speech hat die Konferenz ein Bündel an gemein- entgegenstellen können, war die große Frage der zweitägigen digita- samen Ideen und Strategien entgegengesetzt. Diese len Konferenz »Unboxing Hate Speech. Europäische Impulse für umzusetzen bleibt ein andauernder Auftrag für Solidarität und Respekt im Netz«, die die Friedrich-Ebert-Stiftung die Politik, für Strafverfolgung und Gerichte und gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium für die Zivilgesellschaft. • der Justiz und für Verbraucherschutz im Februar 2021 im Rahmen des Deutschen Vorsitzes im Europarat veranstaltet hat. Klar wurde: Wir brauchen international alle Kräfte und alle Zur Dokumentation der Konferenz Handlungsspielräume, um Hass im Netz zurückzudrängen und ein im LiveBlog geht es hier: offenes, tolerantes und solidarisches Miteinander auch im digitalen p w ww.fes.de/unboxing-hate-speech- Raum zu verteidigen – von einer klaren Gesetzgebung, konsequenter konferenz/live-blog Strafverfolgung und zentralen Anlauf- und Beratungsstellen für Opfer von Hasskriminalität über eine starke, international vernetzte Alina Fuchs ist Referentin für Demokratie und Partizipation. Kristin Linke ist Referentin im Referat Mittel- und Osteuropa und betreut das neue Kompetenzzentrum Demokratie in Wien. Yvonne Lehmann ist Referentin für Jugendbeteiligung. 12 info 02/2021
WORKSHOPS Distanzen überwinden Politische (Jugend-) Bildung in der Pandemie Von Yvonne Lehmann M Zitate aus der Konferenz it dem Beginn der Pandemie wurde die politi- »Wir haben zu oft erlebt, dass Gewalt mit Worten sche Bildung im Schulalltag auf ein Minimum begann und mit Taten auf der Straße e ndete. eingedampft. Die Anbieter_innen von außer- Meinungsfreiheit endet, wo Hetze und Aufrufe schulischen politischen Bildungsangeboten zur Gewalt beginnen. Hate Speech darf uns weder als Gesellschaft noch als Staaten spalten.« kommen seit einem Jahr nicht mehr in die Schulen und haben es schwer, digitale Angebote zu adressieren. Heiko Maas, Bundesaußenminister Die Corona-Krise zwingt zu Distanz, aber auch zur Kreati- vität. Nach dem ersten Schock der Pandemie und der Absage- welle von Veranstaltungen wurden schnell neue Angebote »Wenn Menschen sich nicht frei und offen äußern, entwickelt, wie trotz räumlicher Trennung die Verbindung weil sie Sorge haben bedroht zu werden, dann ist mit den Zielgruppen aufrechterhalten werden kann. das ein Angriff auf die Meinungsfreiheit, ein Angriff Die Folge war ein enormer Digitalisierungsschub der auf die Demokratie. Das dürfen wir nicht zulassen.« politischen Bildung. Dieser traf allerdings auf weniger gute Christine Lambrecht, Bundesministerin der Justiz Rahmenbedingungen des digitalen Schulalltags. und für Verbraucherschutz Parallel zur mangelnden Sichtbarkeit von politischen Bildungsangeboten schwindet bei den Jugendlichen das Vertrauen in Politik und deren Problemlösungskompetenz. »Wir müssen Respekt, Toleranz und Würde als In der Studie der Bertelsmann-Stiftung »Das Leben von die treibenden Kräfte einer Gesellschaft a ktivieren.« Jugendlichen in der Corona-Pandemie« gaben 57,5 Prozent Martin Schulz, MdB, Vorsitzender der Friedrich- der Befragten an, dass sie bezweifeln, dass junge Menschen Ebert-Stiftung ihre Ideen in die Politik einbringen können. Um speziell bei jungen Menschen das Vertrauen in die Demokratie zu stärken, wurde die bundesweite Erst »Gegenrede ist mühsam, aber unverzichtbar. wähler_innen-Kampagne »Rettet die Wahlen« entwickelt. Wir als Zivilgesellschaft müssen den digitalen Raum Aus verschiedenen Modulen können Schulen oder Jugend verteidigen.« organisationen sich je nach Interesse und Zeitbudget Hannes Ley, Gründer der Facebook-Gruppe das perfekte Workshopprogramm (digital oder analog) # ichbinhier zusammenstellen. • Mehr zu »Rettet die Wahlen« und der Studie »Wie schauen junge Menschen auf die Rolle des Staates?«: »Wir brauchen eine engagierte kritische Z ivil- gesellschaft. Wir dürfen uns nicht kaputt machen p www.fes.de/rettetdiewahlen lassen von einer radikalen Minderheit.« Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt »Ich will Hass nicht präsentieren, sondern zeigen, wie man damit umgehen kann: Anzeige erstatten, einen Account blockieren oder sich von Beratungs stellen unterstützen lassen.« Louisa Dellert, Greenfluencerin und Podcasterin Yvonne Lehmann (Foto links) ist Referentin für den Arbeitsbereich Jugend und Politik. S CH W ER P U N K T | D E M O K R AT I E I N D ER K R I S E 13
IMPULS Demokratische Selbstkorrektur Starke Zivilgesellschaft gegen die Polarisierung in Zeiten der Pandemie Von Roland Roth W er angesichts der anhaltenden ratur durch Gegenbewegungen und öffentliche »Querdenker«-Proteste nicht ver Debatten schwindet. Angesagt ist daher eine zweifelt, hat keinen politischen offensive zivilgesellschaftliche Auseinanderset- Verstand. Bei ihren Aufmär- zung mit diesen Entwicklungen, hinter denen oft schen kommt eine aggressive Mixtur von Corona- Ohnmachtserfahrungen, Verlust- und Zukunfts Leugnung, Verschwörungsfantasien, Aberglauben, ängste stehen. Esoterik und Ressentiments zusammen mit einer Eine zukunftsfähige Pandemiepolitik wird nur größer werdenden Portion Antisemitismus, Rechts mit einer starken Zivilgesellschaft gelingen. Bevor extremismus und neoliberal getönter Rück sie unter Quarantäne gestellt wurde, hat sie mit sichtslosigkeit. Eine angstgesteuerte Selbst spontanen Nachbarschaftshilfen vulnerable Grup- überschätzung, Wissenschaftsfeindlichkeit und pen unterstützt. Hätte man Schülerinnen und wütende Maßlosigkeit (»Corona-Faschismus«) über- Schüler gefragt, hätten sie als »digital natives« lagert jede nachvollziehbare Zukunftsangst und sicherlich bessere Modelle digitaler Lern- und die berechtigte Kritik am unzulänglichen staat Kommunikationsplattformen kreiert. Bürgerstif- lichen Infektionsschutz. tungen haben vorübergehend für alternative Die Folgen für die Zivilgesellschaft sind er - Begegnungsmöglichkeiten von Alten- und Pflege- heblich. Politische Polarisierungen, die bereits mit heimbewohner_innen gesorgt. Lokale Modelle der Zuwanderung von Geflüchteten aufgebrochen wie in Tübingen und Rostock haben einen Ein- sind, werden überlagert und verstärkt durch druck von der möglichen Kreativität vor Ort ver- Kontroversen über den Umgang mit Covid-19. mittelt. Künftige lokale Pandemiekonzepte – und Zerrissenheit kennzeichnet heute viele Familien sie werden nötig sein – dürfen nicht noch einmal und Freundeskreise. Fehlende Verständigungs ohne Beteiligung und Engagement der Bürger- bereitschaft und emotionale Zuspitzung haben in schaft gedacht werden. Teilen zu einer Selbstvergiftung der Zivilgesell- Verantwortliche und gestaltende Beteiligung schaft geführt. Ihre zentralen Normen eines fried- ist das beste Mittel zur Selbstkorrektur der Zivil- lichen und respektvollen Austragens von unter- gesellschaft. Das Gefühl, in einer sich schnell schiedlichen Meinungen und die Anerkennung wandelnden Umwelt ohne eigene Gestaltungs- vielfältiger Lebensweisen stehen zur Disposition. möglichkeit zu sein, gebiert antidemokratische Das Vertrauen in eine der zentralen Errungen- Ungeheuer: den Wunsch nach autoritärer Füh- schaften der Zivilgesellschaft, ihre Fähigkeit zur rung oder die Flucht in rückwär tsgewandte demokratischen Selbstkorrektur und zivilen Repa- Gesellschaftsbilder. 14 info 02/2021
Wir benötigen jetzt eine neue Runde von Nach- barschaftsgesprächen, aber auch lokale Bürger- räte und Engagementfonds für lokale Begegnungs- I NTERV IE W projekte. Anders als 2015 geht es diesmal nicht um Neuzugewanderte, sondern um eine Integra tionspolitik für die verstörten und verfeindeten Die Demokratisie- Einheimischen in einer teilweise vergifteten Zivil- gesellschaft. Die potentiell zivilisierende Wirkung rung der Demokratie von Kontakt- und Dialoggelegenheiten, sei es beim Essen, Singen oder im Sport, ist gut belegt. Bürgerräte als Abbild Nicht zuletzt die zivilgesellschaftlichen Ele- mente einer vielfältigen Demokratie – bürger- der Bevölkerung schaftliches Engagement, Protest und Initiativen, Alltagsdemokratie in Familien, Kitas und Schulen Fragen an Andreas Schäfer – werden benötigt, um Ohnmachtserfahrungen abzubauen und den demokratischen Wunsch von vielen zu erfüllen, selbst etwas bewirken zu können. In der letzten Zeit wird viel über die Krise der Zivilgesellschaftliche Initiativen können auch repräsentativen Demokratie gesprochen: die Transparenz und Verantwortlichkeit repräsen- von sinkendem Vertrauen der Bürger_innen in tativer Demokratie verbessern. Ressentiments repräsentative Institutionen bis zur Politik wird es immer geben, aber alltägliche und wirk- verdrossenheit und sinkenden Wahlbeteiligung. same Beteiligung kann die Kluft zwischen der Haben die Bürger_innen mehr Ansprüche als Bevölkerung und den Regierenden verringern. früher? Oder haben sich die Fähigkeiten demo Wenn dies nicht gelingt, werden die Aushöhlungs- kratischer Institutionen, Partizipation zu fördern, prozesse repräsentativer Institutionen voran- verschlechtert? schreiten. Das kreative Potential der Zivilgesell- In einem gewissen Sinne gehört die wiederkehrende Kri- schaft und ihre Fähigkeit zur demokratischen sendiagnose zur Demokratie dazu, weil sie auch Folge Selbstkorrektur dürfen nicht ungenutzt bleiben. des anspruchsvollen demokratischen Versprechens der Denn die Qualität einer Zivilgesellschaft zeigt gleichen politischen Teilhabe aller ist. Diesem Verspre- sich nicht zuletzt darin, dass ihre Akteur_innen chen können politische Systeme letztlich nur in einem Verantwortung für Entwicklungen übernehmen, Prozess der fortwährenden Innovation gerecht werden. die sie selbst nicht verursacht haben. Insofern müssen zunehmend kritische Bürger_innen, die Unnötig in einem sozialdemokratischen Kon- demokratische Werte einfordern, noch kein existentiel- text zu erwähnen: Eine starke Zivilgesellschaft les Problem für die repräsentative Demokratie darstel- braucht eine sozialpolitische Flankierung, um nicht len. Ein schwerwiegendes Problem besteht aber, wenn durch eine Ungleichheitsdynamik beschädigt zu Enttäuschung und mangelndes Vertrauen zu einer parti- werden, die sich durch die Pandemie noch ein- zipativen Enthaltsamkeit und Abkehr von integrieren- mal beschleunigt hat. • den Organisationen und Institutionen führt – und insbe- sondere, wenn dies sozial selektiv geschieht. Empirische Untersuchungen zeigen, dass Mitglieder unterprivile- gierter sozialer Schichten zwar tendenziell neue und alternative Formen der Partizipation begrüßen, diese aber tatsächlich weniger nutzen (können), während bes- ser gestellte Bevölkerungsgruppen ihre Interessen und Werte sowohl über traditionelle als auch alternative Kanäle effektiver in den politischen Prozess einbringen. Können die Bürgerräte als relativ neue Form der Partizipation eine Antwort auf die Krise der reprä- sentativen Demokratie sein? Prof. Dr. Roland Roth hat zuletzt als Die Demokratisierung der Demokratie ist aus den eben Politikwissenschaftler an der Hochschule genannten Gründen eine politische Daueraufgabe. Magdeburg-Stendal gearbeitet. Demokratische Innovationen wie Bürgerräte können Er ist Mitglied der Steuerungsgruppe hierzu einen konstruktiven Beitrag leisten, wenn sie des Arbeitskreises »Bürgergesellschaft nicht nur als Placebo eingeführt werden, sondern tat- und Demokratie« in der FES. sächlich bestehende Strukturen verändern. Anders als S CH W ER P U N K T | D E M O K R AT I E I N D ER K R I S E 15
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