Demokratie in der Krise - 02/2021 Schwerpunkt - Bibliothek der Friedrich ...

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Demokratie in der Krise - 02/2021 Schwerpunkt - Bibliothek der Friedrich ...
02/2021

Demokratie in der Krise

Schwerpunkt
Immer mehr steht
auf dem Spiel

Die digitale Revolution
Soziale Arbeit im
digitalen Wandel
Demokratie in der Krise - 02/2021 Schwerpunkt - Bibliothek der Friedrich ...
S CH W ER P U N K T – D E M O K R AT I E I N D ER K R I S E

                                            3 Immer mehr steht auf dem Spiel                 17 Wie viel braucht der Mensch,
                                              Wie die Demokratie bedroht wird                   um zufrieden zu sein?
                                                                                                Fragen und Antworten zu
                                            5 Wer rettet die Demokratie?
                                                                                                ­Corona­folgen
                                              Politische Bildung als Daueraufgabe
                                              zur Demokratiestärkung                         18 Ein Jahr Pandemie
                                                                                                Zum Zustand unserer Gesellschaft
                                            7 Profiteure der Angst?
                                              Rechte Parteien und die Corona-Krise           20 »Make tomorrow new«
                                                                                                Kultur, Kunst und das demokratische
                                            8 »Es gibt mich, es gibt dich und es gibt uns«
                                                                                                Miteinander
                                              Mentalisierung als demokratische
                                              Kompetenz                                      21 Die Entmündigung der
                                                                                                afrikanischen Jugend
                                           10 Wege in die toxische Polarisierung
                                                                                                Millionen Jugendliche in Uganda
                                              Das Schüren von Ressentiments als
                                                                                                an der S­ timmabgabe gehindert
                                              politische Strategie
                                                                                             22 Brasiliens vielfältige Krisen
                                           11 Über Impfgegner, Querdenker
                                                                                                Die Wechselwirkung von Wirtschaft
                                              und Pandemieschwurbler
                                                                                                und Demokratie
                                              Die Gefahren einer stärkeren V
                                                                           ­ ernetzung
                                              der Milieus                                    23 Ist eine globale ­Demokratie möglich?
                                                                                                 Die demokratische Interessen­
                                           12 »Unboxing Hate S  ­ peech«
                                                                                                 vertretung in inter­nationalen
                                                              ­ ivil­gesellschaft
                                              Wie Politik und Z
                                                                                                ­Organisationen ist ­unzureichend
                                              dem Hass e­ ntgegentreten können
                                                                                             25 Die Provokation der Freiheit
                                           13 Distanzen überwinden
                                                                                                Weshalb wir eine linke Wieder­
                                              Politische (Jugend-)Bildung
                                                                                                entdeckung der Freiheit brauchen
                                              in der Pandemie
                                                                                             26 Demokratie der Zukunft
                                           14 Demokratische Selbstkorrektur
                                                                                                Ein weiteres Büro der FES in Wien
                                              Starke Zivilgesellschaft gegen die
                                              ­Polarisierung in Zeiten der ­Pandemie­
                                           15 Die Demokratisierung der Demokratie
                                              Bürgerräte als Abbild der B
                                                                        ­ evölkerung

THEMA

                                           Die digitale Revolution                           30 Soziale Arbeit im digitalen Wandel
                                                                                                Die Transformation der Sozial­
                                           29 Fairen Zugang sichern
                                                                                                wirtschaft
                                               Infrastrukturregulierung in der
                                              ­Plattformgesellschaft

                                           32 Erfolgsgeschichten                             33 Lese-Empfehlungen
                                              Fragen an Christian Humborg,
                                              ehemaliger Stipendiat
Demokratie in der Krise - 02/2021 Schwerpunkt - Bibliothek der Friedrich ...
E D I TO R I A L

Liebe Leserin,
lieber Leser                                                                         IMPRESSUM

                                                                                     Herausgeber
                                                                                     Friedrich-Ebert-Stiftung
                                                                                     Kommunikation und Grundsatzfragen
                                                                                     Godesberger Allee 149, D-53175 Bonn

D
                                                                                     Tel. 0228_883-0 | presse@fes.de
           ies ist die letzte Ausgabe des »info«-Magazins der Friedrich-Ebert-­      www.fes.de
           Stiftung. Das »info« wurde 1991 zur kontinuierlichen Vermittlung des
                                                                                     Redaktion (Text)
           breiten Spektrums der Leistungen der FES ins Leben gerufen. Das war       Peter Donaiski, Pressestelle Berlin
           lange bevor die digitalen Informationsmöglichkeiten unsere Medien-        Hiroshimastraße 17, D-10785 Berlin
                                                                                     Tel. 030_269 35-7038
landschaft und die Kommunikation insgesamt revolutionierten.
                                                                                     peter.donaiski@fes.de
   Heute verfügt die Friedrich-Ebert-Stiftung über eine große Bandbreite digitaler
Kanäle und ist in das weltumspannende Netzwerk sozialer Medien eingebunden.          Korrektorat
                                                                                     Ulrike Schnellbach
Die Informationen über die vielfältigen Tätigkeitsfelder, Arbeitsergebnisse und
Veranstaltungen sind schnell und leicht zugänglich und überall auf aktuellem         Redaktion (Bild)
Stand abrufbar. Aus Untersuchungen wissen wir, dass dieses Angebot intensiv          Katja Ulanowski, Kommunikation
                                                                                     und Grundsatzfragen
genutzt wird. Damit hat das »info« das Alleinstellungsmerkmal der kontinuierli-      Godesberger Allee 149, D-53175 Bonn
chen Information über die Arbeit der FES verloren, das seine hohen Herstellungs-     Tel. 0228_883-7036
kosten gerechtfertigt hat.                                                           katja.ulanowski@fes.de

   Nach mehr als 100 Ausgaben und vielen redaktionellen und gestalterischen          Layout und Satz
Überarbeitungen wird das »info« nun mit dieser Ausgabe eingestellt.                  Leitwerk. Büro für Kommunikation
                                                                                     www.leitwerk.com

    Dieses letzte »info« steht unter der Überschrift »Demokratie in der Krise«.      Druck
Schwerpunkt des Hefts sind die Ergebnisse der aktuellen »Mitte-Studie« der FES,      Druckerei Brandt GmbH
›Die geforderte Mitte‹. Die »Mitte-Studien« untersuchen alle zwei Jahre rechts­
                                                                                     Bildnachweis
extreme und demokratiegefährdende Einstellungen in der deutschen Bevölkerung.        Achille Abboud / NurPhoto: Titel ·
Ihre Ergebnisse haben hohe Relevanz und finden regelmäßig breite Resonanz.           Michel Buchmann: S. 12 · Bastian Ehl:
                                                                                     S. 15 · Elias El Ghorchi: S. 12 · Nze Eve:
    Die Autor_innen der Studie sowie weitere ausgewiesene Expertinnen und            S. 21 · Fehling: S. 23 · FES: S. 10, 26, 27 ·
Experten liefern in diesem Heft begleitende Analysen und Bewertungen zur             Fotostudio Charlottenburg: S. 7 ·
­Fragilität von Demokratie, zu den Ursachen und Erscheinungsformen der Unter-        Geisler-Fotopress / Hardt: S. 18 · Heike
                                                                                     Günther: S. 9 · Johanna Kosowska:
höhlung demokratischer Konventionen. Die Studie zeigt, dass die »Mitte« gefor-       S. 25 · Lidstrichleitkultur: S. 31 · Daniel
dert ist, Haltung zu zeigen, Position zu beziehen und die Demokratie zu stärken.     Pasche: S. 11 · picture alliance / dpa:
Beispiele aus der Bildungs- und Beratungsarbeit der FES und ihrer Partner bieten     S. 5, 30 · picture alliance / dpa / dpa-
                                                                                     Zentralbild: S. 14 · picture alliance /
 Ansätze zum eigenen Engagement.                                                     Lothar Ferstl: S. 20 · picture alliance /
                                                                                     REUTERS: S. 7 · picture alliance /
                                                                                     SULUPRESS.DE: S. 11 · picture alliance /
   Wir wünschen Ihnen gute Lektüre und hoffen, dass Sie uns gewogen bleiben!
                                                                                     Xinhua News Agency: S. 24 · picture-
Schauen Sie auf unserer Homepage vorbei [www.fes.de], abonnieren Sie unsere          alliance / ZB: S. 9 · Privat: S. 8, 24 ·
Newsletter, Podcasts und Messenger-Dienste und informieren Sie sich über die         Jens Schicke: S. 20 · Maren Strehlau:
                                                                                     S. 12 · Studioline Photography Hamburg:
weit gefächerte gesellschaftspolitische Arbeit der FES.                              S. 9 · Milan Svolik: S. 4 · Fabio Teixeira /
                                                                                     Pacific Press: S. 22 · Westend61 / Josep
    Dr. Roland Schmidt                                                               Rovirosa: S. 28 · Thomas Wosnitza:
                                                                                     S. 16 · A. Zmrzlak: S. 19 · WMDE: S. 32 ·
    Geschäftsführendes Vorstandsmitglied                                             zz / STRF / STAR MAX / IPx: U2, S. 2
    der Friedrich-Ebert-Stiftung

                                                                                     ISSN 0942-1351

                                                                                     Die Meinungen der Autor_innen geben
                                                                                     nicht in jedem Fall die Positionen der FES
                                                                                     wieder.

                                                                                                               E ditorial            1
Demokratie in der Krise - 02/2021 Schwerpunkt - Bibliothek der Friedrich ...
S CH W E R P U N K T

Demokratie
in der Krise
Demokratie in der Krise - 02/2021 Schwerpunkt - Bibliothek der Friedrich ...
I NTERV IE W

Immer mehr steht auf dem Spiel
Wie die Demokratie bedroht wird
Fragen an Milan Svolik

Herr Svolik, in etlichen Ländern der Welt ist            Bestrafen Wähler_innen bei einer schrittweisen Aneignung
ein Prozess zu beobachten, der oft als                   zusätzlicher Macht die Regierung dann durch Stimmentzug?
»demokratischer Rückfall« bezeichnet wird:               In einer Demokratie stellen Wahlen ein Instrument der demokratischen
Demokratisch gewählte Regierungen                        Selbstverteidigung dar. Sie geben den Wähler_innen die Macht, Politi-
­unterwandern die eigenen demokratischen                 ker_innen, die die Demokratie untergraben, durch den Urnengang zu
 Standards und beschneiden die Rechtsstaat-              stoppen, bevor es zu spät ist.
 lichkeit. Wie ist das möglich?                             Aber ob Politiker_innen tatsächlich deshalb von den Wähler_innen
 Diese Frage zu beantworten, gehört meiner Mei-          nicht wiedergewählt werden, ist eine Frage von Ursache und Wirkung.
 nung nach zu den aktuell größten intellektuellen        Und es ist durchaus eine Herausforderung, die Folgen undemokrati-
 Herausforderungen der Sozialwissenschaften. In          schen Handelns von anderen möglichen Gründen abzugrenzen, die ein
 der Vergangenheit waren wir meist dann besorgt          Wahlergebnis negativ beeinflusst haben könnten. Betrachten wir etwa
 um das Überleben demokratischer Gesellschaften,         die US-Präsidentschaftswahlen 2020. Wir können Trumps Niederlage
 wenn Akteur_innen, die nicht durch Wahlen legi-         einerseits so interpretieren, dass die Amerikaner_innen ihn für die
 timiert waren – meist das Militär – sich in die Poli-   zahlreichen Verstöße gegen demokratische Normen während seiner
 tik einmischten. Auf diese Weise brachte Augusto        Amtszeit abgewählt haben. Aber es gibt auch alternative Erklärungen:
 Pinochet 1973 die chilenische Demokratie zu Fall.       dass die Wähler_innen Trump für seinen Umgang mit der Corona-Pande-
 Und in jüngerer Zeit stürzten Militärs die demo-        mie und deren wirtschaftlichen Folgen abstraften oder dass die Differenz
 kratisch gewählten Regierungen Ägyptens (2013)          im Wahlergebnis 2016 und 2020 eher mit Joe Biden als mit Donald
 und Myanmars (Februar 2021).                            Trump zu tun hatte. Denn Biden ist ein Mann – im Gegensatz zu Hillary
     Seit dem Ende des Kalten Krieges ist zusätzlich     Clinton –, und er ist politisch moderat eingestellt – im Gegensatz zu Trump.
 die Ausbreitung einer ganz anderen Bedrohung
 für die Demokratie zu beobachten, die Sie als
 »demokratischen Rückfall« bezeichnet haben. Seit
 den 2000er-Jahren sind vier von fünf Zusammen-
                                                                   Wähler_innen sind oft bereit, der von ihnen
 brüchen demokratischer Regierungen auf demo-
 kratische Rückfälle zurückzuführen.                             favorisierten Partei einen Freibrief ausszustellen.
     An dieser Entwicklung sind zwei Aspekte
 bemerkenswert. Erstens vollzieht sich der demo-
 kratische Rückfall – wie es der Begriff nahelegt –
 in der Regel allmählich, typischerweise über meh-            Um diesem Inferenzproblem auf den Grund zu gehen, habe ich mit
 rere Wahlzyklen hinweg, sowie unter dem Deck-            einigen Kolleg_innen ein Experiment in verschiedenen Ländern durch-
 mantel eines verfassungsmäßigen Prozesses, und           geführt, unter anderem in Tunesien, der Türkei, Venezuela, Nordirland
 nicht plötzlich und gewaltsam wie ein Militär-           und den Vereinigten Staaten. In jedem Land baten wir eine repräsen­
 putsch. Deshalb stellt er auch die heimtückischere       tative Gruppe Wähler_innen, sich zwischen zwei imaginären Kandi­
 Bedrohung für die Demokratie dar. Zweitens, und          dat_innen zu entscheiden. Die Kandidat_innen wurden durch eine
 das ist entscheidend, wird der demokratische             Merkmalskombination beschrieben, etwa politische Wirkungskreise,
 Rückfall von demokratisch gewählten Parteien             Parteislogans und demografische Attribute.
 und Politiker_innen initiiert – aus einer demokra-           Wichtigster Punkt: Bei einigen Kandidat_innen gaben wir an, sie
 tischen Situation heraus. Das führt uns zur eigent-      stünden für eine Politik, die sich gegen ein zentrales demokratisches
 lichen, zentralen Frage: In welcher Situation und        Prinzip wandte. Da wir den Kandidat_innen die undemokratischen
 aus welchem Grund lassen Wähler_innen zu, dass           Maßnahmen nach dem Zufallsprinzip zugeordnet hatten, konnten wir
 Politiker_innen demokratische Strukturen unter-          zeigen, wie sich undemokratisches Verhalten auf ihre Wahlchancen
 wandern?                                                ­auswirkte.

                                                                              S CH W ER P U N K T | D E M O K R AT I E I N D ER K R I S E   3
Demokratie in der Krise - 02/2021 Schwerpunkt - Bibliothek der Friedrich ...
Unser Experiment zeigte, dass die Wähler_innen zwar            In Deutschland ergab eine aktuelle Umfrage, dass
Kandidat_innen abstraften, die undemokratische Positionen          die politische Spaltung die Menschen mehr beunruhigt
vertraten, aber nur in geringem Maß. Bei allen Konstellatio-       als zum Beispiel die Zuwanderung oder wirtschaft­
nen war zu beobachten, dass diese Strafe umso milder aus-          liche Fragen. Denken Sie, die Menschen sind sich der
fiel, je ausgeprägter die politischen bzw. parteipolitischen       Auswirkungen dieser Polarisierung bewusst?
Unterschiede zwischen den Kandidat_innen waren und je              Die verhängnisvollste Konsequenz dieser Situation ist meiner
gespaltener die Wählerschaft war.                                  Ansicht nach folgende: Mit zunehmender Polarisierung steht
    Mit anderen Worten: Wähler_innen zögern, Politiker_            bei Wahlen immer mehr auf dem Spiel – und die Wähle­r_innen
innen aufgrund der Missachtung demokratischer Werte ihre           zahlen einen immer höheren Preis dafür, ihre demokrati-
Stimme zu entziehen, wenn dies die Abkehr von der eigenen          schen Werte über parteipolitische Interessen zu stellen.
favorisierten Partei oder Politik bedeutet. Oft sind sie bereit,       Anders ausgedrückt: In einer gespaltenen Gesellschaft ist
der eigenen Partei einen Freibrief zu geben.                       es wichtiger zu verhindern, dass die jeweils andere Seite an
                                                                   die Regierung kommt, als fair zu bleiben. Und dieses Verhal-
Denken Sie, dass in Europa ein ähnlicher Mechanismus               ten kann besonders tückische Formen annehmen: Die
am Werk ist, auch wenn die politischen Systeme nicht               Anhänger_innen der einen Seite rechtfertigen die eigenen
ganz mit dem der USA vergleichbar sind?                            undemokratischen Handlungen mit dem Argument als
Diese Frage kann nur durch weitere empirische Studien              unvermeidlich, die andere Seite habe sich ihrerseits bereits
geklärt werden. Aber ich habe eine gewisse Ahnung davon,           dazu bekannt, die Unterwanderung der Demokratie in Kauf
wie sich die Unterschiede zwischen den politischen Syste-          zu nehmen. Folgen wir diesem Gedanken, kann die Wahr-
men auswirken. Es gibt zwei wesentliche, relevante Unter-          nehmung der eigenen Polarisierung – insofern diese tatsäch-
schiede zwischen den Vereinigten Staaten und Europa: Ers-          lich stark ausgeprägt ist – die Lage sogar noch weiter ver-
tens wählen die meisten europäischen Länder nicht nach             schlimmern. Denn beide Seiten sind davon überzeugt, dass
dem »Winner-takes-all«-Prinzip, da nur wenige Staaten ein          die Gegenseite ihre demokratischen Grundwerte vermutlich
Präsidialsystem haben. Zweitens treten in den europäischen         nicht über die eigenen parteipolitischen Interessen stellen
Ländern in der Regel mehr als zwei große Parteien an. Das          wird. Von daher erscheint es logisch, dass eine irrtümlich
ergibt sich aus dem Verhältniswahlrecht. Und das ist gut für       wahrgenommene Polarisierung potentiell ebenso schädlich
die europäische Demokratie.                                        ist, da sie zu übertriebenem gegenseitigen Misstrauen führen
    Der erste Unterschied führt dazu, dass bei einer Wahl in       kann.
Europa nicht so viel auf dem Spiel steht wie in den USA.
Der zweite Unterschied bedeutet, dass insbesondere die
gemäßigten Wähler_innen eine Reihe von Alternativen zur
Auswahl haben, wenn ihr_e favorisierte_r Politiker_in oder
Partei undemokratisch handelt. So binden sich Wähler_innen
nicht bedingungslos an eine einzige Partei.
    Aber es gibt einen politisch sehr wichtigen Punkt, in dem
ich nicht an einen systematischen Unterschied zwischen
Europa und dem Rest der Welt glaube: nämlich die mensch­
liche Natur. Genauer gesagt: die mangelnde B  ­ ereitschaft der
Wähle­r_innen, ihre bevorzugte Partei oder Politik zugunsten
demokratischer Grundwerte aufzugeben. Die Folgen dieses
Verhaltens sind in mehreren europäischen Ländern zu beob-
achten, vor allem in Ungarn, Polen und der Türkei.

                       Milan Svolik ist Professor für Politikwissenschaft an der Yale University.
                       Als Verfasser und Co-Autor veröffentlichte er zahlreiche Fachartikel zur Politik
                       ­autoritärer Regime, zu Demokratisierung und demokratischem Rückfall.
                        Sein neuestes Buchprojekt untersucht, warum Menschen aus der Mitte der
                        Gesellschaft Politiker_innen unterstützen, die sich gegen die Demokratie wenden.

                       Die Fragen stellte Johanna Lutz, Leiterin des FES-Büros »Demokratie der Zukunft«
                       mit Sitz in Wien.

4      info 02/2021
Demokratie in der Krise - 02/2021 Schwerpunkt - Bibliothek der Friedrich ...
M I T T E -S T U D I E

Wer rettet die Demokratie?
Politische Bildung als Daueraufgabe
zur Demokratiestärkung
Von Sabine Achour

                                                                    Lässt sich die Demokratie noch retten? Negts Antwort:
                                                                »Es mag ein bisschen verstaubt und anachronistisch klingen,

I
                                                                aber ich sehe nur eine Möglichkeit: politische Bildung.«
        m Inneren dieser Gesellschaft brodelt es«, mahnte der Demokratie müsse gelernt werden, immer wieder, tagtäg-
        Soziologe und politische Erwachsenenbildner Oskar lich, ein Leben lang. Demokratie bedarf der Förderung von
        Negt vor mehr als zehn Jahren in Anbetracht gesell- Mündigkeit und Aufklärung hinsichtlich ihrer Komplexität,
        schaftlicher Krisen, Populismus und Gefährdungen der Problem- und Konflikthaftigkeit – und zwar für alle, kontinu-
  Demokratie.                                                   ierlich, einladend, barrierefrei und nicht stigmatisierend
     Seitdem haben die Gefährdungspotenziale eher noch in der Ansprache für vermeintlich »Bildungsferne«, »Migran-
  zu- als abgenommen: die Belastungen durch die Covid-19-­ t_innen« oder »Gefährder_innen der Demokratie«.
Pandemie und die dadurch verursachte Verschärfung der               Die Notwendigkeit einer entsprechenden politischen Bil-
sozialen Spaltung, die häufig mit einer politischen Ungleich- dung zeigt sich auch in den Ergebnissen der aktuellen
heit einhergeht. Die Bedrohung des Zusammenhalts in Viel- FES-Mitte-Studie: Zwar stimmt die Mitte menschenfeindli-
falt durch Menschenfeindlichkeit, auch als vermeintliche chen, antidemokratischen und rechten Einstellungen im Ver-
Antwort auf eben diese soziale Frage. Der Auftrieb von Ver- gleich zu den letzten Jahren deutlich weniger zu, und im
  schwörungsglauben in der Pandemie als Mixtur von Demo- Rechtsextremismus sieht sie die größte gesellschaftliche
  kratiefeindlichkeit, Antisemitismus und Rechtsextremismus, Bedrohung. Zugleich zeigen sich aber Ambivalenzen in Bezug
  das sichtbare Aufbrechen völkisch-autoritär-rebellischer auf Menschenfeindlichkeit, Rassismus, Antigenderismus,
­Einstellungen.                                                 Misstrauen gegenüber Medien, politischen Repräsentant_in-
     Die Diskursverschiebungen nach rechts mit ihrer Instru- nen und dem Prinzip des Pluralismus: Etliche Befragte flüch-
mentalisierung der Meta-Narrative Migration und Islam ten sich in Teils-Teils-Zustimmungen, die die häufig vorhan-
bereiteten schon vor Corona den Boden für Hasstaten wie die dene Ablehnung sozialer Gruppen, vor allem Sinti_zze und
 Anschläge in Halle und Hanau oder den Mord an Walter Rom_nja, asylsuchender und muslimischer Menschen, bzw.
 ­Lübcke. Auch der Klimawandel zeichnet sich immer sicht­ die Zustimmung zum Autoritarismus verschleiern (sollen).
  barer als globale Gesellschafts- und Wirtschaftskrise ab. All Andere können eine gewisse Bigotterie hinsichtlich ihres
  das fordert die Demokratie, ihre Institutionen und ihre Rassismus gegen People of Colour nicht verstecken und die
  Akteure heraus und kann das Vertrauen in sie gefährden.       Zustimmungen zum Antisemitismus nehmen zu. Rechts­

                                                                        S CH W ER P U N K T | D E M O K R AT I E I N D ER K R I S E   5
Demokratie in der Krise - 02/2021 Schwerpunkt - Bibliothek der Friedrich ...
populismus verschwimmt mit und verhärtet sich zu Rechts-             Wiederholt zeigt sich in der Mitte-Studie 2020/21 eine
extremismus sowohl auf Einstellungsebene wie auf Ebene           starke Bildungsabhängigkeit demokratischer Einstellungen.
der politischen Akteur_innen. Mag die AfD einen überpro-         Sie werden oft schon strukturell im Kindes- und Jugendalter
portionalen Teil des rechtsextremen und rechtspopulisti-         angelegt: Die differenzierten Schulformen gehen einher mit
schen Potenzials »aufsaugen«, so zeigen sich Zustimmungen        einer entsprechend soziokulturell differenten Schüler_
zu einzelnen Elementen doch in allen Bevölkerungsgruppen.        innenschaft. Die umfangreichere und didaktisch oft
                                                                 anspruchsvollere politische Bildung an den Gymnasien, v.a.
                                                                 in den Oberstufen, macht diese zu einem elitären Angebot.
                                                                 Da politische Orientierungen in dieser Lebensphase mit einer
                                                                 hohen Stabilität bis ins späte Erwachsenenalter erworben
         Politische Bildung eröffnet Räume und                   werden, bedarf es einer frühen Investition in gleichwertige
    soziale Netze, in denen rechte Äußerungen und                Demokratieerfahrungen in schulischer und außerschulischer
      Handlungen begründet abgelehnt werden.                     politischer Bildung. Denn die Konsequenzen des soziokultu-
                                                                 rell ungleichen Zugangs zum Politischen scheinen sich empi-
                                                                 risch in der Mitte-Studie 2020 / 21 widerzuspiegeln: Sozio-
                                                                 kulturell Benachteiligte fühlen sich häufiger politisch macht-
                                                                 los und haben ein geringeres Demokratievertrauen. Dies
    All das zeigt, wie verkürzt die Vorstellung ist, die Demo-   geht einher mit stärker menschenfeindlichen und rechtspo-
kratie sei lediglich von den Rändern her gefährdet. Das          pulistischen Einstellungen sowie einem geringeren Ver-
Zusammenspiel von Demokratie und politischer Bildung             trauen in staatliche Institutionen und Wahlen. Insgesamt
muss scheitern, wenn letztere v.a. als Extremismuspräven-        sieht auch nur etwa die Hälfte der Befragten Möglichkeiten,
tion auf Randgruppen oder »gefährdete« Jugendliche ausge-        sich in ihrem Umfeld politisch beteiligen zu können.
richtet ist. Politische Bildung funktioniert nicht als Feuer-        Da gerade Partizipationserfahrungen einen positiven
wehr zum Löschen antidemokratischer Brände, sondern ist          Effekt auf politische Einstellungen und demokratische Werte
eine Daueraufgabe im Sinne der Demokratiestärkung der            haben, bedarf es einer politischen Bildung, die den Abbau
Mitte, die sich gegen Rechtsextremismus und Menschen-            von Teilhabebarrieren mit einer Demokratisierung möglichst
feindlichkeit einsetzt.                                          aller Lebensbereiche verbindet – insbesondere für die bisher
    Dies erfordert zum einen Aufklärung über die Anschluss-      Unterrepräsentierten in Alltagsstrukturen. Politische Bil-
fähigkeit des Rechtspopulismus an autoritäre, menschen-          dung findet hier nicht nur formal statt, sondern als sozial-
feindliche, verschwörungsgläubige, antisemitische, sexisti-      räumliche und aufsuchende Bildungsarbeit. Das Rezipieren
sche Einstellungsmuster. Nicht zuletzt mit Blick auf die lange   von Emotionen wie Wut, Angst, Überforderung, die häufig
(politische) Ignoranz gegenüber einer »Etablierung« rechter      gar nicht als »politisch« wahrgenommen werden, aber
Äußerungen und einer »Normalisierung« menschenfeindli-           Zugänge für Demokratiebildung darstellen, ebenso wie die
chen Klimas, welche in vielen Gegenden eine »nationale           Sensibilität für die Barrieren einer elaborierten »politischen
Graswurzelarbeit« im Gewand sozialen Engagements mög-            Sprache« können Brücken bauen, so dass Menschen sich
lich machte.                                                     weniger angesprochen fühlen vom generalisierenden Eliten-
    Zum anderen fördert politische Bildung Haltung und           bashing, der »populären« Sprache und der antipluralisti-
demokratisches Handeln. Sie eröffnet Räume und soziale           schen Reduktion komplexer demokratischer Aushandlungs-
Netze, in denen rechte Äußerungen und Handlungen begrün-         prozesse durch den Rechtspopulismus.
det abgelehnt werden. Damit einher geht auch die Reflexion           Nicht zuletzt zeigt sich das Feld Bildung als ein politisch
von Alltagsrassismus, der für Betroffene dauerhafte Angst        umkämpftes: Neben der AfD haben sich Akteure wie die par-
vor verbaler und körperlicher Gewalt bedeutet.                   teinahe Desiderius-Erasmus Stiftung, das Institut für Staats-
    Politische Bildung ist antirassistische Bildung und muss     politik und rechte Publikationsorgane wie die »Junge Frei-
im Sinne bundesweit greifenden Antidiskriminierungsrechts        heit« mit dem Ziel aufgestellt, eine rechte Elite zu fördern,
mit einer Verpflichtung zur Förderung professioneller anti-      um in die gesellschaftliche Breite zu wirken.
rassistischer Kompetenz einhergehen: an Schulen und Uni-             Ziel politischer Bildung ist ergo die Förderung der Solida-
versitäten, in Kitas, Medien, Unternehmen, Vereinen,             rität der etablierten politischen Akteur_innen, wenn sie
Gewerkschaften und Verwaltungen. Denn nach Hasstaten             angegriffen, verunsichert und sogar als Feinde der Demokra-
wie in Hanau dürfen von öffentlicher Seite nie wieder zyni-      tie verunglimpft werden. Als Demokratie-Unterstützer_
sche »Erklärungen« abgegeben werden wie: »ermordet, weil         innen müssen sie sich gegen antidemokratische und rassis-
sie anders waren«.                                               tisch motivierte Äußerungen im öffentlichen Raum positio-

6      info 02/2021
Demokratie in der Krise - 02/2021 Schwerpunkt - Bibliothek der Friedrich ...
nieren – anstatt einen (ungewollten)
Beitrag zur Plausibilisierung neurech-
ten Denkens und Vokabulars zu leisten.
Solches bricht vermehrt auf in ver-
achtenden Äußerungen gegenüber den
Opfern und Verbrechen des Nationalso-
zialismus. Das greift den gesellschaftli-
chen Grundkonsens an, den die deut-
sche Demokratie aus den Lehren des NS
gezogen hat, um von rechts eine völ-
kisch-heldenhafte deutsche National-
geschichte zu konstruieren.
                                                 I NTERV IE W
    Vor dem Hintergrund zunehmender
Zustimmung zum Antisemitismus in
der Mitte-Studie 2020 / 21 lässt sich mit        Profiteure der Angst?
Adorno dringlich formulieren: Ziel aller
Pädagogik ist es, dass Auschwitz sich            Rechte Parteien und
nicht wiederhole. Deshalb brauchen wir
eine starke politische Bildung für eine          die Corona-Krise
demokratische Mitte. Denn diese darf
nicht schweigen, damit sich die men-
                                                 Fragen an Verena Stern
schenfeindliche Minderheit nicht mäch-
tiger fühlt, als sie ist. Es gilt, die Heraus-
forderungen auch anzunehmen.               •
                                                 Frau Stern, die Herausforderungen der Covid-19-Pandemie
                                                 haben europaweit auch rechte Parteien auf den Plan
                   Mehr zur Mitte-Studie
                   »Die geforderte Mitte«:
                                                 gerufen. Konnten extrem rechte Kräfte in Europa die
                                                 ­Pandemie für sich nutzen?
                   p    ww.fes.de/
                       w
                                                  Die kurze Antwort lautet: noch nicht. Die Umfragewerte für
                       mitte-studie
                                                  rechte Parteien der einzelnen Länder zeigen stagnierende oder
                                                  gar sinkende Zahlen. Das lag auch daran, dass besonders zu
                                                  Beginn der Pandemie die Bevölkerung den Regierungsparteien
                                                  großes Vertrauen entgegenbrachte und es eine starke Zustim-
                                                  mung zu deren Strategien und Maßnahmen gab. Allerdings
                                                  wird dieses Bild mit Andauern der Corona-Krise vielfältiger,
                                                  Menschen sind »Corona-müde« und die Politik fährt nicht immer
                                                  den klaren, transparenten und aufklärenden Kurs, den es
                                                  bräuchte. Rechte Parteien könnten also mittel- oder langfristig
                                                  doch noch profitieren, sei es bei Wahlen, die in einigen Ländern
                                                  anstehen, oder in einer möglichen nachfolgenden Wirtschafts-
                  Prof. Dr. Sabine
                                                  krise.
                  Achour ist Profes­
                  sorin für Politische
                                                 Zeigen sich Gemeinsamkeiten der europäischen rechten
                  Bildung und Politik­
                  didaktik am Otto-              Parteien im Umgang mit der Krise?
                  Suhr-­Institut für             Die auffälligste Gemeinsamkeit – die allerdings nur bis zum
                  ­Politikwissenschaft           Ende der ersten Welle anhielt – war der Ansatz der Regierungs-
an der FU Berlin. Sie arbeitet zu den            parteien, der Krise konsensual mit den Oppositionsparteien ent-
Themen Ideologien der Ungleich­                  gegenzutreten. Dazu gehörten auch die extrem rechten Kräfte,
wertigkeit, Diversität, Inklusion,               die sich quasi im Gegenzug für diese Teilhabe unterstützend
Sprachbildung. Sie ist Co-­Autorin der           gegenüber den Beschlüssen zeigten. Das könnte langfristig zu
aktuellen »Mitte-Studie«.                        einer Normalisierung führen in einigen Ländern.

                                                                S CH W ER P U N K T | D E M O K R AT I E I N D ER K R I S E   7
Demokratie in der Krise - 02/2021 Schwerpunkt - Bibliothek der Friedrich ...
Eine weitere Gemeinsamkeit der europäischen
Rechten war, dass es für alle schwer war, sich in
dieser Gesundheitskrise mit eigenen Themen und
Ansätzen zu profilieren. Gelöst wurde dies dann
entsprechend ihrer nationalen Kontexte durchaus
                                                                                        M I T T E -S T U D I E
unterschiedlich. So setzte Frankreich beispiels-
weise auf einen bereits etablierten Sicherheits-Dis-
kurs, während Schweden oder Finnland die                                                »Es gibt mich,
EU-Rettungsschirme ins Visier nahmen. Auch
diese historisch gewachsenen, nationalen Spezi-                                         es gibt dich
fika und Schwerpunktsetzungen haben alle unter-
suchten rechten Parteien gemeinsam.                                                     und es gibt uns«
Wie kann der extremen Rechten entgegen­                                                 Mentalisierung
getreten werden?
Zum einen ist es wichtig, in der Bevölkerung auf-                                       als demokratische
kommende Themen auch aufzugreifen und diese
transparent, klar und ohne Vorurteile so aufzube-                                       Kompetenz
reiten, dass möglichst viele Menschen erreicht
                                                                                        Von Nora Rebekka Krott und
werden. Gleichzeitig sollte dabei nicht mit rechten
                                                                                        Klaus Michael Reininger
Positionen und Akteur_innen interagiert werden.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Eindämmung
von Verschwörungsnarrativen und Fake News
in den Sozialen Medien. Diese Kanäle müssten
besser beobachtet und bei Verstößen müsste ein-
gegriffen werden.

                                                                                        A
                                                 Den Report von Verena Stern
                                                 »Die Profiteure der Angst?
                                                                                                      uf politischer, sozialer, medialer und –
                                                 Rechtspopulismus und die                             wie die Corona-Pandemie gezeigt
                                                 Covid-19-Krise in Europa«                            hat – nicht zuletzt auf wissenschaft­
                                                 gibt es ebenso wie die bisher                        licher Ebene polarisieren sich Pers-
    Verena Stern

    Die Profiteure
    der Angst?

                                                 acht Länderanalysen hier:               pektiven und Meinungen. Bei vielen steigt das
    Rechtspopulismus und die COVID-19-Krise
    in Europa
    Ein Überblick

                                                 p     www.fes.de/c19rex                 Bedürfnis, sich eindeutig zu positionieren. Dabei
                                                                                         scheint es, als würden immer mehr Meinungen
                                                                                         und Überzeugungen als Fakten behandelt.
                                                                                            Die Fähigkeit, Ambivalenzen bei sich und bei
                                                                                         anderen auszuhalten und miteinander vermitteln
                                                                                         zu können, nennt man Mentalisierungsfähigkeit.
                                                                                         Diese Fähigkeit entwickeln Menschen unabhängig
                                                                                         von ihrer Herkunft in Beziehungserfahrungen,
                                                                                         in denen sie das Selbst und andere als getrennt
                                                                                         voneinander und gleichzeitig im Einklang mitein-
                                                                                         ander wahrnehmen und Ambivalenzen bei sich und
                                                         Verena Stern ist wissen­        anderen integrieren können, nach dem Prinzip
                                                         schaftliche Mitarbeiterin      »Es gibt mich, es gibt dich und es gibt uns«.
                                                         an der Fakultät für Sozio­     ­Menschen, die mentalisieren, können sich vor­
                                                         logie der Universität Biele­    stellen (mental repräsentieren), wie sie selbst und
                                                         feld und arbeitet zu den        wie andere Menschen fühlen oder denken. Die
                                                         Themen Protest und Be­          demokratische Mitte stärkt sich aus denjenigen,
                                                         wegung, Rechtsextremis­         die Perspektiven übernehmen und zwischen Posi-
                                                         mus und Migration.              tionen vermitteln, wie etwa zwischen Liberalen
                                                                                         und Konservativen, Religiösen und Säkularen
Die Fragen stellte Franziska Schröter, Leiterin                                          oder Verunsicherten und Überzeugten. Das heißt,
des FES-Projekts »Gegen Rechtsextremismus«.                                              die demokratische Mitte mentalisiert.

8                                       info 02/2021
Aktuelle Daten der Mitte-Studie zeigen, dass        Mentalisieren kann man lernen und im Rahmen von pro-
die Mentalisierungsfähigkeit unter jenen ausge-      fessionellen und privaten Beziehungen stärken. Im Austausch
 prägt ist, die sich als Demokrat_innen identifi­    mit Gefühlen, Perspektiven und Meinungen anderer lernen
zieren und damit die Mitte der demokratischen        wir, uns selbst und die anderen besser zu verstehen und uns in
Gesellschaft bilden. Besonders Menschen, die sich    Beziehung zueinander wahrzunehmen (z. B. im Rahmen von
der politischen Mitte sowie dem linken politischen   politischer Bildung, Schule, Familie, Arbeitsplatz). Menschen,
Spektrum zuordnen, mentalisieren mehr als            die mentalisieren, begegnen sowohl inneren als auch äußeren
politisch Rechte. Zudem zeigen unsere Daten,
­                                                    Spannungen und Konflikten flexibel, offen und interessiert.
dass Mentalisierungsfähigkeit einen persönlichen     Sie können Spannungen und Konflikte aushalten und in
Schutzfaktor darstellt, der antidemokratischem       Beziehungen sowie ­Aus­einandersetzungen vermitteln.                   •
Denken, Fühlen und Handeln entgegenläuft. Je
ausgeprägter die Mentalisierungsfähigkeit, desto
geringer fallen menschenfeindliche und rechts­
                                                                       Mehr zur Mitte-Studie
populistische Einstellungen oder Gefühle der poli-
                                                                       »Die geforderte Mitte«:
tischen Machtlosigkeit aus. Letztlich zeigt sich:
Wer mentalisiert, neigt weniger dazu, Gewalt als                       p   w ww.fes.de/mitte-studie
Mittel der Durchsetzung politischer Interessen
zu billigen, und zeigt weniger rechtsextreme
­Ein­stellungen sowie autoritäre Aggression.

                                   Dr. Nora Rebekka Krott ist Psychologin und forscht zu Einstellungen
                                   zur Integration, Migration und einem Zusammenleben in Vielfalt
                                   sowie deren kognitiven und emotionalen Zusammenhängen.

                                   Dr. Klaus Michael Reininger ist ehemaliger Stipendiat der FES,
                                   leitet an der Uni Hamburg das Institut für Psychotherapie und arbeitet
                                   u. a. zu Radikalisierung.

                                                              S CH W ER P U N K T | D E M O K R AT I E I N D ER K R I S E   9
B EG R I F F S B E S T I M M U N G

Wege in die toxische Polarisierung
Das Schüren von Ressentiments
als politische Strategie
Von Filip Milacic

                                                                              Da identitätspolitische Debatten aktuell viele Länder prä-
                                                                           gen, könnte man zu dem Schluss kommen, dass die Demo-
                                                                           kratie in ernsthafter Gefahr steckt. Die Situation ist jedoch
                                                                           komplexer. Die Identitätsspaltung manifestiert sich nur dann
                                                                         in einer toxischen Polarisierung, wenn sie instrumentalisiert

              E
                                                                         wird, um mit demagogischer Rhetorik eine »Wir gegen sie«-­
                            ine Demokratie funktioniert dem polnisch-­   Kategorisierung im politischen System einzuführen. Sie dient
                            amerikanischen Politikwissenschaftler        den Demagog_innen dazu, eigene Wähler_innen erfolgreich
                            Adam Przeworski zufolge dann, wenn bei       zu mobilisieren und die Kontrahent_innen als eine Bedro-
                            den Wahlen etwas auf dem Spiel steht –       hung darzustellen.
                 aber nicht zu viel. Mit anderen Worten: Ein gewisses         Erst allmählich beginnen die politischen Akteur_innen
                 Maß an Polarisierung in einem demokratischen            dann, die Grundnormen des demokratischen politischen
                 System ist wünschenswert, denn es bietet den            ­Systems zu missachten, um ihre Macht zu sichern.
                 Wähler_innen klare programmatische Alterna­                  Gerrymandering und Voter Suppression, die Infrage­
                 tiven. Das erhöht ihr Interesse an p­ olitischen Pro-     stellung der Legitimität der Opposition und der Wahlen,
                 zessen, wodurch das demokratische System stabi-          die Erosion der Überparteilichkeit bei Ernennungen von
                 lisiert wird. Eine Gefahr für die Demokratie stellt      Richter_innen, Gewalt gegen Andersdenkende sowie
                 eine politische Dynamik dar, in der eine gesunde         Angriffe auf Medien sind zu Bestandteilen des amerikani-
                 Polarisierung in eine toxische Polarisierung kippt.      schen politischen Systems geworden.
                 Aber wann ist diese Grenze überschritten?                    Victor Orbán in Ungarn und Jaroslaw Kaczynski in Polen
                      Die toxische Polarisierung kann aus mehreren        inszenieren sich als Verfechter nationaler Interessen und
                 Gründen entstehen. Sie kann sozio-ökonomischer           Beschützer der ethnischen und kulturellen Identität ihrer
                 oder werte-ideologischer Natur sein. Sie kann            Länder und fördern so deren gesellschaftliche Spaltung. Das
                 durch ein wichtiges spalterisches Thema bzw.             Schüren der Ressentiments wird als politische Strategie für
                 eine polarisierende Person provoziert werden.            den Machterhalt benutzt.
                 Oder sie kann auf einer Teilung in Pro- oder                 Das Untergraben der verfassungsmäßigen Ordnung erfolgt
                ­Contra-Regierungslager beruhen.                          durch Machtkonzentration in den Händen der Exekutive,
                      Für die Demokratie ist jedoch diejenige             durch gezielte Angriffe auf die unabhängige Justiz und vor
                 ­Polarisierung am gefährlichsten, die durch Iden­        allem durch Schwächung von checks and balances und wird
                  titätsthemen geschürt wird. Diese Art der Pola­         als Maßnahme zum Schutz der Staatsinteressen und der
                  risierung besitzt das größte Potential, toxisch zu      ­nationalen Souveränität gerechtfertigt.
                  werden.                                                     Für die Zukunft der Demokratie wird entscheidend sein,
                      Kompromissfindung und die Einigung auf               ob die politischen Eliten das Allgemeinwohl im Blick haben
                  einen für beide Seiten akzeptablen Mittelweg sind        oder lieber der Erkenntnis von Stephen Webster folgen:
                  leichter, wenn man beispielsweise über Steuer­           »An angry voter is a loyal voter.«		                      •
                  politik, Investitionsprioritäten, Sozialausgaben –
                  also über die Verteilung des Kuchens – verhandelt
                  anstatt über die Frage, wer zur Nation gehört, in
                  Verbindung mit Fragen von Religion, Ethnie oder
                  Sprache. Dies gilt auch für identitätspolitische
                  Debatten über Gender und sexuelle Rechte. Hier                                  Dr. Filip Milačić ist wissenschaf­t­
                  geht es um existentielle Fragen. Also immer dann,                               licher Mitarbeiter im FES-Büro
                  wenn es nicht primär um Policy-Konflikte geht,                                  »Demokratie der Z   ­ ukunft«
                  sondern um Konflikte über unterschiedliche                                      in Wien und Visiting Fellow am
                  Weltanschauungen, steht bei Wahlen für die
                  ­                                                                               Institut für die Wissenschaften
                  ­Menschen sehr viel auf dem Spiel.                                              vom Menschen in Wien.

10        info 02/2021
I NTERV IE W

Über Impfgegner,
Querdenker und
­Pandemie­schwurbler
 Die Gefahren einer stärkeren
 Vernetzung der Milieus
Fragen an Pia Lamberty

Frau Lamberti, Verschwörungserzählungen scheinen seit
Jahren zuzunehmen. Geht von ihnen eine Gefahr aus?
Verschwörungserzählungen gibt es schon sehr, sehr lange –
trotzdem wurden sie lange nicht ernst genommen und als
»Spinnereien« verharmlost. Die Covid-19-Pandemie hat das               Aus meiner Sicht ist der Handlungsdruck gestiegen:
Gefahrenpotenzial dieser Mythen noch einmal verdeutlicht:           Wer an eine Impfverschwörung glaubt und sich nicht impfen
Je stärker der Verschwörungsglaube, desto weniger werden            lassen will, sieht sich jetzt auch eher im Zugzwang. Es kam
Masken getragen, werden Maßnahmen oder Impfungen                    auch zu einer stärkeren Vernetzung der Milieus. Das kannten
akzeptiert. Auch Antisemitismus ist elementarer Bestandteil         wir vorher so nicht. Ich vermute, dass es zwar immer wieder
von Verschwörungserzählungen. Das zeigt sich in Studien,            Zeiten geben wird, in denen das Thema weniger relevant wird.
aber auch bei den Inhalten, die digital oder bei Demonstra­         Sobald es aber zu gesellschaftlichen Spannungen kommt,
tionen verbreitet werden. Es werden Feindbilder erschaffen,         können diese Netzwerke reaktiviert werden – ob zur Bundes-
die dann für gesellschaftliche Missstände verantwortlich            tagswahl oder im K ­ ontext des Klimawandels. Deswegen muss
gemacht werden. Und das ist nicht ungefährlich: Frühere             man sich auch nach der Pandemie mit ­        Verschwö­r ungs-
Mitte-Studien konnten zeigen, dass der Glaube an Verschwö-          erzählungen beschäftigen.
rungen mit einer erhöhten Gewaltbereitschaft einhergeht.
                                                                    Es wird immer wieder diskutiert, dass es sich bei
Welche Rolle spielt die Pandemie?                                   ­ erschwörungsgläubigen um verunsicherte und
                                                                    V
Krisensituationen können den Verschwörungsglauben zu­               besorgte Menschen handle. Was ist wissenschaftlich
sätzlich befeuern. Sie sind ein Beispiel für einen kollektiv        dran an dieser These?
erlebten Kontrollverlust; und eine Kompensationsstrategie           Bereits bei Pegida, aber auch jetzt im Kontext von Querdenken
ist eben der Glaube an Verschwörungen. Man sieht dann               wird immer wieder diese These aufgestellt. Daran knüpft
plötzlich auch da Muster, wo keine sind. Insgesamt ist es für       die Frage an, wen oder was Menschen mit ausgeprägter Ver-
Menschen schwer, mit abstrakten Bedrohungen um­­zugehen.            schwörungsmentalität eigentlich als Bedrohung wahrneh-
Das sieht man auch beim Thema Klimawandel. Die ver-                 men. In der Mitte-Studie kamen wir zu dem Ergebnis, dass
meintlichen Verschwörer sind dagegen greifbarer, kon­               diese Menschen insbesondere Zuwanderung, Globalisierung,
kreter – und können für die schlechte Lage verantwortlich           Linksextremismus oder Islamismus als Probleme sehen. Der
gemacht werden.                                                     Klimawandel oder auch Rechtsextremismus sind für sie
                                                                    dagegen weniger eine Bedrohung der Gesellschaft. Und wer
Und was sagt die neue FES-Mitte-Studie?                             etwas nicht als Problem sieht, der tut auch weniger dagegen.
Gibt es einen Anstieg? Wird das Thema auch nach
der Pandemie noch relevant sein?
Viele haben den Eindruck, dass während der Pandemie der
Glaube an Verschwörungen zugenommen habe. Mit Blick auf                                      Pia Lamberty ist Sozialpsychologin
die aktuelle Studienlage lässt sich das so aber nicht halten. Ich                            und Autorin (u.a. »Fake Facts« und
vermute, dass hier zwei Dinge passiert sind: Zum einen könnte                                FES-Mitte-Studien) und ist Geschäfts­
ein Normeffekt eingetreten sein. Dadurch, dass das Thema                                     führerin beim Center für Monitoring,
gesellschaftlich diskutiert wurde, haben sich Menschen stär-                                 Analyse und Strategie (CeMAS),
ker positioniert, die vorher vielleicht eher indifferent waren.                              das sich interdisziplinär mit Ver­
Ich befürchte aber auch, dass wir teilweise Menschen schwe-                                  schwörungs­ideologien, Desinforma­
rer durch Studien erreichen, weil Wissenschaft noch einmal                                   tion, Antisemitismus beschäftigt.
mehr zum Feindbild geworden ist in bestimmten Milieus als
vor der Krise. Wer Wissenschaft als Teil einer Verschwörung         Die Fragen stellte Franziska Schröter, Leiterin des
sieht, nimmt dann vielleicht auch nicht mehr an Studien teil.       FES-Projekts »Gegen Rechtsextremismus«.

                                                                             S CH W ER P U N K T | D E M O K R AT I E I N D ER K R I S E   11
KO N F E R E N Z
                                                                       Zivilgesellschaft und mehr politische Bildung und

»Unboxing Hate S      ­ peech«                                         Medienkompetenz bis hin zu gelebten demokra­
                                                                       tischen Werten und dem Engagement jedes / jeder

Wie Politik und Z­ ivil­-
                                                                       Einzelnen, z. B. durch aktive Gegenrede im Netz und
                                                                       auf der Straße.
                                                                           Anlass, dem Hass entgegenzutreten, gibt es leider
gesellschaft dem Hass                                                  genug. Besonders gilt es, öffentlich Solidarität mit
                                                                       Betroffenen zu zeigen, denn oft sollen bestimmte
­entgegentreten können                                                 Gruppen aus dem demokratischen Diskurs gedrängt
                                                                       werden – durch antifeministischen Hass gegen
Von Alina Fuchs, Kristin Linke und Yvonne Lehmann
                                                                       Frauen oder rassistische Hetze gegen marginalisierte
                                                                       Gruppen. Der Hass trifft besonders häufig auch Men-
                                                                       schen, die sich für unser Gemeinwesen engagieren,
                                                                       sei es im Kleinen vor Ort oder in der großen Politik.

W
                                                                       Wenn Menschen sich aus dem Engagement zurück-
                   enn sich Auseinandersetzungen in unserer Gesell-    ziehen oder politische Aushandlungsprozesse nicht
                   schaft in Hass, Ausgrenzung und verbaler Gewalt     mehr auf ein gemeinsames Fundament von Werten
                   entladen, dann bedeutet das eine reale Gefahr –     und Regeln bauen können, dann hat unsere Demo-
                   eine Gefahr für das solidarische Miteinander in     kratie ein Problem.
Vielfalt, für das demokratische Ringen um politische Lösungen, für         Dass sie nicht zulassen werden, dass Hate Speech
die Demokratie als solche. Hate Speech verletzt Menschenrechte,        unsere Demokratien und unser Miteinander ver­
greift Diskussionskultur und Solidarität an und drängt Menschen        giftet, haben die Teilnehmenden aus ganz Europa
aus dem öffentlichen Raum. Und auf Worte folgen oft Taten.             eindrücklich deutlich gemacht. Dem giftigen Paket
   Wie sich Politik und Zivilgesellschaft dieser Gefahr europaweit     Hate Speech hat die Konferenz ein Bündel an gemein-
entgegenstellen können, war die große Frage der zweitägigen digita-    samen Ideen und Strategien entgegengesetzt. Diese
len Konferenz »Unboxing Hate Speech. Europäische Impulse für           umzusetzen bleibt ein andauernder Auftrag für
Solidarität und Respekt im Netz«, die die Friedrich-Ebert-Stiftung     die Politik, für Strafverfolgung und Gerichte und
gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium            für die Zivil­gesellschaft.		                      •
der Justiz und für Verbraucherschutz im Februar 2021 im Rahmen
des Deutschen Vorsitzes im Europarat veranstaltet hat.
   Klar wurde: Wir brauchen international alle Kräfte und alle               Zur Dokumentation der Konferenz
Handlungsspielräume, um Hass im Netz zurückzudrängen und ein                 im LiveBlog geht es hier:
offenes, tolerantes und solidarisches Miteinander auch im digitalen          p   w ww.fes.de/unboxing-hate-speech-­
Raum zu verteidigen – von einer klaren Gesetzgebung, konsequenter                konferenz/live-blog
Strafverfolgung und zentralen Anlauf- und Beratungsstellen für
Opfer von Hasskriminalität über eine starke, international vernetzte

                                                     Alina Fuchs ist Referentin für Demokratie und Partizipation.

                                                     Kristin Linke ist Referentin im Referat Mittel- und Osteuropa
                                                     und betreut das neue Kompetenzzentrum Demokratie in Wien.

                                                     Yvonne Lehmann ist Referentin für Jugendbeteiligung.

12        info 02/2021
WORKSHOPS

                                                         Distanzen überwinden
                                                         Politische (Jugend-)
                                                         Bildung in der Pandemie
                                                         Von Yvonne Lehmann

                                                         M
Zitate aus der Konferenz
                                                                           it dem Beginn der Pandemie wurde die politi-
»Wir haben zu oft erlebt, dass Gewalt mit Worten                           sche Bildung im Schulalltag auf ein Minimum
begann und mit Taten auf der Straße e   ­ ndete.                           eingedampft. Die Anbieter_innen von außer-
­Meinungsfreiheit endet, wo Hetze und Aufrufe
                                                                           schulischen politischen Bildungsangeboten
 zur Gewalt beginnen. Hate Speech darf uns weder
 als Gesellschaft noch als Staaten spalten.«
                                                           kommen seit einem Jahr nicht mehr in die Schulen und
                                                           haben es schwer, digitale Angebote zu adressieren.
Heiko Maas, Bundesaußenminister
                                                              Die Corona-Krise zwingt zu Distanz, aber auch zur Kreati-
                                                           vität. Nach dem ersten Schock der Pandemie und der Absage-
                                                           welle von Veranstaltungen wurden schnell neue Angebote
»Wenn Menschen sich nicht frei und offen äußern,           entwickelt, wie trotz räumlicher Trennung die Verbindung
weil sie Sorge haben bedroht zu werden, dann ist         mit den Zielgruppen aufrechterhalten werden kann.
das ein Angriff auf die ­Meinungsfreiheit, ein Angriff
                                                              Die Folge war ein enormer Digitalisierungsschub der
auf die Demokratie. Das dürfen wir nicht zulassen.«
                                                         ­politischen Bildung. Dieser traf allerdings auf weniger gute
Christine Lambrecht, Bundesministerin der Justiz          Rahmenbedingungen des digitalen Schulalltags.
und für Verbraucherschutz
                                                              Parallel zur mangelnden Sichtbarkeit von politischen
                                                          Bildungsangeboten schwindet bei den Jugendlichen das
                                                          ­
                                                          ­Vertrauen in Politik und deren Problemlösungskompetenz.
»Wir müssen Respekt, Toleranz und Würde als                   In der Studie der Bertelsmann-Stiftung »Das Leben von
die treibenden Kräfte einer Gesellschaft a
                                         ­ ktivieren.«     Jugendlichen in der Corona-Pandemie« gaben 57,5 Prozent
Martin Schulz, MdB, Vorsitzender der ­Friedrich-           der Befragten an, dass sie bezweifeln, dass junge Menschen
Ebert-Stiftung                                             ihre Ideen in die Politik einbringen können.
                                                              Um speziell bei jungen Menschen das Vertrauen in die
                                                           Demokratie zu stärken, wurde die bundesweite Erst­­
»Gegenrede ist mühsam, aber unverzichtbar.
                                                           wähler_innen-Kampagne »Rettet die Wahlen« entwickelt.
Wir als Zivilgesellschaft müssen den digitalen Raum        Aus verschiedenen Modulen können Schulen oder Jugend­
verteidigen.«                                              organisationen sich je nach Interesse und Zeitbudget
Hannes Ley, Gründer der Facebook-Gruppe
                                                           das ­ perfekte Workshopprogramm (digital oder analog)
­# ichbinhier                                              zusammenstellen.		                                                    •
                                                         Mehr zu »Rettet die Wahlen« und der Studie »Wie schauen
                                                         junge Menschen auf die Rolle des Staates?«:
»Wir brauchen eine engagierte kritische Z­ ivil­-
gesellschaft. Wir dürfen uns nicht kaputt machen         p   www.fes.de/rettetdiewahlen
lassen von einer radikalen Minderheit.«

Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt

»Ich will Hass nicht präsentieren, sondern zeigen,
wie man damit umgehen kann: Anzeige erstatten,
einen Account blockieren oder sich von Beratungs­
stellen unterstützen lassen.«

Louisa Dellert, Greenfluencerin und Podcasterin

                                                         Yvonne Lehmann (Foto links) ist Referentin für den
                                                         Arbeitsbereich Jugend und Politik.

                                                                   S CH W ER P U N K T | D E M O K R AT I E I N D ER K R I S E   13
IMPULS

Demokratische Selbstkorrektur
Starke Zivilgesellschaft gegen die
­Polarisierung in Zeiten der Pandemie
Von Roland Roth

            W
                                er angesichts der anhaltenden      ratur durch Gegenbewegungen und öffentliche
                                »Querdenker«-Proteste nicht ver­   Debatten schwindet. Angesagt ist daher eine
                                zweifelt, hat keinen politischen   offensive zivilgesellschaftliche Auseinanderset-
                                Verstand. Bei ihren Aufmär-        zung mit diesen Entwicklungen, hinter denen oft
             schen kommt eine aggressive Mixtur von Corona-­       Ohnmachtserfahrungen, Verlust- und Zukunfts­
            Leugnung, Verschwörungsfantasien, Aberglauben,         ängste stehen.
            Esoterik und Ressentiments zusammen mit einer              Eine zukunftsfähige Pandemiepolitik wird nur
            größer werdenden Portion Antisemitismus, Rechts­       mit einer starken Zivilgesellschaft gelingen. Bevor
            extremismus und neoliberal getönter Rück­              sie unter Quarantäne gestellt wurde, hat sie mit
            sichts­losigkeit. Eine angstgesteuerte Selbst­         spontanen Nachbarschaftshilfen vulnerable Grup-
            überschätzung, Wissenschaftsfeindlichkeit und          pen unterstützt. Hätte man Schülerinnen und
            wütende Maßlosigkeit (»Corona-Faschismus«) über-       Schüler gefragt, hätten sie als »digital natives«
            lagert jede nachvollziehbare Zukunftsangst und         sicherlich bessere Modelle digitaler Lern- und
            die berechtigte Kritik am unzulänglichen staat­        Kommunikationsplattformen kreiert. Bürgerstif-
            lichen Infektionsschutz.                               tungen haben vorübergehend für alternative
                 Die Folgen für die Zivilgesellschaft sind er­ -   Begegnungsmöglichkeiten von Alten- und Pflege-
            heblich. Politische Polarisierungen, die bereits mit   heimbewohner_innen gesorgt. Lokale Modelle
            der Zuwanderung von Geflüchteten aufgebrochen          wie in Tübingen und Rostock haben einen Ein-
            sind, werden überlagert und verstärkt durch            druck von der möglichen Kreativität vor Ort ver-
            Kontroversen über den Umgang mit Covid-19.
            ­                                                      mittelt. Künftige lokale Pandemiekonzepte – und
            ­Zerrissenheit kennzeichnet heute viele Familien       sie werden nötig sein – dürfen nicht noch einmal
             und Freundeskreise. Fehlende Verständigungs­          ohne Beteiligung und Engagement der Bürger-
             bereitschaft und emotionale Zuspitzung haben in       schaft gedacht werden.
             Teilen zu einer Selbstvergiftung der Zivilgesell-         Verantwortliche und gestaltende Beteiligung
             schaft geführt. Ihre zentralen Normen eines fried-    ist das beste Mittel zur Selbstkorrektur der Zivil-
             lichen und respektvollen Austragens von unter-        gesellschaft. Das Gefühl, in einer sich schnell
             schiedlichen Meinungen und die Anerkennung            wandelnden Umwelt ohne eigene Gestaltungs-
             vielfältiger Lebensweisen stehen zur Disposition.     möglichkeit zu sein, gebiert antidemokratische
             Das Vertrauen in eine der zentralen Errungen-         Ungeheuer: den Wunsch nach autoritärer Füh-
             schaften der Zivilgesellschaft, ihre Fähigkeit zur    rung oder die Flucht in rückwär tsgewandte
             demokratischen Selbstkorrektur und zivilen Repa-      Gesellschaftsbilder.

14       info 02/2021
Wir benötigen jetzt eine neue Runde von Nach-
 barschaftsgesprächen, aber auch lokale Bürger-
 räte und Engagementfonds für lokale Begegnungs-
                                                      I NTERV IE W
 projekte. Anders als 2015 geht es diesmal nicht
 um Neuzugewanderte, sondern um eine Integra­
tionspolitik für die verstörten und verfeindeten      Die Demokratisie-
Einheimischen in einer teilweise vergifteten Zivil-
gesellschaft. Die potentiell zivilisierende Wirkung   rung der Demokratie
von Kontakt- und Dialoggelegenheiten, sei es beim
Essen, Singen oder im Sport, ist gut belegt.          Bürgerräte als Abbild
     Nicht zuletzt die zivilgesellschaftlichen Ele-
mente einer vielfältigen Demokratie – bürger-         der Bevölkerung
schaftliches Engagement, Protest und Initiativen,
Alltagsdemokratie in Familien, Kitas und Schulen
                                                      Fragen an Andreas Schäfer
– werden benötigt, um Ohnmachtserfahrungen
abzubauen und den demokratischen Wunsch von
vielen zu erfüllen, selbst etwas bewirken zu
­können.                                              In der letzten Zeit wird viel über die Krise der
     Zivilgesellschaftliche Initiativen können auch   repräsentativen Demokratie gesprochen:
 die Transparenz und Verantwortlichkeit repräsen-     von sinkendem Vertrauen der Bürger_innen in
 tativer Demokratie verbessern. Ressentiments         repräsentative Institutionen bis zur Politik­
 wird es immer geben, aber alltägliche und wirk-      verdrossenheit und sinkenden Wahlbeteiligung.
 same Beteiligung kann die Kluft zwischen der         Haben die Bürger_innen mehr Ansprüche als
 Bevölkerung und den Regierenden verringern.          ­früher? Oder haben sich die Fähigkeiten demo­
 Wenn dies nicht gelingt, werden die Aushöhlungs-      kratischer Institutionen, Partizipation zu fördern,
 prozesse repräsentativer Institutionen voran-         verschlechtert?
 schreiten. Das kreative Potential der Zivilgesell-    In einem gewissen Sinne gehört die wiederkehrende Kri-
 schaft und ihre Fähigkeit zur demokratischen          sendiagnose zur Demokratie dazu, weil sie auch Folge
 Selbstkorrektur dürfen nicht ungenutzt bleiben.       des anspruchsvollen demokratischen Versprechens der
 Denn die Qualität einer Zivilgesellschaft zeigt       gleichen politischen Teilhabe aller ist. Diesem Verspre-
 sich nicht zuletzt darin, dass ihre Akteur_innen      chen können politische Systeme letztlich nur in einem
 Verant­wortung für Entwicklungen übernehmen,          Prozess der fortwährenden Innovation gerecht werden.
 die sie selbst nicht verursacht haben.                Insofern müssen zunehmend kritische Bürger_innen, die
     Unnötig in einem sozialdemokratischen Kon-        demokratische Werte einfordern, noch kein existentiel-
text zu erwähnen: Eine starke Zivilgesellschaft        les Problem für die repräsentative Demokratie darstel-
braucht eine sozialpolitische Flankierung, um nicht    len. Ein schwerwiegendes Problem besteht aber, wenn
 durch eine Ungleichheitsdynamik beschädigt zu         Enttäuschung und mangelndes Vertrauen zu einer parti-
 werden, die sich durch die Pandemie noch ein-         zipativen Enthaltsamkeit und Abkehr von integrieren-
 mal beschleunigt hat.		                        •      den Organisationen und Institutionen führt – und insbe-
                                                       sondere, wenn dies sozial selektiv geschieht. Empirische
                                                       Untersuchungen zeigen, dass Mitglieder unterprivile-
                                                       gierter sozialer Schichten zwar tendenziell neue und
                                                       alternative Formen der Partizipation begrüßen, diese
                                                       aber tatsächlich weniger nutzen (können), während bes-
                                                       ser gestellte Bevölkerungsgruppen ihre Interessen und
                                                       Werte sowohl über traditionelle als auch alternative
                                                       Kanäle effektiver in den politischen Prozess einbringen.

                                                      Können die Bürgerräte als relativ neue Form der
                                                      Partizipation eine Antwort auf die Krise der reprä-
                                                      sentativen Demokratie sein?
Prof. Dr. Roland Roth hat zuletzt als                 Die Demokratisierung der Demokratie ist aus den eben
­Politik­wissenschaftler an der Hochschule            genannten Gründen eine politische Daueraufgabe.
 ­Magdeburg-Stendal gearbeitet.                       Demokratische Innovationen wie Bürgerräte können
  Er ist Mitglied der Steuerungsgruppe                hierzu einen konstruktiven Beitrag leisten, wenn sie
  des Arbeitskreises »Bürgergesellschaft              nicht nur als Placebo eingeführt werden, sondern tat-
  und Demokratie« in der FES.                         sächlich bestehende Strukturen verändern. Anders als

                                                            S CH W ER P U N K T | D E M O K R AT I E I N D ER K R I S E   15
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