Der Zufall, ein Prinzip? 6 - Die senile Bettflucht steckt im Blut 22 Schulhochburg Schweiz 26 Das Higgs-Boson ist entdeckt - was nun? 30 - SNF

 
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Der Zufall, ein Prinzip? 6 - Die senile Bettflucht steckt im Blut 22 Schulhochburg Schweiz 26 Das Higgs-Boson ist entdeckt - was nun? 30 - SNF
Das Schweizer
Forschungsmagazin
Nr. 95, Dezember 2012

horizonte

     Der Zufall, ein Prinzip?  6
     Die senile Bettflucht steckt im Blut   22

     Schulhochburg Schweiz   26

     Das Higgs-Boson ist entdeckt  –  was nun?   30
Der Zufall, ein Prinzip? 6 - Die senile Bettflucht steckt im Blut 22 Schulhochburg Schweiz 26 Das Higgs-Boson ist entdeckt - was nun? 30 - SNF
editorial

     Mehr feste Stellen
     an den Universitäten?

               E
                       in 26-jähriger Biologe hat an der Universität Basel

                                                                                           Rahel Nicole Eisenring
                       kürzlich eine Masterarbeit verfasst, in der er auf neue
                       Weise das durchschnittliche Ankunftsdatum der Zug-
                vögel im Frühjahr schätzt. Mit seinem statistischen Modell
                wird man auch zuverlässiger ausrechnen können, wie sich das

                                                                                           Steve Prezant/Corbis/Specter
                Erscheinen der ersten Frühjahrsblüten oder der ersten
                Schmetterlinge im Zuge des Klimawandels ändert. Der junge
                Mann hat das Potenzial, um als Doktorand und später als
                Postdoc an einer schweizerischen Universität in Forschung
                               und Lehre neue Wege zu gehen.
                                    Aber er will es nicht tun. Er hat dafür gute
                               Gründe: Er fand schnell eine feste Stelle in
                               einem der bekanntesten Schweizer Ökobüros.
                               Er hätte diese Stelle wahrscheinlich nicht mehr
                               bekommen, wenn er die Universität als hoch
                               spezialisierter Wissenschaftler im Alter von 45

                                                                                                                                                22
                               Jahren mangels Festanstellung verlassen hätte.
                               Tatsächlich gibt es an den schweizerischen
                Universitäten viele Postdocs und befristet angestellte Nach-
                wuchsforscher – und nur wenig feste Stellen.
                    Wie kann man bei dieser Ausgangslage eine Hochschul-
                                                                                           Johannes Kölla, école de village, Kunsthaus Zurich

                karriere für junge Talente attraktiver machen, so dass die
                Schweiz weniger auf den akademischen Zustrom aus dem
                Ausland angewiesen ist? Sechs junge Forschende haben dazu
                Vorschläge erarbeitet. Ihre wichtigste Forderung: Wir bräuch-
                ten deutlich mehr feste Stellen an den Universitäten. Der
                Präsident der Rektorenkonferenz der Schweizer Universitäten
                hingegen meint, die Gruppe vermittle ein antiquiertes Bild
                der Universitäten; er plädiert für mehr befristete Stellen.
                    Auf den Seiten 34 und 35 finden Sie die Argumente
                der Kontrahenten. Bald wird das Parlament über die Streit-
                frage befinden: Der Ständerat hat beschlossen, die Vorschläge
                der Initiativgruppe prüfen zu lassen. Eine Anhörung im
                Nationalrat ist bereits geplant.
                                                                                           Peter Ginter/Fermilab

                                                             Valentin Amrhein
                                                             Redaktion «Horizonte»

     2      schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012

                                                                                                                                                30
Der Zufall, ein Prinzip? 6 - Die senile Bettflucht steckt im Blut 22 Schulhochburg Schweiz 26 Das Higgs-Boson ist entdeckt - was nun? 30 - SNF
inhalt

      schwerpunkt zufall                                          4   im bild
                                                                      Die Ruinaulta – das Ergebnis
      6 Kopf oder Zahl?                                               eines gigantischen Bergsturzes
          Manche Wissenschaften möchten
          den Zufall ausschalten, andere setzen                   5   nachgefragt
          auf ihn, weil er die Vorhersagbarkeit                       Führen Pränataltests zu mehr
          durchkreuzt. Drei Streifzüge in die
                                                                      Abtreibungen, Frau Krones?
          Biologie, die Physik und die Philosophie.

6
                                                                16    konferenz
      biologie und medizin                                            Peer-Review-Verfahren
                                                                      verlaufen anonym. Ist das gut
     22 Die Launen der inneren Uhr                                    oder doch nicht?
          Im Morgengrauen aus den Federn?
          Die senile Bettflucht steckt uns im Blut.
                                                                18    porträt
     24 Giftiger Cocktail                                             Jacques Fellay, Mediziner
          Pilze bekämpfen sich mit chemischen                         und Latsis-Preisträger
          Waffen, die der Mensch nutzen könnte.

     25   Wenn Viren Parasiten helfen
                                                                20    vor ort
          Zur Kooperation gezwungen                                   Ein Kunsthistoriker spürt
          Hormonelle Geschlechterdifferenzen                          in Rom einem universell gebildeten
                                                                      Dominikanermönch nach.

      gesellschaft und kultur
                                                                38    cartoon
                                                                      Ruedi Widmer
     26 Schulhochburg Schweiz
          Überraschend: In der Schweiz besuchten
          um 1800 fast alle Kinder die Schule.                  39    snf und akademien direkt
                                                                      Gesellschaftsvertrag
     28 Das Ende der Segmentierung                                    für die Energiewende
          Die europäischen Staaten fusionieren
          ihre Wohlfahrtsregimes.                               40    im gespräch
     29   Flexibel mit dem Beethoven-Bogen                            Wir müssen die Gebrechlichkeit
          Eiweisshaltige Pflanzen statt Milchpulver                   besser verstehen, sagt die
          Theater in der Stadt                                        Präventivmedizinerin Brigitte
                                                                      Santos-Eggimann.
      technologie und natur
                                                                42    wie funktionierts?
     30 Drei Säulen für die Teilchenphysik                            Schnee aus der Kanone
          Das Higgs-Boson ist nachgewiesen –
          wie weiter mit der Physik?                            43    für sie entdeckt
                                                                      Wissenschaft ist Wahrheitsliebe –
     32 Lichtpunkte als Orientierungshilfe                            «The Insider»
          Wie GPS-Systeme in Innenräumen
          funktionieren könnten.

     33   Langsame Klimaabkühlung

26
          Ein Drucker für Nanostrukturen
          Mit Scherkraft gegen Arteriosklerose

      wissen und welt

     34 Tausend neue Assistenzprofessuren
          Muss die Schweiz die universitäre
          Hierarchie umbauen?

     36 Wider die Kraut- und Knollenfäule
          Was gentechnologisch veränderte
          Pflanzen den Bauern bieten könnten.

     37 Solarpanel statt Wiese?
          Die Energiewende wird die Landschaft
          stark verändern.

                          schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012    3
Der Zufall, ein Prinzip? 6 - Die senile Bettflucht steckt im Blut 22 Schulhochburg Schweiz 26 Das Higgs-Boson ist entdeckt - was nun? 30 - SNF
rubrik
im bild

        Präparierter Bergsturz
        Niemand weiss, wann genau es geschah, wie
        es aussah und ob überhaupt jemand das Ereig-
        nis beobachtete. Alles, was wir heute davon
        wahrnehmen, ist die Kerbe durch einen riesigen
        Schuttkegel, durch die sich der Vorderrhein
        schlängelt: die Ruinaulta. Vor etwa 9500 Jahren
        lösten sich oberhalb des Dorfs Flims um die
        zehn Kubikkilometer Kalksteinmasse und don-
        nerten in ein 1,5 Kilometer breites Tal hinunter,
        von dem nichts mehr übrig blieb. 500 Meter
        hoch stapelte sich das zerriebene Geröll, der
        Rhein staute sich zu einem See. Niemals wieder
        hat es in den Alpen einen solchen Bergsturz
        gegeben.
        Ein Forschungsprojekt der Hochschule der
        Künste Bern macht nun dieses gewaltige, nir-
        gends ausser von der Landschaft selbst fest-
        gehaltene Ereignis künstlerisch wahrnehmbar.
        «Präparat Bergsturz» nennen Florian Dombois,
        Priska Gisler, Schirin Kretschmann und Markus
        Schwander ihr Vorhaben. Das Bild, Kretsch-
        manns Arbeit «Faltung I», zeigt die Fotokopie
        eines gefalteten Kartenausschnitts der Berg-
        sturzgegend. Oben, oberhalb von Flims, ist der
        Crap Sogn Gion zu erkennen. Die Faltung der
        Karte steht für den Bergsturz, für die topo-
        grafische Veränderung der Landschaft. Der
        Kopiervorgang bringt die dreidimensionale
        Begebenheit in die Fläche und schafft so das
        Original eines Präparats, das die unsichtbare
        Bewegung nachvollziehbar macht.
        Martin Bieri
        Bild: Schirin Kretschmann

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Der Zufall, ein Prinzip? 6 - Die senile Bettflucht steckt im Blut 22 Schulhochburg Schweiz 26 Das Higgs-Boson ist entdeckt - was nun? 30 - SNF
nachgefragt

                                                                                                                                                    Renate Wernli
«Eltern nicht
                                                                                               die krankheitsverursachende Veranlagung
                                                                                               verschaffen können. Überdies: Pränatal-
                                                                                               diagnostik gibt es ja nun schon seit 40

alleinlassen»
                                                                                               Jahren, und man hat in Studien festgestellt,
                                                                                               dass die Toleranz Menschen mit Behinde-
                                                                                               rungen gegenüber nicht gesunken ist.
                                                                                               Welche Rolle spielt die Lebensqualität der
Die Zulassung eines neuartigen Pränataltests für Trisomie 21                                   Eltern?
sorgt für Kontroversen. Kein Grund zur Aufregung, findet die                                   Die Behinderung eines Kindes kann für
                                                                                               Eltern und Geschwister einen massiven
Medizinethikerin Tanja Krones.                                                                 Eingriff in die Lebensqualität bedeuten.
                                                                                               Deshalb muss es ein Recht der Eltern auf
Frau Krones, überblicksmässig: Wie viele        testet, die nicht vor dem 18. Lebensjahr       Wissen geben – auch das muss der Gesetz-
pränatale Gentests, mit denen sich eine         manifest werden, zwingt man diesem             geber respektieren.
schwere Behinderung des Kinds nachweisen        Menschen ein Wissen auf, das er unter          Ein Recht oder eher eine Pflicht auf Wissen?
lässt, sind in der Schweiz auf dem Markt?       Umständen gar nicht hätte haben wollen.        Werdende Eltern dürften unter Druck geraten,
Der Pränataltest für die Erkennung von          In Deutschland sind solche Tests ganz          immer besser informierte Entscheidungen zu
Trisomie 21 ist zurzeit der einzige derar-      verboten, in der Schweiz ist die Formulie-     treffen – zumal über das Internet viele Ange-
tige Test für Chromosomfehlverteilungen,        rung unschärfer.                               bote im juristischen Graubereich zugänglich
für den mütterliches Blut genügt. Darüber                                                      sein werden. Wie ist damit umzugehen?
hinaus gibt es weitere, allerdings nur          «Es ist selten, dass ein                       Generelle Verbote solcher Tests sind wohl
selten benutzte Tests, die in Fruchtwasser-                                                    kaum praktikabel. Viel wichtiger muss
oder Mutterkuchenzellen vererbbare, von
                                                Gentest eine Abtreibung                        es sein, für ärztliche Begleitung zu sorgen,
einem Gendefekt verursachte Erkrankun-          zur Folge hat.»                                damit die Eltern mit den Erkenntnissen
gen aufspüren können.                                                                          und Unwägbarkeiten der Tests nicht
Prinzipiell kann man das Genprofil des un-      Das heisst, der Spielraum für weitere Test-    alleingelassen werden. Sie müssen ge-
geborenen Kindes auf ganz verschiedene          angebote ist gross, die Palette wird sich      meinsam herausfinden können, was denn
Kriterien hin abtasten. Welche Tests sind aus   verbreitern. Die Befürchtung: Es wird zu       eigentlich relevantes Wissen ist. Leider
ethischer Sicht fragwürdig?                     mehr Abtreibungen kommen.                      scheint gerade diese beratende, intensive
Grundsätzlich muss man unterscheiden            Nein, das dürfte nicht der Fall sein. Es ist   Gespräche umfassende Medizin heute
zwischen Krankheiten und Eigenschaften.         selten, dass ein Gentest eine Abtreibung       immer weniger finanzierbar zu sein –
Es gibt einen breiten gesellschaftlichen        zur Folge hat – bei vielen betroffenen         da liegt meines Erachtens das grösste
Konsens, dass Tests, mit denen sich bei-        Embryos kommt es schon vorher zu einer         Problem. Interview Roland Fischer
spielsweise das Geschlecht oder die             spontanen Fehlgeburt. Und manche
Augenfarbe bestimmen lassen, fragwürdig         Kinder werden gerade geboren, weil es
sind. Eine zweite Grenze betont das Recht       diese Tests gibt, und zwar in Familien mit     Tanja Krones ist leitende Ärztin für klinische Ethik
                                                                                               am Universitätsspital Zürich. Sie hat Medizin,
des Kindes, selber zu entscheiden, ob es        genetischem Risiko, die sich eher Rich-        Soziologie, Psychologie und Politologie studiert und
                                                                                               beschäftigt sich speziell mit ethischen Aspekten
über ein Krankheitswissen verfügen will         tung Schwangerschaftsabbruch entschei-
                                                                                               von Pränataldiagnostik, Reproduktionsmedizin und
oder nicht. Wenn man auf Krankheiten            den, wenn sie sich keine Klarheit über         evidenzbasierter Medizin.

                                                         schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012           5
Der Zufall, ein Prinzip? 6 - Die senile Bettflucht steckt im Blut 22 Schulhochburg Schweiz 26 Das Higgs-Boson ist entdeckt - was nun? 30 - SNF
schwerpunkt zufall

   Kopf oder Zahl?
    Die Wissenschaften und der Zufall – ein schillerndes Verhältnis.
    Er hat bei mancher Entdeckung die Hand im Spiel. Einige Wissenschaften
    möchten ihn ausschalten, weil er die Berechenbarkeit stört, andere
    setzen auf ihn, weil er just die Vorhersagbarkeit durchkreuzt. –
    Drei Streifzüge in die Biologie, die Physik und die Philosophie.
    Illustrationen von Rahel Nicole Eisenring

    6     schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012
Der Zufall, ein Prinzip? 6 - Die senile Bettflucht steckt im Blut 22 Schulhochburg Schweiz 26 Das Higgs-Boson ist entdeckt - was nun? 30 - SNF
schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012   7
Der Zufall, ein Prinzip? 6 - Die senile Bettflucht steckt im Blut 22 Schulhochburg Schweiz 26 Das Higgs-Boson ist entdeckt - was nun? 30 - SNF
schwerpunkt zufall

    Der Zufall weicht
    der Notwendigkeit
    Wieso verhalten sich genetisch identische Zellen nicht immer
    gleich? Zufälliges Rauschen, lautete die Antwort vor zehn Jahren.
    Heute sagt die Forschung: Ein grosser Teil dieser Zufälligkeit
    lässt sich erklären. Von Ori Schipper

    E
          s grenzt an ein Wunder, wie viele        des leuchtenden Eiweisses mehr als von
          aufeinander abgestimmte Vorgänge         der anderen. Die unerwartete Farben-
          sich in einer Zelle gleichzeitig         pracht der Darmbakterien führten Elowitz
    abspielen. An der Zellmembran hieven           und Kollegen auf «noise» zurück, auf
    beispielsweise Eiweisse Zucker oder            den Lärm oder das Rauschen der moleku-
    andere energiereiche Moleküle an Bord,         laren Maschinerie, auf stochastische, also
    die andernorts in der Zelle biochemisch        zufällige Prozesse, die manchmal in die
    zersetzt werden. Die dabei freiwerdende        Herstellung eines Eiweisses münden,
    Energie führt die Zelle dem Aufbau von         andere Male jedoch nicht. «Das intrinsi-
    Zellbestandteilen oder dem Kopier-             sche Rauschen stellt eine grundlegende
    vorgang des Erbguts zu.                        Grenze dafür dar, wie präzis Gene reguliert
        Und doch weisen diese molekularen          werden können», hielten die Forschenden
    Prozesse eine erstaunlich grosse Un-           in ihrem Artikel fest.
    schärfe auf, wie ein vor zehn Jahren in der         Doch könnte es sein, dass dieses Rau-
    Zeitschrift «Science» erschienener Beitrag     schen zwar wegen einer fehlerhaften
    gezeigt und damit in der Fachwelt für          Maschinerie zustande kommt, dass es aber
    Furore gesorgt hat. Mit gentechnischen         gleichzeitig eine biologische Funktion
    Methoden haben Forschende um Michael           erfüllt? Dass sich die stochastischen Pro-
    Elowitz von der Rockefeller-Universität in     zesse nicht sinnlos abspielen, sondern
    New York Darmbakterien mit zwei ver-           dass der Zufall einem höheren Zweck
    schiedenen Farbversionen eines leuchten-       dient? Dies ist die Leitfrage, welcher das
    den Eiweisses versehen, das von einer
    Qualle im pazifischen Ozean stammt.
                                                     Die Prinzipien der Evolution
    Unerwartete Farbenpracht                         Vielleicht liegt die Eleganz von Charles Dar-
    Einzeln fluoreszieren die Eiweisse je nach       wins Evolutionstheorie darin, dass sie nicht
    Version grün oder rot, zusammen jedoch           nur die gemeinsame Abstammung aller
    leuchten sie gelb. Für ihren Versuch haben       Lebensformen schlüssig erklärt, sondern
                                                     auch zwei auf den ersten Blick unvereinbare
    die Forschenden die Gene für beide Farb-
                                                     Prinzipien miteinander vereinigt: Zufall und
    versionen – grün und rot – der Kontrolle
                                                     Notwendigkeit bilden zusammen die Rah-
    der identischen genetischen Sequenz              menbedingungen, denen die Entwicklung
    zugewiesen. Ihre Hypothese: Wenn die             des Lebens unterworfen ist. Da sind einer-
    Zellmaschinerie die Kontrollsequenz              seits die Veränderungen des Erbguts, die zu-
    fehlerlos erkennen und ausführen würde,          fällig entstehen und sich etwa aufgrund von
    sollten die beiden Gene die gleiche Aktivi-      unvorhersehbaren Kopierfehlern ergeben.
                                                     Andererseits sorgt die natürliche Selektion
    tät aufweisen und gemeinsam für gelb
                                                     als notwendiges Prinzip dafür, dass sich in
    leuchtende Bakterien sorgen. Doch das
                                                     dieser durch Zufall entstandenen Vielfalt im
    war nur bei etwa 60 Prozent aller Zellen         Laufe der Zeit nur diejenigen Varianten
    der Fall. Die anderen 40 Prozent der             durchsetzen, die ihren Trägern eine bessere
    Bakterien leuchteten grün oder rot und           Anpassung an ihre Umwelt erlauben.
    produzierten also von einer Farbversion

    8     schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012
Der Zufall, ein Prinzip? 6 - Die senile Bettflucht steckt im Blut 22 Schulhochburg Schweiz 26 Das Higgs-Boson ist entdeckt - was nun? 30 - SNF
Team um Martin Ackermann von der ETH
                                     Zürich und der Eawag nachgeht. Dabei
                                     weisen sie dem Zufall eine komplexere
                                     Rolle zu, als Darwin dies für seine Evolu-
                                     tionslehre getan hat (siehe Kasten).

                                     Wenig Entfaltungsraum
                                    Bei Letzterer geht es um ein additives
                                    Zusammenwirken von zufälligen Muta-
                                    tionen und natürlicher Selektion – darum,
                                    dass der Zufall als Vater der Vielfalt
                                    wirkt, die aufgrund der Notwendigkeit,
                                    in der natürlichen Selektion zu bestehen,
                                    immer wieder zusammenschrumpft. In
                                    Ackermanns Gedankenwelt jedoch durch-
                                    weben und durchmengen sich die beiden
                                    ungleichen Prinzipien: «Wir haben Hin-
                                    weise gefunden, dass die natürliche Selek-
                                    tion das Ausmass der Vielfalt formt», sagt
                                    Ackermann. Der Zufall wirkt also nicht in
                                    jeder Situation gleich stark. In gewissen
                                    Bereichen lässt die Selektion dem Zufall
                                    nur wenig Entfaltungsraum, in anderen
                                    hingegen bedient sie sich seiner und der
                                    durch ihn resultierenden Vielfalt.
                                        Zusammen mit einer Forschungs-
                                    gruppe aus Israel hat Ackermanns Team
                                    bei über 1500 verschiedenen Genen des
                                    Darmbakteriums Escherichia coli unter-
                                    sucht, wie viel Rauschen die jeweilige
                                    genetische Kontrollsequenz zulässt. Bei
                                    vielen so genannten essentiellen Genen,
                                    ohne die das Bakterium nicht leben kann,
                                    war das Rauschen nur minimal. Als viel
                                    störanfälliger erwies sich die Regulation
                                    der Gene, die etwa bei Anpassungen an
                                    Umweltveränderungen – bei Bakterien-
                                    stress – zum Einsatz kommen. Aus Sicht
                                    der Bakterien sei dies sinnvoll, sagt
                                    Ackermann. Denn Bakterien wachsen in
                                    Kolonien. Diese profitieren von einer
                                    Art Arbeitsteilung: Optimal wächst eine
                                    Kolonie, wenn die meisten Zellen ihre
                                    Energie ins Wachstum investieren, einige
                                    Zellen jedoch im vegetativen Zustand ver-
                                    harren, in dem sie zwar nur beschränkt
                                    wachsen und sich vermehren, dafür aber
                                    ungünstigen Perioden eher widerstehen
                                    können. Ohne solche Wächterzellen
                                    würde die Kolonie in guten Zeiten zwar
                                    etwas schneller wachsen, in schlechten
                                    Zeiten riskiert sie aber, auf einen Schlag
                                    ausgelöscht zu werden, wenn etwa keine

schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012   9
Der Zufall, ein Prinzip? 6 - Die senile Bettflucht steckt im Blut 22 Schulhochburg Schweiz 26 Das Higgs-Boson ist entdeckt - was nun? 30 - SNF
schwerpunkt zufall

    der Schwesterzellen rechtzeitig auf eine       Gruppe untersucht dieses Phänomen, von        Zum Stichwort Individualität von Zellen
    Temperaturschwankung reagiert.                 stickstoffbindenden Bakterien in Schwei-      fällt Lucas Pelkmans vieles ein. Mit seinem
        Weil die Bakterienkolonien aus ge-         zer Seen bis hin zu bösartigen Durchfall-     Team von der Universität Zürich unter-
    netisch identischen und zudem der glei-        erregern: Bei den Salmonellen opfert sich     sucht der Systembiologe menschliche
    chen Umgebung ausgesetzten Zellen              eine Minderheit, indem sie unsere Darm-       Zellhaufen. Je nachdem, wo sich eine
    bestehen, müssten sie sich gleich ver-         zellen befällt. Damit lösen die selbstlosen   einzelne dieser – auch hier: genetisch
    halten. Doch dem ist nicht so. «Diese          Altruisten unter den Salmonellen eine         identischen, aber im Verhalten unter-
    Schulbuchmeinung ist überholt», sagt           Abwehrreaktion aus, die der Mehrheit          schiedlichen – Zellen befindet, eher in der
    Ackermann. Für die Bakterien zahlt sich        ihrer genetisch identischen Schwester-        Mitte oder nah am Rand des Haufens, ist
    die starke Vereinheitlichung der Regula-       zellen zugute kommt.                          sie bestimmten Viren gegenüber anfälliger
    tion ihrer Stressgene also nicht aus. Im            Dieser Fokus auf einzelne Zellen         oder widerstandsfähiger.
    Gegenteil, je mehr sie hier dem Zufall         erlaube in der Umweltmikrobiologie einen           «Wer das durchschnittliche Verhalten
    überlassen, desto grösser wird die Vielfalt    neuen Blick auf bekannte Felder wie etwa      von Millionen von Zellen kennt, weiss
    an Stressresistenz unter den Schwester-        die Abwasserreinigung, sagt Ackermann:        nicht viel über das Verhalten einer einzel-
    zellen und desto eher teilen sie sich die      «Mit unserer Einzelzellforschung in kom-      nen Zelle», sagt Pelkmans. Man müsse
    Arbeit. Mögliche Beispiele dafür, dass         plexen Systemen untersuchen wir, wer          realisieren, dass neue Selektionskriterien
    «Bakterien eine molekulare Münze wer-          was macht, und zeigen die Relevanz der        entstünden, wenn ein Haufen identischer
    fen», kennt Ackermann viele. Seine             Individualität auf.»                          Zellen eine Kolonie bilde. Für den Zell-
                                                                                                 haufen lohne sich eine Arbeitsteilung,
                                                                                                 die mit einer zusätzlichen Regulations-
                                                                                                 stufe des Wachstums der einzelnen Zellen
                                                                                                 einhergehe. In diesem Zusammenhang
                                                                                                 relevant ist eine neue, von Pelkmans ent-
                                                                                                 deckte Grösse: der Zellpopulationskontext.
                                                                                                      Mit ihm lässt sich nicht nur probabi-
                                                                                                 listisch deuten, welche Zellen von einem
                                                                                                 Virus befallen werden, sondern auch das
                                                                                                 Verhalten einzelner Krebszellen erklären.
                                                                                                 Dass die Krebsmedikamente gegen viele
                                                                                                 Zellen gut, gegen einige aber kaum wirken,
                                                                                                 daran ist auch der Zellpopulationskontext
                                                                                                 schuld. In der Wissenschaft gehe es nun
                                                                                                 darum, seine regulatorischen Mechanis-
                                                                                                 men aufzudecken. Damit gelinge es ihr
                                                                                                 eventuell, der Krebsbekämpfung neue
                                                                                                 Angriffsstellen aufzuzeigen, sagt Pelk-
                                                                                                 mans.

                                                                                                 Erklärbare Muster
                                                                                                 Über diese nützlichen Aspekte hinaus
                                                                                                 trägt der Zellpopulationskontext auch
                                                                                                 zu einer Verschiebung der Bedeutung
                                                                                                 des Zufalls bei: Dass sich die einzelnen
                                                                                                 genetisch identischen Schwesterzellen
                                                                                                 unterschiedlich verhalten, habe vielleicht
                                                                                                 weniger mit zufälligem Rauschen als viel-
                                                                                                 mehr mit erklärbaren, zusätzlich regulier-
                                                                                                 ten Mustern zu tun, sagt Pelkmans. Weil
                                                                                                 es ihm auf seiner Suche nach einem bes-
                                                                                                 seren Verständnis der Komplexität gelingt,
                                                                                                 einen noch unerklärten Teil des zufälligen
                                                                                                 Rauschens zu erklären, weicht in der Bio-
                                                                                                 logie der Zufall der Notwendigkeit.

    10    schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012
Die Seinsverbundenheit                                  Geschmolzene Schokolade
des Wissens                                              1945 hielt sich ein Ingenieur im Bereich einer Radaranlage auf. Kurz darauf
Wie kommt es, dass ein Mensch etwas Neues                bemerkte er, dass der Schokoladeriegel in seiner Tasche geschmolzen war.
herausfindet? Die Antwort des Alltagsverstands:          Aus dieser zufälligen Begegnung von Kakao und elektromagnetischer
Weil er besonders klug, vielleicht sogar, weil er ein    Strahlung wurde der Mikrowellenherd geboren, eine von zahlreichen
«Genie» ist. Die Wissenssoziologie, auf der die          Erfindungen, die dem Zufall zu verdanken sind. Aber beschränkte sich der
neuere Wissenschaftsforschung und die Epistemo-          Zufall nicht auf das Zusammentreffen von Schokolode und Mikrowellen-
logie gründen, entzauberte diese idealisierende und      strahl? Die Geschichte wäre nämlich hier zu Ende gewesen, wenn nicht ein
individualisierende Vorstellung von der Entstehung       neugieriger Ingenieur nach einer Erklärung für das beobachtete Phänomen
neuen Wissens schon Anfang des letzten Jahrhun-          gesucht und seine Erkenntnisse danach für eine Erfindung genutzt hätte.
derts. Der Philosoph Karl Mannheim sprach von            Die Wissenschaft beruht auf Beobachtungen und Fragen, aus dem Versuch,
der «sozialen Seinsverbundenheit des Wissens».           diese zu begreifen und zu beantworten – und auf einem Hauch Zufall. pm
Ohne wie der Marxismus die Determiniertheit der
Ideenwelt durch die Ökonomie zu postulieren, wies
er die gesellschaftliche Bedingtheit des Geistigen
nach; es kommt darauf an, welcher Klasse der
                                                        Die Kunst der guten Wissenschaft
Gelehrte angehört und unter welchen Bedingungen          Jede wissenschaftliche Entdeckung ist – mindestens ein Stück weit – dem
er arbeitet. Der Immunologe Ludwik Fleck hob das         Zufall geschuldet. Das liegt in der Natur der Sache: Weil es in der Wissen-
«soziale Moment der Entstehung der Erkenntnis»           schaft darum geht, die Grenze zum Nicht-Wissen zu überschreiten und das
hervor; Erkenntnis geschieht überindividuell,            Territorium dahinter zu erkunden. Die kluge Forscherin und der schlaue
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind            Forscher tun zwar gut daran, ihren Vorstoss ins Unbekannte, den wissen-
immer Teil eines «Denkkollektivs» und eines              schaftlichen Versuch, so durchzuführen, dass er eindeutige Resultate liefert.
«Denkstils». Pointiert formuliert: Der Wissenschaft-     Doch auf was sie dabei zufällig stossen, ist weder plan- noch vorhersehbar.
ler findet etwas Neues nicht allein heraus, sondern      Oft ist es Erwartetes, das die im Voraus gemachten Vermutungen und
nur im Verbund mit anderen, die ihm zu entdecken         Hypothesen erhärtet. Seltener ist es Unerwartetes, das bisherige Über-
erlauben, was er entdeckt hat. Eine grosse Rolle         zeugungen ins Wanken bringt. In der Geisteshaltung, die das Unerwartete
spielt da der Zufall nicht. uha                          zulässt und wahrnimmt, liegt die Kunst der guten Wissenschaft. ori

                                                        schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012   11
schwerpunkt zufall

                                                                                                  geschehen ist, darf auf dieses hindeuten.»
                                                                                                  Das Geheimnis dieses besonderen Zufalls
                                                                                                  liegt in den Tiefen der Quantenphysik.
                                                                                                  Quantenphysikalisch ist es unmöglich, das
                                                                                                  Ergebnis bestimmter Messungen genau
                                                                                                  vorherzusehen. Bei der Erzeugung eines
                                                                                                  Photons lässt nichts darauf schliessen, ob
                                                                                                  es eine horizontale oder eine vertikale
                                                                                                  Polarisation aufweisen wird. Nach der
                                                                                                  Quantentheorie befindet sich ein Photon
                                                                                                  gleichzeitig in allen seinen möglichen
                                                                                                  Zuständen. Erst im Moment der Messung
                                                                                                  wird dieser Parameter in eine bestimmte
                                                                                                  Richtung festgelegt, und zwar für den
                                                                                                  Beobachter vollkommen unvorhersehbar.
                                                                                                  Diese Eigenschaft kann für die Erzeugung
                                                                                                  zufälliger Zahlen genutzt werden. Dazu
                                                                                                  werden die Photonen durch einen teil-
                                                                                                  durchlässigen Spiegel gesendet, der bei-
                                                                                                  spielsweise nur Photonen mit horizontaler
                                                                                                  Polarisation durchlässt und die anderen
                                                                                                  zurückwirft. Mit Hilfe eines Geräts, das
                                                                                                  die einzelnen Photonen nachweist, kann
                                                                                                  nun den durchtretenden Photonen der
                                                                                                  Wert 0, den anderen der Wert 1 zugeord-
                                                                                                  net werden. Die Abfolge dieser «Bits» ist
                                                                                                  perfekt zufällig.

                                                                                                  Die Flugbahn der Münze
                                                                                                  Wie unterscheidet sich nun dieser «echte
                                                                                                  Zufall» von einem Zufall in der Art des
                                                                                                  Münzwurfs, wenn doch bei beiden ein
                                                                                                  Ereignis mit der Wahrscheinlichkeit von
                                                                                                  0,5 eintritt? «Bei einem Münzwurf ist

    Im Dienst der
                                                                                                  es zwar aufgrund der Komplexität der
                                                                                                  beteiligten Mikrophänomene in der Praxis
                                                                                                  ebenfalls nicht möglich, das Ergebnis

    totalen Sicherheit
                                                                                                  vorherzusehen», gibt Nicolas Gisin zu.
                                                                                                  «Die Unvorhersehbarkeit ist jedoch nicht
                                                                                                  intrinsisch, sondern nur die Folge zahl-
                                                                                                  reicher kleiner, sich gegenseitig beein-
    Die Quantenphysik kann mit Elementarteilchen den reinen Zufall                                flussender Vorgänge, die zum betreffenden
    erzeugen. Dies schafft die Voraussetzungen für sichere Kommunika-                             Ergebnis führen. Wenn die Flugbahn der
                                                                                                  Münze mit ausreichender Aufmerksam-
    tionssysteme und Online-Casinos. Von Anton Vos                                                keit beobachtet und mit genügend genauen
                                                                                                  Berechnungen erfasst werden könnte,

    E
          s gibt ihn doch, den echten Zufall.      gung ist jedenfalls Nicolas Gisin, Professor   liesse sich vorhersehen, welche Seite am
          Und nicht nur das: Er lässt sich auch    und Leiter der Gruppe für angewandte           Ende nach oben zu liegen kommt.»
          nutzen, beispielsweise für Kommu-        Physik der Universität Genf.                        Um den Unterschied zwischen dem
    nikationseinrichtungen, Online-Casinos             «Ein Ereignis trifft zufällig ein, wenn    Münzwurf und der rein zufälligen Polari-
    oder Geheimcodes von Bankkarten, die so        es nicht vorhergesehen wird», sagt der         sierung eines Photons festzustellen, ver-
    sicher sind, wie man es sich nur vorstellen    Genfer Physiker. «Alles steht und fällt        fügen die Forschenden über ein Werkzeug,
    kann. Quelle dieses Zufalls ist die Quan-      jedoch mit der Frage: Nicht vorhergesehen      das nach einem Theorem des irischen
    tenphysik. Es geht um so winzige Objekte       von wem? Der echte Zufall ist absolut          Physikers John Bell in den 1960er Jahren
    wie Elementarteilchen, die aber noch           unvorhersehbar. Nichts, was in der Ver-        entwickelt wurde. Es handelt sich dabei
    Grosses leisten werden. Dieser Überzeu-        gangenheit des zufälligen Ereignisses          um eine Gleichung (oder eigentlich Un-

    12    schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012
Photonen auszuspionieren, diese stört und
                                                                                              sofort bemerkt wird.
                                                                                                  Inzwischen werden Zufallszahlen-
                                                                                              generatoren von ID Quantique auch in
                                                                                              anderen Bereichen eingesetzt, so zum
                                                                                              Beispiel in Online-Casino-Spielen (wie
                                                                                              Poker) und für Bankkarten-Codes. «Heute
                                                                                              werden diese ‹Zufallszahlen› noch von
                                                                                              Computern erzeugt», erklärt Nicolas Gisin.
                                                                                              «Auch wenn es sehr schwierig ist, die
                                                                                              Zahlen zu erraten, sind sie nur scheinbar
                                                                                              zufällig: Sie werden durch Algorithmen
gleichung), der alle Ereignisse gehorchen,     zwar unabhängig von der Distanz, die           berechnet, was problematisch sein kann.
die sich auf einen deterministischen           zwischen den beiden liegt – als ob die         Eine im Unternehmen arbeitende Person
Vorgang zurückführen lassen, die aber          Informationsübertragung die Lichtge-           könnte den Programmcode böswillig
verletzt wird, wenn echter Zufall im           schwindigkeit überträfe. In Wirklichkeit       benutzen, um die ausgehenden Zahlen
Spiel ist.                                     wird jedoch keine Information übertragen.      vorherzusehen – und damit die nächsten
     Erst 1983 heckte der französische         Die beiden Photonen sind für die Quan-         Bankkarten-Codes oder die Hand des
Physiker Alain Aspect eine experimentelle      tenphysik ein einziges Objekt, das sich        Poker-Gegners.» Die Quantenmechanik
Anordnung aus, mit der gezeigt werden          gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten       könnte hier für Ordnung sorgen.
kann, dass echter Zufall in dieser Welt eine   des Raums materialisiert. Diese in der
Realität ist. Es gelang ihm, Photonenpaare     klassischen Welt unvorstellbare Eigen-         Nur auf dem Bildschirm perfekt
zu erzeugen, welche die Bellsche Un-           schaft konnte Alain Aspect nachweisen.         Auch der computergestützte Entwurf von
gleichung verletzen – eine Meisterleistung,         Seither wurden zahlreiche Experi-         Maschinen wie beispielsweise Flugzeug-
die selbst Albert Einstein für unmöglich       mente zu diesem Thema durchgeführt,            prototypen könnte vom wahren Zufall
gehalten hätte, weil er ja überzeugt war,      insbesondere auch im Genfer Labor, aus         profitieren. Simulationen von schnell
dass Gott nicht würfle. Denn das Problem       dem das Startup ID Quantique hervorging.       wechselnden Flugbedingungen basieren
mit dem echten Zufall ist, dass er untrenn-    Dieses Unternehmen vertreibt ein Quan-         ebenfalls auf «pseudo-zufälligen» Zahlen.
bar mit dem Begriff der Nichtlokalität         tenverschlüsselungssystem, das die Eigen-      Dabei ist es schon vorgekommen, dass
verknüpft ist.                                 schaften verschränkter Photonen nutzt.         sich ein Prototyp perfekt in der Luft
                                               Das System ermöglicht eine geschützte          hielt, solange er nur auf dem Bildschirm
Ein Objekt an zwei Orten                       elektronische Kommunikation zwischen           existierte, nach der Konstruktion in
Bei diesem der Intuition widersprechen-        zwei Schreibenden, indem Schlüssel             der Wirklichkeit jedoch schlecht flog. Bei
den Phänomen können zwei Photonen              erzeugt werden, die nicht nur perfekt          der Simulation hatte der echte Zufall
«verschränkt» sein: Eine Manipulation des      zufällig (und damit auch für einen Hacker      gefehlt.
ersten Photons (zum Beispiel die Messung       mit der besten Rechenleistung unknack-
                                                                                              Nicolas Gisin: L’impensable hasard. Non localité,
seiner Polarität) hat einen unmittelbaren      bar), sondern auch abhörsicher sind, da
                                                                                              téléportation et autres merveilles quantiques.
Einfluss auf den Zustand des zweiten, und      der subtilste Versuch, die ausgetauschten      Editions Odile Jacob, Paris 2012.

                                                        schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012      13
schwerpunkt zufall

    Im Bann der DNA
    Der Determinismus lebt – nicht nur in der Biologie, sondern auch                              den «guten Genen», denen man diese und
                                                                                                  jene Eigenschaften zu verdanken habe,
    in den Sozialwissenschaften. Von dort diffundiert die Rede von den
                                                                                                  oder der «DNA eines Volkes», dem der
    bestimmenden Genen in das Alltagswissen. Von Urs Hafner                                       Hang zum Müssiggang eingeschrieben sei,
                                                                                                  ist heute Allgemeingut.

    D
           ie Vorstellung, dass ihr Leben mehr     zeichnen; eine Schlüsselrolle spielt dabei
           als von allem anderen vom Zufall        die soziale Herkunft. Zwar liefern die Kul-    Befreiungsbiologie
           bestimmt sein könnte, hat für die       turwissenschaften Erklärungen für ver-         Der genetische Determinismus schliesst
    meisten Menschen etwas Beunruhigendes.         meintliche Zufälle – so ist es eben kein       nicht nur den Zufall, sondern auch die
    Die Partnerwahl, das Berufspech, die           Zufall, dass die Universitätsassistentin       menschliche Freiheit aus. Diesen Determi-
    Krebserkrankung – da muss doch mehr            und Mutter nicht Professorin wird oder         nismus kritisiert Alex Gamma von der
    dahinterstecken als nur eine Laune des         dass das Migrantenkind nicht an die            ETH Zürich. Indem der Biologe und
    Schicksals? Das wohl bekannteste System,       Universität geht; und wenn es trotz der        Philosoph nachweist, dass der Gen-Deter-
    das bei der Kontingenzbewältigung hilft,       Hindernisse, die ihm in den Weg gelegt         minismus auf einer Biologie beruht, die
    ist die Religion. Nur schon mit dem            werden – und sei es von Eltern, für die eine   von reduktionistischen, unwissenschaft-
    Versprechen, dass das Leben nach dem           Universität nichts für Ausländer ist –, sich   lichen Prämissen ausgeht, möchte er die
    Tod weitergehe, zerstreut sie den kränken-     nicht vom Universitätsbesuch abhalten          Menschen dazu bringen, ihre Handlungs-
    den Gedanken, die eigene Existenz sei          lässt, ist dies erst recht kein Zufall; der    freiheit zurückzugewinnen – dass sie
    zufällig oder gar sinnlos. Für die glückli-    Kulturwissenschaftler wird die Gründe          wieder eine Sprache sprechen, in der sie
    chen und weniger glücklichen Fügungen          finden, die dazu geführt haben, dass dieses    Subjekte sind; dass sie sich nicht länger
    verweist sie auf das tugend- oder sünd-        Individuum die Hürden hat nehmen               durch Natur und Biologie bestimmt fühlen;
    hafte Handeln des Betroffenen oder – in        können.                                        dass sie nicht glauben, sie handelten stets
    ihren abstrakten Ausprägungen – auf den             Doch die Kulturwissenschaften schlies-    eigennützig, wie die Soziobiologie sugge-
    unergründlichen Beschluss eines fernen         sen den Zufall nicht kategorisch aus, wie      riert, oder sie suchten, weil sie eine Frau
    Gottes.                                        dies etwa fundamentalistische Glaubens-        seien, einen wohlhabend-potenten Mann,
                                                   lehren oder deterministische Wissen-           wie die popularisierte Evolutionspsycho-
    Marx und Weber                                 schaften tun. Obschon Letzteres wie ein        logie postuliert. Alex Gammas Forschungs-
    Auch die Kulturwissenschaften haben            Selbstwiderspruch anmutet, gibt es sie tat-    projekt «Befreiungsbiologie» will die
    Antworten auf die Frage parat, warum ein       sächlich: Sie haben sich auf dem weiten        Menschen von den Fesseln einer reduk-
    Lebensweg so und nicht anders verläuft         Feld der Genetik, der Evolutionstheorie        tionistischen Biologie befreien.
    und weshalb diese Person Herrschaft aus-       und der Hirnforschung gebildet und                  Die stärkste Stütze für das omniprä-
    üben darf und jene gehorchen muss. Mit         sind von dort in manche Sozialwissen-          sente gen-deterministische Denken und
    dem Habituskonzept des Soziologen Pierre       schaften – in den neuen Komplex der            Sprechen sieht Gamma in der «Informati-
    Bourdieu beispielsweise, der auf Max           «social neurosciences», in die Neuro-          onsmetapher», die seit 1950 zu einer domi-
    Webers und Karl Marx’ Sozialtheorien           ökonomie, die Neuropsychologie, die schon      nanten Sprachform in Wissenschaft und
    aufbaut, lassen sich biografische Stationen    etwas ältere Soziobiologie – und ins           Medien aufgestiegen sei. «Die Metapher
    und Wendungen einleuchtend nach-               Alltagswissen diffundiert. Die Rede von        beschreibt im Gen-Determinismus das

    14    schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012
Wirken von Genen als Informieren, Inst-        im Hirn des Menschen, der eine Hand-           forscher unterstellten, dass es keine
ruieren, Spezifizieren und Programmieren       lung selbstständig eingeleitet zu haben        Determinanten des Handelns gebe. Kein
– obschon es keinerlei Evidenz für eine        vermeine, der Entscheid bereits Sekun-         Entscheid sei undeterminiert. Jeder
solche kausale Privilegierung der Gene         denbruchteile zuvor chemisch ausgelöst         Mensch sei mit biologischen, sozialen und
gibt», sagt Gamma. Die Molekularbiologie       worden sei.                                    rechtlichen Einschränkungen konfrontiert
habe den Informationsbegriff enthusias-                                                       – doch dagegen könne er angehen, und
tisch, aber völlig unbesehen in ihr Pro-       Unbewusster Entscheid                          zwar gerade im Wissen darum, dass die
gramm aufgenommen und zum zentralen            «Die Experimentatoren haben nicht in           Einschränkungen vorhanden seien. Nur
Bestandteil ihres von Nobelpreisträger         Betracht gezogen, dass ein Handlungs-          wenn er diese kenne, könne er die Lücken
Francis Crick aufgestellten «zentralen         entscheid unbewusst ausgelöst werden           dazwischen sehen und entsprechend
Dogmas» gemacht, wie dieser formuliert         kann», sagt Michael Hampe, Professor für       handeln.
habe. Einen ähnlichen Status wie in der        Philosophie an der ETH Zürich, der das
Ontogenese hätten die Gene in der Evolu-       Forschungsprojekt «Befreiungsbiologie»         Hirsche mit grossem Geweih
tionsbiologie inne. Hier seien sie meist die   leitet und in seinem scharfsinnigen Essay      Einen Grund für die Anziehungskraft des
einzigen Kausalfaktoren, die als erblich       zur «Macht des Zufalls» (2006) zum             Gen-Determinismus sieht Michael Hampe
angesehen würden. «Evolution ist noch          Schluss kommt, dass der Zufall immer           im forcierten Wettbewerb um Fördermittel.
immer weitgehend genetische Evolution»,        bedeutsamer werde, je mehr der Mensch          Weil die Wissenschaften vermehrt Wer-
sagt Gamma.                                    ihn auszuschalten versuche.                    bung machen müssten, um zu Geldern zu
     Am Explizitesten äussern sich einige           «Die Gegner der Willensfreiheit haben     kommen, versprächen sie von vornherein
Exponenten der Hirnforschung. Sie spre-        einen viel zu einfachen Begriff von Frei-      grossartige Ergebnisse – etwa die Ent-
chen dem Menschen die Willensfreiheit          heit», sagt Hampe. Unfrei sei man, wenn        schlüsselung des Wesens des Menschen.
rundweg ab. Das berüchtigte Libet-Ex-          man etwas tue, was man nicht tun wolle,        Doch: «Die Hirsche mit dem grössten
periment von 1979 sollte beweisen, dass        doch frei sein heisse nicht, wie die Hirn-     Geweih sind nicht die schnellsten.»

                                                        schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012   15
konferenz

    Mit dem Peer Review
    steuern die Wissen-
                                                         Transparenz
    schaften sich selbst.                                als Hypothek
    Gutachter und                                        Von Martin Reinhart

    Gutachterinnen prüfen
                                                         W
                                                                    er sich gegen die Anonymisierung des
                                                                    Gutachters im Peer-Review-Verfahren
    anonym Forschungs-                                              wendet, fordert mehr Transparenz. Wie

    gesuche und Papers                                   Qualität und Effizienz ist Transparenz ein allgemein
                                                         akzeptierter Wert, der sich kaum in Frage stellen lässt.

    und entscheiden über                                 Aus zwei Gründen gilt es trotzdem, sich die Mühe zu
                                                         machen, Argumente gegen die Transparenz zu

    die Vergabe von                                      bedenken: 1. Mehrere Werte können miteinander in
                                                         Konflikt stehen. So kann beispielsweise hohe wissen-
    Geldern und Publika-                                 schaftliche Qualität auf Kosten der Effizienz eines
                                                         Peer-Review-Verfahrens gehen. 2. Werte, die nicht
    tionsraum. Garantiert                                kritisierbar sind, werden ideologisch und verlieren ihre
                                                         Bedeutung. Wenn kein Dissens möglich ist, erscheint
    die Anonymität die                                   die Transparenzforderung reflexartig und leer.

    Unabhängigkeit des                                        Gegen die Entanonymisierung von Peer-Review-
                                                         Verfahren spricht einiges: Transparenz benachteiligt

    Urteils? Oder zerstört                               junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Sie
                                                         sind von persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen, die

    sie den für die Wissen-
    schaften unverzicht-
    baren demokratischen                                Objektiv?
    Diskurs?                                             Von Werner Oechslin

                                                        P
                                                                eer Review bezeichnet ein vornehmlich von
                                                                wissenschaftlichen Zeitschriften benütztes
                                                                Verfahren der Qualitätssicherung oder, wie man
                                                         auch lesen kann, der Sicherung eines Mindestmasses
                                                         an Qualität. Gegen Begutachtung ist nichts einzuwen-
                                                         den und noch weniger gegen Qualitätsförderung.
                                                         Hingegen steht zur Debatte, ob und inwiefern es
                                                         zweckdienlich sei, ein solches Ziel auf anonymem Weg
                                                         erreichen zu wollen. Soll Kritik nur im Geheimen geübt
                                                         werden können? Wenn dies den Zustand der Kritik-
                                                         fähigkeit unserer Scientific Community umschriebe,
                                                         stünde es schlecht um die Wissenschaft. Sie soll ihren
                                                         Auftrag ja zu grossen Teilen mit öffentlichen Mitteln
                                                         und zum öffentlichen Nutzen erfüllen. Es besteht ein
                                                         begründetes Interesse, dass nicht nur Resultate,
                                                         sondern auch die Wege der Erörterung und Entwick-
                                                         lung erkennbar sind. So könnten der Öffentlichkeit
                                                         vertiefte Einsichten in das wissenschaftliche Tun
                                                         gewährt werden.
                                                             Nun soll ausgerechnet das Wichtigste, die Qualität
                                                         und die damit verbundene Selektion, anonym gesichert

    16   schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012
in der Wissenschaft überall vorhanden sind, verstärkt          aufgrund des politisch forcierten Evaluationshypes
                                betroffen. Als Begutachtete tragen sie keine klingenden        ohnehin schon unter Druck steht. Gutachten
                                Namen, die jede Begutachtung von vornherein beein-             zu verfassen, die wie Veröffentlichungen von der
                                flusst, und als Begutachtende riskieren sie durch Kritik       Community geprüft werden, ist aufwändiger als
                                an den Entscheidungsträgern die eigene Karriere.               die informellere Form der Begutachtung in den meisten
                                Transparenz eröffnet in der sozialen Dimension                 bestehenden Peer-Review-Verfahren. Ob der zusätz-
                                eine Machtkomponente, die durch Anonymisierung                 liche Aufwand die Qualität von Gutachten im Kern
                                abgeschwächt wird.                                             verbessern oder bloss deren Präsentierbarkeit erhöhen
                                     Transparenz verspricht mehr Rechenschaftspflicht          würde, ist bis jetzt ungeklärt.
                                und damit weniger unsorgfältige oder böswillige                     Diese Argumente richten sich nicht prinzipiell
                                Gutachten. So sehr dies wünschbar ist, so bleibt doch          gegen Versuche, Begutachtungsverfahren transparenter
                                unklar, dass dies mit der Transparenz des Verfahrens           zu gestalten. Vielmehr raten sie zur Vorsicht bei der
                                zu tun hat. Aus der Forschung zum Peer Review ergeben          Umgestaltung eines Wissenschaftssystems, dessen
                                sich kaum Anhaltspunkte, dass Partikularinteressen             Selbststeuerung bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht.
                                in intransparenten Verfahren bedeutsamer wären als             Neue Kommunikationstechnologien bieten sicher
                                in transparenten. Zudem gilt es nicht dem Fehlschluss          die Möglichkeit zur Verbesserung wissenschaftlicher
                                zu unterliegen, dass mehr Transparenz automatisch              Begutachtung, aber ohne Begleitung durch eine Wissen-
                                zu wahrhaftigeren Aussagen der Gutachtenden führen             schaftsforschung, die Effekte solcher Veränderungen
                                würde. Die Debatten um Anonymität im Internet legen            klärt, sind Reformversuche problematisch. Welche
                                davon ein beredtes Zeugnis ab, indem dort Transparenz          intendierten und nichtintendierten Folgen transparen-
Derek Li Wan Po (Fotomontage)

                                mehrheitlich zur Profit- und Rechtssicherheit grosser          tere Begutachtungsverfahren im ganzen Wissenschafts-
                                Firmen dient und nicht zur Sicherung eines herr-               system erzeugen, gilt es zu erforschen, bevor der
                                schaftsfreien Diskurses.                                       legitime Ruf nach mehr Transparenz und weniger
                                     Schliesslich führt mehr Transparenz in Begutach-          Anonymität ertönt.
                                tungsverfahren zu höheren Kosten – und dies in einem
                                                                                               Martin Reinhart ist Juniorprofessor an der Humboldt-Universität
                                Wissenschaftssystem, dessen Begutachtungswesen                 Berlin. Peer Review ist eines seiner Forschungsgebiete.

                                werden. Weil man der Sache offensichtlich misstraut,           Das würde dann – horribile dictu – umso besser zu den
                                soll ein offener Prozess vermieden werden. Noch                angeblichen «zwei Welten» von Natur- und Geistes-
                                bedenklicher: Die Kompetenz tritt vornehmlich durch            wissenschaft passen. Doch die Forschung zeigt – gerade
                                Autorität ersetzt auf, wo sie doch in der Öffentlichkeit       im Neurobereich – immer wieder, dass die Welt sich
                                sichtbar – im Einklang mit der Entfaltung von Talenten         stets noch komplexer und noch differenzierter darstellt
                                und Forscherpersönlichkeiten – entwickelt und durch-           und dass allein schon deshalb noch dringender nach
                                gesetzt werden sollte. Wie sagt doch so schön Kant:            Modellen und Erklärungen gesucht werden muss,
                                «Der dialectische Schein in der rationalen Psychologie         die selbstverständlich vom Menschen geschaffen und
                                beruht auf der Verwechselung einer Idee der Vernunft           Teil seiner Vorstellungswelt sind.
                                (einer reinen Intelligenz) mit dem in allen Stücken                 Dass man solche Überlegungen an scheinbar
                                unbestimm-ten Begriffe eines denkenden Wesens                  unbedeutende Verfahrensfragen wie das Peer Review
                                überhaupt.» Das heisst, wir müssen uns den Schwierig-          knüpft, mag überraschen. Doch dieses Verfahren ist
                                keiten menschlicher Erkenntnismöglichkeit stellen,             an die längst in Kritik stehenden, quantitativen «Metho-
                                mitsamt der der «Menschenvernunft» hinzugesellten              den» gekoppelt, mit denen Qualität gefasst werden
                                «unvermeidlichen, obzwar nicht unauflöslichen Illusion».       soll, weil – gemäss einem gegenüber Politikern despek-
                                     Dem steht eine – kaum wünschbare – «abstrakte»            tierlichen Argument – die Politik nur die Sprache der
                                Wissenschaft und Wissenschaftsgläubigkeit entgegen.            Zahlen verstehe. Die Wissenschaft muss durch ihre
                                Es ist unübersehbar, dass bei anonymen Verfahren der           Erkenntnisse und Einsichten überzeugen, und diese
                                Qualitätssicherung «Standards», mithin formale                 sollen möglichst «wirklichkeitsnah» und öffentlich
                                Aspekte, in den Vordergrund drängen, bekannte                  diskutiert werden können. Man unterschätzt
                                Wissensformen im Vorteil sind und dem Ganzen das               auch den «Normalbürger», wenn man ihn nur mit
                                Mäntelchen der Objektivität umgelegt wird. Am Ende             Kuriositäten und Schlagzeilen aus der wundervollen
                                steht die abstruse Vorstellung einer Wissenschaftswelt,        Welt der Wissenschaft bedient.
                                in der auf der einen Seite objektive Erkenntnisse und
                                                                                               Werner Oechslin ist emeritierter ETH-Professor für Kunst- und
                                auf der andern subjektive Einsichten stehen, die mit
                                                                                               Architekturgeschichte sowie Gründer und wissenschaftlicher Leiter
                                dem «Individualisten» verbunden und verträglich sind.          der Stiftung Bibliothek Werner Oechslin in Einsiedeln.

                                                                       schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012         17
rubrik
porträt

    Preisgekrönter Mediziner
    mit Bodenhaftung
    Jacques Fellay versucht, im menschlichen Genom neue                                             ausgereifte Werkzeuge zur Verfügung.» Es
                                                                                                    wurde möglich, Fragen auf der Ebene des
    Waffen gegen Viren zu finden, insbesondere gegen das für                                        gesamten Genoms zu stellen und nicht
    Aids verantwortliche HIV. Für seine Arbeit erhält er 2012                                       mehr nur zu einem einzelnen Gen. «Mit
    den Latsis-Preis. Von Fleur Daugey, Bild Francesca Palazzi                                      den heutigen Methoden ist es möglich, die
                                                                                                    Stecknadel im Heuhaufen zu finden», sagt
                                                                                                    der Wissenschaftler.

    H
           inter dem Schreibtisch im moder-           ausforderung, die einen zwingt, am Boden           Die Fragen sind die gleichen geblie-
           nen Life-Sciences-Gebäude der              zu bleiben.»                                  ben: Was entscheidet beim Kontakt mit
           ETH Lausanne denkt Jacques Fel-                Im Jahr 2000 beginnt Jacques Fellay       einem Krankheitserreger darüber, ob man
    lay bescheiden über seine steile berufliche       eine Dissertation bei Amalio Telenti am       sich infiziert oder nicht, ob man stärker
    Karriere nach. Der Latsis-Preis? Er habe          Universitätsspital in Lausanne (Chuv) und     oder schwächer erkrankt, ob man mehr
    nicht damit gerechnet. «Man hat immer             schliesst seine erste Forschungsarbeit        oder weniger gut auf die Behandlung
    das Gefühl, es gäbe ein ganzes Heer von           zur Pharmakogenetik in der Aidstherapie       anspricht? «Gewisse Antworten liegen im
    Forschern, die den Preis mehr verdienen           ab. Um die Jahrtausendwende waren die         Genom verborgen, dessen heutige Struk-
    würden», sagt er. Und fügt lächelnd hinzu:                                                      tur das Ergebnis von Hunderttausenden
    «Und bei manchen ist man sich sogar               «Mit den heutigen                             von Jahren Evolution ist. Es ist faszinie-
    sicher!»                                                                                        rend, den Gründen für die individuelle
                                                      Methoden kann man die                         Reaktion auf die Spur zu kommen.» Dann
    Bescheiden, ruhig                                 Stecknadel im Heuhaufen                       schwächt er ab: «Natürlich lässt sich nicht
    Mit seiner bescheidenen Art, der ruhigen          finden.»                                      alles mit den Genen erklären, sondern
    Stimme und dem jugendlichen Aussehen                                                            zahlreiche Faktoren haben einen Einfluss
    wirkt er wie jemand, der gerade erst das          Medikamente gegen das Virus weniger           darauf, wie wir auf ein Virus reagieren.»
    Medizinstudium abgeschlossen hat. In              wirkungsvoll und häufig toxischer als              Trotzdem spielt die Genomik im
    Wirklichkeit ist der 38-Jährige bereits eine      heute. Die damalige Kernfrage ist aber        Kampf gegen Infektionskrankheiten eine
    anerkannte Grösse auf dem Gebiet der              nach wie vor aktuell: Weshalb sprechen        zentrale Rolle. Den Beweis lieferten
    Erforschung genetischer Einflüsse bei             nicht alle HIV-Infizierten gleich gut         Jacques Fellay und sein Team in Duke mit
    Infektionskrankheiten. Ist die Medizin            auf die Medikamente an? Der Forscher          der Identifikation dreier Gene, die am
    Berufung? «Es ist mir fast etwas peinlich:        identifiziert mit seinem Team Genvaria-
    Noch wenige Tage vor meiner Immatriku-            tionen, welche die Konzentration gewisser
    lation wusste ich nicht, dass ich dieses          antiretroviraler Medikamente im Blut            Jacques Fellay
    Studium wählen würde. Wichtig war mir,            beeinflussen – und damit auch deren
    ein Fach zu belegen, das an der Schnitt-          Wirksamkeit oder Toxizität.                     Jacques Fellay leitet im Rahmen einer Förde-
                                                                                                      rungsprofessur des SNF seit 2011 ein For-
    stelle zwischen Natur- und Geisteswissen-              Nach diesem ersten Forschungserfolg
                                                                                                      schungsteam an der Fakultät für Life Scien-
    schaften liegt. Die Medizin bietet eine           kehrt der Arzt zurück zu den Patienten          ces der ETH Lausanne, das sich mit der Rolle
    wissenschaftliche und intellektuelle Her-         und nimmt eine Fachausbildung für Infek-        des menschlichen Genoms bei Infektions-
                                                      tionskrankheiten in Angriff. «Ich wollte        krankheiten beschäftigt. Seit 2010 ist er
                                                      mich in beiden Welten bewegen, in der           zudem als Arzt am Institut für Mikrobiologie
      Nationaler Latsis-Preis                         Forschung und der Klinik», erinnert er          und an der Abteilung für Infektionskrankhei-
                                                      sich. Nach seinem FMH-Abschluss 2006            ten des Universitätsspitals in Lausanne
      Jedes Jahr verleiht der SNF den mit 100 000                                                     (Chuv) tätig. Der Arzt und Forscher hat in
                                                      folgt er wieder dem Ruf des Labors. Er
      Franken dotierten Latsis-Preis. Die Auszeich-                                                   Freiburg, Lausanne und Wien studiert. Von
                                                      bricht in die Vereinigten Staaten auf und
      nung ist Forscherinnen und Forschern vor-                                                       2006 bis 2010 arbeitete er an der Universität
      behalten, die weniger als 40 Jahre alt sind,    arbeitet am Institut für Genomforschung         Duke in den USA am Institut für Genom-
      und gehört zu den prestigeträchtigsten          der Universität Duke. «Ich hatte das Glück,     forschung. Jacques Fellay lebt mit seiner
      wissenschaftlichen Preisen der Schweiz.         in einem entscheidenden Moment dort             Familie in Saint-Maurice.
                                                      zu sein: Der Genforschung standen nun

    18    schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012
Resistenzmechanismus gegen das HI-
                                      Virus beteiligt sind. Diese Entdeckung gilt
                                      als Meilenstein auf dem Weg zu einer Imp-
                                      fung. Mit denselben Methoden war es der
                                      Gruppe bereits gelungen, die Reaktion der
                                      Patienten auf Arzneimittel gegen Hepatitis
                                      C vorauszusagen. Die langwierige, müh-
                                      same Behandlung führt nämlich nur in
                                      jedem zweiten Fall zu einer Heilung. Die
                                      Erforschung von Genvariationen ermög-
                                      lichte es, vorauszusehen, ob die Patienten
                                      positiv oder negativ auf die Medikamente
                                      reagieren würden, und die Behandlung
                                      anzupassen.

                                      Den weissen Kittel tragen
                                      Stolz? Wieder betont Jacques Fellay, dass
                                      er vor allem das Glück hatte, zu den ersten
                                      Forschern weltweit zu gehören, welche die
                                      neuen Methoden an Patientenkohorten
                                      anwenden konnten. «Solche Ergebnisse
                                      sind so befriedigend, weil sich daraus – wie
                                      im Fall von Hepatitis C – konkrete Anwen-
                                      dungen unserer Forschung ableiten las-
                                      sen. Ich fühle mich aber deswegen nicht
                                      als Wohltäter.»
                                          Heute leitet Jacques Fellay als För-
                                      derungsprofessor des Schweizerischen
                                      Nationalfonds ein fünfköpfiges Team,
                                      das hauptsächlich aus Bioinformatikern
                                      besteht. Sie prüfen insbesondere die Inter-
                                      aktionen zwischen dem menschlichen und
                                      dem viralen Genom. «Wir wollen in Er-
                                      fahrung bringen, was in unserem Erbgut
                                      die Replikationsfähigkeit des HI-Virus
                                      eindämmt. Das ist die Waffe, die wir gegen
                                      das Virus einsetzen wollen.»
                                          Der Wunsch, Brücken zwischen der
                                      Laborwelt und der Praxis zu schlagen,
                                      begleitet den forschenden Arzt beständig.
                                      So freut er sich, dass er an einem Morgen
                                      pro Woche wieder «den weissen Arztkittel»
                                      trägt und HIV-Patienten berät. Das gibt
                                      ihm die Gelegenheit, die Realität des Pfle-
                                      gepersonals und das Schicksal der Patien-
                                      ten nicht aus den Augen zu verlieren.

schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012   19
vor ort

                         Der Mönch
                    und die Ästhetik
      Der Kunsthistoriker Marcel Henry untersucht in Rom das Werk
      des Dominikanermönchs Egnazio Danti. Der Universalgelehrte
       liess wissenschaftliche Erkenntnisse in die Kunst einfliessen.

                                     D
                                              ie meisten Rom-Reisenden wollen
                                              unbedingt das Deckengemälde der
                                              Sixtinischen Kapelle im Vatikan sehen.
                                      Auf dem Weg dorthin, in der Galleria delle carte
                                      geografiche, begegnen sie einer kunst- und
                                      wissenschaftshistorischen Kostbarkeit: Lässt der
                                      Besucher seinen Blick schweifen, so wandert
                                      dieser über den Apennin von Nord nach Süd, zur
                                      Linken die Adria, zur Rechten das Tyrrhenische
                                      Meer. Das Wandgemälde wurde von Egnazio
                                      Danti realisiert, der das geografische Wissen
                                      seiner Zeit ins Bild übertrug und ästhetisch
                                      darstellte.
                                           In Rom sowie in anderen italienischen
                                      Städten folge ich für meine Dissertation,
                                      unterstützt von einem SNF-Stipendium, den
                                      Spuren Egnazio Dantis (1536−1586). Als
                                      Dominikanermönch gehörte er zu einem
                                      kleinen Kreis von Personen, die Zugang zum
                                      zeitgenössischen Wissen hatten. Sein Name
                                      wird heute mit den Künsten und den Wissen-
                                      schaften gleichermassen in Verbindung
                                      gebracht. Er interessierte sich für die Bewegun-
                                      gen der Himmelskörper ebenso wie für Fragen
                                      der Perspektive und der Optik. So ergründete er
                                      den Zusammenhang zwischen dem Einfall des
                                      Sonnenlichts, der geografischen Breite und
                                      der Tageszeit, wofür er neben rechnerischen
                                      auch perspektivische Instrumente einsetzte.        mathematisches Grundlagenwerk geschrieben,
                                      Anhand des Quellenmaterials kann ich exemp-        «Le scienze matematiche». Die tabellarischen
                                      larisch zeigen, wie Erkenntnisse aus der           Aufzeichnungen sollten den Zugang zum
                                      wissenschaftlichen Arbeit in die Bilder einflos-   Wissen erleichtern. Er war ein Praktiker,
                                      sen und umgekehrt und welche Funktion dem          dessen Stärke darin lag, das Interesse einfluss-
                                      Bild im Wissenschaftsverständnis Dantis zukam.     reicher Auftraggeber zu gewinnen. So gelang
                                           Egnazio Danti wirkte auch in Florenz und      es ihm, grosse Gemälde wie zum Beispiel
                                      Bologna, aber die deutlichsten Spuren hat er in    das geografische Kartenwerk zu entwerfen.
                                      der Stadt am Tiber hinterlassen. Deshalb ist       Solche Bildprogramme liess er dann von
                                      Rom als Standort für meine Arbeit erste Wahl.      anderen Künstlern ausführen, zumal er selbst
                                      In den Vatikanischen Bibliotheken, wo sich         kein grosser Zeichner und Maler war.
                                      aufschlussreiche Dokumente befinden, kann ich           Auf diese Weise vermittelte er früh zwi-
                                      zielstrebig forschen. Der Dominikaner war ein      schen Wissenschaft und Kunst. Er stand in
                                      Universalgelehrter. So hat er beispielsweise ein   Kontakt mit Kunstschaffenden und Gelehrten

    20    schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012
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