Der Zufall, ein Prinzip? 6 - Die senile Bettflucht steckt im Blut 22 Schulhochburg Schweiz 26 Das Higgs-Boson ist entdeckt - was nun? 30 - SNF
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Das Schweizer Forschungsmagazin Nr. 95, Dezember 2012 horizonte Der Zufall, ein Prinzip? 6 Die senile Bettflucht steckt im Blut 22 Schulhochburg Schweiz 26 Das Higgs-Boson ist entdeckt – was nun? 30
editorial Mehr feste Stellen an den Universitäten? E in 26-jähriger Biologe hat an der Universität Basel Rahel Nicole Eisenring kürzlich eine Masterarbeit verfasst, in der er auf neue Weise das durchschnittliche Ankunftsdatum der Zug- vögel im Frühjahr schätzt. Mit seinem statistischen Modell wird man auch zuverlässiger ausrechnen können, wie sich das Steve Prezant/Corbis/Specter Erscheinen der ersten Frühjahrsblüten oder der ersten Schmetterlinge im Zuge des Klimawandels ändert. Der junge Mann hat das Potenzial, um als Doktorand und später als Postdoc an einer schweizerischen Universität in Forschung und Lehre neue Wege zu gehen. Aber er will es nicht tun. Er hat dafür gute Gründe: Er fand schnell eine feste Stelle in einem der bekanntesten Schweizer Ökobüros. Er hätte diese Stelle wahrscheinlich nicht mehr bekommen, wenn er die Universität als hoch spezialisierter Wissenschaftler im Alter von 45 22 Jahren mangels Festanstellung verlassen hätte. Tatsächlich gibt es an den schweizerischen Universitäten viele Postdocs und befristet angestellte Nach- wuchsforscher – und nur wenig feste Stellen. Wie kann man bei dieser Ausgangslage eine Hochschul- Johannes Kölla, école de village, Kunsthaus Zurich karriere für junge Talente attraktiver machen, so dass die Schweiz weniger auf den akademischen Zustrom aus dem Ausland angewiesen ist? Sechs junge Forschende haben dazu Vorschläge erarbeitet. Ihre wichtigste Forderung: Wir bräuch- ten deutlich mehr feste Stellen an den Universitäten. Der Präsident der Rektorenkonferenz der Schweizer Universitäten hingegen meint, die Gruppe vermittle ein antiquiertes Bild der Universitäten; er plädiert für mehr befristete Stellen. Auf den Seiten 34 und 35 finden Sie die Argumente der Kontrahenten. Bald wird das Parlament über die Streit- frage befinden: Der Ständerat hat beschlossen, die Vorschläge der Initiativgruppe prüfen zu lassen. Eine Anhörung im Nationalrat ist bereits geplant. Peter Ginter/Fermilab Valentin Amrhein Redaktion «Horizonte» 2 schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012 30
inhalt schwerpunkt zufall 4 im bild Die Ruinaulta – das Ergebnis 6 Kopf oder Zahl? eines gigantischen Bergsturzes Manche Wissenschaften möchten den Zufall ausschalten, andere setzen 5 nachgefragt auf ihn, weil er die Vorhersagbarkeit Führen Pränataltests zu mehr durchkreuzt. Drei Streifzüge in die Abtreibungen, Frau Krones? Biologie, die Physik und die Philosophie. 6 16 konferenz biologie und medizin Peer-Review-Verfahren verlaufen anonym. Ist das gut 22 Die Launen der inneren Uhr oder doch nicht? Im Morgengrauen aus den Federn? Die senile Bettflucht steckt uns im Blut. 18 porträt 24 Giftiger Cocktail Jacques Fellay, Mediziner Pilze bekämpfen sich mit chemischen und Latsis-Preisträger Waffen, die der Mensch nutzen könnte. 25 Wenn Viren Parasiten helfen 20 vor ort Zur Kooperation gezwungen Ein Kunsthistoriker spürt Hormonelle Geschlechterdifferenzen in Rom einem universell gebildeten Dominikanermönch nach. gesellschaft und kultur 38 cartoon Ruedi Widmer 26 Schulhochburg Schweiz Überraschend: In der Schweiz besuchten um 1800 fast alle Kinder die Schule. 39 snf und akademien direkt Gesellschaftsvertrag 28 Das Ende der Segmentierung für die Energiewende Die europäischen Staaten fusionieren ihre Wohlfahrtsregimes. 40 im gespräch 29 Flexibel mit dem Beethoven-Bogen Wir müssen die Gebrechlichkeit Eiweisshaltige Pflanzen statt Milchpulver besser verstehen, sagt die Theater in der Stadt Präventivmedizinerin Brigitte Santos-Eggimann. technologie und natur 42 wie funktionierts? 30 Drei Säulen für die Teilchenphysik Schnee aus der Kanone Das Higgs-Boson ist nachgewiesen – wie weiter mit der Physik? 43 für sie entdeckt Wissenschaft ist Wahrheitsliebe – 32 Lichtpunkte als Orientierungshilfe «The Insider» Wie GPS-Systeme in Innenräumen funktionieren könnten. 33 Langsame Klimaabkühlung 26 Ein Drucker für Nanostrukturen Mit Scherkraft gegen Arteriosklerose wissen und welt 34 Tausend neue Assistenzprofessuren Muss die Schweiz die universitäre Hierarchie umbauen? 36 Wider die Kraut- und Knollenfäule Was gentechnologisch veränderte Pflanzen den Bauern bieten könnten. 37 Solarpanel statt Wiese? Die Energiewende wird die Landschaft stark verändern. schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012 3
rubrik im bild Präparierter Bergsturz Niemand weiss, wann genau es geschah, wie es aussah und ob überhaupt jemand das Ereig- nis beobachtete. Alles, was wir heute davon wahrnehmen, ist die Kerbe durch einen riesigen Schuttkegel, durch die sich der Vorderrhein schlängelt: die Ruinaulta. Vor etwa 9500 Jahren lösten sich oberhalb des Dorfs Flims um die zehn Kubikkilometer Kalksteinmasse und don- nerten in ein 1,5 Kilometer breites Tal hinunter, von dem nichts mehr übrig blieb. 500 Meter hoch stapelte sich das zerriebene Geröll, der Rhein staute sich zu einem See. Niemals wieder hat es in den Alpen einen solchen Bergsturz gegeben. Ein Forschungsprojekt der Hochschule der Künste Bern macht nun dieses gewaltige, nir- gends ausser von der Landschaft selbst fest- gehaltene Ereignis künstlerisch wahrnehmbar. «Präparat Bergsturz» nennen Florian Dombois, Priska Gisler, Schirin Kretschmann und Markus Schwander ihr Vorhaben. Das Bild, Kretsch- manns Arbeit «Faltung I», zeigt die Fotokopie eines gefalteten Kartenausschnitts der Berg- sturzgegend. Oben, oberhalb von Flims, ist der Crap Sogn Gion zu erkennen. Die Faltung der Karte steht für den Bergsturz, für die topo- grafische Veränderung der Landschaft. Der Kopiervorgang bringt die dreidimensionale Begebenheit in die Fläche und schafft so das Original eines Präparats, das die unsichtbare Bewegung nachvollziehbar macht. Martin Bieri Bild: Schirin Kretschmann 4 schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012
nachgefragt Renate Wernli «Eltern nicht die krankheitsverursachende Veranlagung verschaffen können. Überdies: Pränatal- diagnostik gibt es ja nun schon seit 40 alleinlassen» Jahren, und man hat in Studien festgestellt, dass die Toleranz Menschen mit Behinde- rungen gegenüber nicht gesunken ist. Welche Rolle spielt die Lebensqualität der Die Zulassung eines neuartigen Pränataltests für Trisomie 21 Eltern? sorgt für Kontroversen. Kein Grund zur Aufregung, findet die Die Behinderung eines Kindes kann für Eltern und Geschwister einen massiven Medizinethikerin Tanja Krones. Eingriff in die Lebensqualität bedeuten. Deshalb muss es ein Recht der Eltern auf Frau Krones, überblicksmässig: Wie viele testet, die nicht vor dem 18. Lebensjahr Wissen geben – auch das muss der Gesetz- pränatale Gentests, mit denen sich eine manifest werden, zwingt man diesem geber respektieren. schwere Behinderung des Kinds nachweisen Menschen ein Wissen auf, das er unter Ein Recht oder eher eine Pflicht auf Wissen? lässt, sind in der Schweiz auf dem Markt? Umständen gar nicht hätte haben wollen. Werdende Eltern dürften unter Druck geraten, Der Pränataltest für die Erkennung von In Deutschland sind solche Tests ganz immer besser informierte Entscheidungen zu Trisomie 21 ist zurzeit der einzige derar- verboten, in der Schweiz ist die Formulie- treffen – zumal über das Internet viele Ange- tige Test für Chromosomfehlverteilungen, rung unschärfer. bote im juristischen Graubereich zugänglich für den mütterliches Blut genügt. Darüber sein werden. Wie ist damit umzugehen? hinaus gibt es weitere, allerdings nur «Es ist selten, dass ein Generelle Verbote solcher Tests sind wohl selten benutzte Tests, die in Fruchtwasser- kaum praktikabel. Viel wichtiger muss oder Mutterkuchenzellen vererbbare, von Gentest eine Abtreibung es sein, für ärztliche Begleitung zu sorgen, einem Gendefekt verursachte Erkrankun- zur Folge hat.» damit die Eltern mit den Erkenntnissen gen aufspüren können. und Unwägbarkeiten der Tests nicht Prinzipiell kann man das Genprofil des un- Das heisst, der Spielraum für weitere Test- alleingelassen werden. Sie müssen ge- geborenen Kindes auf ganz verschiedene angebote ist gross, die Palette wird sich meinsam herausfinden können, was denn Kriterien hin abtasten. Welche Tests sind aus verbreitern. Die Befürchtung: Es wird zu eigentlich relevantes Wissen ist. Leider ethischer Sicht fragwürdig? mehr Abtreibungen kommen. scheint gerade diese beratende, intensive Grundsätzlich muss man unterscheiden Nein, das dürfte nicht der Fall sein. Es ist Gespräche umfassende Medizin heute zwischen Krankheiten und Eigenschaften. selten, dass ein Gentest eine Abtreibung immer weniger finanzierbar zu sein – Es gibt einen breiten gesellschaftlichen zur Folge hat – bei vielen betroffenen da liegt meines Erachtens das grösste Konsens, dass Tests, mit denen sich bei- Embryos kommt es schon vorher zu einer Problem. Interview Roland Fischer spielsweise das Geschlecht oder die spontanen Fehlgeburt. Und manche Augenfarbe bestimmen lassen, fragwürdig Kinder werden gerade geboren, weil es sind. Eine zweite Grenze betont das Recht diese Tests gibt, und zwar in Familien mit Tanja Krones ist leitende Ärztin für klinische Ethik am Universitätsspital Zürich. Sie hat Medizin, des Kindes, selber zu entscheiden, ob es genetischem Risiko, die sich eher Rich- Soziologie, Psychologie und Politologie studiert und beschäftigt sich speziell mit ethischen Aspekten über ein Krankheitswissen verfügen will tung Schwangerschaftsabbruch entschei- von Pränataldiagnostik, Reproduktionsmedizin und oder nicht. Wenn man auf Krankheiten den, wenn sie sich keine Klarheit über evidenzbasierter Medizin. schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012 5
schwerpunkt zufall Kopf oder Zahl? Die Wissenschaften und der Zufall – ein schillerndes Verhältnis. Er hat bei mancher Entdeckung die Hand im Spiel. Einige Wissenschaften möchten ihn ausschalten, weil er die Berechenbarkeit stört, andere setzen auf ihn, weil er just die Vorhersagbarkeit durchkreuzt. – Drei Streifzüge in die Biologie, die Physik und die Philosophie. Illustrationen von Rahel Nicole Eisenring 6 schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012
schwerpunkt zufall Der Zufall weicht der Notwendigkeit Wieso verhalten sich genetisch identische Zellen nicht immer gleich? Zufälliges Rauschen, lautete die Antwort vor zehn Jahren. Heute sagt die Forschung: Ein grosser Teil dieser Zufälligkeit lässt sich erklären. Von Ori Schipper E s grenzt an ein Wunder, wie viele des leuchtenden Eiweisses mehr als von aufeinander abgestimmte Vorgänge der anderen. Die unerwartete Farben- sich in einer Zelle gleichzeitig pracht der Darmbakterien führten Elowitz abspielen. An der Zellmembran hieven und Kollegen auf «noise» zurück, auf beispielsweise Eiweisse Zucker oder den Lärm oder das Rauschen der moleku- andere energiereiche Moleküle an Bord, laren Maschinerie, auf stochastische, also die andernorts in der Zelle biochemisch zufällige Prozesse, die manchmal in die zersetzt werden. Die dabei freiwerdende Herstellung eines Eiweisses münden, Energie führt die Zelle dem Aufbau von andere Male jedoch nicht. «Das intrinsi- Zellbestandteilen oder dem Kopier- sche Rauschen stellt eine grundlegende vorgang des Erbguts zu. Grenze dafür dar, wie präzis Gene reguliert Und doch weisen diese molekularen werden können», hielten die Forschenden Prozesse eine erstaunlich grosse Un- in ihrem Artikel fest. schärfe auf, wie ein vor zehn Jahren in der Doch könnte es sein, dass dieses Rau- Zeitschrift «Science» erschienener Beitrag schen zwar wegen einer fehlerhaften gezeigt und damit in der Fachwelt für Maschinerie zustande kommt, dass es aber Furore gesorgt hat. Mit gentechnischen gleichzeitig eine biologische Funktion Methoden haben Forschende um Michael erfüllt? Dass sich die stochastischen Pro- Elowitz von der Rockefeller-Universität in zesse nicht sinnlos abspielen, sondern New York Darmbakterien mit zwei ver- dass der Zufall einem höheren Zweck schiedenen Farbversionen eines leuchten- dient? Dies ist die Leitfrage, welcher das den Eiweisses versehen, das von einer Qualle im pazifischen Ozean stammt. Die Prinzipien der Evolution Unerwartete Farbenpracht Vielleicht liegt die Eleganz von Charles Dar- Einzeln fluoreszieren die Eiweisse je nach wins Evolutionstheorie darin, dass sie nicht Version grün oder rot, zusammen jedoch nur die gemeinsame Abstammung aller leuchten sie gelb. Für ihren Versuch haben Lebensformen schlüssig erklärt, sondern auch zwei auf den ersten Blick unvereinbare die Forschenden die Gene für beide Farb- Prinzipien miteinander vereinigt: Zufall und versionen – grün und rot – der Kontrolle Notwendigkeit bilden zusammen die Rah- der identischen genetischen Sequenz menbedingungen, denen die Entwicklung zugewiesen. Ihre Hypothese: Wenn die des Lebens unterworfen ist. Da sind einer- Zellmaschinerie die Kontrollsequenz seits die Veränderungen des Erbguts, die zu- fehlerlos erkennen und ausführen würde, fällig entstehen und sich etwa aufgrund von sollten die beiden Gene die gleiche Aktivi- unvorhersehbaren Kopierfehlern ergeben. Andererseits sorgt die natürliche Selektion tät aufweisen und gemeinsam für gelb als notwendiges Prinzip dafür, dass sich in leuchtende Bakterien sorgen. Doch das dieser durch Zufall entstandenen Vielfalt im war nur bei etwa 60 Prozent aller Zellen Laufe der Zeit nur diejenigen Varianten der Fall. Die anderen 40 Prozent der durchsetzen, die ihren Trägern eine bessere Bakterien leuchteten grün oder rot und Anpassung an ihre Umwelt erlauben. produzierten also von einer Farbversion 8 schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012
Team um Martin Ackermann von der ETH Zürich und der Eawag nachgeht. Dabei weisen sie dem Zufall eine komplexere Rolle zu, als Darwin dies für seine Evolu- tionslehre getan hat (siehe Kasten). Wenig Entfaltungsraum Bei Letzterer geht es um ein additives Zusammenwirken von zufälligen Muta- tionen und natürlicher Selektion – darum, dass der Zufall als Vater der Vielfalt wirkt, die aufgrund der Notwendigkeit, in der natürlichen Selektion zu bestehen, immer wieder zusammenschrumpft. In Ackermanns Gedankenwelt jedoch durch- weben und durchmengen sich die beiden ungleichen Prinzipien: «Wir haben Hin- weise gefunden, dass die natürliche Selek- tion das Ausmass der Vielfalt formt», sagt Ackermann. Der Zufall wirkt also nicht in jeder Situation gleich stark. In gewissen Bereichen lässt die Selektion dem Zufall nur wenig Entfaltungsraum, in anderen hingegen bedient sie sich seiner und der durch ihn resultierenden Vielfalt. Zusammen mit einer Forschungs- gruppe aus Israel hat Ackermanns Team bei über 1500 verschiedenen Genen des Darmbakteriums Escherichia coli unter- sucht, wie viel Rauschen die jeweilige genetische Kontrollsequenz zulässt. Bei vielen so genannten essentiellen Genen, ohne die das Bakterium nicht leben kann, war das Rauschen nur minimal. Als viel störanfälliger erwies sich die Regulation der Gene, die etwa bei Anpassungen an Umweltveränderungen – bei Bakterien- stress – zum Einsatz kommen. Aus Sicht der Bakterien sei dies sinnvoll, sagt Ackermann. Denn Bakterien wachsen in Kolonien. Diese profitieren von einer Art Arbeitsteilung: Optimal wächst eine Kolonie, wenn die meisten Zellen ihre Energie ins Wachstum investieren, einige Zellen jedoch im vegetativen Zustand ver- harren, in dem sie zwar nur beschränkt wachsen und sich vermehren, dafür aber ungünstigen Perioden eher widerstehen können. Ohne solche Wächterzellen würde die Kolonie in guten Zeiten zwar etwas schneller wachsen, in schlechten Zeiten riskiert sie aber, auf einen Schlag ausgelöscht zu werden, wenn etwa keine schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012 9
schwerpunkt zufall der Schwesterzellen rechtzeitig auf eine Gruppe untersucht dieses Phänomen, von Zum Stichwort Individualität von Zellen Temperaturschwankung reagiert. stickstoffbindenden Bakterien in Schwei- fällt Lucas Pelkmans vieles ein. Mit seinem Weil die Bakterienkolonien aus ge- zer Seen bis hin zu bösartigen Durchfall- Team von der Universität Zürich unter- netisch identischen und zudem der glei- erregern: Bei den Salmonellen opfert sich sucht der Systembiologe menschliche chen Umgebung ausgesetzten Zellen eine Minderheit, indem sie unsere Darm- Zellhaufen. Je nachdem, wo sich eine bestehen, müssten sie sich gleich ver- zellen befällt. Damit lösen die selbstlosen einzelne dieser – auch hier: genetisch halten. Doch dem ist nicht so. «Diese Altruisten unter den Salmonellen eine identischen, aber im Verhalten unter- Schulbuchmeinung ist überholt», sagt Abwehrreaktion aus, die der Mehrheit schiedlichen – Zellen befindet, eher in der Ackermann. Für die Bakterien zahlt sich ihrer genetisch identischen Schwester- Mitte oder nah am Rand des Haufens, ist die starke Vereinheitlichung der Regula- zellen zugute kommt. sie bestimmten Viren gegenüber anfälliger tion ihrer Stressgene also nicht aus. Im Dieser Fokus auf einzelne Zellen oder widerstandsfähiger. Gegenteil, je mehr sie hier dem Zufall erlaube in der Umweltmikrobiologie einen «Wer das durchschnittliche Verhalten überlassen, desto grösser wird die Vielfalt neuen Blick auf bekannte Felder wie etwa von Millionen von Zellen kennt, weiss an Stressresistenz unter den Schwester- die Abwasserreinigung, sagt Ackermann: nicht viel über das Verhalten einer einzel- zellen und desto eher teilen sie sich die «Mit unserer Einzelzellforschung in kom- nen Zelle», sagt Pelkmans. Man müsse Arbeit. Mögliche Beispiele dafür, dass plexen Systemen untersuchen wir, wer realisieren, dass neue Selektionskriterien «Bakterien eine molekulare Münze wer- was macht, und zeigen die Relevanz der entstünden, wenn ein Haufen identischer fen», kennt Ackermann viele. Seine Individualität auf.» Zellen eine Kolonie bilde. Für den Zell- haufen lohne sich eine Arbeitsteilung, die mit einer zusätzlichen Regulations- stufe des Wachstums der einzelnen Zellen einhergehe. In diesem Zusammenhang relevant ist eine neue, von Pelkmans ent- deckte Grösse: der Zellpopulationskontext. Mit ihm lässt sich nicht nur probabi- listisch deuten, welche Zellen von einem Virus befallen werden, sondern auch das Verhalten einzelner Krebszellen erklären. Dass die Krebsmedikamente gegen viele Zellen gut, gegen einige aber kaum wirken, daran ist auch der Zellpopulationskontext schuld. In der Wissenschaft gehe es nun darum, seine regulatorischen Mechanis- men aufzudecken. Damit gelinge es ihr eventuell, der Krebsbekämpfung neue Angriffsstellen aufzuzeigen, sagt Pelk- mans. Erklärbare Muster Über diese nützlichen Aspekte hinaus trägt der Zellpopulationskontext auch zu einer Verschiebung der Bedeutung des Zufalls bei: Dass sich die einzelnen genetisch identischen Schwesterzellen unterschiedlich verhalten, habe vielleicht weniger mit zufälligem Rauschen als viel- mehr mit erklärbaren, zusätzlich regulier- ten Mustern zu tun, sagt Pelkmans. Weil es ihm auf seiner Suche nach einem bes- seren Verständnis der Komplexität gelingt, einen noch unerklärten Teil des zufälligen Rauschens zu erklären, weicht in der Bio- logie der Zufall der Notwendigkeit. 10 schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012
Die Seinsverbundenheit Geschmolzene Schokolade des Wissens 1945 hielt sich ein Ingenieur im Bereich einer Radaranlage auf. Kurz darauf Wie kommt es, dass ein Mensch etwas Neues bemerkte er, dass der Schokoladeriegel in seiner Tasche geschmolzen war. herausfindet? Die Antwort des Alltagsverstands: Aus dieser zufälligen Begegnung von Kakao und elektromagnetischer Weil er besonders klug, vielleicht sogar, weil er ein Strahlung wurde der Mikrowellenherd geboren, eine von zahlreichen «Genie» ist. Die Wissenssoziologie, auf der die Erfindungen, die dem Zufall zu verdanken sind. Aber beschränkte sich der neuere Wissenschaftsforschung und die Epistemo- Zufall nicht auf das Zusammentreffen von Schokolode und Mikrowellen- logie gründen, entzauberte diese idealisierende und strahl? Die Geschichte wäre nämlich hier zu Ende gewesen, wenn nicht ein individualisierende Vorstellung von der Entstehung neugieriger Ingenieur nach einer Erklärung für das beobachtete Phänomen neuen Wissens schon Anfang des letzten Jahrhun- gesucht und seine Erkenntnisse danach für eine Erfindung genutzt hätte. derts. Der Philosoph Karl Mannheim sprach von Die Wissenschaft beruht auf Beobachtungen und Fragen, aus dem Versuch, der «sozialen Seinsverbundenheit des Wissens». diese zu begreifen und zu beantworten – und auf einem Hauch Zufall. pm Ohne wie der Marxismus die Determiniertheit der Ideenwelt durch die Ökonomie zu postulieren, wies er die gesellschaftliche Bedingtheit des Geistigen nach; es kommt darauf an, welcher Klasse der Die Kunst der guten Wissenschaft Gelehrte angehört und unter welchen Bedingungen Jede wissenschaftliche Entdeckung ist – mindestens ein Stück weit – dem er arbeitet. Der Immunologe Ludwik Fleck hob das Zufall geschuldet. Das liegt in der Natur der Sache: Weil es in der Wissen- «soziale Moment der Entstehung der Erkenntnis» schaft darum geht, die Grenze zum Nicht-Wissen zu überschreiten und das hervor; Erkenntnis geschieht überindividuell, Territorium dahinter zu erkunden. Die kluge Forscherin und der schlaue Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind Forscher tun zwar gut daran, ihren Vorstoss ins Unbekannte, den wissen- immer Teil eines «Denkkollektivs» und eines schaftlichen Versuch, so durchzuführen, dass er eindeutige Resultate liefert. «Denkstils». Pointiert formuliert: Der Wissenschaft- Doch auf was sie dabei zufällig stossen, ist weder plan- noch vorhersehbar. ler findet etwas Neues nicht allein heraus, sondern Oft ist es Erwartetes, das die im Voraus gemachten Vermutungen und nur im Verbund mit anderen, die ihm zu entdecken Hypothesen erhärtet. Seltener ist es Unerwartetes, das bisherige Über- erlauben, was er entdeckt hat. Eine grosse Rolle zeugungen ins Wanken bringt. In der Geisteshaltung, die das Unerwartete spielt da der Zufall nicht. uha zulässt und wahrnimmt, liegt die Kunst der guten Wissenschaft. ori schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012 11
schwerpunkt zufall geschehen ist, darf auf dieses hindeuten.» Das Geheimnis dieses besonderen Zufalls liegt in den Tiefen der Quantenphysik. Quantenphysikalisch ist es unmöglich, das Ergebnis bestimmter Messungen genau vorherzusehen. Bei der Erzeugung eines Photons lässt nichts darauf schliessen, ob es eine horizontale oder eine vertikale Polarisation aufweisen wird. Nach der Quantentheorie befindet sich ein Photon gleichzeitig in allen seinen möglichen Zuständen. Erst im Moment der Messung wird dieser Parameter in eine bestimmte Richtung festgelegt, und zwar für den Beobachter vollkommen unvorhersehbar. Diese Eigenschaft kann für die Erzeugung zufälliger Zahlen genutzt werden. Dazu werden die Photonen durch einen teil- durchlässigen Spiegel gesendet, der bei- spielsweise nur Photonen mit horizontaler Polarisation durchlässt und die anderen zurückwirft. Mit Hilfe eines Geräts, das die einzelnen Photonen nachweist, kann nun den durchtretenden Photonen der Wert 0, den anderen der Wert 1 zugeord- net werden. Die Abfolge dieser «Bits» ist perfekt zufällig. Die Flugbahn der Münze Wie unterscheidet sich nun dieser «echte Zufall» von einem Zufall in der Art des Münzwurfs, wenn doch bei beiden ein Ereignis mit der Wahrscheinlichkeit von 0,5 eintritt? «Bei einem Münzwurf ist Im Dienst der es zwar aufgrund der Komplexität der beteiligten Mikrophänomene in der Praxis ebenfalls nicht möglich, das Ergebnis totalen Sicherheit vorherzusehen», gibt Nicolas Gisin zu. «Die Unvorhersehbarkeit ist jedoch nicht intrinsisch, sondern nur die Folge zahl- reicher kleiner, sich gegenseitig beein- Die Quantenphysik kann mit Elementarteilchen den reinen Zufall flussender Vorgänge, die zum betreffenden erzeugen. Dies schafft die Voraussetzungen für sichere Kommunika- Ergebnis führen. Wenn die Flugbahn der Münze mit ausreichender Aufmerksam- tionssysteme und Online-Casinos. Von Anton Vos keit beobachtet und mit genügend genauen Berechnungen erfasst werden könnte, E s gibt ihn doch, den echten Zufall. gung ist jedenfalls Nicolas Gisin, Professor liesse sich vorhersehen, welche Seite am Und nicht nur das: Er lässt sich auch und Leiter der Gruppe für angewandte Ende nach oben zu liegen kommt.» nutzen, beispielsweise für Kommu- Physik der Universität Genf. Um den Unterschied zwischen dem nikationseinrichtungen, Online-Casinos «Ein Ereignis trifft zufällig ein, wenn Münzwurf und der rein zufälligen Polari- oder Geheimcodes von Bankkarten, die so es nicht vorhergesehen wird», sagt der sierung eines Photons festzustellen, ver- sicher sind, wie man es sich nur vorstellen Genfer Physiker. «Alles steht und fällt fügen die Forschenden über ein Werkzeug, kann. Quelle dieses Zufalls ist die Quan- jedoch mit der Frage: Nicht vorhergesehen das nach einem Theorem des irischen tenphysik. Es geht um so winzige Objekte von wem? Der echte Zufall ist absolut Physikers John Bell in den 1960er Jahren wie Elementarteilchen, die aber noch unvorhersehbar. Nichts, was in der Ver- entwickelt wurde. Es handelt sich dabei Grosses leisten werden. Dieser Überzeu- gangenheit des zufälligen Ereignisses um eine Gleichung (oder eigentlich Un- 12 schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012
Photonen auszuspionieren, diese stört und sofort bemerkt wird. Inzwischen werden Zufallszahlen- generatoren von ID Quantique auch in anderen Bereichen eingesetzt, so zum Beispiel in Online-Casino-Spielen (wie Poker) und für Bankkarten-Codes. «Heute werden diese ‹Zufallszahlen› noch von Computern erzeugt», erklärt Nicolas Gisin. «Auch wenn es sehr schwierig ist, die Zahlen zu erraten, sind sie nur scheinbar zufällig: Sie werden durch Algorithmen gleichung), der alle Ereignisse gehorchen, zwar unabhängig von der Distanz, die berechnet, was problematisch sein kann. die sich auf einen deterministischen zwischen den beiden liegt – als ob die Eine im Unternehmen arbeitende Person Vorgang zurückführen lassen, die aber Informationsübertragung die Lichtge- könnte den Programmcode böswillig verletzt wird, wenn echter Zufall im schwindigkeit überträfe. In Wirklichkeit benutzen, um die ausgehenden Zahlen Spiel ist. wird jedoch keine Information übertragen. vorherzusehen – und damit die nächsten Erst 1983 heckte der französische Die beiden Photonen sind für die Quan- Bankkarten-Codes oder die Hand des Physiker Alain Aspect eine experimentelle tenphysik ein einziges Objekt, das sich Poker-Gegners.» Die Quantenmechanik Anordnung aus, mit der gezeigt werden gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten könnte hier für Ordnung sorgen. kann, dass echter Zufall in dieser Welt eine des Raums materialisiert. Diese in der Realität ist. Es gelang ihm, Photonenpaare klassischen Welt unvorstellbare Eigen- Nur auf dem Bildschirm perfekt zu erzeugen, welche die Bellsche Un- schaft konnte Alain Aspect nachweisen. Auch der computergestützte Entwurf von gleichung verletzen – eine Meisterleistung, Seither wurden zahlreiche Experi- Maschinen wie beispielsweise Flugzeug- die selbst Albert Einstein für unmöglich mente zu diesem Thema durchgeführt, prototypen könnte vom wahren Zufall gehalten hätte, weil er ja überzeugt war, insbesondere auch im Genfer Labor, aus profitieren. Simulationen von schnell dass Gott nicht würfle. Denn das Problem dem das Startup ID Quantique hervorging. wechselnden Flugbedingungen basieren mit dem echten Zufall ist, dass er untrenn- Dieses Unternehmen vertreibt ein Quan- ebenfalls auf «pseudo-zufälligen» Zahlen. bar mit dem Begriff der Nichtlokalität tenverschlüsselungssystem, das die Eigen- Dabei ist es schon vorgekommen, dass verknüpft ist. schaften verschränkter Photonen nutzt. sich ein Prototyp perfekt in der Luft Das System ermöglicht eine geschützte hielt, solange er nur auf dem Bildschirm Ein Objekt an zwei Orten elektronische Kommunikation zwischen existierte, nach der Konstruktion in Bei diesem der Intuition widersprechen- zwei Schreibenden, indem Schlüssel der Wirklichkeit jedoch schlecht flog. Bei den Phänomen können zwei Photonen erzeugt werden, die nicht nur perfekt der Simulation hatte der echte Zufall «verschränkt» sein: Eine Manipulation des zufällig (und damit auch für einen Hacker gefehlt. ersten Photons (zum Beispiel die Messung mit der besten Rechenleistung unknack- Nicolas Gisin: L’impensable hasard. Non localité, seiner Polarität) hat einen unmittelbaren bar), sondern auch abhörsicher sind, da téléportation et autres merveilles quantiques. Einfluss auf den Zustand des zweiten, und der subtilste Versuch, die ausgetauschten Editions Odile Jacob, Paris 2012. schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012 13
schwerpunkt zufall Im Bann der DNA Der Determinismus lebt – nicht nur in der Biologie, sondern auch den «guten Genen», denen man diese und jene Eigenschaften zu verdanken habe, in den Sozialwissenschaften. Von dort diffundiert die Rede von den oder der «DNA eines Volkes», dem der bestimmenden Genen in das Alltagswissen. Von Urs Hafner Hang zum Müssiggang eingeschrieben sei, ist heute Allgemeingut. D ie Vorstellung, dass ihr Leben mehr zeichnen; eine Schlüsselrolle spielt dabei als von allem anderen vom Zufall die soziale Herkunft. Zwar liefern die Kul- Befreiungsbiologie bestimmt sein könnte, hat für die turwissenschaften Erklärungen für ver- Der genetische Determinismus schliesst meisten Menschen etwas Beunruhigendes. meintliche Zufälle – so ist es eben kein nicht nur den Zufall, sondern auch die Die Partnerwahl, das Berufspech, die Zufall, dass die Universitätsassistentin menschliche Freiheit aus. Diesen Determi- Krebserkrankung – da muss doch mehr und Mutter nicht Professorin wird oder nismus kritisiert Alex Gamma von der dahinterstecken als nur eine Laune des dass das Migrantenkind nicht an die ETH Zürich. Indem der Biologe und Schicksals? Das wohl bekannteste System, Universität geht; und wenn es trotz der Philosoph nachweist, dass der Gen-Deter- das bei der Kontingenzbewältigung hilft, Hindernisse, die ihm in den Weg gelegt minismus auf einer Biologie beruht, die ist die Religion. Nur schon mit dem werden – und sei es von Eltern, für die eine von reduktionistischen, unwissenschaft- Versprechen, dass das Leben nach dem Universität nichts für Ausländer ist –, sich lichen Prämissen ausgeht, möchte er die Tod weitergehe, zerstreut sie den kränken- nicht vom Universitätsbesuch abhalten Menschen dazu bringen, ihre Handlungs- den Gedanken, die eigene Existenz sei lässt, ist dies erst recht kein Zufall; der freiheit zurückzugewinnen – dass sie zufällig oder gar sinnlos. Für die glückli- Kulturwissenschaftler wird die Gründe wieder eine Sprache sprechen, in der sie chen und weniger glücklichen Fügungen finden, die dazu geführt haben, dass dieses Subjekte sind; dass sie sich nicht länger verweist sie auf das tugend- oder sünd- Individuum die Hürden hat nehmen durch Natur und Biologie bestimmt fühlen; hafte Handeln des Betroffenen oder – in können. dass sie nicht glauben, sie handelten stets ihren abstrakten Ausprägungen – auf den Doch die Kulturwissenschaften schlies- eigennützig, wie die Soziobiologie sugge- unergründlichen Beschluss eines fernen sen den Zufall nicht kategorisch aus, wie riert, oder sie suchten, weil sie eine Frau Gottes. dies etwa fundamentalistische Glaubens- seien, einen wohlhabend-potenten Mann, lehren oder deterministische Wissen- wie die popularisierte Evolutionspsycho- Marx und Weber schaften tun. Obschon Letzteres wie ein logie postuliert. Alex Gammas Forschungs- Auch die Kulturwissenschaften haben Selbstwiderspruch anmutet, gibt es sie tat- projekt «Befreiungsbiologie» will die Antworten auf die Frage parat, warum ein sächlich: Sie haben sich auf dem weiten Menschen von den Fesseln einer reduk- Lebensweg so und nicht anders verläuft Feld der Genetik, der Evolutionstheorie tionistischen Biologie befreien. und weshalb diese Person Herrschaft aus- und der Hirnforschung gebildet und Die stärkste Stütze für das omniprä- üben darf und jene gehorchen muss. Mit sind von dort in manche Sozialwissen- sente gen-deterministische Denken und dem Habituskonzept des Soziologen Pierre schaften – in den neuen Komplex der Sprechen sieht Gamma in der «Informati- Bourdieu beispielsweise, der auf Max «social neurosciences», in die Neuro- onsmetapher», die seit 1950 zu einer domi- Webers und Karl Marx’ Sozialtheorien ökonomie, die Neuropsychologie, die schon nanten Sprachform in Wissenschaft und aufbaut, lassen sich biografische Stationen etwas ältere Soziobiologie – und ins Medien aufgestiegen sei. «Die Metapher und Wendungen einleuchtend nach- Alltagswissen diffundiert. Die Rede von beschreibt im Gen-Determinismus das 14 schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012
Wirken von Genen als Informieren, Inst- im Hirn des Menschen, der eine Hand- forscher unterstellten, dass es keine ruieren, Spezifizieren und Programmieren lung selbstständig eingeleitet zu haben Determinanten des Handelns gebe. Kein – obschon es keinerlei Evidenz für eine vermeine, der Entscheid bereits Sekun- Entscheid sei undeterminiert. Jeder solche kausale Privilegierung der Gene denbruchteile zuvor chemisch ausgelöst Mensch sei mit biologischen, sozialen und gibt», sagt Gamma. Die Molekularbiologie worden sei. rechtlichen Einschränkungen konfrontiert habe den Informationsbegriff enthusias- – doch dagegen könne er angehen, und tisch, aber völlig unbesehen in ihr Pro- Unbewusster Entscheid zwar gerade im Wissen darum, dass die gramm aufgenommen und zum zentralen «Die Experimentatoren haben nicht in Einschränkungen vorhanden seien. Nur Bestandteil ihres von Nobelpreisträger Betracht gezogen, dass ein Handlungs- wenn er diese kenne, könne er die Lücken Francis Crick aufgestellten «zentralen entscheid unbewusst ausgelöst werden dazwischen sehen und entsprechend Dogmas» gemacht, wie dieser formuliert kann», sagt Michael Hampe, Professor für handeln. habe. Einen ähnlichen Status wie in der Philosophie an der ETH Zürich, der das Ontogenese hätten die Gene in der Evolu- Forschungsprojekt «Befreiungsbiologie» Hirsche mit grossem Geweih tionsbiologie inne. Hier seien sie meist die leitet und in seinem scharfsinnigen Essay Einen Grund für die Anziehungskraft des einzigen Kausalfaktoren, die als erblich zur «Macht des Zufalls» (2006) zum Gen-Determinismus sieht Michael Hampe angesehen würden. «Evolution ist noch Schluss kommt, dass der Zufall immer im forcierten Wettbewerb um Fördermittel. immer weitgehend genetische Evolution», bedeutsamer werde, je mehr der Mensch Weil die Wissenschaften vermehrt Wer- sagt Gamma. ihn auszuschalten versuche. bung machen müssten, um zu Geldern zu Am Explizitesten äussern sich einige «Die Gegner der Willensfreiheit haben kommen, versprächen sie von vornherein Exponenten der Hirnforschung. Sie spre- einen viel zu einfachen Begriff von Frei- grossartige Ergebnisse – etwa die Ent- chen dem Menschen die Willensfreiheit heit», sagt Hampe. Unfrei sei man, wenn schlüsselung des Wesens des Menschen. rundweg ab. Das berüchtigte Libet-Ex- man etwas tue, was man nicht tun wolle, Doch: «Die Hirsche mit dem grössten periment von 1979 sollte beweisen, dass doch frei sein heisse nicht, wie die Hirn- Geweih sind nicht die schnellsten.» schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012 15
konferenz Mit dem Peer Review steuern die Wissen- Transparenz schaften sich selbst. als Hypothek Gutachter und Von Martin Reinhart Gutachterinnen prüfen W er sich gegen die Anonymisierung des Gutachters im Peer-Review-Verfahren anonym Forschungs- wendet, fordert mehr Transparenz. Wie gesuche und Papers Qualität und Effizienz ist Transparenz ein allgemein akzeptierter Wert, der sich kaum in Frage stellen lässt. und entscheiden über Aus zwei Gründen gilt es trotzdem, sich die Mühe zu machen, Argumente gegen die Transparenz zu die Vergabe von bedenken: 1. Mehrere Werte können miteinander in Konflikt stehen. So kann beispielsweise hohe wissen- Geldern und Publika- schaftliche Qualität auf Kosten der Effizienz eines Peer-Review-Verfahrens gehen. 2. Werte, die nicht tionsraum. Garantiert kritisierbar sind, werden ideologisch und verlieren ihre Bedeutung. Wenn kein Dissens möglich ist, erscheint die Anonymität die die Transparenzforderung reflexartig und leer. Unabhängigkeit des Gegen die Entanonymisierung von Peer-Review- Verfahren spricht einiges: Transparenz benachteiligt Urteils? Oder zerstört junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Sie sind von persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen, die sie den für die Wissen- schaften unverzicht- baren demokratischen Objektiv? Diskurs? Von Werner Oechslin P eer Review bezeichnet ein vornehmlich von wissenschaftlichen Zeitschriften benütztes Verfahren der Qualitätssicherung oder, wie man auch lesen kann, der Sicherung eines Mindestmasses an Qualität. Gegen Begutachtung ist nichts einzuwen- den und noch weniger gegen Qualitätsförderung. Hingegen steht zur Debatte, ob und inwiefern es zweckdienlich sei, ein solches Ziel auf anonymem Weg erreichen zu wollen. Soll Kritik nur im Geheimen geübt werden können? Wenn dies den Zustand der Kritik- fähigkeit unserer Scientific Community umschriebe, stünde es schlecht um die Wissenschaft. Sie soll ihren Auftrag ja zu grossen Teilen mit öffentlichen Mitteln und zum öffentlichen Nutzen erfüllen. Es besteht ein begründetes Interesse, dass nicht nur Resultate, sondern auch die Wege der Erörterung und Entwick- lung erkennbar sind. So könnten der Öffentlichkeit vertiefte Einsichten in das wissenschaftliche Tun gewährt werden. Nun soll ausgerechnet das Wichtigste, die Qualität und die damit verbundene Selektion, anonym gesichert 16 schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012
in der Wissenschaft überall vorhanden sind, verstärkt aufgrund des politisch forcierten Evaluationshypes betroffen. Als Begutachtete tragen sie keine klingenden ohnehin schon unter Druck steht. Gutachten Namen, die jede Begutachtung von vornherein beein- zu verfassen, die wie Veröffentlichungen von der flusst, und als Begutachtende riskieren sie durch Kritik Community geprüft werden, ist aufwändiger als an den Entscheidungsträgern die eigene Karriere. die informellere Form der Begutachtung in den meisten Transparenz eröffnet in der sozialen Dimension bestehenden Peer-Review-Verfahren. Ob der zusätz- eine Machtkomponente, die durch Anonymisierung liche Aufwand die Qualität von Gutachten im Kern abgeschwächt wird. verbessern oder bloss deren Präsentierbarkeit erhöhen Transparenz verspricht mehr Rechenschaftspflicht würde, ist bis jetzt ungeklärt. und damit weniger unsorgfältige oder böswillige Diese Argumente richten sich nicht prinzipiell Gutachten. So sehr dies wünschbar ist, so bleibt doch gegen Versuche, Begutachtungsverfahren transparenter unklar, dass dies mit der Transparenz des Verfahrens zu gestalten. Vielmehr raten sie zur Vorsicht bei der zu tun hat. Aus der Forschung zum Peer Review ergeben Umgestaltung eines Wissenschaftssystems, dessen sich kaum Anhaltspunkte, dass Partikularinteressen Selbststeuerung bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht. in intransparenten Verfahren bedeutsamer wären als Neue Kommunikationstechnologien bieten sicher in transparenten. Zudem gilt es nicht dem Fehlschluss die Möglichkeit zur Verbesserung wissenschaftlicher zu unterliegen, dass mehr Transparenz automatisch Begutachtung, aber ohne Begleitung durch eine Wissen- zu wahrhaftigeren Aussagen der Gutachtenden führen schaftsforschung, die Effekte solcher Veränderungen würde. Die Debatten um Anonymität im Internet legen klärt, sind Reformversuche problematisch. Welche davon ein beredtes Zeugnis ab, indem dort Transparenz intendierten und nichtintendierten Folgen transparen- Derek Li Wan Po (Fotomontage) mehrheitlich zur Profit- und Rechtssicherheit grosser tere Begutachtungsverfahren im ganzen Wissenschafts- Firmen dient und nicht zur Sicherung eines herr- system erzeugen, gilt es zu erforschen, bevor der schaftsfreien Diskurses. legitime Ruf nach mehr Transparenz und weniger Schliesslich führt mehr Transparenz in Begutach- Anonymität ertönt. tungsverfahren zu höheren Kosten – und dies in einem Martin Reinhart ist Juniorprofessor an der Humboldt-Universität Wissenschaftssystem, dessen Begutachtungswesen Berlin. Peer Review ist eines seiner Forschungsgebiete. werden. Weil man der Sache offensichtlich misstraut, Das würde dann – horribile dictu – umso besser zu den soll ein offener Prozess vermieden werden. Noch angeblichen «zwei Welten» von Natur- und Geistes- bedenklicher: Die Kompetenz tritt vornehmlich durch wissenschaft passen. Doch die Forschung zeigt – gerade Autorität ersetzt auf, wo sie doch in der Öffentlichkeit im Neurobereich – immer wieder, dass die Welt sich sichtbar – im Einklang mit der Entfaltung von Talenten stets noch komplexer und noch differenzierter darstellt und Forscherpersönlichkeiten – entwickelt und durch- und dass allein schon deshalb noch dringender nach gesetzt werden sollte. Wie sagt doch so schön Kant: Modellen und Erklärungen gesucht werden muss, «Der dialectische Schein in der rationalen Psychologie die selbstverständlich vom Menschen geschaffen und beruht auf der Verwechselung einer Idee der Vernunft Teil seiner Vorstellungswelt sind. (einer reinen Intelligenz) mit dem in allen Stücken Dass man solche Überlegungen an scheinbar unbestimm-ten Begriffe eines denkenden Wesens unbedeutende Verfahrensfragen wie das Peer Review überhaupt.» Das heisst, wir müssen uns den Schwierig- knüpft, mag überraschen. Doch dieses Verfahren ist keiten menschlicher Erkenntnismöglichkeit stellen, an die längst in Kritik stehenden, quantitativen «Metho- mitsamt der der «Menschenvernunft» hinzugesellten den» gekoppelt, mit denen Qualität gefasst werden «unvermeidlichen, obzwar nicht unauflöslichen Illusion». soll, weil – gemäss einem gegenüber Politikern despek- Dem steht eine – kaum wünschbare – «abstrakte» tierlichen Argument – die Politik nur die Sprache der Wissenschaft und Wissenschaftsgläubigkeit entgegen. Zahlen verstehe. Die Wissenschaft muss durch ihre Es ist unübersehbar, dass bei anonymen Verfahren der Erkenntnisse und Einsichten überzeugen, und diese Qualitätssicherung «Standards», mithin formale sollen möglichst «wirklichkeitsnah» und öffentlich Aspekte, in den Vordergrund drängen, bekannte diskutiert werden können. Man unterschätzt Wissensformen im Vorteil sind und dem Ganzen das auch den «Normalbürger», wenn man ihn nur mit Mäntelchen der Objektivität umgelegt wird. Am Ende Kuriositäten und Schlagzeilen aus der wundervollen steht die abstruse Vorstellung einer Wissenschaftswelt, Welt der Wissenschaft bedient. in der auf der einen Seite objektive Erkenntnisse und Werner Oechslin ist emeritierter ETH-Professor für Kunst- und auf der andern subjektive Einsichten stehen, die mit Architekturgeschichte sowie Gründer und wissenschaftlicher Leiter dem «Individualisten» verbunden und verträglich sind. der Stiftung Bibliothek Werner Oechslin in Einsiedeln. schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012 17
rubrik porträt Preisgekrönter Mediziner mit Bodenhaftung Jacques Fellay versucht, im menschlichen Genom neue ausgereifte Werkzeuge zur Verfügung.» Es wurde möglich, Fragen auf der Ebene des Waffen gegen Viren zu finden, insbesondere gegen das für gesamten Genoms zu stellen und nicht Aids verantwortliche HIV. Für seine Arbeit erhält er 2012 mehr nur zu einem einzelnen Gen. «Mit den Latsis-Preis. Von Fleur Daugey, Bild Francesca Palazzi den heutigen Methoden ist es möglich, die Stecknadel im Heuhaufen zu finden», sagt der Wissenschaftler. H inter dem Schreibtisch im moder- ausforderung, die einen zwingt, am Boden Die Fragen sind die gleichen geblie- nen Life-Sciences-Gebäude der zu bleiben.» ben: Was entscheidet beim Kontakt mit ETH Lausanne denkt Jacques Fel- Im Jahr 2000 beginnt Jacques Fellay einem Krankheitserreger darüber, ob man lay bescheiden über seine steile berufliche eine Dissertation bei Amalio Telenti am sich infiziert oder nicht, ob man stärker Karriere nach. Der Latsis-Preis? Er habe Universitätsspital in Lausanne (Chuv) und oder schwächer erkrankt, ob man mehr nicht damit gerechnet. «Man hat immer schliesst seine erste Forschungsarbeit oder weniger gut auf die Behandlung das Gefühl, es gäbe ein ganzes Heer von zur Pharmakogenetik in der Aidstherapie anspricht? «Gewisse Antworten liegen im Forschern, die den Preis mehr verdienen ab. Um die Jahrtausendwende waren die Genom verborgen, dessen heutige Struk- würden», sagt er. Und fügt lächelnd hinzu: tur das Ergebnis von Hunderttausenden «Und bei manchen ist man sich sogar «Mit den heutigen von Jahren Evolution ist. Es ist faszinie- sicher!» rend, den Gründen für die individuelle Methoden kann man die Reaktion auf die Spur zu kommen.» Dann Bescheiden, ruhig Stecknadel im Heuhaufen schwächt er ab: «Natürlich lässt sich nicht Mit seiner bescheidenen Art, der ruhigen finden.» alles mit den Genen erklären, sondern Stimme und dem jugendlichen Aussehen zahlreiche Faktoren haben einen Einfluss wirkt er wie jemand, der gerade erst das Medikamente gegen das Virus weniger darauf, wie wir auf ein Virus reagieren.» Medizinstudium abgeschlossen hat. In wirkungsvoll und häufig toxischer als Trotzdem spielt die Genomik im Wirklichkeit ist der 38-Jährige bereits eine heute. Die damalige Kernfrage ist aber Kampf gegen Infektionskrankheiten eine anerkannte Grösse auf dem Gebiet der nach wie vor aktuell: Weshalb sprechen zentrale Rolle. Den Beweis lieferten Erforschung genetischer Einflüsse bei nicht alle HIV-Infizierten gleich gut Jacques Fellay und sein Team in Duke mit Infektionskrankheiten. Ist die Medizin auf die Medikamente an? Der Forscher der Identifikation dreier Gene, die am Berufung? «Es ist mir fast etwas peinlich: identifiziert mit seinem Team Genvaria- Noch wenige Tage vor meiner Immatriku- tionen, welche die Konzentration gewisser lation wusste ich nicht, dass ich dieses antiretroviraler Medikamente im Blut Jacques Fellay Studium wählen würde. Wichtig war mir, beeinflussen – und damit auch deren ein Fach zu belegen, das an der Schnitt- Wirksamkeit oder Toxizität. Jacques Fellay leitet im Rahmen einer Förde- rungsprofessur des SNF seit 2011 ein For- stelle zwischen Natur- und Geisteswissen- Nach diesem ersten Forschungserfolg schungsteam an der Fakultät für Life Scien- schaften liegt. Die Medizin bietet eine kehrt der Arzt zurück zu den Patienten ces der ETH Lausanne, das sich mit der Rolle wissenschaftliche und intellektuelle Her- und nimmt eine Fachausbildung für Infek- des menschlichen Genoms bei Infektions- tionskrankheiten in Angriff. «Ich wollte krankheiten beschäftigt. Seit 2010 ist er mich in beiden Welten bewegen, in der zudem als Arzt am Institut für Mikrobiologie Nationaler Latsis-Preis Forschung und der Klinik», erinnert er und an der Abteilung für Infektionskrankhei- sich. Nach seinem FMH-Abschluss 2006 ten des Universitätsspitals in Lausanne Jedes Jahr verleiht der SNF den mit 100 000 (Chuv) tätig. Der Arzt und Forscher hat in folgt er wieder dem Ruf des Labors. Er Franken dotierten Latsis-Preis. Die Auszeich- Freiburg, Lausanne und Wien studiert. Von bricht in die Vereinigten Staaten auf und nung ist Forscherinnen und Forschern vor- 2006 bis 2010 arbeitete er an der Universität behalten, die weniger als 40 Jahre alt sind, arbeitet am Institut für Genomforschung Duke in den USA am Institut für Genom- und gehört zu den prestigeträchtigsten der Universität Duke. «Ich hatte das Glück, forschung. Jacques Fellay lebt mit seiner wissenschaftlichen Preisen der Schweiz. in einem entscheidenden Moment dort Familie in Saint-Maurice. zu sein: Der Genforschung standen nun 18 schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012
Resistenzmechanismus gegen das HI- Virus beteiligt sind. Diese Entdeckung gilt als Meilenstein auf dem Weg zu einer Imp- fung. Mit denselben Methoden war es der Gruppe bereits gelungen, die Reaktion der Patienten auf Arzneimittel gegen Hepatitis C vorauszusagen. Die langwierige, müh- same Behandlung führt nämlich nur in jedem zweiten Fall zu einer Heilung. Die Erforschung von Genvariationen ermög- lichte es, vorauszusehen, ob die Patienten positiv oder negativ auf die Medikamente reagieren würden, und die Behandlung anzupassen. Den weissen Kittel tragen Stolz? Wieder betont Jacques Fellay, dass er vor allem das Glück hatte, zu den ersten Forschern weltweit zu gehören, welche die neuen Methoden an Patientenkohorten anwenden konnten. «Solche Ergebnisse sind so befriedigend, weil sich daraus – wie im Fall von Hepatitis C – konkrete Anwen- dungen unserer Forschung ableiten las- sen. Ich fühle mich aber deswegen nicht als Wohltäter.» Heute leitet Jacques Fellay als För- derungsprofessor des Schweizerischen Nationalfonds ein fünfköpfiges Team, das hauptsächlich aus Bioinformatikern besteht. Sie prüfen insbesondere die Inter- aktionen zwischen dem menschlichen und dem viralen Genom. «Wir wollen in Er- fahrung bringen, was in unserem Erbgut die Replikationsfähigkeit des HI-Virus eindämmt. Das ist die Waffe, die wir gegen das Virus einsetzen wollen.» Der Wunsch, Brücken zwischen der Laborwelt und der Praxis zu schlagen, begleitet den forschenden Arzt beständig. So freut er sich, dass er an einem Morgen pro Woche wieder «den weissen Arztkittel» trägt und HIV-Patienten berät. Das gibt ihm die Gelegenheit, die Realität des Pfle- gepersonals und das Schicksal der Patien- ten nicht aus den Augen zu verlieren. schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012 19
vor ort Der Mönch und die Ästhetik Der Kunsthistoriker Marcel Henry untersucht in Rom das Werk des Dominikanermönchs Egnazio Danti. Der Universalgelehrte liess wissenschaftliche Erkenntnisse in die Kunst einfliessen. D ie meisten Rom-Reisenden wollen unbedingt das Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle im Vatikan sehen. Auf dem Weg dorthin, in der Galleria delle carte geografiche, begegnen sie einer kunst- und wissenschaftshistorischen Kostbarkeit: Lässt der Besucher seinen Blick schweifen, so wandert dieser über den Apennin von Nord nach Süd, zur Linken die Adria, zur Rechten das Tyrrhenische Meer. Das Wandgemälde wurde von Egnazio Danti realisiert, der das geografische Wissen seiner Zeit ins Bild übertrug und ästhetisch darstellte. In Rom sowie in anderen italienischen Städten folge ich für meine Dissertation, unterstützt von einem SNF-Stipendium, den Spuren Egnazio Dantis (1536−1586). Als Dominikanermönch gehörte er zu einem kleinen Kreis von Personen, die Zugang zum zeitgenössischen Wissen hatten. Sein Name wird heute mit den Künsten und den Wissen- schaften gleichermassen in Verbindung gebracht. Er interessierte sich für die Bewegun- gen der Himmelskörper ebenso wie für Fragen der Perspektive und der Optik. So ergründete er den Zusammenhang zwischen dem Einfall des Sonnenlichts, der geografischen Breite und der Tageszeit, wofür er neben rechnerischen auch perspektivische Instrumente einsetzte. mathematisches Grundlagenwerk geschrieben, Anhand des Quellenmaterials kann ich exemp- «Le scienze matematiche». Die tabellarischen larisch zeigen, wie Erkenntnisse aus der Aufzeichnungen sollten den Zugang zum wissenschaftlichen Arbeit in die Bilder einflos- Wissen erleichtern. Er war ein Praktiker, sen und umgekehrt und welche Funktion dem dessen Stärke darin lag, das Interesse einfluss- Bild im Wissenschaftsverständnis Dantis zukam. reicher Auftraggeber zu gewinnen. So gelang Egnazio Danti wirkte auch in Florenz und es ihm, grosse Gemälde wie zum Beispiel Bologna, aber die deutlichsten Spuren hat er in das geografische Kartenwerk zu entwerfen. der Stadt am Tiber hinterlassen. Deshalb ist Solche Bildprogramme liess er dann von Rom als Standort für meine Arbeit erste Wahl. anderen Künstlern ausführen, zumal er selbst In den Vatikanischen Bibliotheken, wo sich kein grosser Zeichner und Maler war. aufschlussreiche Dokumente befinden, kann ich Auf diese Weise vermittelte er früh zwi- zielstrebig forschen. Der Dominikaner war ein schen Wissenschaft und Kunst. Er stand in Universalgelehrter. So hat er beispielsweise ein Kontakt mit Kunstschaffenden und Gelehrten 20 schweizerischer nationalfonds • akademien- schweiz • horizonte dezember 2012
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