Die A lt-K atholische Zeitschr ift i n Deutschla Publikumsbeschimpfung von Gerhard Ruisch
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Christen heute 2019/12 Di e A lt-K at hol i sc h e Z e i tsc h r i f t i n Deu tsc h l a n d + 63. Ja h rg a ng · De z e m be r 2 019 3 Publikumsbeschimpfung 11 „Wir möchten Jesus sehen!“ 18 Gute Vorsätze zum neuen Jahr von Gerhard Ruisch von Jutta Respondek von Gregor Bauer 6 Eine vergessene Eigenart Jesu 13 Unser Sehnen nach Heilwerden 30 „‘Īsā ibn Maryam“ – von Harald Klein von Brigitte Glaab Jesus im Islam von Georg Spindler 9 Meinungsumfrage mit 15 Jesus kann niemals baden Schweigegebot von Francine Schwertfeger 40 eRosary von Ulrich Katzenbach von Tobias Zawisla
Wenn „synodaler Weg“ Verzicht auf Gold in der Kirche Primas Welby berichtet über scheitert, scheitert Kirche Der Provinzial der Combo- Kampf mit Depressionen Der Tübinger Theologe Peter ni-Missionare in Brasilien, Pater Der anglikanische Primas Jus- Hünermann sieht das Schicksal Dario Bossi, hat die Kirche aufge- tin Welby (63) hat offen über seinen Namen & Nachrichten der Kirche in Deutschland mit rufen, keine neuen goldenen litur- eigenen Kampf gegen Depressionen der Reformdebatte des „synodalen gischen Geräte mehr anzuschaffen. gesprochen. Der Erzbischof von Can- Wegs“ gekoppelt. „Der Weg darf „Es wäre gut, wenn das nicht wei- terbury erklärte in einer Video-Bot- nicht so enden wie der letzte ‚Dia- tergeführt würde in unserer Kirche, schaft, er habe 2018 realisiert, dass er logprozess‘: Ansonsten ist die Kirche auf unseren Altären“, sagte er. „Für Hilfe brauche. Hilfe zu suchen, sei für bei uns total abgemeldet“, sagte er. ein Gramm eines Goldrings muss ihn nicht einfach gewesen, habe aber Kritik übte der 90-Jährige an den man 20 Tonnen Erde verunreinigen.“ „einen riesigen Unterschied gemacht“, Gegnern des Reformvorhabens: Sie Gleichzeitig rief Bossi dazu auf, Kapi- so Welby. Gerade von seiner Tochter, sähen nicht, dass alle nun diskutier- tal bewusst aus Unternehmen zu zie- die unter teils schweren Depressionen ten konkreten Schritte – Stichworte hen, die ihre Gewinne mit Bergbau leidet und diese auch öffentlich disku- viri probati, mehr Verantwortung für erzielten. Der diene beim Gold längst tiert hat, habe er viel gelernt. Durch Frauen, Überdenken der kirchlichen nicht mehr dazu, allein Rohstoffbe- sie habe er verstanden, dass er sich für Sexualmoral, Kontrollinstanzen für dürfnisse zu befrieden. „Es geht um seine Depression nicht zu schämen Bischöfe – nur vor dem Hintergrund die Finanzmärkte, die Rendite ist das brauche und diese „kein Stigma ist, des Missbrauchsskandals zu verstehen Wichtigste, es geht um die Aktionäre, sondern einfach das Leben“. seien. Die Kritiker verkennten „die das ist absolut absurd“, so der Pater. Tiefe der Erschütterung“, die damit Gleichzeitig gebe es Unternehmen, Elftausend Wissenschaftler warnen einhergingen. Papst Franziskus habe die bewusst „um Investitionen der Mehr als 11.000 Forscher aus 153 den Prozess nicht blockieren, sondern Kirche werben, um sich einen ethi- Ländern haben im Fachjournal Bio darauf hinweisen wollen, dass Refor- schen Anstrich zu geben“. Das sollte Science erklärt, ohne grundlegendes men „keine Anpassung an den Zeit- man ihnen nicht ermöglichen. Umsteuern sei „unsägliches menschli- geist“ sein dürften und ein „synodaler ches Leid“ nicht mehr zu verhindern. Weg“ daher stets geistlich eingebettet Schlechtes Zeugnis „Aus den vorliegenden Daten wird sein müsse. „Der Papst warnte also beim Klimaschutz klar, dass ein Klima-Notfall auf uns nur vor Kurzschlusshandlungen und Umweltorganisationen stel- zukommt“, heißt es in dem Bericht. nicht vor Reformen allgemein“, so der len den 20 größten Industriestaaten Theologe. ein schlechtes Zeugnis bei der Umset- Abschiebeflüge nach Afghanistan zung des Pariser Klimaabkommens Die Menschenrechtsorganisa- Christenverfolgung auf aus. Kein einziger G20-Staat befinde tion Pro Asyl hat die Fortführung der den Philippinen sich derzeit auf einem Kurs, den Sammelabschiebeflüge nach Afgha- Die Tatsache, dass die philippi- Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu nistan scharf kritisiert. „Das knall- nische Bevölkerung zu einem hohen begrenzen, heißt es in dem Brown- harte Durchziehen der monatlichen Prozentsatz christlich ist, verhindert to-Green-Report der internationalen Abschiebeflüge macht fassungslos“, nicht, dass dort Christen verfolgt Initiative Climate Transparency. Süd- erklärte Pro-Asyl-Geschäftsführer werden. Immer wieder werden auf korea, Kanada und Australien sind Günter Burkhardt. Obwohl Afghan Betreiben der Regierung Duterte danach am weitesten davon entfernt, istan das „tödlichste Quartal“ seit kirchliche Gruppierungen zu Terror ihre an sich schon unzureichenden Beginn der Aufzeichnungen der organisationen erklärt und entspre- Klimaziele zu erfüllen. Zwei der größ- UN-Mission in Afghanistan (Unama) chend verfolgt; auch die Iglesia Fili- ten Problembereiche sind Gebäude hinter sich habe, zeige sich die Bun- pina Independiente, die Unabhängige und Verkehr – und in beiden Sek- desregierung von immer neuen Mel- Kirche der Philippinen, war immer toren gehört Deutschland zu den dungen über Anschläge und Gräuel- wieder davon betroffen. Ein neuer Negativbeispielen. taten in Afghanistan unbeeindruckt Titelfoto: The Moog, „Bristol Graffiti“, Flickr Höhepunkt der Auseinandersetzung und halte an Abschiebungen in das ergab sich dadurch, dass das Repräsen- Kriegsland fest. Die Zahl der in tantenhaus am 5. November den Nati- Afghanistan getöteten oder verletzten Kirche im Radio onal Church Council, den Nationalen Zivilisten hat nach UN-Angaben eine Rat der Kirchen der Philippinen, in „Positionen“ „noch nie dagewesene“ Dimension dem sich fast alle Kirchen außer der Bayern 2 Radio erreicht. Laut Unama gab es von Juli römisch-katholischen zusammenge- 8. Dezember, 6:30 Uhr bis September dieses Jahres 1.174 Tote schlossen haben, auf eine Liste kom- Dekan Hans-Jürgen Pöschl und 3.139 Verletzte. Dies entspre- munistischer Terrororganisationen Weidenberg che einem Anstieg von 42 Prozent gesetzt hat, was ihre Repräsentanten gegenüber dem gleichen Zeitraum des in große Gefahr bringt. Vorjahres. fortgesetzt auf Seite 39 5 2 Christen heute
Publikumsbeschimpfung Ein ziemlich unbekanntes Bild von Jesus Vo n Ger h ar d Ruisch V or etlichen Jahren hat eine Gesangs- gruppe mit dem schönen Namen „Die Doofen“ gedichtet: „Jesus war ein guter Mann, der hatte einen Umhang an. Jesus war ein flotter Typ, den hatten alle wird. Tumulte und Prügeleien soll es dabei gegeben Leute lieb. Jesus hatte langes Haar und braune Augen wun- haben – doch im Video hat man eher den Eindruck, die derbar. Jesus hatte Latschen an wie kein andrer Mann.“ Leute amüsieren sich. Das Schlimme ist nur, dass viele Leute sich Jesus ziem- Auf die Idee ist Handke aber wohl etwas früher lich so vorstellen: ein bisschen hippiemäßig und immer gekommen, als er im selben Jahr (wie in Wikipedia nach- lieb und nett. Fragt sich nur, warum die religiöse Obrigkeit zulesen) an einer Tagung der Gruppe 47 in Princeton ihm dann ans Leben wollte, wenn ihn doch alle lieb hatten. teilnahm, bei der Autoren ihre Stücke vorstellten. Nach Gerhard Und es fragt sich, was wollen denn wir heute, nach zwei- stundenlangen Lesungen zeigte er sich angewidert von den Ruisch ist tausend Jahren, immer noch mit so einem Typen? Werken seiner etablierten Kollegen und hielt eine län- verantwortlicher Redakteur von Viele Menschen haben heute eine ziemlich klischee- gere Schmährede, in der er die „Beschreibungsimpotenz“ Christen heute hafte Vorstellung von Jesus. Dass die meisten die Evan- der Autoren beklagte und auch die Literaturkritik nicht und Pfarrer in gelien allenfalls noch als blasse Erinnerungen aus der verschonte, „die ebenso läppisch ist wie diese läppische Freiburg Schulzeit kennen, dafür aber vielleicht, wenn es hoch Literatur“. kommt, Jesusfilme von Zefirellis Jesus von Nazareth bis In der Literatenszene zumindest war er von da an Monty Pythons Leben des Brian, ist eine der Ursachen bekannt – und seine Kritik wurde zumindest inhaltlich dafür. Aber auch diejenigen, die sich als Christen verste- aufgegriffen, wenn auch meist in abgemilderter Form. Von hen, haben oftmals eine eindimensionale Vorstellung. der Beschimpfung der Kollegen zur Beschimpfung des Dabei gibt es Stellen im Neuen Testament, in denen Jesus Publikums war es nun nur noch ein kleiner Schritt. uns plötzlich sehr fremd sein kann. Die Idee allerdings war nicht neu. Sie hat zwar zum Aufruhr im ehrwürdigen Kulturbetrieb geführt, aber sie Foto: Göran Johansson, „Angry“, Flickr Zweierlei Publikumsbeschimpfung war alt, und Handke wusste das. Denn eine der Beschimp- Vor wenigen Wochen hat Peter Handke den fungen, die Handke an das Publikum richten lässt, lau- Nobelpreis für Literatur bekommen. Ich muss geste- tet: „Ihr übertünchten Gräber!“ Ein wörtliches Zitat von hen, bisher kannte ich nur die Titel von zwei Frühwer- Jesus! Ob Jesus wohl heute auch einen Literaturnobelpreis ken von ihm – aber die Titel sind schon eindrücklich bekäme? Vieles von dem, was er sagte, ist jedenfalls ausge- genug: „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ und sprochen kunstvoll. „Publikumsbeschimpfung“. Tumulte und Prügeleien wie bei der Uraufführung Die Uraufführung der Publikumsbeschimpfung kann von Handkes Publikumsbeschimpfung dürfte es vielleicht man auf YouTube anschauen; sie war 1966 in Hamburg; ebenfalls gegeben haben. Verhältnismäßig unbekannt ist Handke war gerade mal 23 Jahre alt. Es ist ein durchaus die Publikumsbeschimpfung, mit der nicht Handke, son- unterhaltsames Sprechstück für vier Sprecher, in dem das dern Jesus, für Aufruhr gesorgt hat. Eine „schöne“ Bibel- Publikum nur die letzte Viertelstunde lang beschimpft stelle ist sie nicht – doch Christen brauchen auch den Mut, 6 3 . J a h r g a n g + D e z e m b e r 2 0 1 9 3
sich einer unbequemen zu stellen. O ja, die schönen Bibel- Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt! Aber ihr stellen sind wichtig; sie machen Mut, stärken im Leben, habt es nicht gewollt. Und nun? Euer Tempel wird von führen uns das Ziel vor Augen. Aber um weiterzukommen Gott verlassen sein und völlig zerstört werden… und Neues zu erkennen, sind die unbequemen vielleicht Aus Mt 23 – gekürzt, HfA-Übersetzung wichtiger, die, an denen wir uns reiben müssen. Die Pub- likumsbeschimpfung aus dem Matthäusevangelium ist so Heiliger Zorn unbequem, dass sie im Zyklus der Sonntagslesungen – ein- Die unbequeme Frage, die sich stellt, wenn wir diesen fach weggelassen wurde. Das ist doch wohl ein Grund, erst Text lesen, und die uns vielleicht weiterbringen kann, ist recht einmal hinzuschauen. die: Wie kommt Jesus dazu, seine Zuhörer so zu beschimp- Das ist die Beschimpfung, die Jesus im Matthäus fen? So, dass uns hier ein Jesus begegnet, den wir sonst gar evangelium herabprasseln lässt: nicht kennen, einer, dem vollkommen der Kragen platzt? Einer, der sich noch viel mehr aufregt als Handke ange- Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer! Ihr sichts des biederen und oberflächlichen Literaturbetriebs Heuchler! Ihr versperrt anderen den Zugang zu Gottes in den 1960er Jahren. himmlischem Reich. Denn ihr selbst geht nicht hin- Wenn Jesus dermaßen ausrastet, dass er redet wie sonst ein, und die hineinwollen, hindert ihr auch noch nur Johannes der Täufer oder einer der Propheten Israels, daran. Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer! wenn er so gar nicht sanft und jesusmäßig ist, dann kann Ihr Heuchler! Ihr reist in der Welt herum, um nur es sich nicht um eine Kleinigkeit handeln. Und das tut es einen einzigen Nichtjuden dafür zu gewinnen, eure auch nicht. Er sagt es ja deutlich, was ihn aufregt: Gesetze anzuerkennen. Und wenn ihr einen gefun- den habt, dann wird er durch euch zu einem Anwär- 55 Es sind Spitzfindigkeiten, die einen Eid entwer- ter auf die Hölle, der euch an Bosheit noch übertrifft. ten; sie sind auf demselben Niveau, wie wenn ein Kind meint, ein Schwur gilt nicht, wenn es Wehe euch! Ihr wollt andere führen und seid doch selbst dabei die Finger hinter dem Rücken kreuzt. blind. So behauptet ihr: „Beim Tempel Gottes schwö- 55 Es ist diese Haltung, die bei Kleinigkeiten alles ren, das hat nichts zu bedeuten. Aber wer beim Gold pedantisch genau nimmt, aber bei den wirk- im Tempel schwört, der muss seinen Eid halten.“ Ihr lich wichtigen religiösen Geboten wie der Nächs- blinden Narren! Was ist denn wichtiger: das Gold oder tenliebe auf einmal ganz großzügig wird. Siehe der Tempel, durch den das Gold erst geheiligt wird? das Wort von den Mücken und Kamelen. 55 Es ist dieser Anspruch, andere führen zu Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer! Ihr können, obwohl man selbst doch am wenigs- Heuchler! Sogar von Küchenkräutern wie Minze, Dill ten durchblickt. Stichwort: Blinde Verführer. und Kümmel gebt ihr Gott den zehnten Teil. Aber die 55 Es ist der Anspruch, etwas Besseres zu sein, dabei ist viel wichtigeren Forderungen Gottes nach Gerechtig- alles Lug und Trug – wie bei den angemalten Gräbern. keit, Barmherzigkeit und Treue sind euch gleichgül- 55 Es ist – und dabei wird es jetzt wirklich todernst – tig. Doch gerade darum geht es hier: das Wesentliche die Bereitschaft, zur Umsetzung der eigenen Inte- tun und das andere nicht unterlassen. Ihr aber ent- ressen über Leichen zu gehen: eine Haltung, die fernt jede kleine Mücke aus eurem Getränk, doch Jesus schließlich das Leben kosten wird und die er ganze Kamele schluckt ihr bedenkenlos hinunter. nach den Evangelien durchaus durchschaut hat. Andere wollt ihr führen, dabei seid ihr selbst blind. 55 Und es ist das, was er ganz am Anfang gesagt hat: Mit dieser Haltung verstellen sie anderen Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer! Menschen den Weg ins Reich Gottes. Ihr Heuchler! Ihr wascht eure Becher und Schüs- seln von außen ab, doch gefüllt sind sie mit dem, was Es wäre sehr billig, wenn wir jetzt sagen wollten, naja, die ihr anderen in eurer Gier genommen habt. Ihr blin- Pharisäer und Schriftgelehrten halt. Gut, dass er ihnen ein- den Verführer, reinigt eure Becher erst einmal von heizt! Denn weder ist es so, dass es diese Haltungen heute innen, dann wird auch ihr Äußeres sauber sein. nicht mehr gäbe, noch haben wir einen Grund anzuneh- men, dass Jesus sie heute mehr toleriert als damals. Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer! Ihr Es ist nicht, dass diese Leute Sünder sind, was Jesus Heuchler! Ihr seid wie die weiß getünchten Grabstät- aufregt. Jesus hat sich ja viel mit Sündern abgegeben. Son- ten: Von außen erscheinen sie schön, aber innen ist alles dern es ist die Scheinheiligkeit, dass sie die Religion egois- voll stinkender Verwesung. Genauso ist es bei euch: Ihr tisch ausnutzen, dass sie sich für etwas Besseres halten und steht vor den Leuten als solche da, die Gottes Willen vor allem, dass sie mit ihrer verlogenen Haltung anderen tun, aber in Wirklichkeit seid ihr voller Auflehnung den Weg zu Gott verstellen. Es sind alles Dinge, die wir in und Heuchelei. Ihr Schlangenbrut! Wie wollt ihr der der Kirche tausendfach wiederfinden und bei denen vor Hölle entrinnen, zu der Gott euch verurteilen wird? allem die Amtsträger wie ich Gewissenserforschung leisten müssen. Jerusalem! O Jerusalem! Du tötest die Propheten und Aber die Frage geht auch an uns Christen alle: Wie steinigst die Boten, die Gott zu dir schickt. Wie oft schon glaubwürdig sind wir? Halten wir uns auch an Kleinig- wollte ich deine Bewohner um mich sammeln, so wie eine keiten oder liegt uns das am Herzen, was wichtig ist, also 4 Christen heute
vor allem Gott und die Menschen? Leben wir so, dass wir Nicht eindimensional anderen den Weg zu Gott ebnen? Nein, Jesus ist nicht so eindimensional, wie viele Men- zweite Hälfte des 17. Jhd. Aus Wikimedia Commons. Jesus beschimpft sein Publikum nicht, um die Leute schen denken. Stattdessen können wir an ihm immer wie- Bild: „Tempelreinigung“, Luca Giordano, Italien, zu veräppeln und vielleicht zu unterhalten – bei Handke der neue Facetten entdecken – wie an jedem Menschen. mag das so gewesen sein. Er beschimpft es auch nicht, weil Es gibt ja sogar eine Stelle in den Evangelien, die in diesem er boshaft wäre und seinen Frust abladen wollte. Er tut Zusammenhand spannend hätte werden können, nämlich es, um sie aufzurütteln; für ihn steht alles auf dem Spiel: die, an der Jesus selbst seine Jüngerinnen und Jünger fragt, die Beziehung zu Gott und den Mitmenschen und damit welches Bild sie von ihm haben: „Ihr aber, für wen haltet Himmel und Hölle. Er tut es, um sie zu gewinnen für eine ihr mich?“ (Mt 16,15). wirkliche Nachfolge, für seine neue Lebensweise, für Got- Sie hätte nur spannend werden können, denn lei- tes neue Welt. der zeigt sich Petrus übereifrig, zumindest so, wie ihn der Ganz am Ende der Rede sagt Jesus, was Gott eigent- Evangelist schildert. Ich hätte zu gern erfahren, was die ein- lich will: zelnen Menschen, die Jesus folgten, geantwortet haben. Ich bin sicher, jede und jeder von ihnen hätte eine andere Ant- Wie oft schon wollte ich deine Bewohner um mich wort zu geben gehabt, je nachdem, welche Facette an Jesus sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre ihnen besonders wichtig schien. Stattdessen haut Petrus Flügel nimmt! Aber ihr habt es nicht gewollt… gleich die sozusagen amtlich gültige Antwort heraus: „Du Mt 23,37 bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!“ Darum geht es: Gott will die Bewoh- ner Jerusalems – und ich glaube, wir dürfen ergänzen: die Bewohner der ganzen Welt – um sich sammeln und in seinen Schutz nehmen. Gott will die Menschheit um sich einen – und es macht Jesus fertig, dass ausgerech- net die an der Spitze der Religion ihm dagegen arbeiten. Unsere Berufung als Kirche Jesu ist es, dass wir Gottes Ruf hören und uns um ihn versammeln; dass wir Menschen dazu einladen und ihnen nicht den Zugang erschweren. Unsere Berufung ist, das zu leben, was für Jesus der Kern ist: die Liebe zu Gott und den Mitmenschen. Auch wenn wir alles andere als vollkommen sind – das ist nicht das, was Jesus aufregt. Unvollkom- men dürfen wir sein, Heuchler nicht. Wenn nur unser Bemühen ernsthaft ist, wenn wir uns nur nicht als etwas Besseres fühlen, wenn Tja, stimmt natürlich, irgendwie. Was lässt sich dazu wir nur das im Blick behalten, auf das es ankommt, anstatt noch sagen oder ergänzen? Also schweigen die Jünger irgendwelcher Kinkerlitzchen – dann sind wir auf dem nach Matthäus. Schade! Es hilft nichts, sich als Theologe richtigen Weg. Dann sammelt uns Gott schon um sich. zu sagen, dass hier wahrscheinlich nicht wirklich Petrus An Bibelstellen wie der Publikumsbeschimpfung Jesu spricht, sondern der Glaube der Gemeinde des Matthäus oder auch der Tempelaustreibung merke ich den Unter- ausgedrückt ist. Welches Bild die Menschen aus dem Jün- schied: Für uns scheint Religion manchmal ein Spiel zu gerkreis haben, erfahren wir nicht. sein, wenn auch eines, das wir mit Ernsthaftigkeit betrei- Also müssen wir damit leben, dass niemand uns die ben. Für Jesus aber ist sie ernst. Er glaubt wirklich an das Frage abnimmt: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ Wir Reich Gottes, das bevorsteht und das manche Leute aber alle können diese Frage nur selbst beantworten, jede und verhindern. Er glaubt wirklich, dass das nicht ohne Kon- jeder nur für sich selbst. Auch ich selbst werde nie die für sequenzen bleiben wird. Für ihn stehen die Gottes- und mich endgültige Antwort finden; sie kann morgen schon Nächstenliebe wirklich und immer an allererster Stelle. anders ausfallen als heute. Alte dogmatische Formeln hel- Dass es Menschen gibt, bei denen das ganz anders ist, lässt fen uns da wenig, denn es bleibt immer noch die Frage, was ihn nicht kalt – und dann kann er uns fremd werden. sie für uns bedeuten. Welches Wort Jesu rührt mich beson- Dann kann er so werden, dass seine Jünger das Wort aus ders an? Welche Facette ist mir besonders nah? Was betrifft Psalm 69 auf ihn anwenden: „Der Eifer für dein Haus wird mich persönlich? Was leuchtet mir ein? Niemand nimmt mich verzehren“ ( Joh 2,17). mir die Antwort auf die Frage ab: Welches Bild habe denn ich von Jesus? ■ 6 3 . J a h r g a n g + D e z e m b e r 2 0 1 9 5
die Realität herankämen, nicht nur an die historische Realität, sondern auch an die aktuelle Wirklichkeit. Ich erinnere mich noch daran, wie ich in Jerusalem vor etlichen Jahren bei einem Araber eine Olivenholzkrippe kaufte und mir besonders die verschie- denen Jesus-Figuren vorher genau anschaute. Da gibt es so unterschied- liche und abenteuerliche Variationen: den Jesus mit arabischem (nahöstli- chen) Einschlag, mit europäischem Feeling, einen schon fast erwachsenen Körper da in der Krippe, einen barock- typischen wohl gerundeten Buben, einen adelig vornehmen, einen aske- tisch heiligen Hunger-Jungen usw... Eine Überlieferung über das historische Aussehen Jesu gibt es nicht An Weihnachten dürfen wir uns fragen lassen: Was ist mein Jesus- bild? Wie stelle ich mir dieses Kind und diesen Menschen aus damaliger Zeit vor? Hat er Ähnlichkeit mit mir selbst, bringe ich ihn in Verbindung mit einem meiner Freunde, Verwand- ten, Idole? Für mich ist, um ehrlich zu sein, ein Problem, dass all diese Krip- Dekan i. R. pen-Heilande starr sind. Nicht nur, Harald Klein Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder… dass sie nicht schreien, nicht wim- ist Mitglied mern, nicht glucksen, nein, sie rühren der Gemeinde sich auch überhaupt nicht. Und das ist Eine vergessene Rosenheim doch eigentlich das hervorstechendste Merkmal eines kleinen Kindes: Es bewegt sich, macht sich bemerk- Eigenart Jesu bar, will etwas erreichen. Manch- mal denke ich, all die Jesusbilder der heutigen Christen sind geprägt von Von H ar a ld K lein den leblosen Figuren der Strohkrip- pen. Dieser Jesus ist einfach ein VIP I Foto: Mars-Sonde „Curiosity“ („Neugier“). Von der NASA. mmerhin, es kommen nun im handelt: Es ist das Jesuskind in der zum Anschauen, ein Wertgegenstand Dezember wieder Tage auf uns Weihnachtskrippe. in meiner Weihnachtskrippe. Aber zu, an denen sich Menschen der Mag ja sein, dass das je nachdem was der alles unternommen, was der heutigen Zeit mit Jesus befassen. Die ein sehr wertvolles oder kunstvol- bewegt und in Leben umgesetzt hat, Vorbereitung auf Weihnachten und les Objekt ist, aber es ist eben nur ein das ist so gut wie unerkannt. das Fest selbst lassen den Kirchen- Bild, ein Jesusbild und nicht die reale Wenn wir als Christen schon den mann und die Kirchenfrau von heute Gestalt und Persönlichkeit Jesu. Aber Mut haben, diesen Menschen zentral aufatmen: Endlich, Jesus wird einmal wie soll es anders gehen? Handelt es im Jahr als Kind zu feiern, ihn gerade wieder aus der Versenkung geholt; sich nicht immer nur um eine Vorstel- als Kind zum Mittelpunkt von Tra- endlich, Menschen greifen nach die- lung, ein Bild, wenn wir uns Gedanken dition und Glaube zu machen, dann ser Gestalt aus alter Zeit. Und es ist um Jesus machen oder zu ihm beten? sollten wir uns denn doch auch die kein theoretisches Beschäftigen, kein Es geht ja gar nicht anders, als dass Frage stellen, was an der Persönlich- rein mentales Nachdenken. Nein, die wir selbst Fantasie anwenden, kreativ keit Jesu von Nazareth denn so kind- Leute nehmen Jesus wirklich in die werden, wenn wir jemand Anderen in lich, so kindähnlich war. Man muss ja Hand, betrachten ihn, lassen ihren unser Weltbild holen. Und trotzdem, zugeben, dass er selbst einen starken Blick auf ihm ruhen. Das Problem ausgerechnet bei diesem doch arg ein- Bezug zu Kindern hatte: Er hat sie, die ist nur, dass es sich dabei um eine maligen Menschen aus Israel wäre es damals wenig geachtet waren, in den Puppe, eine Holz- oder Gipsfigur schön, wenn wir einigermaßen nah an Arm genommen und wertgeschätzt. 6 Christen heute
Bild: Lukas Cranach der Ältere, „Madonna mit Kind unter Aber vor allen Dingen hat er ihr kind- an Weihnachten feiern könnte, aber im Erwachsenenalter – wären wir der Tanne“, um 1510, Breslau. Aus Wikimedia Commons. haftes Wesen geradezu zum Vorbild eigentlich nie registriert hat: Jesus Menschen nicht das geworden, was für menschliches Verhalten erkoren. war neugierig. Ich weiß, das Wort wir sind. Das ist uns genetisch mit auf Was hat ihn selbst mit Kindern ver- hat im Deutschen seit fast 300 Jah- den Weg gegeben. Das ist die her- bunden? Wieso ist es absolut gerecht- ren einen negativen Beigeschmack. vorstechende Eigenschaft: dass uns fertigt, Jesus als „kindhaft“ zu feiern Aber ursprünglich ist es ein durch- Neues interessiert, dass wir Neues ken- und zu ehren? aus positives Wort. Die Neugierde ist nenlernen wollen, wir uns auf Neues das entscheidend Wertvolle, das uns hinbewegen. Jesus war real ein Kind Menschen von vielen anderen Lebe- Ist uns das bewusst, wenn wir an Fragen wir uns: Wodurch fallen wesen unterscheidet. Menschen sind Weihnachten eine ehrwürdige Krip- Kleinkinder auf ? Zum Beispiel, so neugierig: ganz und total neugierig als penlandschaft aufbauen und eine meine ich, doch durch ihre Schutzlo- Kind, als gerade geborenes Kind. Aber kleine starre Holzfigur in ihrer Mitte sigkeit. Jesus hat dazu wahrlich gestan- im Gegensatz zu z. B. Menschenaffen platzieren? Dass Jesus historisch den bis an sein Lebensende. Er hat bleibt der Mensch, wenn er sich traut, garantiert und sicherlich da in der keine Verteidigungsstrategie erlernt, sein ganzes Leben lang neugierig. Das Krippe total neugierig war? Wir alle hat sich nicht hinter Machtstruktu- hat ihm all seine Entwicklungsschritte sind es einmal gewesen, nach unserer ren und starken Freunden versteckt. möglich gemacht, all sein Lernen, eigenen Geburt, aber viele haben es im Er hat auch kein System aufgebaut, all sein Erfinden und sich Ändern. Lauf des Lebens abgelegt. Die Gründe das ihn vor Überraschendem schüt- Ohne die gelebte Neugierde – auch mögen vielfältig sein: Manche halten zen würde, kein Glaubenssystem, kein Liturgiesystem, kein Moralsystem. Er war ohne Hintergedanken. Als zweites fallen mir Kinder auf durch ihre Gegenwärtigkeit. Wenn sie schlafen, schlafen sie, wenn sie schreien, schreien sie (und zwar mit Macht), wenn sie lächeln, lächeln sie, wenn sie traurig sind, trauern sie. Auch das hat Jesus sehr konsequent beibehalten im Leben: Er hat nie ver- tröstet, nichts auf später verschoben. Jesus war, wie er war, und zwar immer direkt, spontan. Kinder sind ohne Vorurteile, sie haben keine Klassifizierungen. Kinder bewerten nicht bzw. richten nicht. Als erstes begegnen sie, berühren sie und staunen. In einem gewissen Sinn sind Kinder frei, und das kann man wohl auch deutlich von Jesus sagen. Ich weiß, schon jetzt setzen sich eine Reihe von Theologen massiv zur Wehr: „Jesus darf man nicht einfach mit einem Kind vergleichen, dann geht ja die ganze Allwissenheit und Allmächtigkeit, die ganze Größe und Überlegenheit dieses Gottessohnes verloren!“ Aber dann lest Euch erst- mal die Bergpredigt durch, und Ihr merkt, wie wenig Jesus das Großsein und Nichtkindgemäße an oberste Stelle gesetzt hat. Jesus ist im Herzen Kind gewesen, nicht unbedingt im Sinne von „naiv“, wohl aber im Sinne von unfertig und im Anfang begriffen. Neugierde macht uns zu Menschen Und so fällt mir noch ein weite- rer Charakterzug – oder, sagen wir, eine andere Eigenart Jesu ein, die man 6 3 . J a h r g a n g + D e z e m b e r 2 0 1 9 7
sich für ausreichend mit Wissen und Tod für uns wichtig . Im Wort curio- Josef geht auf die neue Situation zu, Erfahrung versorgt, manche haben sitas steckt die cura, die Sorge. Wenn bringt sich ein, lässt sich von dem zu oft einen Nasenstüber bei ihrem etwas aus der Reihe fällt, ungewohnt Neuen herausfordern. Und am Ende Fragen und Suchen erhalten, man- ist, sorgen wir uns darum. Nur so ist sagt er zu seinem Vater: Du brauchst che sind es leid, immer unterwegs, auf die Humanitas, die Menschlichkeit dich nicht um dein Wohlergehen zu dem Weg zu sein (allerdings kannte entstanden. Klar, es gibt Landsleute, sorgen in dieser Zeit des Hungers; man die Christen ja mal als „die auf die nur die „Normalen“ versorgen ich kümmere mich um euch. dem Weg“). Jesus war neugierig, Jesus wollen, die Arischen und Einheimi- hat die Neugierde der Kinder nicht schen, aber eben nicht die Ungewohn- Neugierde ist eine christliche Tugend abgewertet, sondern selbst hoch und ten und Fremden. Denen ist ganz Auch Jesus ist einer, der sich heilig gehalten. viel Menschlichkeit leider verloren gekümmert hat. Er ist hingegangen Uns fallen da zur Abschreckung gegangen. zu den Menschen, hat sie angespro- blitzschnell Gaffer ein, die Unfallsze- Ein Mensch soll neugierig sein, chen, sie gefragt. Jesus war eben nicht nen fotografieren und ins Netz stel- ohne Neugierde verliert er als Mensch ein Besitzer und Hüter alter Wahr- len, oder Klatschmäuler, die nichts seine Würde. Auch in der deutschen heiten, der von einer Kathedra aus mehr interessiert als Dinge, die sie Vokabel steckt Beachtenswertes: Das gelehrt hätte, sondern ein Abenteurer ohne innere Beteiligung weitersagen „Neue“, das „Unbekannte“ ist enthal- Gottes. Wie ein kleines Kind, das die können. Neugierde scheint uns ein ten und die etwas unheimliche „Gier“ Welt entdecken will, hat er sich von Verhalten, das kühl die eigene Leere oder „Lust“. Ist uns aber bewusst, Menschen berühren lassen, anrüh- ren und hineinziehen in ihre Prob- leme und Nöte. Jesus war auf dem Weg, hat dazugelernt und sich somit entwickelt. Vom braven Kind seiner Eltern über die Schülerzeit bei Johan- nes dem Täufer wurde er zuerst einer, der zusammen mit Freunden sich und seinen Weg suchte, der die Menschen besuchte und aufsuchte und ihnen Zukunft und Liebe zusprach. Und schließlich ging Jesus auch den für ihn nun neuen Weg hinein nach Jerusa- lem, den Weg der Auseinandersetzung mit der Macht und Finsternis. Er ging neugierig in den Tempel und war über die Händler und Opferpriester ent- setzt. Während die Apostel sich aus dieser neuen, gefährlichen Auseinan- dersetzung zurückzogen, hat Jesus sich füllen will mit Spannungselementen dass das Wort Gier von der Herkunft wie ein ehrliches Kind hineinbegeben, Bild: Lukas Cranach der Jüngere, „Christus segnet die Kinder“, um aus anderer Leute Leben. mit „gern“ zu tun hat? Gier hört sich sogar noch in den Tod. 1546, Johanniterkirche, Schwäbisch Hall. Aus the-athenaeum.org. heute einseitig und bedrohlich an, Eine Kirche, die sich auf Para- Neugierde ist mehr aber im Kern meint Neu-Gier, dass graphen und zweitausend Jahre alte Das lateinische Wort für Neu- wir das Unbekannte lieben, weil es Opferriten zurückzieht, Pfarrer, gierde lautet curiositas, und so hat es uns hilft, uns selbst zu finden. Sich die für die Gedanken- und Lebens- sich in viele heutigen Sprachen hinein gern um etwas kümmern, das uns welt ihrer Anvertrauten kein Inter- fortgepflanzt (italienisch, französisch, auffällt, kurios erscheint, sich ehrlich esse mehr aufbringen, Menschen, die englisch...). Auch uns ist dieser Begriff neuer Fragen und anderer Menschen nicht mehr wagen, sich selbst und ihre nicht fremd. Kurios ist etwas, das annehmen, das ist eine menschliche Grundlagen in Frage zu stellen, haben spontan auffällt, das erstaunt. Kurio- und auch christliche Tugend. mit Christus keine Ähnlichkeit mehr. ses ruft in uns das Bedürfnis hervor, Im Alten Testament ist es in Neugierig zu sein, sich auf Zukunft uns darum zu kümmern (s. Name der besonderer Weise der ägyptische Josef, und Neuentwicklung einzustellen, US-Marssonde). Wir schauen es uns der „neugierig“ ist. Ganz klar erlebt er sich mit ganzem Herzen einzubringen an, wir bewegen uns darauf zu, wir bei dieser Leidenschaft auch Bauch- in Unbekanntes, das sollte gerade an interessieren uns dafür (Interesse = landungen, muss mehrfach um sein den Tagen der Weihnacht etwas sein, Dabeisein). Leben bangen. Aber es ist bei ihm ja das uns an dieses Kind in der Krippe Jedes gesunde menschliche Klein- nicht eine tatenlose Gaffer-Neugier, erinnert: Ohne seine Neugier, sein kind verfolgt alles Kuriose, macht sondern tatsächliches Kümmern um Kümmern und auch Fragen wäre das gerade so seine entscheidenden Erfah- Zukunft. Bei Potifar, im Gefängnis, nie der Sohn Gottes gewesen. ■ rungen und Zugewinne. Und ganz am Hof des Pharao, beim erneuten natürlich ist diese Eigenart bis zum Zusammentreffen mit seiner Familie: 8 Christen heute
Für wen haltet Ihr mich? Meinungsumfrage mit Schweigegebot Vo n Ulr ich K at zen bach Für wen halten die Leute mich? Markus 8,27 I m Evangelium wird uns von einer Meinungs- lädt uns ein, uns in der Liebe Gottes, trotz aller Schuld- umfrage im Kreis der Jünger berichtet. Es gibt da sehr und Todeserfahrung, geborgen zu fühlen. unterschiedliche Meinungen und Einschätzungen, die In dieser Spannung ist er für mich einzigartig und ein- über ihn so in Umlauf sind. malig in der Menschheitsgeschichte und sprengt zugleich Aber Jesus geht bei seiner Befragung einen entschei- unser menschliches begrenztes Vorstellungsvermögen. Er denden Schritt weiter: „Und Ihr, für wen haltet Ihr mich?“ passt in kein Schema, in keine Schublade und lässt sich von (Mk 8,29). Für wen hältst Du mich? Was bedeute ich für niemandem vereinnahmen und instrumentalisieren: Den dich? Hier geht es nicht mehr bloß um eine allgemeine, Radikalen war er zu gütig, den Gütigen zu radikal, den unverbindliche Meinungsäußerung, um das, was „man“ so Traditionalisten war er zu umstürzend, den Umstürzlern denkt, sondern hier geht es um eine ganz persönliche Stel- zu friedfertig. Den Friedfertigen war er zu provozierend auf Dekan lungnahme: Wie stehst du zu mir? Wer bin ich für dich? der Seite der Armen, den Parteiischen war er zu gerecht, i. R. Ulrich Wie würde ich, wie würden Sie auf diese Frage ant- den Gerechten zu vergebungsbreit, den Frommen war er zu Katzenbach ist Mitglied worten? Wie sieht meine persönliche Einstellung zu Jesus weltlich, den Weltlichen redete er zu viel vom Reich Got- der Gemeinde aus? Was bedeutet er für mich. Auf diese persönliche Frage tes. Den Gesetzeslehrern war er zu liberal und den Libera- Frankfurt möchte ich versuchen auch eine persönliche Antwort zu len redete er zu viel vom Willen Gottes. geben: Das war provozierend, das machte ihn angreifbar, führte ihn zum Konflikt mit den Dogmen, mit den Ideolo- Er passt in kein Schema gen, mit den Mächtigen. Weil er die vielen uns vertrauten Zunächst: Für mich ist Jesus eine so faszinierende, oft so engen und kleinkarierten Denk- und Lebensmuster authentische und einzigartige, friedfertige und zugleich durchkreuzte, landete er schließlich am Kreuz. provozierende komplexe Persönlichkeit von der Krippe In ihm haben sich die Gegensätze gekreuzt: Tod Foto: Katie Tegtmeyer, „Talk Shows On Mute“, Flickr bis zum Kreuz, dass es mir schwerfällt, ihn mit einem und Leben, Glaube und Zweifel, Hass und Liebe, Schuld bestimmten Titel, mit einer prägnanten Glaubensformel, und Vergebung. Jesus hat den Zöllnern ihre Betrügereien mit einem Dogma oder kurzen Beschreibung definieren zu nicht gestattet, aber er hat ihnen seine Freundschaft ange- können. Er begleitet mich von Kindheit an so sehr, dass ich boten. Jesus hat das Verhalten der Ehebrecherin nicht mich sogar entschieden habe, mein ganzes Leben, meine gutgeheißen, aber er hat sie vor den selbstgerechten Rich- Berufswahl auf ihn hin auszurichten. tern geschützt. Das Leben und die Botschaft Jesu for- In seinen Worten und Taten verbindet er für mich, dern mich immer wieder neu heraus, mein oft einspuriges dem Kreuz entsprechend, die horizontale (humanitäre) Hirn und Herz zu weiten und mein Leben vom Zwang ganz menschliche Dimension unseres Lebens durch seine des vorurteiligen Schubladendenkens befreien zu lassen: universale Menschfreundlichkeit und Solidarität mit allen weg von selbstherrlicher und besserwisserischer Arroganz Geschöpfen einerseits mit der vertikalen (transzenden- hin zur Demut, zur Toleranz und zum Respekt vor der ten) göttlichen Dimension andererseits durch seine tiefe Vielfalt des Lebens mit all seinen bunten Fassetten und Sehnsucht und ein nicht zerstörbares Vertrauen auf den, Widersprüchlichkeiten. den wir Gott nennen. Er bringt uns Menschen diesen Gott nahe als die liebende Mutter und den sorgenden Vater und Die richtige Antwort – trotzdem Schweigen zugleich als den Schöpfer der Welt. Er lebt uns vor und Im Evangelium ergreift Petrus in seiner spontanen Art das Wort, um Jesus auf seine Frage zu antworten. Er 6 3 . J a h r g a n g + D e z e m b e r 2 0 1 9 9
formuliert das damals bei den ersten Christen gängige Es geht nicht um ein auswendig gelerntes Credo, das Glaubensbekenntnis: „Du bist der Messias!“ (Mk 8,29). wir einwandfrei und theologisch korrekt zitieren und beru- Petrus fällt es offensichtlich leichter als mir mit meinen higt in die Schublade unseres Wissens ablegen könnten; vielleicht zu umständlichen und weitschweifenden Erklä- seine Persönlichkeit, seine Botschaft ist und bleibt so faszi- rungs- und Annäherungsversuchen kurz und knapp seine nierend und zugleich so provozierend, dass wir uns davor Meinung über Jesus auf den Punkt zu bringen: „Du bist der hüten sollen, sie als unfehlbare Wahrheit in ein fertiges Messias!“ Dogmensystem zu pressen. Seine Wahrheit lässt sich nicht Die Reaktion Jesu auf dieses klassische Bekenntnis durch eine Person oder Gruppe in Besitz nehmen, um sich ist für mich sehr bemerkenswert. Kein Lob, keine bestäti- dann mit einem Absolutheitsanspruch anzumaßen, darü- gende Anerkennung für diese treffsichere, dogmatisch kor- ber zu urteilen, wie weit entfernt andere von dieser Wahr- rekte und perfekte Antwort, kein: „Prima Petrus, du hast es heit Jesu sind. genau auf den Punkt gebracht! Nun sieh zu, dass auch die Ein zweiter Aspekt: Nicht unsere Worte und Bekennt- anderen endlich begreifen, mit wem sie es bei mir zu tun nisse, sondern unsere Taten geben letztlich Auskunft haben, und sorge dafür, dass alle, die eine andere Meinung darüber, wer Jesus für uns ist. So heißt es zum Beispiel haben, in ihrem Irrtum korrigiert werden. Und wer sich der im Jakobusbrief: „Was nützt es, wenn einer sagt, er habe Wahrheit dieses gültigen Bekenntnisses nicht anschließt, Glauben, aber es fehlen die Taten?“ ( Jak 2,14). Glaubens- den musst du bekehren oder aus der Gemeinschaft mei- bekenntnisse können leicht über die Lippen gehen. Aber ner Freunde ausschließen.“ Solche elitären Töne sind aus entscheidend ist die Glaubwürdigkeit solcher Bekennt- dem Mund Jesu nicht zu hören. Nein, Jesus reagiert auf das nisse. Mein Leben, mein Tun, die Art und Weise, wie ich Bekenntnis des Petrus überraschend anders: „Da verbot er mit Menschen umgehe, wie sehr ich mich um Verständnis ihnen mit jemandem über ihn zu sprechen!“ (Mk 8,30). und Liebe, um Hilfsbereitschaft und Frieden bemühe, ent- Schon immer hat mich die Frage beschäftigt, wie die- scheidet darüber, ob mein Leben zu dem passt, was Jesus ses Schweigegebot Jesu zu verstehen ist. Offensichtlich gesagt und vorgelebt hat oder nicht. Das war und ist für haben sich seine Leute ja nicht daran gehalten, sonst wüss- mich immer Grund zu selbstkritischer Gewissenserfor- ten wir nichts davon. Mir fallen zu diesem Schweigegebot schung, wenn ich versuche, anderen von Jesus zu erzählen. verschiedene Aspekte einer Erklärung ein: Wie glaubwürdig bin ich? Ein erster Aspekt: Jesus will keine Festlegung auf Ein dritter Aspekt zu diesem Schweigegebot Jesu im eine bestimmte Definition! Jesus will verdeutlichen, dass Anschluss an das Messias-Bekenntnis des Petrus: Wir alle das Geheimnis seiner Persönlichkeit und damit auch das wissen aus der alltäglichen Kommunikation, dass Worte Geheimnis Gottes nicht in irgendeine griffige Formel hin- immer auch missverständlich sind. Viele Worte sind bei einpasst; es geht nicht um eine feste und klare Katechis- verschiedenen Menschen durch unterschiedliche Erfah- musweisheit, die wir „schwarz auf weiß besitzen und so rungen und Sichtweisen ganz unterschiedlich besetzt. Das getrost nach Hause tragen können“. Wort „Messias“ weckte in den Ohren der Juden zur Zeit Jesu ganz bestimmte Hoffnungen und Erwartungen. Sie Aktuelle Umfragewerte Cäsarea Philippi erwarteten den Retter, den Befreier, der das Volk Got- Für wen halten Sie Jesus von Nazareth? tes aus der Herrschaft der römischen Besatzungsmacht 40,1 % befreien sollte, so wie Moses damals das Volk Israel aus der Quelle: Apostel*Umfragen Knechtschaft Ägyptens befreit hatte. Die Unterdrückung der Fremdherrschaft und somit auch die Sehnsucht nach Freiheit war so groß, dass solche Messiaserwartung auch 33,7 % nicht davor zurückscheute, durchaus gewaltsame Mittel für diese Befreiung als legitim und notwendig anzusehen. Da es aber zur Berufung Jesu gehörte, für seinen Weg der Erlösung auf keinen Fall Gewalt einzusetzen, da er den friedfertigen und gewaltfreien Weg wählen wollte, um den Christus, der Sohn Gottes Kreislauf und die Eskalation von Gewalt zu durchkreu- zen, was ihn dann selbst ans Kreuz brachte, daher wollte er nicht, dass der so missverständliche Name „Messias“ mit seiner Person in Verbindung gebracht wird. Dann ist Schweigen besser! Johannes der Täufer Die Provokation des Kreuzes Sonst ein Prophet 12,3 % Wenn Jesus von sich selbst spricht, dann spricht er nicht von Macht und Herrlichkeit und erst recht nicht 8,9 % von gewaltvollem Durchgreifen, um die Ungläubigen zu bekehren und die Befreiung (Reinigung) von allem Bösen 5,0 % Jeremia in dieser Welt herbeizuführen. Er nennt sich selbst niemals Elija Messias, sondern er spricht immer nur vom Menschensohn (Mk 8,33), der ohnmächtig in der Schmach am Kreuz hin- gerichtet wird. Das Gottesbild, das uns Jesus durch sein 10 Christen heute
Kreuz vor Augen stellt, ist damals wie heute ein Skandal ja Legende sein, Tünche, Ausmalung; an der Wahrheit und eine unglaubliche Provokation, oder wie Paulus sagt: von Krippe und Kreuz kommen wir bei Jesus jedoch nicht Hintergrundfoto: photoheuristic.info, „Homeless“, Flickr ein Ärgernis, eine Gotteslästerung in den Augen der Gläu- vorbei. Keine andere Religion leistet sich einen Stifter, der bigen und eine Torheit, eine Spinnerei für die Ungläubigen in Armut geboren wird und der in der Schmach am Kreuz (1 Kor 1, 23). Die Botschaft vom Kreuz disqualifiziert alle, stirbt.“ Diese Worte von Ernst Bloch beeindrucken mich. die in ihrer Allmachtsphantasie meinen, unter Berufung Jesus lädt ein zum Vertrauen auf den Gott, der die oft auf Gott Gewalt, Mord, Totschlag, Terror, brutale Kriege, unbegreifliche Bosheit und Brutalität der Menschen mit aber auch Intoleranz oder Fremdenfeindlichkeit legitimie- der ebenso unbegreiflichen Barmherzigkeit und Gnade ren zu können. Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit ist beantwortet. genau die Perversion von dem, was Jesus vorgelebt und ver- Wer ist Jesus für mich: der Wegbegleiter und Sinnstif- kündet hat. Insofern ist das Kreuz eine unerhörte Zumu- ter, der Tröster, der letzte Halt und Ermutiger in meinem tung für unser Denken und Handeln und eine friedfertige Leben, der auf den Hass der Menschen mit Liebe und auf Kampfansage gegen den Größenwahn der Menschen, meine Angst vor Leid und Tod mit der Einladung zum Ver- Macht über andere auszuüben. trauen und zur Hoffnung auf Heil reagiert. Diesen Men- Jesus zeigt uns einen Gott, der sich mit unserem Leid, schensohn Jesus kann ich letztlich nicht begreifen, aber ich unserer Schwäche und Vergänglichkeit, mit den Frem- möchte mich von ihm immer wieder neu ergreifen lassen. den, den Ausgegrenzten und Abgeschobenen solidari- ■ siert. „Alles Mögliche an der christlichen Botschaft mag ecce homo seht ihn seht den Menschen in jedem Leidenden Menschensohn in jedem Namenlosen ecce homo Gottes Kind eingezeichnet in Schöpferhand verraten einmalig verlassen gottgewollt Vo n J u tta R esp on dek verachtet ins Dasein geliebt gequält zum Heil bestimmt gedemütigt geist-beatmet entstellt als Abbild des Höchsten ■ „Wir möchten Jesus sehen!“ Vo n J u tta R esp on dek auseinandersetzen können. Wahrscheinlich gibt es so viele Jesusbilder, wie es Menschen gibt, die nach ihm suchen E s waren dem jüdischen Glauben naheste- und fragen. Jedem offenbart er sich auf seine Weise, jedem Jutta Respondek hende Griechen, die, wie in Joh 12,20 ff berichtet zeigt er zumindest einen Bruchteil seines Wesens. Denn ist Mitglied der wird, nach dem Einzug Jesu in Jerusalem dieses wer könnte ihn vollständig erfassen? Gemeinde Bonn Anliegen an Philippus richteten. „Wir möchten Jesus Mein Jesusbild hat viele Facetten, die zu unterschied- sehen!“ Sicherlich waren sie neugierig. Sie hatten schon lichen Zeiten ihre jeweilige Bedeutsamkeit hatten und so manches von diesem Jesus gehört und sahen jetzt die haben. Chance, ihn persönlich kennen zu lernen oder ihn wenigs- Da ist, gerade jetzt in der Weihnachtszeit, das Kind tens einmal zu Gesicht zu bekommen. Um sich ein eigenes in der Krippe. Ein Kind wie Millionen anderer Kinder. Bild von ihm zu machen. Was ist er für einer? Ist er wirk- Armselig, hilflos, wehrlos. Am Rande der Gesellschaft im lich so beeindruckend und überzeugend, wie man ihm Elend geboren, vom Tode bedroht, zur Flucht getrieben, nachsagt? Was lässt die Menschen so begeistert ihm hinter- von Handlangern der Mächtigen verfolgt, auf Schutz und herlaufen? Wir wollen ihn mit eigenen Augen sehen und Liebe angewiesen, Zuflucht suchend in der Fremde. Ein uns eine Meinung bilden. Kind, das umarmt, behütet und umsorgt werden will, das Das möchten wir wohl alle. Jesus sehen. Auch heute, heranwachsen und sich entfalten will, das die Welt verste- als seine Nicht-Zeitgenossen, die ihm nicht mehr wie hen lernen und in ihr leben und sie mitgestalten will. Ein die Menschen damals persönlich begegnen können. Wir Menschenkind, in dem Gottes Liebe atmet und zur Welt brauchen ein Bild vor Augen, etwas, das wir uns vor- kommt. stellen können, etwas, das uns anrührt oder ansteckt, Da ist der Menschenbruder, wie er im Lied „Eines was uns begeistert und überzeugt. Womit wir uns Tages kam einer“ von Alois Albrecht und Peter Janssens 6 3 . J a h r g a n g + D e z e m b e r 2 0 1 9 11
Neumünster aus der Zeit um 1350 dargestellt ist: die Arme mit den durchbohrten Händen, aus denen noch die Nägel ragen, von den Kreuzbalken gelöst und zur Umarmung übereinander gelegt. Der am Kreuz erhöhte Menschen- sohn, misshandelt und durchbohrt, der uns an sich zieht und an seinem Herzen birgt mit dem ganzen Schmerz seiner Liebe. Der uns hineinnimmt in sein Leiden, mit unseren Wunden, unseren Ängsten und Sorgen, unserem Fragen und Zagen, mit unserem Versagen und unserer Schuld. Der Gemarterte in seiner Einsamkeit und Hin- gabe, der sich dem unergründlichen göttlichen Willen und der Zusage des Vaters überlässt, der Sein Wort gegeben hat und Seine Verheißung erfüllen wird. Der Mensch in seiner Hoffnung wider alle Hoffnungslosigkeit. Das unter Todes- angst errungene Vertrauen, dass Gottes Liebe größer ist als jede Finsternis und aus Vernichtung und Untergang zum Leben befreit... Die umarmende Liebe dieses Schmerzensmanns zeigt mir die Nähe, die man einander schenken kann, wenn man Trauer und Schmerzen teilt, wirklich und wahrhaftig, von Herz zu Herz. Sie zeigt mir die Treue, die uns niemals verlässt, in keiner Todesnacht. Eine Treue, die bei uns aus- harrt in unserer Ohnmacht, die uns annimmt in unserer Schwachheit, die bei uns bleibt in unserer Verlorenheit, die mit uns leidet und mit uns um Leben und Zukunft ringt; eine Treue, die sich niemals von uns abwendet und uns geleitet in Geduld, die erlöst und befreit, und Heil und Vollendung schenken wird. Menschen als Jesusbilder Diese und ähnliche Bilder kommen mir in den Sinn, wenn ich an Jesus denke, auch wenn sie ihn nicht fassen und nur winzige Mosaiksteinchen eines unendlich gro- ßen Ganzen sind. Wenn ich, wie seinerzeit die Griechen, besungen wird. Einer, mit einem Zauber in seiner Stimme in meinem Leben „Jesus sehen“ und mehr von ihm erfah- Foto: Schmerzensmannkreuz im Würzburger Neumünster und Wärme in seinen Worten. Einer, der Freude und ren will, kann und sollte ich auf den Menschen blicken. Freiheit, Hoffnung und Kraft in die Welt bringt, der den Auf Menschen nah und fern. Frohe und traurige, alte und Menschen mit Offenheit und Liebe, Güte, Treue und junge, kranke und gesunde, unbeschwerte und leidende. Geschwisterlichkeit begegnet. Ein Geist-Erfüllter und Auch sie sind „Jesusbilder“. Lebende Jesusbilder. In ihnen Sinn-Stifter. Einer, der aufrichtet, tröstet und befreit, der zeigt er sich und lässt er sich erkennen. Denn ist er nicht sich der Armen und Schwachen annimmt, der sich ohne „der Mensch“ schlechthin? So jedenfalls bezeichnete Berührungsängste an die Seite der Ausgestoßenen stellt. ihn Pilatus, als er ihn dem Volk vorführen ließ. Seht, den Der das Verwundete im Menschen sieht, der vergibt und Menschen! heilt und mit seinem ganzen Leben in Wort und Tat die Und ich bin sicher: In vielen Menschen auf meinem frohe Botschaft von der göttlichen Vaterliebe bezeugt, die Weg ist er mir begegnet und begleitet er mich, erkannt allen gilt. Ein Menschenbruder, der von sich sagt, der Weg, oder unerkannt, als Kind, als Menschenbruder oder Men- die Wahrheit und das Leben zu sein und sich als das Brot schenschwester oder als Mann bzw. Frau der Schmerzen. gibt, das den Hunger stillt. Sprich: einer, der Orientierung, Als Mitmensch, der mir Nähe schenkt und mich aufrichtet Antwort, Stärkung und Erfüllung sein will. oder der meine Zuwendung, Unterstützung und Anteil- Und auch ein unbequemer Bruder. Einer, der mahnt nahme braucht. Als Mensch, mit dem ich das Leben in und fordert, der Unrecht und Verlogenheit anprangert und Freud und Leid teile. Im Menschen kann ich ihn sehen, an dem sich die Geister scheiden. Der die Augen öffnet, die wenn ich bereit bin, Herz und Augen zu öffnen. Er hat selbstzufriedene Ruhe stört, das Herz in Aufruhr versetzt viele Gesichter und lässt sich nicht auf ein Bild festlegen. und zur Auseinandersetzung und Entscheidung zwingt. Er ist da, wo Menschen leben, hoffen, lieben, er ist da wo Den man nicht ignorieren kann. Leben, Hoffnung, Liebe ist. ■ Und da ist der Gekreuzigte, wie er als Umarmender Kruzifixus im „Schmerzensmannkreuz“ im Würzburger 12 Christen heute
Unser Sehnen nach Heilwerden Heilungserzählungen in der Bibel – von der Gotteskraft, die aufrichtet Vo n Br igitt e Gl a a b D ie Wundergeschichten und Heilungserzählungen der Evangelien werfen immer wieder die Frage auf, ob tatsächlich so stattgefunden hat, was hier berichtet wird. Die Bibelwissenschaftlerin Dr. Ulrike Metternich betonte in ihrem Vortrag bei der Jahrestagung des Bun- des alt-katholischer Frauen (baf ), dass „die Texte der Evangelien 40 bis 60 Jahre nach dem Tod Jesu aufge- schrieben wurden und bis dahin von Mund zu Mund gewandert sind“. Es sind keine historisch nachprüfbaren Tatsachenberichte, sondern Bekennt- nisse zu diesem Jesus, der Menschen mit Heilungserfahrungen beschenkte. spricht er zu ihr: „Tochter Gottes, Maria ankündigt, dass sie schwanger „Jesus selbst wollte nicht als ein Wun- dein Vertrauen hat dich gerettet…“ werden wird. Mit dem Begriff ‚dyna- derheiler verehrt werden“. Er lehnte Die Referentin lehnt die Aus- mis‘ beschreiben die synoptischen es klar ab, sich durch spektakuläre legung ab, die besagt, die Frau habe Evangelien (Matthäus, Markus und Zeichen zu profilieren, als die Phari- einen magischen Glauben und wolle Lukas) an vielen Stellen die spürbare säer und Sadduzäer von ihm ein Zei- durch einen Berührungszauber geheilt Wirksamkeit der Kraft Gottes. Ulrike chen vom Himmel forderten, wie im werden. Ihre Recherchen widerspre- Metternich meint, wenn wir genau Brigitte Glaab 16. Kapitel des Matthäusevangeliums chen auch der Annahme, dass die Frau übersetzen würden, käme das Wort ist Priesterin im berichtet wird. Auch im Markusevan- einen Tabubruch begeht, indem sie ‚Wunder‘ gar nicht vor. Die Heilungs- Ehrenamt in der Gemeinde gelium warnt Jesus vor falschen Mes- sich Jesus nähert und sein Gewand geschichten erzählen von der Gottes- Aschaffenburg und siassen und Pseudopropheten, die berührt. Sie tat nichts, „was der jüdi- kraft, die aufrichtet. Frauenseelsorgerin durch Zeichenhandlungen und Wun- schen Lebenspraxis ihrer Zeit wider- Auch Paulus schreibt im ers- des Bistums der die Menschen in die Irre führen. sprochen hätte“. ten Korintherbrief von der ‚dynamis‘ Dennoch erzählen alle Evangelien Das Berühren des Gewandes Gottes, in der sich das Reich Got- von Menschen, die in der Begegnung erinnert an eine Stelle beim Prophe- tes erweist (1 Kor 4,20). An anderer mit Jesus eine heilende Kraft erfahren ten Sacharja. Hier spricht Gott: „In Stelle betont er, dass seine Botschaft haben. jenen Tagen, da ergreifen, ja ergreifen nicht aus Weisheitsworten besteht, zehn Menschen aus allen Sprachen der sondern aus der Erfahrung von Geist Lichtblickgeschichten inmitten Nationen den Zipfel einer einzigen und gottgegebener ‚dynamis‘ (1 Kor der bedrohten Gegenwart jüdischen Person und sagen: ‚Wir wol- 2,3-5). Anhand der Geschichte von der len mit euch gehen; denn wir haben blutflüssigen Frau aus dem 5. Kapi- gehört: Mit euch ist Gott.‘“ (Sach „Dein Vertrauen hat dich gerettet“ tel des Markusevangeliums stellte 8,23, zitiert nach der Bibel in gerech- Mit einer weiteren Vokabel aus Hintergrundfoto: Mitya Ku, „167“, Flickr Metternich einen alternativen Deu- ter Sprache). In ähnlicher Weise der griechischen Fassung der Texte tungsansatz von Heilungserzählun- könnte es sich bei der vorliegenden beschäftigten wir uns näher. Bei den gen vor. Eine Frau, die zwölf Jahre Geschichte um ein prophetisches Zei- Heilungsgeschichten wird das Wort an Blutungen litt, nähert sich in der chen handeln, das von der Gegenwart ‚sozein‘ oft übersetzt mit ‚gesund Menschmenge Jesus und berührt von Gottes kündet. Indem sie das Gewand machen‘ (oder ‚heilen‘). So wird hinten sein Gewand. Sofort spürt Jesu berührt, spürt die Frau die Got- auch die Heilung der blutflüssigen sie, dass sie von ihrem Leiden befreit teskraft. Im Griechischen steht hier Frau meist verstanden als körper- ist. Auch Jesus spürt die Kraft, die ‚dynamis‘, was Metternich mit ‚Ener- lich gesund werden. ‚Sozein’ hat aber von ihm ausgeht, und fragt, wer ihn gie, Kraft, Wirkung‘ übersetzt. Auch neben ‚heilen‘ auch die Bedeutung berührt hat. Nachdem die Frau ihm Lukas erzählt von der ‚dynamis‘ Got- ‚retten‘, ‚heil herausführen‘ oder ‚in die „die ganze Wahrheit gesagt hat“, tes, die Maria „in ihren Schatten hül- Gottesbeziehung, in die Gottesfamilie len wird“ – so spricht der Engel, der hineinnehmen‘. 6 3 . J a h r g a n g + D e z e m b e r 2 0 1 9 13
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