Die A lt-K atholische Zeitschr ift i n Deutschla Publikumsbeschimpfung von Gerhard Ruisch

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Die A lt-K atholische Zeitschr ift i n Deutschla Publikumsbeschimpfung von Gerhard Ruisch
Christen heute 2019/12

                         Di e A lt-K at hol i sc h e Z e i tsc h r i f t i n Deu tsc h l a n d + 63. Ja h rg a ng · De z e m be r 2 019

                           3   Publikumsbeschimpfung           11   „Wir möchten Jesus sehen!“   18 Gute Vorsätze zum neuen Jahr
                               von Gerhard Ruisch                   von Jutta Respondek             von Gregor Bauer

                           6   Eine vergessene Eigenart Jesu   13 Unser Sehnen nach Heilwerden   30 „‘Īsā ibn Maryam“ –
                               von Harald Klein                   von Brigitte Glaab                Jesus im Islam
                                                                                                    von Georg Spindler
                           9   Meinungsumfrage mit             15   Jesus kann niemals baden
                               Schweigegebot                        von Francine Schwertfeger    40 eRosary
                               von Ulrich Katzenbach                                                von Tobias Zawisla
Die A lt-K atholische Zeitschr ift i n Deutschla Publikumsbeschimpfung von Gerhard Ruisch
Wenn „synodaler Weg“                     Verzicht auf Gold in der Kirche           Primas Welby berichtet über
                                                  scheitert, scheitert Kirche              Der Provinzial der Combo-                 Kampf mit Depressionen
                                                  Der Tübinger Theologe Peter              ni-Missionare in Brasilien, Pater         Der anglikanische Primas Jus-
                                                  Hünermann sieht das Schicksal            Dario Bossi, hat die Kirche aufge-        tin Welby (63) hat offen über seinen
                 Namen & Nachrichten
                                                  der Kirche in Deutschland mit            rufen, keine neuen goldenen litur-        eigenen Kampf gegen Depressionen
                                                  der Reformdebatte des „synodalen         gischen Geräte mehr anzuschaffen.         gesprochen. Der Erzbischof von Can-
                                                  Wegs“ gekoppelt. „Der Weg darf           „Es wäre gut, wenn das nicht wei-         terbury erklärte in einer Video-Bot-
                                                  nicht so enden wie der letzte ‚Dia-      tergeführt würde in unserer Kirche,       schaft, er habe 2018 realisiert, dass er
                                                  logprozess‘: Ansonsten ist die Kirche    auf unseren Altären“, sagte er. „Für      Hilfe brauche. Hilfe zu suchen, sei für
                                                  bei uns total abgemeldet“, sagte er.     ein Gramm eines Goldrings muss            ihn nicht einfach gewesen, habe aber
                                                  Kritik übte der 90-Jährige an den        man 20 Tonnen Erde verunreinigen.“        „einen riesigen Unterschied gemacht“,
                                                  Gegnern des Reformvorhabens: Sie         Gleichzeitig rief Bossi dazu auf, Kapi-   so Welby. Gerade von seiner Tochter,
                                                  sähen nicht, dass alle nun diskutier-    tal bewusst aus Unternehmen zu zie-       die unter teils schweren Depressionen
                                                  ten konkreten Schritte – Stichworte      hen, die ihre Gewinne mit Bergbau         leidet und diese auch öffentlich disku-
                                                  viri probati, mehr Verantwortung für     erzielten. Der diene beim Gold längst     tiert hat, habe er viel gelernt. Durch
                                                  Frauen, Überdenken der kirchlichen       nicht mehr dazu, allein Rohstoffbe-       sie habe er verstanden, dass er sich für
                                                  Sexualmoral, Kontrollinstanzen für       dürfnisse zu befrieden. „Es geht um       seine Depression nicht zu schämen
                                                  Bischöfe – nur vor dem Hintergrund       die Finanzmärkte, die Rendite ist das     brauche und diese „kein Stigma ist,
                                                  des Missbrauchsskandals zu verstehen     Wichtigste, es geht um die Aktionäre,     sondern einfach das Leben“.
                                                  seien. Die Kritiker verkennten „die      das ist absolut absurd“, so der Pater.
                                                  Tiefe der Erschütterung“, die damit      Gleichzeitig gebe es Unternehmen,         Elftausend Wissenschaftler warnen
                                                  einhergingen. Papst Franziskus habe      die bewusst „um Investitionen der         Mehr als 11.000 Forscher aus 153
                                                  den Prozess nicht blockieren, sondern    Kirche werben, um sich einen ethi-        Ländern haben im Fachjournal Bio­
                                                  darauf hinweisen wollen, dass Refor-     schen Anstrich zu geben“. Das sollte      Science erklärt, ohne grundlegendes
                                                  men „keine Anpassung an den Zeit-        man ihnen nicht ermöglichen.              Umsteuern sei „unsägliches menschli-
                                                  geist“ sein dürften und ein „synodaler                                             ches Leid“ nicht mehr zu verhindern.
                                                  Weg“ daher stets geistlich eingebettet   Schlechtes Zeugnis                        „Aus den vorliegenden Daten wird
                                                  sein müsse. „Der Papst warnte also       beim Klimaschutz                          klar, dass ein Klima-Notfall auf uns
                                                  nur vor Kurzschlusshandlungen und        Umweltorganisationen stel-                zukommt“, heißt es in dem Bericht.
                                                  nicht vor Reformen allgemein“, so der    len den 20 größten Industriestaaten
                                                  Theologe.                                ein schlechtes Zeugnis bei der Umset-     Abschiebeflüge nach Afghanistan
                                                                                           zung des Pariser Klimaabkommens           Die Menschenrechtsorganisa-
                                                  Christenverfolgung auf                   aus. Kein einziger G20-Staat befinde      tion Pro Asyl hat die Fortführung der
                                                  den Philippinen                          sich derzeit auf einem Kurs, den          Sammelabschiebeflüge nach Afgha-
                                                  Die Tatsache, dass die philippi-         Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu         nistan scharf kritisiert. „Das knall-
                                                  nische Bevölkerung zu einem hohen        begrenzen, heißt es in dem Brown-         harte Durchziehen der monatlichen
                                                  Prozentsatz christlich ist, verhindert   to-Green-Report der internationalen       Abschiebeflüge macht fassungslos“,
                                                  nicht, dass dort Christen verfolgt       Initiative Climate Transparency. Süd-     erklärte Pro-Asyl-Geschäftsführer
                                                  werden. Immer wieder werden auf          korea, Kanada und Australien sind         Günter Burkhardt. Obwohl Af­ghan­
                                                  Betreiben der Regierung Duterte          danach am weitesten davon entfernt,       istan das „tödlichste Quartal“ seit
                                                  kirchliche Gruppierungen zu Terror­      ihre an sich schon unzureichenden         Beginn der Aufzeichnungen der
                                                  organisationen erklärt und entspre-      Klimaziele zu erfüllen. Zwei der größ-    UN-Mission in Afghanistan (Unama)
                                                  chend verfolgt; auch die Iglesia Fili-   ten Problembereiche sind Gebäude          hinter sich habe, zeige sich die Bun-
                                                  pina Independiente, die Unabhängige      und Verkehr – und in beiden Sek-          desregierung von immer neuen Mel-
                                                  Kirche der Philippinen, war immer        toren gehört Deutschland zu den           dungen über Anschläge und Gräuel-
                                                  wieder davon betroffen. Ein neuer        Negativbeispielen.                        taten in Afghanistan unbeeindruckt
Titelfoto: The Moog, „Bristol Graffiti“, Flickr

                                                  Höhepunkt der Auseinandersetzung                                                   und halte an Abschiebungen in das
                                                  ergab sich dadurch, dass das Repräsen-                                             Kriegsland fest. Die Zahl der in
                                                  tantenhaus am 5. November den Nati-                                                Af­ghan­istan getöteten oder verletzten
                                                                                             Kirche im Radio
                                                  onal Church Council, den Nationalen                                                Zivilisten hat nach UN-Angaben eine
                                                  Rat der Kirchen der Philippinen, in        „Positionen“                            „noch nie dagewesene“ Dimension
                                                  dem sich fast alle Kirchen außer der       Bayern 2 Radio                          erreicht. Laut Unama gab es von Juli
                                                  römisch-katholischen zusammenge-           8. Dezember, 6:30 Uhr                   bis September dieses Jahres 1.174 Tote
                                                  schlossen haben, auf eine Liste kom-       Dekan Hans-Jürgen Pöschl                und 3.139 Verletzte. Dies entspre-
                                                  munistischer Terrororganisationen          Weidenberg                              che einem Anstieg von 42 Prozent
                                                  gesetzt hat, was ihre Repräsentanten                                               gegenüber dem gleichen Zeitraum des
                                                  in große Gefahr bringt.                                                            Vorjahres.

                                                                                                                                     fortgesetzt auf Seite 39             5

       2                                                                                                                                             Christen heute
Die A lt-K atholische Zeitschr ift i n Deutschla Publikumsbeschimpfung von Gerhard Ruisch
Publikumsbeschimpfung
Ein ziemlich unbekanntes Bild von Jesus
Vo n Ger h ar d Ruisch

V
         or etlichen Jahren hat eine Gesangs-
         gruppe mit dem schönen Namen „Die Doofen“
         gedichtet: „Jesus war ein guter Mann, der hatte
einen Umhang an. Jesus war ein flotter Typ, den hatten alle    wird. Tumulte und Prügeleien soll es dabei gegeben
Leute lieb. Jesus hatte langes Haar und braune Augen wun-      haben – doch im Video hat man eher den Eindruck, die
derbar. Jesus hatte Latschen an wie kein andrer Mann.“         Leute amüsieren sich.
     Das Schlimme ist nur, dass viele Leute sich Jesus ziem-         Auf die Idee ist Handke aber wohl etwas früher
lich so vorstellen: ein bisschen hippiemäßig und immer         gekommen, als er im selben Jahr (wie in Wikipedia nach-
lieb und nett. Fragt sich nur, warum die religiöse Obrigkeit   zulesen) an einer Tagung der Gruppe 47 in Princeton
ihm dann ans Leben wollte, wenn ihn doch alle lieb hatten.     teilnahm, bei der Autoren ihre Stücke vorstellten. Nach       Gerhard
Und es fragt sich, was wollen denn wir heute, nach zwei-       stundenlangen Lesungen zeigte er sich angewidert von den      Ruisch ist
tausend Jahren, immer noch mit so einem Typen?                 Werken seiner etablierten Kollegen und hielt eine län-        verantwortlicher
                                                                                                                             Redakteur von
     Viele Menschen haben heute eine ziemlich klischee-        gere Schmährede, in der er die „Beschreibungsimpotenz“        Christen heute
hafte Vorstellung von Jesus. Dass die meisten die Evan-        der Autoren beklagte und auch die Literaturkritik nicht       und Pfarrer in
gelien allenfalls noch als blasse Erinnerungen aus der         verschonte, „die ebenso läppisch ist wie diese läppische      Freiburg
Schulzeit kennen, dafür aber vielleicht, wenn es hoch          Literatur“.
kommt, Jesusfilme von Zefirellis Jesus von Nazareth bis              In der Literatenszene zumindest war er von da an
Monty Pythons Leben des Brian, ist eine der Ursachen           bekannt – und seine Kritik wurde zumindest inhaltlich
dafür. Aber auch diejenigen, die sich als Christen verste-     aufgegriffen, wenn auch meist in abgemilderter Form. Von
hen, haben oftmals eine eindimensionale Vorstellung.           der Beschimpfung der Kollegen zur Beschimpfung des
Dabei gibt es Stellen im Neuen Testament, in denen Jesus       Publikums war es nun nur noch ein kleiner Schritt.
uns plötzlich sehr fremd sein kann.                                  Die Idee allerdings war nicht neu. Sie hat zwar zum
                                                               Aufruhr im ehrwürdigen Kulturbetrieb geführt, aber sie
                                                                                                                                    Foto: Göran Johansson, „Angry“, Flickr

Zweierlei Publikumsbeschimpfung                                war alt, und Handke wusste das. Denn eine der Beschimp-
    Vor wenigen Wochen hat Peter Handke den                    fungen, die Handke an das Publikum richten lässt, lau-
Nobelpreis für Literatur bekommen. Ich muss geste-             tet: „Ihr übertünchten Gräber!“ Ein wörtliches Zitat von
hen, bisher kannte ich nur die Titel von zwei Frühwer-         Jesus! Ob Jesus wohl heute auch einen Literaturnobelpreis
ken von ihm – aber die Titel sind schon eindrücklich           bekäme? Vieles von dem, was er sagte, ist jedenfalls ausge-
genug: „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ und              sprochen kunstvoll.
„Publikumsbeschimpfung“.                                             Tumulte und Prügeleien wie bei der Uraufführung
    Die Uraufführung der Publikumsbeschimpfung kann            von Handkes Publikumsbeschimpfung dürfte es vielleicht
man auf YouTube anschauen; sie war 1966 in Hamburg;            ebenfalls gegeben haben. Verhältnismäßig unbekannt ist
Handke war gerade mal 23 Jahre alt. Es ist ein durchaus        die Publikumsbeschimpfung, mit der nicht Handke, son-
unterhaltsames Sprechstück für vier Sprecher, in dem das       dern Jesus, für Aufruhr gesorgt hat. Eine „schöne“ Bibel-
Publikum nur die letzte Viertelstunde lang beschimpft          stelle ist sie nicht – doch Christen brauchen auch den Mut,

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Die A lt-K atholische Zeitschr ift i n Deutschla Publikumsbeschimpfung von Gerhard Ruisch
sich einer unbequemen zu stellen. O ja, die schönen Bibel-             Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt! Aber ihr
     stellen sind wichtig; sie machen Mut, stärken im Leben,                habt es nicht gewollt. Und nun? Euer Tempel wird von
     führen uns das Ziel vor Augen. Aber um weiterzukommen                  Gott verlassen sein und völlig zerstört werden…
     und Neues zu erkennen, sind die unbequemen vielleicht                  Aus Mt 23 – gekürzt, HfA-Übersetzung
     wichtiger, die, an denen wir uns reiben müssen. Die Pub-
     likumsbeschimpfung aus dem Matthäusevangelium ist so              Heiliger Zorn
     unbequem, dass sie im Zyklus der Sonntagslesungen – ein-                Die unbequeme Frage, die sich stellt, wenn wir diesen
     fach weggelassen wurde. Das ist doch wohl ein Grund, erst         Text lesen, und die uns vielleicht weiterbringen kann, ist
     recht einmal hinzuschauen.                                        die: Wie kommt Jesus dazu, seine Zuhörer so zu beschimp-
           Das ist die Beschimpfung, die Jesus im Matthäus­            fen? So, dass uns hier ein Jesus begegnet, den wir sonst gar
     evangelium herabprasseln lässt:                                   nicht kennen, einer, dem vollkommen der Kragen platzt?
                                                                       Einer, der sich noch viel mehr aufregt als Handke ange-
         Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer! Ihr            sichts des biederen und oberflächlichen Literaturbetriebs
         Heuchler! Ihr versperrt anderen den Zugang zu Gottes          in den 1960er Jahren.
         himmlischem Reich. Denn ihr selbst geht nicht hin-                  Wenn Jesus dermaßen ausrastet, dass er redet wie sonst
         ein, und die hineinwollen, hindert ihr auch noch              nur Johannes der Täufer oder einer der Propheten Israels,
         daran. Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer!         wenn er so gar nicht sanft und jesusmäßig ist, dann kann
         Ihr Heuchler! Ihr reist in der Welt herum, um nur             es sich nicht um eine Kleinigkeit handeln. Und das tut es
         einen einzigen Nichtjuden dafür zu gewinnen, eure             auch nicht. Er sagt es ja deutlich, was ihn aufregt:
         Gesetze anzuerkennen. Und wenn ihr einen gefun-
         den habt, dann wird er durch euch zu einem Anwär-             55   Es sind Spitzfindigkeiten, die einen Eid entwer-
         ter auf die Hölle, der euch an Bosheit noch übertrifft.            ten; sie sind auf demselben Niveau, wie wenn
                                                                            ein Kind meint, ein Schwur gilt nicht, wenn es
         Wehe euch! Ihr wollt andere führen und seid doch selbst            dabei die Finger hinter dem Rücken kreuzt.
         blind. So behauptet ihr: „Beim Tempel Gottes schwö-           55   Es ist diese Haltung, die bei Kleinigkeiten alles
         ren, das hat nichts zu bedeuten. Aber wer beim Gold                pedantisch genau nimmt, aber bei den wirk-
         im Tempel schwört, der muss seinen Eid halten.“ Ihr                lich wichtigen religiösen Geboten wie der Nächs-
         blinden Narren! Was ist denn wichtiger: das Gold oder              tenliebe auf einmal ganz großzügig wird. Siehe
         der Tempel, durch den das Gold erst geheiligt wird?                das Wort von den Mücken und Kamelen.
                                                                       55   Es ist dieser Anspruch, andere führen zu
         Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer! Ihr                 können, obwohl man selbst doch am wenigs-
         Heuchler! Sogar von Küchenkräutern wie Minze, Dill                 ten durchblickt. Stichwort: Blinde Verführer.
         und Kümmel gebt ihr Gott den zehnten Teil. Aber die           55   Es ist der Anspruch, etwas Besseres zu sein, dabei ist
         viel wichtigeren Forderungen Gottes nach Gerechtig-                alles Lug und Trug – wie bei den angemalten Gräbern.
         keit, Barmherzigkeit und Treue sind euch gleichgül-           55   Es ist – und dabei wird es jetzt wirklich todernst –
         tig. Doch gerade darum geht es hier: das Wesentliche               die Bereitschaft, zur Umsetzung der eigenen Inte-
         tun und das andere nicht unterlassen. Ihr aber ent-                ressen über Leichen zu gehen: eine Haltung, die
         fernt jede kleine Mücke aus eurem Getränk, doch                    Jesus schließlich das Leben kosten wird und die er
         ganze Kamele schluckt ihr bedenkenlos hinunter.                    nach den Evangelien durchaus durchschaut hat.
         Andere wollt ihr führen, dabei seid ihr selbst blind.         55   Und es ist das, was er ganz am Anfang gesagt hat:
                                                                            Mit dieser Haltung verstellen sie anderen
         Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer!                     Menschen den Weg ins Reich Gottes.
         Ihr Heuchler! Ihr wascht eure Becher und Schüs-
         seln von außen ab, doch gefüllt sind sie mit dem, was         Es wäre sehr billig, wenn wir jetzt sagen wollten, naja, die
         ihr anderen in eurer Gier genommen habt. Ihr blin-            Pharisäer und Schriftgelehrten halt. Gut, dass er ihnen ein-
         den Verführer, reinigt eure Becher erst einmal von            heizt! Denn weder ist es so, dass es diese Haltungen heute
         innen, dann wird auch ihr Äußeres sauber sein.                nicht mehr gäbe, noch haben wir einen Grund anzuneh-
                                                                       men, dass Jesus sie heute mehr toleriert als damals.
         Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer! Ihr                 Es ist nicht, dass diese Leute Sünder sind, was Jesus
         Heuchler! Ihr seid wie die weiß getünchten Grabstät-          aufregt. Jesus hat sich ja viel mit Sündern abgegeben. Son-
         ten: Von außen erscheinen sie schön, aber innen ist alles     dern es ist die Scheinheiligkeit, dass sie die Religion egois-
         voll stinkender Verwesung. Genauso ist es bei euch: Ihr       tisch ausnutzen, dass sie sich für etwas Besseres halten und
         steht vor den Leuten als solche da, die Gottes Willen         vor allem, dass sie mit ihrer verlogenen Haltung anderen
         tun, aber in Wirklichkeit seid ihr voller Auflehnung          den Weg zu Gott verstellen. Es sind alles Dinge, die wir in
         und Heuchelei. Ihr Schlangenbrut! Wie wollt ihr der           der Kirche tausendfach wiederfinden und bei denen vor
         Hölle entrinnen, zu der Gott euch verurteilen wird?           allem die Amtsträger wie ich Gewissenserforschung leisten
                                                                       müssen.
         Jerusalem! O Jerusalem! Du tötest die Propheten und                Aber die Frage geht auch an uns Christen alle: Wie
         steinigst die Boten, die Gott zu dir schickt. Wie oft schon   glaubwürdig sind wir? Halten wir uns auch an Kleinig-
         wollte ich deine Bewohner um mich sammeln, so wie eine        keiten oder liegt uns das am Herzen, was wichtig ist, also

4                                                                                                          Christen heute
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vor allem Gott und die Menschen? Leben wir so, dass wir        Nicht eindimensional
anderen den Weg zu Gott ebnen?                                      Nein, Jesus ist nicht so eindimensional, wie viele Men-

                                                                                                                                zweite Hälfte des 17. Jhd. Aus Wikimedia Commons.
     Jesus beschimpft sein Publikum nicht, um die Leute        schen denken. Stattdessen können wir an ihm immer wie-

                                                                                                                                Bild: „Tempelreinigung“, Luca Giordano, Italien,
zu veräppeln und vielleicht zu unterhalten – bei Handke        der neue Facetten entdecken – wie an jedem Menschen.
mag das so gewesen sein. Er beschimpft es auch nicht, weil     Es gibt ja sogar eine Stelle in den Evangelien, die in diesem
er boshaft wäre und seinen Frust abladen wollte. Er tut        Zusammenhand spannend hätte werden können, nämlich
es, um sie aufzurütteln; für ihn steht alles auf dem Spiel:    die, an der Jesus selbst seine Jüngerinnen und Jünger fragt,
die Beziehung zu Gott und den Mitmenschen und damit            welches Bild sie von ihm haben: „Ihr aber, für wen haltet
Himmel und Hölle. Er tut es, um sie zu gewinnen für eine       ihr mich?“ (Mt 16,15).
wirkliche Nachfolge, für seine neue Lebensweise, für Got-           Sie hätte nur spannend werden können, denn lei-
tes neue Welt.                                                 der zeigt sich Petrus übereifrig, zumindest so, wie ihn der
     Ganz am Ende der Rede sagt Jesus, was Gott eigent-        Evangelist schildert. Ich hätte zu gern erfahren, was die ein-
lich will:                                                     zelnen Menschen, die Jesus folgten, geantwortet haben. Ich
                                                               bin sicher, jede und jeder von ihnen hätte eine andere Ant-
    Wie oft schon wollte ich deine Bewohner um mich            wort zu geben gehabt, je nachdem, welche Facette an Jesus
    sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre           ihnen besonders wichtig schien. Stattdessen haut Petrus
    Flügel nimmt! Aber ihr habt es nicht gewollt…              gleich die sozusagen amtlich gültige Antwort heraus: „Du
    Mt 23,37                                                   bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!“

Darum geht es: Gott will die Bewoh-
ner Jerusalems – und ich glaube, wir
dürfen ergänzen: die Bewohner der
ganzen Welt – um sich sammeln und
in seinen Schutz nehmen. Gott will
die Menschheit um sich einen – und
es macht Jesus fertig, dass ausgerech-
net die an der Spitze der Religion ihm
dagegen arbeiten. Unsere Berufung als
Kirche Jesu ist es, dass wir Gottes Ruf
hören und uns um ihn versammeln;
dass wir Menschen dazu einladen und
ihnen nicht den Zugang erschweren.
Unsere Berufung ist, das zu leben, was
für Jesus der Kern ist: die Liebe zu
Gott und den Mitmenschen.
      Auch wenn wir alles andere
als vollkommen sind – das ist nicht
das, was Jesus aufregt. Unvollkom-
men dürfen wir sein, Heuchler nicht.
Wenn nur unser Bemühen ernsthaft
ist, wenn wir uns nur nicht als etwas Besseres fühlen, wenn          Tja, stimmt natürlich, irgendwie. Was lässt sich dazu
wir nur das im Blick behalten, auf das es ankommt, anstatt     noch sagen oder ergänzen? Also schweigen die Jünger
irgendwelcher Kinkerlitzchen – dann sind wir auf dem           nach Matthäus. Schade! Es hilft nichts, sich als Theologe
richtigen Weg. Dann sammelt uns Gott schon um sich.            zu sagen, dass hier wahrscheinlich nicht wirklich Petrus
      An Bibelstellen wie der Publikumsbeschimpfung Jesu       spricht, sondern der Glaube der Gemeinde des Matthäus
oder auch der Tempelaustreibung merke ich den Unter-           ausgedrückt ist. Welches Bild die Menschen aus dem Jün-
schied: Für uns scheint Religion manchmal ein Spiel zu         gerkreis haben, erfahren wir nicht.
sein, wenn auch eines, das wir mit Ernsthaftigkeit betrei-           Also müssen wir damit leben, dass niemand uns die
ben. Für Jesus aber ist sie ernst. Er glaubt wirklich an das   Frage abnimmt: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ Wir
Reich Gottes, das bevorsteht und das manche Leute aber         alle können diese Frage nur selbst beantworten, jede und
verhindern. Er glaubt wirklich, dass das nicht ohne Kon-       jeder nur für sich selbst. Auch ich selbst werde nie die für
sequenzen bleiben wird. Für ihn stehen die Gottes- und         mich endgültige Antwort finden; sie kann morgen schon
Nächstenliebe wirklich und immer an allererster Stelle.        anders ausfallen als heute. Alte dogmatische Formeln hel-
Dass es Menschen gibt, bei denen das ganz anders ist, lässt    fen uns da wenig, denn es bleibt immer noch die Frage, was
ihn nicht kalt – und dann kann er uns fremd werden.            sie für uns bedeuten. Welches Wort Jesu rührt mich beson-
Dann kann er so werden, dass seine Jünger das Wort aus         ders an? Welche Facette ist mir besonders nah? Was betrifft
Psalm 69 auf ihn anwenden: „Der Eifer für dein Haus wird       mich persönlich? Was leuchtet mir ein? Niemand nimmt
mich verzehren“ ( Joh 2,17).                                   mir die Antwort auf die Frage ab: Welches Bild habe denn
                                                               ich von Jesus?                                              ■

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Die A lt-K atholische Zeitschr ift i n Deutschla Publikumsbeschimpfung von Gerhard Ruisch
die Realität herankämen, nicht nur an
                                                                                                                                                die historische Realität, sondern auch
                                                                                                                                                an die aktuelle Wirklichkeit.
                                                                                                                                                     Ich erinnere mich noch daran, wie
                                                                                                                                                ich in Jerusalem vor etlichen Jahren bei
                                                                                                                                                einem Araber eine Olivenholzkrippe
                                                                                                                                                kaufte und mir besonders die verschie-
                                                                                                                                                denen Jesus-Figuren vorher genau
                                                                                                                                                anschaute. Da gibt es so unterschied-
                                                                                                                                                liche und abenteuerliche Variationen:
                                                                                                                                                den Jesus mit arabischem (nahöstli-
                                                                                                                                                chen) Einschlag, mit europäischem
                                                                                                                                                Feeling, einen schon fast erwachsenen
                                                                                                                                                Körper da in der Krippe, einen barock-
                                                                                                                                                typischen wohl gerundeten Buben,
                                                                                                                                                einen adelig vornehmen, einen aske-
                                                                                                                                                tisch heiligen Hunger-Jungen usw...

                                                                                                                                                Eine Überlieferung über
                                                                                                                                                das historische Aussehen
                                                                                                                                                Jesu gibt es nicht
                                                                                                                                                      An Weihnachten dürfen wir uns
                                                                                                                                                fragen lassen: Was ist mein Jesus-
                                                                                                                                                bild? Wie stelle ich mir dieses Kind
                                                                                                                                                und diesen Menschen aus damaliger
                                                                                                                                                Zeit vor? Hat er Ähnlichkeit mit mir
                                                                                                                                                selbst, bringe ich ihn in Verbindung
                                                                                                                                                mit einem meiner Freunde, Verwand-
                                                                                                                                                ten, Idole? Für mich ist, um ehrlich zu
                                                                                                                                                sein, ein Problem, dass all diese Krip-
   Dekan i. R.                                                                                                                                  pen-Heilande starr sind. Nicht nur,
 Harald Klein                                               Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…                                               dass sie nicht schreien, nicht wim-
  ist Mitglied                                                                                                                                  mern, nicht glucksen, nein, sie rühren
der Gemeinde
                                                                                                                                                sich auch überhaupt nicht. Und das ist

                                                            Eine vergessene
   Rosenheim
                                                                                                                                                doch eigentlich das hervorstechendste
                                                                                                                                                Merkmal eines kleinen Kindes: Es
                                                                                                                                                bewegt sich, macht sich bemerk-

                                                            Eigenart Jesu                                                                       bar, will etwas erreichen. Manch-
                                                                                                                                                mal denke ich, all die Jesusbilder der
                                                                                                                                                heutigen Christen sind geprägt von
                                                            Von H ar a ld K lein                                                                den leblosen Figuren der Strohkrip-
                                                                                                                                                pen. Dieser Jesus ist einfach ein VIP

                                                            I
  Foto: Mars-Sonde „Curiosity“ („Neugier“). Von der NASA.

                                                                 mmerhin, es kommen nun im           handelt: Es ist das Jesuskind in der       zum Anschauen, ein Wertgegenstand
                                                                 Dezember wieder Tage auf uns        Weihnachtskrippe.                          in meiner Weihnachtskrippe. Aber
                                                                 zu, an denen sich Menschen der           Mag ja sein, dass das je nachdem      was der alles unternommen, was der
                                                            heutigen Zeit mit Jesus befassen. Die    ein sehr wertvolles oder kunstvol-         bewegt und in Leben umgesetzt hat,
                                                            Vorbereitung auf Weihnachten und         les Objekt ist, aber es ist eben nur ein   das ist so gut wie unerkannt.
                                                            das Fest selbst lassen den Kirchen-      Bild, ein Jesusbild und nicht die reale          Wenn wir als Christen schon den
                                                            mann und die Kirchenfrau von heute       Gestalt und Persönlichkeit Jesu. Aber      Mut haben, diesen Menschen zentral
                                                            aufatmen: Endlich, Jesus wird einmal     wie soll es anders gehen? Handelt es       im Jahr als Kind zu feiern, ihn gerade
                                                            wieder aus der Versenkung geholt;        sich nicht immer nur um eine Vorstel-      als Kind zum Mittelpunkt von Tra-
                                                            endlich, Menschen greifen nach die-      lung, ein Bild, wenn wir uns Gedanken      dition und Glaube zu machen, dann
                                                            ser Gestalt aus alter Zeit. Und es ist   um Jesus machen oder zu ihm beten?         sollten wir uns denn doch auch die
                                                            kein theoretisches Beschäftigen, kein    Es geht ja gar nicht anders, als dass      Frage stellen, was an der Persönlich-
                                                            rein mentales Nachdenken. Nein, die      wir selbst Fantasie anwenden, kreativ      keit Jesu von Nazareth denn so kind-
                                                            Leute nehmen Jesus wirklich in die       werden, wenn wir jemand Anderen in         lich, so kindähnlich war. Man muss ja
                                                            Hand, betrachten ihn, lassen ihren       unser Weltbild holen. Und trotzdem,        zugeben, dass er selbst einen starken
                                                            Blick auf ihm ruhen. Das Problem         ausgerechnet bei diesem doch arg ein-      Bezug zu Kindern hatte: Er hat sie, die
                                                            ist nur, dass es sich dabei um eine      maligen Menschen aus Israel wäre es        damals wenig geachtet waren, in den
                                                            Puppe, eine Holz- oder Gipsfigur         schön, wenn wir einigermaßen nah an        Arm genommen und wertgeschätzt.

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Die A lt-K atholische Zeitschr ift i n Deutschla Publikumsbeschimpfung von Gerhard Ruisch
Bild: Lukas Cranach der Ältere, „Madonna mit Kind unter
Aber vor allen Dingen hat er ihr kind-     an Weihnachten feiern könnte, aber        im Erwachsenenalter – wären wir

                                                                                                                               der Tanne“, um 1510, Breslau. Aus Wikimedia Commons.
haftes Wesen geradezu zum Vorbild          eigentlich nie registriert hat: Jesus     Menschen nicht das geworden, was
für menschliches Verhalten erkoren.        war neugierig. Ich weiß, das Wort         wir sind. Das ist uns genetisch mit auf
Was hat ihn selbst mit Kindern ver-        hat im Deutschen seit fast 300 Jah-       den Weg gegeben. Das ist die her-
bunden? Wieso ist es absolut gerecht-      ren einen negativen Beigeschmack.         vorstechende Eigenschaft: dass uns
fertigt, Jesus als „kindhaft“ zu feiern    Aber ursprünglich ist es ein durch-       Neues interessiert, dass wir Neues ken-
und zu ehren?                              aus positives Wort. Die Neugierde ist     nenlernen wollen, wir uns auf Neues
                                           das entscheidend Wertvolle, das uns       hinbewegen.
Jesus war real ein Kind                    Menschen von vielen anderen Lebe-              Ist uns das bewusst, wenn wir an
      Fragen wir uns: Wodurch fallen       wesen unterscheidet. Menschen sind        Weihnachten eine ehrwürdige Krip-
Kleinkinder auf ? Zum Beispiel, so         neugierig: ganz und total neugierig als   penlandschaft aufbauen und eine
meine ich, doch durch ihre Schutzlo-       Kind, als gerade geborenes Kind. Aber     kleine starre Holzfigur in ihrer Mitte
sigkeit. Jesus hat dazu wahrlich gestan-   im Gegensatz zu z. B. Menschenaffen       platzieren? Dass Jesus historisch
den bis an sein Lebensende. Er hat         bleibt der Mensch, wenn er sich traut,    garantiert und sicherlich da in der
keine Verteidigungsstrategie erlernt,      sein ganzes Leben lang neugierig. Das     Krippe total neugierig war? Wir alle
hat sich nicht hinter Machtstruktu-        hat ihm all seine Entwicklungsschritte    sind es einmal gewesen, nach unserer
ren und starken Freunden versteckt.        möglich gemacht, all sein Lernen,         eigenen Geburt, aber viele haben es im
Er hat auch kein System aufgebaut,         all sein Erfinden und sich Ändern.        Lauf des Lebens abgelegt. Die Gründe
das ihn vor Überraschendem schüt-          Ohne die gelebte Neugierde – auch         mögen vielfältig sein: Manche halten
zen würde, kein Glaubenssystem, kein
Liturgiesystem, kein Moralsystem. Er
war ohne Hintergedanken.
      Als zweites fallen mir Kinder auf
durch ihre Gegenwärtigkeit. Wenn
sie schlafen, schlafen sie, wenn sie
schreien, schreien sie (und zwar mit
Macht), wenn sie lächeln, lächeln
sie, wenn sie traurig sind, trauern sie.
Auch das hat Jesus sehr konsequent
beibehalten im Leben: Er hat nie ver-
tröstet, nichts auf später verschoben.
Jesus war, wie er war, und zwar immer
direkt, spontan.
      Kinder sind ohne Vorurteile, sie
haben keine Klassifizierungen. Kinder
bewerten nicht bzw. richten nicht. Als
erstes begegnen sie, berühren sie und
staunen. In einem gewissen Sinn sind
Kinder frei, und das kann man wohl
auch deutlich von Jesus sagen.
      Ich weiß, schon jetzt setzen sich
eine Reihe von Theologen massiv zur
Wehr: „Jesus darf man nicht einfach
mit einem Kind vergleichen, dann
geht ja die ganze Allwissenheit und
Allmächtigkeit, die ganze Größe und
Überlegenheit dieses Gottessohnes
verloren!“ Aber dann lest Euch erst-
mal die Bergpredigt durch, und Ihr
merkt, wie wenig Jesus das Großsein
und Nichtkindgemäße an oberste
Stelle gesetzt hat. Jesus ist im Herzen
Kind gewesen, nicht unbedingt im
Sinne von „naiv“, wohl aber im Sinne
von unfertig und im Anfang begriffen.

Neugierde macht uns zu Menschen
     Und so fällt mir noch ein weite-
rer Charakterzug – oder, sagen wir,
eine andere Eigenart Jesu ein, die man

6 3 . J a h r g a n g + D e z e m b e r 2 0 1 9 7
Die A lt-K atholische Zeitschr ift i n Deutschla Publikumsbeschimpfung von Gerhard Ruisch
sich für ausreichend mit Wissen und         Tod für uns wichtig . Im Wort curio-       Josef geht auf die neue Situation zu,
                                                                    Erfahrung versorgt, manche haben            sitas steckt die cura, die Sorge. Wenn     bringt sich ein, lässt sich von dem
                                                                    zu oft einen Nasenstüber bei ihrem          etwas aus der Reihe fällt, ungewohnt       Neuen herausfordern. Und am Ende
                                                                    Fragen und Suchen erhalten, man-            ist, sorgen wir uns darum. Nur so ist      sagt er zu seinem Vater: Du brauchst
                                                                    che sind es leid, immer unterwegs, auf      die Humanitas, die Menschlichkeit          dich nicht um dein Wohlergehen zu
                                                                    dem Weg zu sein (allerdings kannte          entstanden. Klar, es gibt Landsleute,      sorgen in dieser Zeit des Hungers;
                                                                    man die Christen ja mal als „die auf        die nur die „Normalen“ versorgen           ich kümmere mich um euch.
                                                                    dem Weg“). Jesus war neugierig, Jesus       wollen, die Arischen und Einheimi-
                                                                    hat die Neugierde der Kinder nicht          schen, aber eben nicht die Ungewohn-       Neugierde ist eine christliche Tugend
                                                                    abgewertet, sondern selbst hoch und         ten und Fremden. Denen ist ganz                 Auch Jesus ist einer, der sich
                                                                    heilig gehalten.                            viel Menschlichkeit leider verloren        gekümmert hat. Er ist hingegangen
                                                                         Uns fallen da zur Abschreckung         gegangen.                                  zu den Menschen, hat sie angespro-
                                                                    blitzschnell Gaffer ein, die Unfallsze-           Ein Mensch soll neugierig sein,      chen, sie gefragt. Jesus war eben nicht
                                                                    nen fotografieren und ins Netz stel-        ohne Neugierde verliert er als Mensch      ein Besitzer und Hüter alter Wahr-
                                                                    len, oder Klatschmäuler, die nichts         seine Würde. Auch in der deutschen         heiten, der von einer Kathedra aus
                                                                    mehr interessiert als Dinge, die sie        Vokabel steckt Beachtenswertes: Das        gelehrt hätte, sondern ein Abenteurer
                                                                    ohne innere Beteiligung weitersagen         „Neue“, das „Unbekannte“ ist enthal-       Gottes. Wie ein kleines Kind, das die
                                                                    können. Neugierde scheint uns ein           ten und die etwas unheimliche „Gier“       Welt entdecken will, hat er sich von
                                                                    Verhalten, das kühl die eigene Leere        oder „Lust“. Ist uns aber bewusst,         Menschen berühren lassen, anrüh-
                                                                                                                                                           ren und hineinziehen in ihre Prob-
                                                                                                                                                           leme und Nöte. Jesus war auf dem
                                                                                                                                                           Weg, hat dazugelernt und sich somit
                                                                                                                                                           entwickelt. Vom braven Kind seiner
                                                                                                                                                           Eltern über die Schülerzeit bei Johan-
                                                                                                                                                           nes dem Täufer wurde er zuerst einer,
                                                                                                                                                           der zusammen mit Freunden sich und
                                                                                                                                                           seinen Weg suchte, der die Menschen
                                                                                                                                                           besuchte und aufsuchte und ihnen
                                                                                                                                                           Zukunft und Liebe zusprach. Und
                                                                                                                                                           schließlich ging Jesus auch den für ihn
                                                                                                                                                           nun neuen Weg hinein nach Jerusa-
                                                                                                                                                           lem, den Weg der Auseinandersetzung
                                                                                                                                                           mit der Macht und Finsternis. Er ging
                                                                                                                                                           neugierig in den Tempel und war über
                                                                                                                                                           die Händler und Opferpriester ent-
                                                                                                                                                           setzt. Während die Apostel sich aus
                                                                                                                                                           dieser neuen, gefährlichen Auseinan-
                                                                                                                                                           dersetzung zurückzogen, hat Jesus sich
                                                                    füllen will mit Spannungselementen          dass das Wort Gier von der Herkunft        wie ein ehrliches Kind hineinbegeben,
Bild: Lukas Cranach der Jüngere, „Christus segnet die Kinder“, um

                                                                    aus anderer Leute Leben.                    mit „gern“ zu tun hat? Gier hört sich      sogar noch in den Tod.
1546, Johanniterkirche, Schwäbisch Hall. Aus the-athenaeum.org.

                                                                                                                heute einseitig und bedrohlich an,              Eine Kirche, die sich auf Para-
                                                                    Neugierde ist mehr                          aber im Kern meint Neu-Gier, dass          graphen und zweitausend Jahre alte
                                                                         Das lateinische Wort für Neu-          wir das Unbekannte lieben, weil es         Opferriten zurückzieht, Pfarrer,
                                                                    gierde lautet curiositas, und so hat es     uns hilft, uns selbst zu finden. Sich      die für die Gedanken- und Lebens-
                                                                    sich in viele heutigen Sprachen hinein      gern um etwas kümmern, das uns             welt ihrer Anvertrauten kein Inter-
                                                                    fortgepflanzt (italienisch, französisch,    auffällt, kurios erscheint, sich ehrlich   esse mehr aufbringen, Menschen, die
                                                                    englisch...). Auch uns ist dieser Begriff   neuer Fragen und anderer Menschen          nicht mehr wagen, sich selbst und ihre
                                                                    nicht fremd. Kurios ist etwas, das          annehmen, das ist eine menschliche         Grundlagen in Frage zu stellen, haben
                                                                    spontan auffällt, das erstaunt. Kurio-      und auch christliche Tugend.               mit Christus keine Ähnlichkeit mehr.
                                                                    ses ruft in uns das Bedürfnis hervor,            Im Alten Testament ist es in          Neugierig zu sein, sich auf Zukunft
                                                                    uns darum zu kümmern (s. Name der           besonderer Weise der ägyptische Josef,     und Neuentwicklung einzustellen,
                                                                    US-Marssonde). Wir schauen es uns           der „neugierig“ ist. Ganz klar erlebt er   sich mit ganzem Herzen einzubringen
                                                                    an, wir bewegen uns darauf zu, wir          bei dieser Leidenschaft auch Bauch-        in Unbekanntes, das sollte gerade an
                                                                    interessieren uns dafür (Interesse =        landungen, muss mehrfach um sein           den Tagen der Weihnacht etwas sein,
                                                                    Dabeisein).                                 Leben bangen. Aber es ist bei ihm ja       das uns an dieses Kind in der Krippe
                                                                         Jedes gesunde menschliche Klein-       nicht eine tatenlose Gaffer-Neugier,       erinnert: Ohne seine Neugier, sein
                                                                    kind verfolgt alles Kuriose, macht          sondern tatsächliches Kümmern um           Kümmern und auch Fragen wäre das
                                                                    gerade so seine entscheidenden Erfah-       Zukunft. Bei Potifar, im Gefängnis,        nie der Sohn Gottes gewesen.         ■
                                                                    rungen und Zugewinne. Und ganz              am Hof des Pharao, beim erneuten
                                                                    natürlich ist diese Eigenart bis zum        Zusammentreffen mit seiner Familie:

     8                                                                                                                                                                   Christen heute
Die A lt-K atholische Zeitschr ift i n Deutschla Publikumsbeschimpfung von Gerhard Ruisch
Für wen haltet Ihr mich?

Meinungsumfrage
mit Schweigegebot
Vo n Ulr ich K at zen bach

Für wen halten die Leute mich?
Markus 8,27

I
   m Evangelium wird uns von einer Meinungs-                  lädt uns ein, uns in der Liebe Gottes, trotz aller Schuld-
   umfrage im Kreis der Jünger berichtet. Es gibt da sehr     und Todeserfahrung, geborgen zu fühlen.
   unterschiedliche Meinungen und Einschätzungen, die              In dieser Spannung ist er für mich einzigartig und ein-
über ihn so in Umlauf sind.                                   malig in der Menschheitsgeschichte und sprengt zugleich
     Aber Jesus geht bei seiner Befragung einen entschei-     unser menschliches begrenztes Vorstellungsvermögen. Er
denden Schritt weiter: „Und Ihr, für wen haltet Ihr mich?“    passt in kein Schema, in keine Schublade und lässt sich von
(Mk 8,29). Für wen hältst Du mich? Was bedeute ich für        niemandem vereinnahmen und instrumentalisieren: Den
dich? Hier geht es nicht mehr bloß um eine allgemeine,        Radikalen war er zu gütig, den Gütigen zu radikal, den
unverbindliche Meinungsäußerung, um das, was „man“ so         Traditionalisten war er zu umstürzend, den Umstürzlern
denkt, sondern hier geht es um eine ganz persönliche Stel-    zu friedfertig. Den Friedfertigen war er zu provozierend auf   Dekan
lungnahme: Wie stehst du zu mir? Wer bin ich für dich?        der Seite der Armen, den Parteiischen war er zu gerecht,       i. R. Ulrich
     Wie würde ich, wie würden Sie auf diese Frage ant-       den Gerechten zu vergebungsbreit, den Frommen war er zu        Katzenbach
                                                                                                                             ist Mitglied
worten? Wie sieht meine persönliche Einstellung zu Jesus      weltlich, den Weltlichen redete er zu viel vom Reich Got-      der Gemeinde
aus? Was bedeutet er für mich. Auf diese persönliche Frage    tes. Den Gesetzeslehrern war er zu liberal und den Libera-     Frankfurt
möchte ich versuchen auch eine persönliche Antwort zu         len redete er zu viel vom Willen Gottes.
geben:                                                             Das war provozierend, das machte ihn angreifbar,
                                                              führte ihn zum Konflikt mit den Dogmen, mit den Ideolo-
Er passt in kein Schema                                       gen, mit den Mächtigen. Weil er die vielen uns vertrauten
     Zunächst: Für mich ist Jesus eine so faszinierende,      oft so engen und kleinkarierten Denk- und Lebensmuster
authentische und einzigartige, friedfertige und zugleich      durchkreuzte, landete er schließlich am Kreuz.
provozierende komplexe Persönlichkeit von der Krippe               In ihm haben sich die Gegensätze gekreuzt: Tod

                                                                                                                                   Foto: Katie Tegtmeyer, „Talk Shows On Mute“, Flickr
bis zum Kreuz, dass es mir schwerfällt, ihn mit einem         und Leben, Glaube und Zweifel, Hass und Liebe, Schuld
bestimmten Titel, mit einer prägnanten Glaubensformel,        und Vergebung. Jesus hat den Zöllnern ihre Betrügereien
mit einem Dogma oder kurzen Beschreibung definieren zu        nicht gestattet, aber er hat ihnen seine Freundschaft ange-
können. Er begleitet mich von Kindheit an so sehr, dass ich   boten. Jesus hat das Verhalten der Ehebrecherin nicht
mich sogar entschieden habe, mein ganzes Leben, meine         gutgeheißen, aber er hat sie vor den selbstgerechten Rich-
Berufswahl auf ihn hin auszurichten.                          tern geschützt. Das Leben und die Botschaft Jesu for-
     In seinen Worten und Taten verbindet er für mich,        dern mich immer wieder neu heraus, mein oft einspuriges
dem Kreuz entsprechend, die horizontale (humanitäre)          Hirn und Herz zu weiten und mein Leben vom Zwang
ganz menschliche Dimension unseres Lebens durch seine         des vorurteiligen Schubladendenkens befreien zu lassen:
universale Menschfreundlichkeit und Solidarität mit allen     weg von selbstherrlicher und besserwisserischer Arroganz
Geschöpfen einerseits mit der vertikalen (transzenden-        hin zur Demut, zur Toleranz und zum Respekt vor der
ten) göttlichen Dimension andererseits durch seine tiefe      Vielfalt des Lebens mit all seinen bunten Fassetten und
Sehnsucht und ein nicht zerstörbares Vertrauen auf den,       Widersprüchlichkeiten.
den wir Gott nennen. Er bringt uns Menschen diesen Gott
nahe als die liebende Mutter und den sorgenden Vater und      Die richtige Antwort – trotzdem Schweigen
zugleich als den Schöpfer der Welt. Er lebt uns vor und           Im Evangelium ergreift Petrus in seiner spontanen
                                                              Art das Wort, um Jesus auf seine Frage zu antworten. Er

6 3 . J a h r g a n g + D e z e m b e r 2 0 1 9 9
Die A lt-K atholische Zeitschr ift i n Deutschla Publikumsbeschimpfung von Gerhard Ruisch
formuliert das damals bei den ersten Christen gängige                                     Es geht nicht um ein auswendig gelerntes Credo, das
                            Glaubensbekenntnis: „Du bist der Messias!“ (Mk 8,29).                                wir einwandfrei und theologisch korrekt zitieren und beru-
                            Petrus fällt es offensichtlich leichter als mir mit meinen                           higt in die Schublade unseres Wissens ablegen könnten;
                            vielleicht zu umständlichen und weitschweifenden Erklä-                              seine Persönlichkeit, seine Botschaft ist und bleibt so faszi-
                            rungs- und Annäherungsversuchen kurz und knapp seine                                 nierend und zugleich so provozierend, dass wir uns davor
                            Meinung über Jesus auf den Punkt zu bringen: „Du bist der                            hüten sollen, sie als unfehlbare Wahrheit in ein fertiges
                            Messias!“                                                                            Dogmensystem zu pressen. Seine Wahrheit lässt sich nicht
                                  Die Reaktion Jesu auf dieses klassische Bekenntnis                             durch eine Person oder Gruppe in Besitz nehmen, um sich
                            ist für mich sehr bemerkenswert. Kein Lob, keine bestäti-                            dann mit einem Absolutheitsanspruch anzumaßen, darü-
                            gende Anerkennung für diese treffsichere, dogmatisch kor-                            ber zu urteilen, wie weit entfernt andere von dieser Wahr-
                            rekte und perfekte Antwort, kein: „Prima Petrus, du hast es                          heit Jesu sind.
                            genau auf den Punkt gebracht! Nun sieh zu, dass auch die                                  Ein zweiter Aspekt: Nicht unsere Worte und Bekennt-
                            anderen endlich begreifen, mit wem sie es bei mir zu tun                             nisse, sondern unsere Taten geben letztlich Auskunft
                            haben, und sorge dafür, dass alle, die eine andere Meinung                           darüber, wer Jesus für uns ist. So heißt es zum Beispiel
                            haben, in ihrem Irrtum korrigiert werden. Und wer sich der                           im Jakobusbrief: „Was nützt es, wenn einer sagt, er habe
                            Wahrheit dieses gültigen Bekenntnisses nicht anschließt,                             Glauben, aber es fehlen die Taten?“ ( Jak 2,14). Glaubens-
                            den musst du bekehren oder aus der Gemeinschaft mei-                                 bekenntnisse können leicht über die Lippen gehen. Aber
                            ner Freunde ausschließen.“ Solche elitären Töne sind aus                             entscheidend ist die Glaubwürdigkeit solcher Bekennt-
                            dem Mund Jesu nicht zu hören. Nein, Jesus reagiert auf das                           nisse. Mein Leben, mein Tun, die Art und Weise, wie ich
                            Bekenntnis des Petrus überraschend anders: „Da verbot er                             mit Menschen umgehe, wie sehr ich mich um Verständnis
                            ihnen mit jemandem über ihn zu sprechen!“ (Mk 8,30).                                 und Liebe, um Hilfsbereitschaft und Frieden bemühe, ent-
                                  Schon immer hat mich die Frage beschäftigt, wie die-                           scheidet darüber, ob mein Leben zu dem passt, was Jesus
                            ses Schweigegebot Jesu zu verstehen ist. Offensichtlich                              gesagt und vorgelebt hat oder nicht. Das war und ist für
                            haben sich seine Leute ja nicht daran gehalten, sonst wüss-                          mich immer Grund zu selbstkritischer Gewissenserfor-
                            ten wir nichts davon. Mir fallen zu diesem Schweigegebot                             schung, wenn ich versuche, anderen von Jesus zu erzählen.
                            verschiedene Aspekte einer Erklärung ein:                                            Wie glaubwürdig bin ich?
                                  Ein erster Aspekt: Jesus will keine Festlegung auf                                  Ein dritter Aspekt zu diesem Schweigegebot Jesu im
                            eine bestimmte Definition! Jesus will verdeutlichen, dass                            Anschluss an das Messias-Bekenntnis des Petrus: Wir alle
                            das Geheimnis seiner Persönlichkeit und damit auch das                               wissen aus der alltäglichen Kommunikation, dass Worte
                            Geheimnis Gottes nicht in irgendeine griffige Formel hin-                            immer auch missverständlich sind. Viele Worte sind bei
                            einpasst; es geht nicht um eine feste und klare Katechis-                            verschiedenen Menschen durch unterschiedliche Erfah-
                            musweisheit, die wir „schwarz auf weiß besitzen und so                               rungen und Sichtweisen ganz unterschiedlich besetzt. Das
                            getrost nach Hause tragen können“.                                                   Wort „Messias“ weckte in den Ohren der Juden zur Zeit
                                                                                                                 Jesu ganz bestimmte Hoffnungen und Erwartungen. Sie
Aktuelle Umfragewerte Cäsarea Philippi                                                                           erwarteten den Retter, den Befreier, der das Volk Got-
Für wen halten Sie Jesus von Nazareth?                                                                           tes aus der Herrschaft der römischen Besatzungsmacht
                                                              40,1 %                                             befreien sollte, so wie Moses damals das Volk Israel aus der
Quelle: Apostel*Umfragen                                                                                         Knechtschaft Ägyptens befreit hatte. Die Unterdrückung
                                                                                                                 der Fremdherrschaft und somit auch die Sehnsucht nach
                                                                                                                 Freiheit war so groß, dass solche Messiaserwartung auch
 33,7 %                                                                                                          nicht davor zurückscheute, durchaus gewaltsame Mittel für
                                                                                                                 diese Befreiung als legitim und notwendig anzusehen.
                                                                                                                      Da es aber zur Berufung Jesu gehörte, für seinen Weg
                                                                                                                 der Erlösung auf keinen Fall Gewalt einzusetzen, da er den
                                                                                                                 friedfertigen und gewaltfreien Weg wählen wollte, um den
                                                                                     Christus, der Sohn Gottes

                                                                                                                 Kreislauf und die Eskalation von Gewalt zu durchkreu-
                                                                                                                 zen, was ihn dann selbst ans Kreuz brachte, daher wollte
                                                                                                                 er nicht, dass der so missverständliche Name „Messias“
                                                                                                                 mit seiner Person in Verbindung gebracht wird. Dann ist
                                                                                                                 Schweigen besser!
      Johannes der Täufer

                                                                                                                 Die Provokation des Kreuzes
                                                                Sonst ein Prophet

                                12,3 %                                                                                Wenn Jesus von sich selbst spricht, dann spricht er
                                                                                                                 nicht von Macht und Herrlichkeit und erst recht nicht
                                                8,9 %
                                                                                                                 von gewaltvollem Durchgreifen, um die Ungläubigen zu
                                                                                                                 bekehren und die Befreiung (Reinigung) von allem Bösen
                                                                                    5,0 %
                                                 Jeremia

                                                                                                                 in dieser Welt herbeizuführen. Er nennt sich selbst niemals
                                  Elija

                                                                                                                 Messias, sondern er spricht immer nur vom Menschensohn
                                                                                                                 (Mk 8,33), der ohnmächtig in der Schmach am Kreuz hin-
                                                                                                                 gerichtet wird. Das Gottesbild, das uns Jesus durch sein

10                                                                                                                                                   Christen heute
Kreuz vor Augen stellt, ist damals wie heute ein Skandal       ja Legende sein, Tünche, Ausmalung; an der Wahrheit
und eine unglaubliche Provokation, oder wie Paulus sagt:       von Krippe und Kreuz kommen wir bei Jesus jedoch nicht

                                                                                                                                      Hintergrundfoto: photoheuristic.info, „Homeless“, Flickr
ein Ärgernis, eine Gotteslästerung in den Augen der Gläu-      vorbei. Keine andere Religion leistet sich einen Stifter, der
bigen und eine Torheit, eine Spinnerei für die Ungläubigen     in Armut geboren wird und der in der Schmach am Kreuz
(1 Kor 1, 23). Die Botschaft vom Kreuz disqualifiziert alle,   stirbt.“ Diese Worte von Ernst Bloch beeindrucken mich.
die in ihrer Allmachtsphantasie meinen, unter Berufung               Jesus lädt ein zum Vertrauen auf den Gott, der die oft
auf Gott Gewalt, Mord, Totschlag, Terror, brutale Kriege,      unbegreifliche Bosheit und Brutalität der Menschen mit
aber auch Intoleranz oder Fremdenfeindlichkeit legitimie-      der ebenso unbegreiflichen Barmherzigkeit und Gnade
ren zu können. Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit ist        beantwortet.
genau die Perversion von dem, was Jesus vorgelebt und ver-           Wer ist Jesus für mich: der Wegbegleiter und Sinnstif-
kündet hat. Insofern ist das Kreuz eine unerhörte Zumu-        ter, der Tröster, der letzte Halt und Ermutiger in meinem
tung für unser Denken und Handeln und eine friedfertige        Leben, der auf den Hass der Menschen mit Liebe und auf
Kampfansage gegen den Größenwahn der Menschen,                 meine Angst vor Leid und Tod mit der Einladung zum Ver-
Macht über andere auszuüben.                                   trauen und zur Hoffnung auf Heil reagiert. Diesen Men-
     Jesus zeigt uns einen Gott, der sich mit unserem Leid,    schensohn Jesus kann ich letztlich nicht begreifen, aber ich
unserer Schwäche und Vergänglichkeit, mit den Frem-            möchte mich von ihm immer wieder neu ergreifen lassen.
den, den Ausgegrenzten und Abgeschobenen solidari-                                                                        ■
siert. „Alles Mögliche an der christlichen Botschaft mag

                                          ecce homo                                 seht ihn
                                          seht den Menschen                         in jedem Leidenden
                                          Menschensohn                              in jedem Namenlosen

ecce homo                                 Gottes Kind                               eingezeichnet in Schöpferhand
                                          verraten                                  einmalig
                                          verlassen                                 gottgewollt
Vo n J u tta R esp on dek                 verachtet                                 ins Dasein geliebt
                                          gequält                                   zum Heil bestimmt
                                          gedemütigt                                geist-beatmet
                                          entstellt                                 als Abbild des Höchsten             ■

„Wir möchten Jesus sehen!“
Vo n J u tta R esp on dek                                      auseinandersetzen können. Wahrscheinlich gibt es so viele
                                                               Jesusbilder, wie es Menschen gibt, die nach ihm suchen

E
        s waren dem jüdischen Glauben naheste-                 und fragen. Jedem offenbart er sich auf seine Weise, jedem      Jutta Respondek
        hende Griechen, die, wie in Joh 12,20 ff berichtet     zeigt er zumindest einen Bruchteil seines Wesens. Denn          ist Mitglied der
        wird, nach dem Einzug Jesu in Jerusalem dieses         wer könnte ihn vollständig erfassen?                            Gemeinde Bonn
Anliegen an Philippus richteten. „Wir möchten Jesus                 Mein Jesusbild hat viele Facetten, die zu unterschied-
sehen!“ Sicherlich waren sie neugierig. Sie hatten schon       lichen Zeiten ihre jeweilige Bedeutsamkeit hatten und
so manches von diesem Jesus gehört und sahen jetzt die         haben.
Chance, ihn persönlich kennen zu lernen oder ihn wenigs-            Da ist, gerade jetzt in der Weihnachtszeit, das Kind
tens einmal zu Gesicht zu bekommen. Um sich ein eigenes        in der Krippe. Ein Kind wie Millionen anderer Kinder.
Bild von ihm zu machen. Was ist er für einer? Ist er wirk-     Armselig, hilflos, wehrlos. Am Rande der Gesellschaft im
lich so beeindruckend und überzeugend, wie man ihm             Elend geboren, vom Tode bedroht, zur Flucht getrieben,
nachsagt? Was lässt die Menschen so begeistert ihm hinter-     von Handlangern der Mächtigen verfolgt, auf Schutz und
herlaufen? Wir wollen ihn mit eigenen Augen sehen und          Liebe angewiesen, Zuflucht suchend in der Fremde. Ein
uns eine Meinung bilden.                                       Kind, das umarmt, behütet und umsorgt werden will, das
      Das möchten wir wohl alle. Jesus sehen. Auch heute,      heranwachsen und sich entfalten will, das die Welt verste-
als seine Nicht-Zeitgenossen, die ihm nicht mehr wie           hen lernen und in ihr leben und sie mitgestalten will. Ein
die Menschen damals persönlich begegnen können. Wir            Menschenkind, in dem Gottes Liebe atmet und zur Welt
brauchen ein Bild vor Augen, etwas, das wir uns vor-           kommt.
stellen können, etwas, das uns anrührt oder ansteckt,               Da ist der Menschenbruder, wie er im Lied „Eines
was uns begeistert und überzeugt. Womit wir uns                Tages kam einer“ von Alois Albrecht und Peter Janssens

6 3 . J a h r g a n g + D e z e m b e r 2 0 1 9 11
Neumünster aus der Zeit um 1350 dargestellt ist: die Arme
                                                                                                                     mit den durchbohrten Händen, aus denen noch die Nägel
                                                                                                                     ragen, von den Kreuzbalken gelöst und zur Umarmung
                                                                                                                     übereinander gelegt. Der am Kreuz erhöhte Menschen-
                                                                                                                     sohn, misshandelt und durchbohrt, der uns an sich zieht
                                                                                                                     und an seinem Herzen birgt mit dem ganzen Schmerz
                                                                                                                     seiner Liebe. Der uns hineinnimmt in sein Leiden, mit
                                                                                                                     unseren Wunden, unseren Ängsten und Sorgen, unserem
                                                                                                                     Fragen und Zagen, mit unserem Versagen und unserer
                                                                                                                     Schuld. Der Gemarterte in seiner Einsamkeit und Hin-
                                                                                                                     gabe, der sich dem unergründlichen göttlichen Willen und
                                                                                                                     der Zusage des Vaters überlässt, der Sein Wort gegeben hat
                                                                                                                     und Seine Verheißung erfüllen wird. Der Mensch in seiner
                                                                                                                     Hoffnung wider alle Hoffnungslosigkeit. Das unter Todes-
                                                                                                                     angst errungene Vertrauen, dass Gottes Liebe größer ist als
                                                                                                                     jede Finsternis und aus Vernichtung und Untergang zum
                                                                                                                     Leben befreit...
                                                                                                                          Die umarmende Liebe dieses Schmerzensmanns zeigt
                                                                                                                     mir die Nähe, die man einander schenken kann, wenn
                                                                                                                     man Trauer und Schmerzen teilt, wirklich und wahrhaftig,
                                                                                                                     von Herz zu Herz. Sie zeigt mir die Treue, die uns niemals
                                                                                                                     verlässt, in keiner Todesnacht. Eine Treue, die bei uns aus-
                                                                                                                     harrt in unserer Ohnmacht, die uns annimmt in unserer
                                                                                                                     Schwachheit, die bei uns bleibt in unserer Verlorenheit, die
                                                                                                                     mit uns leidet und mit uns um Leben und Zukunft ringt;
                                                                                                                     eine Treue, die sich niemals von uns abwendet und uns
                                                                                                                     geleitet in Geduld, die erlöst und befreit, und Heil und
                                                                                                                     Vollendung schenken wird.

                                                                                                                     Menschen als Jesusbilder
                                                                                                                          Diese und ähnliche Bilder kommen mir in den Sinn,
                                                                                                                     wenn ich an Jesus denke, auch wenn sie ihn nicht fassen
                                                                                                                     und nur winzige Mosaiksteinchen eines unendlich gro-
                                                                                                                     ßen Ganzen sind. Wenn ich, wie seinerzeit die Griechen,
                                                     besungen wird. Einer, mit einem Zauber in seiner Stimme         in meinem Leben „Jesus sehen“ und mehr von ihm erfah-
Foto: Schmerzensmannkreuz im Würzburger Neumünster

                                                     und Wärme in seinen Worten. Einer, der Freude und               ren will, kann und sollte ich auf den Menschen blicken.
                                                     Freiheit, Hoffnung und Kraft in die Welt bringt, der den        Auf Menschen nah und fern. Frohe und traurige, alte und
                                                     Menschen mit Offenheit und Liebe, Güte, Treue und               junge, kranke und gesunde, unbeschwerte und leidende.
                                                     Geschwisterlichkeit begegnet. Ein Geist-Erfüllter und           Auch sie sind „Jesusbilder“. Lebende Jesusbilder. In ihnen
                                                     Sinn-Stifter. Einer, der aufrichtet, tröstet und befreit, der   zeigt er sich und lässt er sich erkennen. Denn ist er nicht
                                                     sich der Armen und Schwachen annimmt, der sich ohne             „der Mensch“ schlechthin? So jedenfalls bezeichnete
                                                     Berührungsängste an die Seite der Ausgestoßenen stellt.         ihn Pilatus, als er ihn dem Volk vorführen ließ. Seht, den
                                                     Der das Verwundete im Menschen sieht, der vergibt und           Menschen!
                                                     heilt und mit seinem ganzen Leben in Wort und Tat die                Und ich bin sicher: In vielen Menschen auf meinem
                                                     frohe Botschaft von der göttlichen Vaterliebe bezeugt, die      Weg ist er mir begegnet und begleitet er mich, erkannt
                                                     allen gilt. Ein Menschenbruder, der von sich sagt, der Weg,     oder unerkannt, als Kind, als Menschenbruder oder Men-
                                                     die Wahrheit und das Leben zu sein und sich als das Brot        schenschwester oder als Mann bzw. Frau der Schmerzen.
                                                     gibt, das den Hunger stillt. Sprich: einer, der Orientierung,   Als Mitmensch, der mir Nähe schenkt und mich aufrichtet
                                                     Antwort, Stärkung und Erfüllung sein will.                      oder der meine Zuwendung, Unterstützung und Anteil-
                                                          Und auch ein unbequemer Bruder. Einer, der mahnt           nahme braucht. Als Mensch, mit dem ich das Leben in
                                                     und fordert, der Unrecht und Verlogenheit anprangert und        Freud und Leid teile. Im Menschen kann ich ihn sehen,
                                                     an dem sich die Geister scheiden. Der die Augen öffnet, die     wenn ich bereit bin, Herz und Augen zu öffnen. Er hat
                                                     selbstzufriedene Ruhe stört, das Herz in Aufruhr versetzt       viele Gesichter und lässt sich nicht auf ein Bild festlegen.
                                                     und zur Auseinandersetzung und Entscheidung zwingt.             Er ist da, wo Menschen leben, hoffen, lieben, er ist da wo
                                                     Den man nicht ignorieren kann.                                  Leben, Hoffnung, Liebe ist.                                 ■
                                                          Und da ist der Gekreuzigte, wie er als Umarmender
                                                     Kruzifixus im „Schmerzensmannkreuz“ im Würzburger

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Unser Sehnen nach Heilwerden
Heilungserzählungen in der Bibel –
von der Gotteskraft, die aufrichtet
Vo n Br igitt e Gl a a b

D
          ie Wundergeschichten
          und Heilungserzählungen
          der Evangelien werfen immer
wieder die Frage auf, ob tatsächlich so
stattgefunden hat, was hier berichtet
wird. Die Bibelwissenschaftlerin Dr.
Ulrike Metternich betonte in ihrem
Vortrag bei der Jahrestagung des Bun-
des alt-katholischer Frauen (baf ),
dass „die Texte der Evangelien 40 bis
60 Jahre nach dem Tod Jesu aufge-
schrieben wurden und bis dahin von
Mund zu Mund gewandert sind“. Es
sind keine historisch nachprüfbaren
Tatsachenberichte, sondern Bekennt-
nisse zu diesem Jesus, der Menschen
mit Heilungserfahrungen beschenkte.       spricht er zu ihr: „Tochter Gottes,       Maria ankündigt, dass sie schwanger
„Jesus selbst wollte nicht als ein Wun-   dein Vertrauen hat dich gerettet…“        werden wird. Mit dem Begriff ‚dyna-
derheiler verehrt werden“. Er lehnte            Die Referentin lehnt die Aus-       mis‘ beschreiben die synoptischen
es klar ab, sich durch spektakuläre       legung ab, die besagt, die Frau habe      Evangelien (Matthäus, Markus und
Zeichen zu profilieren, als die Phari-    einen magischen Glauben und wolle         Lukas) an vielen Stellen die spürbare
säer und Sadduzäer von ihm ein Zei-       durch einen Berührungszauber geheilt      Wirksamkeit der Kraft Gottes. Ulrike
chen vom Himmel forderten, wie im         werden. Ihre Recherchen widerspre-        Metternich meint, wenn wir genau             Brigitte Glaab
16. Kapitel des Matthäusevangeliums       chen auch der Annahme, dass die Frau      übersetzen würden, käme das Wort             ist Priesterin im
berichtet wird. Auch im Markusevan-       einen Tabubruch begeht, indem sie         ‚Wunder‘ gar nicht vor. Die Heilungs-        Ehrenamt in
                                                                                                                                 der Gemeinde
gelium warnt Jesus vor falschen Mes-      sich Jesus nähert und sein Gewand         geschichten erzählen von der Gottes-         Aschaffenburg und
siassen und Pseudopropheten, die          berührt. Sie tat nichts, „was der jüdi-   kraft, die aufrichtet.                       Frauen­seelsorgerin
durch Zeichenhandlungen und Wun-          schen Lebenspraxis ihrer Zeit wider-           Auch Paulus schreibt im ers-            des Bistums
der die Menschen in die Irre führen.      sprochen hätte“.                          ten Korintherbrief von der ‚dynamis‘
Dennoch erzählen alle Evangelien                Das Berühren des Gewandes           Gottes, in der sich das Reich Got-
von Menschen, die in der Begegnung        erinnert an eine Stelle beim Prophe-      tes erweist (1 Kor 4,20). An anderer
mit Jesus eine heilende Kraft erfahren    ten Sacharja. Hier spricht Gott: „In      Stelle betont er, dass seine Botschaft
haben.                                    jenen Tagen, da ergreifen, ja ergreifen   nicht aus Weisheitsworten besteht,
                                          zehn Menschen aus allen Sprachen der      sondern aus der Erfahrung von Geist
Lichtblickgeschichten inmitten            Nationen den Zipfel einer einzigen        und gottgegebener ‚dynamis‘ (1 Kor
der bedrohten Gegenwart                   jüdischen Person und sagen: ‚Wir wol-     2,3-5).
      Anhand der Geschichte von der       len mit euch gehen; denn wir haben
blutflüssigen Frau aus dem 5. Kapi-       gehört: Mit euch ist Gott.‘“ (Sach        „Dein Vertrauen hat dich gerettet“
tel des Markusevangeliums stellte         8,23, zitiert nach der Bibel in gerech-        Mit einer weiteren Vokabel aus
                                                                                                                                        Hintergrundfoto: Mitya Ku, „167“, Flickr

Metternich einen alternativen Deu-        ter Sprache). In ähnlicher Weise          der griechischen Fassung der Texte
tungsansatz von Heilungserzählun-         könnte es sich bei der vorliegenden       beschäftigten wir uns näher. Bei den
gen vor. Eine Frau, die zwölf Jahre       Geschichte um ein prophetisches Zei-      Heilungsgeschichten wird das Wort
an Blutungen litt, nähert sich in der     chen handeln, das von der Gegenwart       ‚sozein‘ oft übersetzt mit ‚gesund
Menschmenge Jesus und berührt von         Gottes kündet. Indem sie das Gewand       machen‘ (oder ‚heilen‘). So wird
hinten sein Gewand. Sofort spürt          Jesu berührt, spürt die Frau die Got-     auch die Heilung der blutflüssigen
sie, dass sie von ihrem Leiden befreit    teskraft. Im Griechischen steht hier      Frau meist verstanden als körper-
ist. Auch Jesus spürt die Kraft, die      ‚dynamis‘, was Metternich mit ‚Ener-      lich gesund werden. ‚Sozein’ hat aber
von ihm ausgeht, und fragt, wer ihn       gie, Kraft, Wirkung‘ übersetzt. Auch      neben ‚heilen‘ auch die Bedeutung
berührt hat. Nachdem die Frau ihm         Lukas erzählt von der ‚dynamis‘ Got-      ‚retten‘, ‚heil herausführen‘ oder ‚in die
„die ganze Wahrheit gesagt hat“,          tes, die Maria „in ihren Schatten hül-    Gottesbeziehung, in die Gottesfamilie
                                          len wird“ – so spricht der Engel, der     hineinnehmen‘.

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