Die Seele - Heft 2 / 2019 Das Magazin der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung - Der ...

 
WEITER LESEN
Die Seele - Heft 2 / 2019 Das Magazin der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung - Der ...
Heft 2 / 2019 Das Magazin der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung

                                       We n n
                                              e
                                     die Seel
                             i s c h e leidet …
                    psych
                       k r a n  k u ngen
                    Er
Die Seele - Heft 2 / 2019 Das Magazin der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung - Der ...
ak tuell

      Liebe Leserin, lieber Leser,                   Aktuell
jeder vierte Mensch wird einmal in seinem Leben      Die Gute Frage Warum leisten so wenige Menschen
                                                     Erste Hilfe? 1
psychisch krank, schätzt die Weltgesundheitsor­      Kurznachrichten 3
ganisation WHO. Depressionen, Angststörungen,        Auch das noch Haben wir uns schon mal gesehen? 32

Alko­hol- oder Medikamentenabhängigkeit, Burn­
out oder Suchterkrankungen – es gibt viele Krank­    Titelthema
heitsbilder und ganz unterschiedliche Ursachen.      Seelen in Not 6
Längst sind es nicht nur Erwachsene, die Hilfe       Möglichkeiten der Diagnostik Ein einzelnes Symptom
                                                     macht noch keine Erkrankung 8
und Therapien brauchen. Zunehmend mehr Kin­          Wie gut ist die psychiatrische und

                                                                                                             mdk forum Heft 2 /2019
der sind psychisch auffällig, zeigen übermäßige      psychotherapeutische Versorgung? 10
                                                     Generation Krise 12
Ängste oder Störungen im Sozialverhalten: Was        Wann macht Arbeit krank? 14
wird getan, damit Menschen mit psychischen Pro­      Früher tat nur der Rücken weh,
                                                     heute ist es auch die Psyche 16
blemen möglichst frühzeitig und unkompliziert
Hilfe erhalten? Wie hat sich die Versorgungssitua­
tion hierzulande entwickelt? Wann kann Stress am     Wissen & Standpunkte
Arbeitsplatz krank machen? Und wie können wir        MDK-Reformgesetz auf dem Weg 18
                                                     Versichertenbefragung zur Pflegebegutachtung
unsere Kinder vor zu viel Leistungsdruck oder den    Gut organisiert, kompetent und freundlich 20
Folgen von Mobbing schützen?                         Jahresstatistik Behandlungsfehler-Begutachtung
                                                     Fehler erfassen, um Schäden zu vermeiden 22
    Neben dem Schwerpunktthema gibt es weitere
interessante Beiträge im Heft: So berichten wir
­unter anderem darüber, wie die Versicherten die     Gesundheit & Pflege
 Pflegebegutachtung durch den MDK bewerten.          Kita im Pflegeheim Jung und Alt unter einem Dach 23
                                                     Rund um die Blutspende 24
 Wir widmen uns dem Thema Blutspende, blicken        Modellprojekt zum Advance Care Planning Im Voraus ans
 auf den Klimawandel und mögliche Auswirkun­         Ende denken 26

 gen auf die Gesundheit. Und wir haben versucht
 herauszufinden, warum so wenige Menschen hier­      Weitblick
 zulande Erste Hilfe leisten.                        Klimawandel Mehr als nur heiße Luft 28
    Möge es Ihnen gut gehen und mögen Sie einen
 wunderschönen Sommer erleben.                       Gestern & Heute
      Ihr Dr. Ulf Sengebusch                         Kleine Ursache, große Wirkung:
                                                     das Hygiene-Prinzip 30
Die Seele - Heft 2 / 2019 Das Magazin der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung - Der ...
die gute frage
                                                                                                                                                              1

                                                Warum leisten
                                             so wenige Menschen
                                                 Erste Hilfe ?
mdk forum Heft 2 /2019

                         Schätzungsweise 60 000 bis 100 000 Menschen sterben jedes Jahr in Deutschland, weil plötz-
                         lich das Herz aussetzt. Viele von ihnen könnten wiederbelebt werden, doch nur in knapp 40 %
                         der Fälle wird Erste Hilfe geleistet, sagt Professor Dr. Jan-Thorsten Gräsner, Direktor des Insti-
                         tuts für Rettungs- und Notfallmedizin am Universitätsklinikum in Kiel und Sprecher des Deut-
                         schen Reanimationsregisters.

                            Immer öfter berichten Medien von Menschen,                       Wie ist es in anderen Ländern? Machen die
                            die Notfälle mit dem Handy filmen und die                        irgendetwas besser als wir?
                            Rettungskräfte behindern, statt Erste Hilfe zu
                            leisten. Teilen Sie diesen Eindruck?                              Ja, machen sie. 2014 und 2017 haben wir uns in zwei Stu-
                                                                                          dien die Laien-Reanimationsquoten in Europa angeguckt.
                             Ja, das ist so, wobei man zugeben muss, dass es Schaulus-    2014 waren wir europaweit bei 52%, in Deutschland bei 32 bis
                         tige auch schon vor 20 Jahren gab. Neu ist, dass heute gefilmt   33%, während die Skandinavier bei 70 oder 75 % lagen. Aber
                         wird und die Filme längst in den sozialen Medien sind, bevor     bei denen sind die Voraussetzungen auch ganz anders als bei
                         die Einsatzkräfte die Rettungswache wieder erreicht haben.       uns. In Dänemark gibt es zum Beispiel regelmäßig große öf-
                         Das ist moralisch verwerflich und verletzt alle Persönlich-      fentlichkeitswirksame Kampagnen, finanziert von einer Ver-
                         keitsrechte. Die Patienten werden ungefragt gefilmt und die      sicherung. Die Norweger unterrichten seit Jahrzehnten Wie-
                         Kollegen im Einsatz bei ihrer Arbeit vorgeführt. Was wir un-     derbelebungsmaßnahmen an den Schulen. Wegen der dün-
                         seren jungen Kollegen heute beibringen, ist, dass man dieses     nen Besiedelung und der großen Entfernungen wissen die
                         Phänomen nicht abschaffen kann, sondern dass sie sich            natürlich auch, wie wichtig es ist, anderen zu helfen. Und die
                         ­davon freimachen müssen, sonst leidet die Arbeit.               Schweden bieten seit Jahren kleine kurze Kurse mit Fachper-
                                                                                          sonal an. Damit sind sie kontinuierlich besser geworden. Im
                            Wie sieht es hierzulande insgesamt aus mit der                Vergleich dazu sind wir hier eher noch in der Startphase.
                            Bereitschaft, Erste Hilfe zu leisten? Zögern zu viele
                            Menschen? Wenn ja, warum?                                        Wo setzen wir denn an, um besser zu werden?

                             Wir müssen unterscheiden zwischen der klassischen Ers-           Schüler retten Leben ist gerade ein Riesenprojekt in
                         ten Hilfe und der Reanimation. Bei der Wiederbelebung, die       Deutschland, um Schüler im Unterricht in Wiederbelebung
                         Laien durchführen, bevor der Rettungsdienst kommt, sind          zu schulen. Es ist ein toller Ansatz, um schnell in die Breite zu
                         wir heute bei einer Quote von knapp 40%. Wenn Menschen           kommen, aber auch, um über die Schüler nachhaltig deren
                         im Notfall zögern zu helfen, liegt das meist an drei Punkten:    Eltern zu erreichen. Ich finde, das müsste in allen Bundes-
                         erstens daran, dass sie nicht wissen, was man überhaupt ma-      ländern, nicht nur in wenigen Projektregionen, verpflichten-
                         chen kann. Zweitens an der Unsicherheit und Sorge, dass          des Schulfach sein. Und auch die Finanzierung sollte kein
                         man was kaputtmacht. Und drittens verlässt man sich gern         Problem sein. Aber wir verspielen das gute Projekt leider
                         auf unser Rettungssystem. Getreu dem Motto: Ich rufe den         ­gerade auf Länderebene, ringen um Zuständigkeit und Fi-
                         Rettungsdienst, der kommt dann und macht das schon.               nanzierung.
Die Seele - Heft 2 / 2019 Das Magazin der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung - Der ...
die gute frage
2
       Was sind die häufigsten Notfälle, in denen                       Angenommen, ich bin zu Hause, mein Partner hat
       Erste Hilfe dringend gebraucht wird?                             plötzlich Schmerzen in der Brust, Luftnot,
                                                                        Schweißausbrüche. Was dann?
         Der schlimmste Notfall ist der Herz-Kreislauf-Stillstand.
    Da geht es um jede Sekunde und man muss sofort reagieren             Das klingt nach Herzinfarkt. Als Erstes müssen Sie gu-
    können. Danach wird es eher selbstverständlich. Bei einer        cken, ob er noch ansprechbar ist. Dann rufen Sie sofort den
    bedrohlichen Blutung zum Beispiel zählt nicht der schönste       Rettungsdienst, die 112. Bleiben Sie auf jeden Fall beim Pa­
    Verband, sondern dass es gelingt, die Blutung zu stillen, also   tienten, beruhigen Sie ihn. Denn kommt es zusätzlich noch
    Wundauflage drauf, Druck ausüben und notfalls abbinden.          zum Kreislaufstillstand, müssen Sie sofort mit der Wieder-
    Das sind Situationen, in denen man ganz schnell und auch         belebung beginnen.
    mit gesundem Menschenverstand leicht helfen kann. Bei
    ­Patienten mit Luftnot oder Herzinfarkt sollte man den Ober-        Wie erkenne ich einen Kreislaufstillstand
     körper hoch lagern, beruhigen und dabeibleiben, bis der            und was muss ich als Erstes tun?
     Rettungsdienst da ist. Dabeibleiben und beobachten, um zu

                                                                                                                                          mdk forum Heft 2 /2019
     erkennen, ob jemand bewusstlos ist, und dann entspre-               Wir sagen: Wenn jemand bewusstlos ist und nicht nor-
     chend reagieren. Bloß nicht lange nachdenken, wie die stabi-    mal atmet, hat er einen Kreislaufstillstand. Haben Sie den
     le Seitenlage funktioniert – die hilft dem typischen bewusst-   Eindruck, dass derjenige schnarcht, nur zweimal in der Mi-
     losen Patienten mit Kreislaufstillstand überhaupt nicht. Der    nute atmet oder hechelt, sind das Alarmsignale. Die richtige
     braucht eine Reanimation. Nur die wenigsten Patienten,          Reihenfolge bei der Wiederbelebung ist: prüfen, rufen, drü-
     zum Beispiel mit Hirnblutung oder schwerem Schlaganfall,        cken! Haben Sie geprüft, ob er bei Bewusstsein ist, haben Sie
     brauchen eine stabile Seitenlage, damit Speichel abfließt.      den Rettungsdienst gerufen, dann kommt die Herzdruck-
                                                                     massage: 100 bis 120 Mal pro Minute auf der Brustbeinmitte,
       Haben sich Erste-Hilfe-Maßnahmen heute im                     fünf bis sechs Zentimeter darunter.
       Vergleich zu früher verändert?                                    Das ist anstrengend, das kostet Kraft. Beim richtigen
                                                                     Rhythmus helfen Lieder wie Atemlos, Staying Alive, Highway
        Das Umfeld hat sich verändert. Vor 20 Jahren hatte je-       to hell. Und man soll so lange drücken bis der Rettungs-
    mand eine bedrohliche Blutung am Arm, nachdem er mit             dienst da ist. Wenn man es gelernt hat, sollte man im Wech-
    ­einer Axt hantiert hat oder mit dem Arm in eine Maschine ge-    sel 30 Mal drücken und zwei Mal beatmen. Denn wenn man
     kommen ist. Heute müssen wir bei bedrohlichen Blutungen         es gelernt hat, ist drücken und pusten besser als nur drü-
     auch an Anschläge denken, an Attentate, an terroristische       cken. Drücken ist das Muss. Drücken und beatmen wär klas-
     Aktivitäten.                                                    se. Drücken, beatmen und Defibrillator wär dann sozusagen
                                                                     die Krönung.
       Sollte man nicht eher Autounfälle assoziieren?
                                                                        Wie kann man Menschen für Erste Hilfe motivieren?
        Schwere tödliche Verkehrsunfälle werden weniger. Dabei
    sehen wir oft das: Das Auto ist Schrott, und die Leute sitzen         Aufklärung ist entscheidend: Aufklärung darüber, wie
    – nicht blutüberströmt – daneben. Heißt, die Weiterentwick-      wichtig es ist, zu helfen; Aufklärung, wie einfach es ist, zu hel-
    lung der Technik mit Airbags, abs und allem Zipp und Zapp        fen, und Aufklärung darüber, dass man im Prinzip nichts ka-
    hat dazu geführt, dass Autos viel sicherer sind und schwere      puttmachen kann. Schlimmstenfalls bricht eine Rippe bei
    Blutungen selbst bei schweren Unfällen nicht oft vorkom-         der Herzdruckmassage, aber das überlebt man. Tu ich aus
    men. Die meisten Notfälle passieren heute zu Hause.              Sorge, etwas kaputtzumachen, nichts, bleibt der Mensch tot.
                                                                     Man kann bei der Reanimation nichts verkehrt machen, außer
                                                                     man tut nichts!
                                                                          Ob am Arbeitsplatz, in der Schule oder in der Freizeit – wo
                                                                     immer ich Aufklärung leiste, ist völlig egal, und je häufiger es
                                                                     passiert, desto besser. Dass den Kindern, also den Helfern
                                                                     von morgen, etwas angeboten wird, ist wichtig, keine Frage.
                                                                     Aber wir müssen auch den potenziellen Helfern von heute
                                                                     ­etwas anbieten. Das gilt für Unternehmen ebenso wie für
                                                                      Kegel­clubs oder Sportvereine. Denn der Kreislaufstillstand-
                                                                      Patient ist nicht immer über 70 und sitzt im Altenheim. Oft
                                                                      ist er jung, sportlich und kippt beim Sport plötzlich um. Es
                                                                      muss Alltag sein, sich mit dem Thema zu beschäftigen, und
                                                                      wir müssen niedrigschwellige Angebote machen.

                                                                        Die Fragen stellte Dorothee Buschhaus.

                                                              Prof. Dr. Jan-Thorsten Gräsner
Die Seele - Heft 2 / 2019 Das Magazin der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung - Der ...
ak tuell
                                                                                                                                                                               3

                                                                                 IGeL-Monitor keine Anhaltspunkte für einen     56,7 % und in Bremen 62,5 %. Auch die Art
                                                                                 Nutzen bei Menschen ohne Anzeichen einer       des Eingriffs wirkt sich aus. So bleiben bei
                                                                                 Demenz. Auch zu möglichen Schäden              Bauchspeicheldrüsen-OPs 34 % und bei

                                                             AOK Bundesverband
                                                                                 fanden sich keine Studien. Nach Auffassung     Speiseröhren-OPs sogar 52,6 % der
                                                                                 des IGeL-Monitor-Teams kommt die               Krankenhäuser unter den gesetzlich
                                                                                 MRT-Untersuchung zwar ohne schädliche          vorgeschriebenen Mindestmengen.
                                                                                 Strahlen aus, aber indirekte Schäden sind
                                                                                 möglich. So wisse man nicht, ob sich ein            Konzertierte Aktion Pflege
                                                               ©
                                                                                 auffälliger MRT-Befund tatsächlich zu einer    Mit dem Ziel, die Arbeitsbedingungen für
                                                                                 Demenz mit Symptomen weiterentwickeln          Pflegekräfte schnell und spürbar zu
                                                                                 würde. Betroffene würden unnötigerweise        verbessern, wurde im Sommer 2018 die
mdk forum Heft 2 /2019

                              Fritz Schösser ist tot                             beunruhigt, obwohl sie nie dement              Konzertierte Aktion Pflege gestartet, deren
                         Am 28. Mai 2019 verstarb völlig überraschend            geworden wären.                                Ergebnisse Anfang Juni von Bundesfamili-
                         Fritz Schösser im Alter von 71 Jahren. Fritz                Um Vorboten einer Alzheimer-Demenz         enministerin Dr. Franziska Giffey, Bundesar-
                         Schösser war von 2005 bis 2017 alternieren-             zu erkennen, bieten manche radiologische       beitsminister Hubertus Heil und Bundesge-
                         der Vorsitzender der Mitgliederversamm-                 oder neurologische Praxen sogenannte           sundheitsminister Jens Spahn vorgestellt
                         lung des MDS. Seit 2008 gehörte er                      Brain Checks an – Untersuchungen, die          wurden. Demnach soll bundesweit nach
                         ebenfalls dem Verwaltungsrat des MDS an.                meist auch eine MRT beinhalten. Zeigen         Tarif bezahlt, ein am Bedarf orientierter
                              1947 in Töging am Inn geboren, absol­              sich im MRT Hinweise auf verdächtige           Personalschlüssel eingeführt, die Anwer-
                         vierte er nach der mittleren Reife eine                 Gehirnstrukturen, sollen Betroffene            bung ausländischer Pflegekräfte beschleu-
                         Ausbildung zum Industriekaufmann bei den                frühzeitig Gegenmaßnahmen ergreifen            nigt und die Zahl der Auszubildenden und
                         Innwerken. Schon als Lehrling engagierte er             können, um eine Demenz zu verhindern           Ausbildungseinrichtungen gesteigert
                         sich in der Gewerkschaft, stieg rasch auf               oder deren Verlauf zumindest abzuschwä-        werden.
                         und wurde 1990 Vorsitzender des DGB-Be-                 chen. Besteht dringender Verdacht auf eine          Noch vor der Sommerpause soll die
                         zirks Bayern. 1994 kam Schösser für die SPD             Alzheimer-Demenz, ist eine MRT unter           Bundesregierung die rechtlichen Grundla-
                         in den Landtag und wechselte 1998 in den                Umständen Kassenleistung. Doch solange         gen beschließen, um bessere Gehälter über
                         Deutschen Bundestag. Hier war er Mitglied               jemand keine Beschwerden hat, muss die         Mindestlöhne, sowohl für Hilfs- als auch für
                         im Ausschuss für Gesundheit und Soziale                 Untersuchung aus eigener Tasche als IGeL       Fachkräfte, und gleiche Bezahlung in Ost
                         Sicherung. 2010 gab er den Gewerkschafts-               bezahlt werden. Sie kostet in der Regel        und West zu ermöglichen. Die Pflegebran-
                         vorsitz ab. Darüber hinaus war Fritz                    zwischen 260 und 580 Euro.                     che könne dann entscheiden, ob sie einen
                         Schösser über Jahrzehnte in der Sozialen                                                               flächendeckenden Tarifvertrag abschließt.
                         Selbstverwaltung von AOK, MDK und MDS                       Mindestmengen werden                       Einen von Arbeitgebern und Gewerkschaft
                         engagiert. Für ihn waren immer Verbesse-                    oft nicht eingehalten                      Verdi ausgehandelten Vertrag würde der
                         rungen möglich, und er sah es als seine                 Viele Krankenhäuser halten die gesetzlich      Bund dann für die ganze Branche für
                         Aufgabe an, Schwächen in der Versorgung                 vorgegebenen Mindestmengen für                 allgemeinverbindlich erklären. Andernfalls
                         zu benennen und sich für Veränderungen                  komplexe Operationen nicht ein. Dabei          legt eine Kommission wie bisher Mindest­
                         einzusetzen. Sein Wirken galt der Weiter-               sollen die seit 2004 für sieben planbare       entgelte fest – auch für Pflege-Fachkräfte.
                         entwicklung der Medizinischen Dienste im                Eingriffe festgelegten Mindestmengen                Vorgesehen ist zudem eine neue
                         Interesse der Versicherten und zum Nutzen               sicherstellen, dass schwierige Operationen     Pflegeausbildung ab 2020. Dann soll
                         der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversi-              nur noch in Kliniken mit entsprechender        bundesweit dafür auch kein Schulgeld mehr
                         cherung. »Mit Fritz Schösser verlieren wir              Erfahrung erfolgen. Laut einer Analyse des     fällig werden, Azubis sollen vielmehr
                         einen herausragenden Selbstverwalter, der               Science Media Centers (SMC) und der            Vergütungen bekommen. Geplant sind
                         sich stets mit Herzblut für eine gute und               Weissen Liste erreichten 40 % der deut-        außerdem 5000 Weiterbildungsplätze. Auch
                         gerechte Versorgung der Versicherten                    schen Kliniken, die solche Eingriffe           sollen verbindliche Personalschlüssel
                         engagiert hat«, so Dr. Peter Pick, Geschäfts-           durchführen, eine oder mehrere der             umgesetzt werden. Kräfte aus dem Ausland
                         führer des MDS.                                         verbindlichen Fallzahlen im Jahr 2017 nicht.   sollen schon in den Herkunftsländern bei
                                                                                 Demnach führten 458 von 1152 Kliniken          der Fach- und Sprachausbildung unterstützt
                             IGel-Monitor:                                       (39,7 %) 2017 komplexe Eingriffe durch,        werden. Für Vermittler von Pflegekräften
                             Alzheimer-Früherkennung                             obwohl sie die vorgegebenen Fallzahlen         aus dem Ausland soll ein Gütesiegel
                         Mit tendenziell negativ hatte das wissen-               unterschreiten. Das entspricht bundesweit      entwickelt werden. Um den Beruf attrakti-
                         schaftliche Team des IGeL-Monitors bereits              rund 4300 Operationen.                         ver zu machen, sollen Pflegefachkräfte auch
                         2002 die Magnetresonanztomographie                          Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede   mehr Verantwortung übernehmen können.
                         (MRT) zur Alzheimer-Früherkennung                       in den einzelnen Bundesländern. Während in     Hierfür sollen Standards etwa zur stärkeren
                         bewertet. Nun wurde die Leistung erneut                 Baden-Württemberg 30,7 % und in Meck­          Zusammenarbeit mit Ärzten erarbeitet
                         auf den Prüfstand gestellt – mit gleichem               lenburg-Vorpommern 29,2 % der Kliniken         werden. Pflegekräfte sollen zudem mit
                         Ergebnis. Denn auch die zwischenzeitlich                eine oder mehrere der Mindestfallzahlen        digitaler Technik von Bürokratie entlastet
                         veröffentlichten Studien ergeben laut                   nicht erreichen, sind es in Brandenburg        werden.
Die Seele - Heft 2 / 2019 Das Magazin der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung - Der ...
4

        An der Konzertierten Aktion Pflege             Internationale Klassifikation                   Mangelnder Impfschutz
    beteiligten sich Arbeitgeber und Gewerk-           der Krankheiten: neue Version                   bei Schulkindern
    schaften, Kirchen, Wohlfahrtsverbände,         Die weltweit gültige Internationale             Laut Robert Koch-Institut (RKI) sind die
    Krankenkassen und Betroffenenvertreter.        Klassifikation der Krankheiten (ICD) wird       Impflücken bei Masern weiterhin zu groß.
    In der Alten- und Krankenpflege arbeiten       zum ersten Mal nach 30 Jahren völlig neu        Zwar hätten 97,1 % der Schulanfänger die
    rund 1,6 Millionen Menschen, fast 40 000       aufgesetzt. Die Abkürzung steht für             erste Impfung bekommen. Aber bei der
    Stellen sind unbesetzt.                        International Statistical Classification of     entscheidenden zweiten Masernimpfung
                                                   Diseases and Related Health Problems und ist    gebe es große regionale Unterschiede,
        Qualitätsdarstellungs-                     ein Katalog von mittlerweile fast 55 000        so dass die angestrebte Impfquote von
        vereinbarung für                           anerkannten Krankheiten, Symptomen und          bundesweit 95 % noch immer nicht erreicht
        stationäre Pflege                          Verletzungsursachen – je mit einem              werde. Wie das RKI berichtet, waren 2017

                                                                                                                                                   mdk forum Heft 2 /2019
    In der Qualitätsdarstellungsvereinbarung       spezifischen Code. Mit den Kombinationen        gut 93 % der Schulanfänger zweimal gegen
    (QDVS) ist festgelegt, welche Informationen    aus Buchstaben und Zahlen sollen Ärztin-        Masern geimpft. Die Impfungen gegen
    über Pflegeheime für die Verbraucherinnen      nen und Ärzte weltweit ihre Diagnosen           Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten und
    und Verbraucher in Zukunft im Internet         registrieren und dadurch statistische           Kinderlähmung hätten bei den Schulanfän-
    veröffentlicht werden. Der erweiterte          Untersuchungen erleichtern. Die überarbei-      gern bereits im dritten Jahr in Folge
    Qualitätsausschuss Pflege hat einstimmig       tete Version der ICD wurde von den 194          abgenommen. Trotz aller Aufklärungskam-
    die QDVS beschlossen. Das Bundesministe-       Mitgliedstaaten der Weltgesundheitsorgani-      pagnen seien die Impfquoten in den
    rium für Gesundheit (BMG) hat sie inzwi-       sation (WHO) verabschiedet und soll ab          vergangenen Jahren nicht entscheidend
    schen genehmigt, so dass sie veröffentlicht    2022 den bisherigen Katalog ablösen. Ein        gestiegen.
    werden kann. Die QDVS löst die bisherige       konkreter Zeitpunkt für die Einführung in
    Transparenzvereinbarung – die sogenann-        Deutschland steht noch nicht fest.                  Ärztliche Versorgung
    ten Pflegenoten – ab.                              Neu in den internationalen Katalog          148 601 Ärztinnen und Ärzte sowie 26 693
        Die Qualitätsdarstellung wird in Zukunft   aufgenommen wurden unter anderem                Psychotherapeutinnen und Psychothera-
    auf drei Säulen stehen: auf den Ergebnisin-    Videospielsucht, Antibiotikaresistenz und       peuten arbeiteten bis Ende 2018 mit einer
    dikatoren, die von den Heimen selbst           zwanghaftes Sexualverhalten. Aber auch          Kassenzulassung in Deutschland. Einer
    erhoben und von der Datenauswertungs-          Burnout hat die WHO jetzt klar als Syndrom      Veröffentlichung des Bundesarztregisters
    stelle ausgewertet wurden, auf ausgewähl-      definiert, das im Zusammenhang mit              zufolge ist die Anzahl bei den Ärzten um
    ten MDK-Qualitätsprüfergebnissen und auf       Belastungen bei der Arbeit steht (siehe         0,8 %, bei den Psychotherapeuten sogar um
    allgemeinen Informationen zu den               hierzu auch Beitrag auf Seite 14).              5,5 % gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Da
    Einrichtungen. Wie bisher wird die Daten                                                       zunehmend mehr Menschen in Teilzeit oder
    Clearing Stelle – eine gemeinsame Einrich-          Impfung gegen Gürtelrose                   Anstellung tätig seien, läge der tatsächliche
    tung der Landesverbände der Pflegekas-              als Kassenleistung                         Zuwachs jedoch nur bei 0,2 %, meint die
    sen – alle Qualitätsinformationen für jede     Die Kosten für eine Impfung gegen Gürtel­       Kassenärztliche Bundesvereinigung.
    Einrichtung für die Informationsplattformen    rose werden seit 1. Mai 2019 für Versicherte        Das Durchschnittsalter aller niederge-
    der Pflegekassen aufbereiten. Es ist           ab 60 Jahren von den gesetzlichen Kranken-      lassenen Mediziner ist laut Bundesarztre-
    vorgesehen, die Informationen auf den          kassen übernommen. Wer durch eine               gister leicht auf 54,2 Jahre gestiegen.
    Webportalen der Pflegekassen auf Bundes-       entsprechende Grunderkrankung oder              Allgemeinmediziner lägen mit 55,5 Jahren
    ebene schrittweise zur Verfügung zu stellen:   Immunschwäche besonders gefährdet ist,          geringfügig über diesem Schnitt. Weiter
    Ab Anfang 2020 können erste MDK-Prüfer-        hat bereits ab dem 50. Lebensjahr Anspruch      gestiegen sei auch der Anteil der Frauen
    gebnisse veröffentlicht werden. Indikato-      auf die Impfung. Das hat der Gemeinsame         unter den niedergelassenen Ärzten und
    renergebnisse sollen ab Mitte 2020 zur         Bundesausschuss (G-BA) entschieden und          Psychotherapeuten in Deutschland – auf
    Verfügung stehen. Die Verbraucherinnen         ist damit einer Empfehlung der Ständigen        nunmehr 47 % (Vorjahr 46 %). Dabei
    und Verbraucher haben dann die Möglich-        Impf kommission (STIKO) gefolgt. Die            unterscheide sich der Anteil stark zwischen
    keit, Informationen zu filtern, zu sortieren   Möglichkeit, sich mit einem neuen Wirkstoff     den Fachrichtungen. Am stärksten vertreten
    und die Pflegeeinrichtungen zu vergleichen.    gegen Gürtelrose impfen zu lassen, gibt es      seien Medizinerinnen in den ostdeutschen
    Die neue QDVS ist unter www.gs-qsa-pflege.     in Deutschland bereits seit Mai vergange-       Ländern.
    de/dokumente-zum-download verfügbar. Die       nen Jahres. Dieser neue Impfstoff ist ein
    Vereinbarung tritt zum 1. 11. 2019 in Kraft.   sogenannter Totimpfstoff, der nur Bruch­
                                                   teile des Krankheitserregers enthält. Auf die
                                                   Impfung mit einem Lebend impfstoff, der
                                                   von der STIKO nicht empfohlen wird,
                                                   besteht hingegen kein Leistungsanspruch.
Die Seele - Heft 2 / 2019 Das Magazin der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung - Der ...
Wenn die Seele leidet:
                         Psychische Erkrankungen
mdk forum Heft 2 /2019
Die Seele - Heft 2 / 2019 Das Magazin der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung - Der ...
Wenn die Seele leidet: Psychische Erkr ankungen
6

                                                 Seelen in Not

                                                                                                                                 mdk forum Heft 2 /2019
    Die Bedeutung psychischer Erkrankungen sei lange Zeit unterschätzt worden, konstatierte das
    Robert Koch-Institut 2008 im Rahmen der Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Zu die-
    sem Zeitpunkt waren psychische Probleme bereits zum häufigsten Grund für gesundheitsbe-
    dingte Frühverrentungen avanciert. Fest steht: Das Problem ist nicht kleiner geworden.

    von einer psychischen Störung oder Erkrankung spricht         störungen, Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit und
    man, wenn die normale Funktionsfähigkeit des mensch­          andere Suchterkrankungen.
    lichen Erlebens und Verhaltens beeinträchtigt ist und sich       Auch beim Nachwuchs spielen psychische Probleme eine
    dies in emotionalen, kognitiven, interpersonalen, Verhal-    große Rolle, zeigen die Ergebnisse der KiGGs-Studie zur
    tens- und / oder körperlichen Beeinträchtigungen äußert.     ­Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland.
        Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (who)        Bei der Basiserhebung (2003 bis 2006)
    zufolge wird etwa jeder vierte Mensch in seinem Leben ein-   waren 20 % der Heranwachsenden zwi- Jeder Vierte wird
    mal psychisch krank. Neben organischen Ursachen können        schen drei und 17 Jahren psychisch auf- einmal im Leben
    auch psychologische, wie zum Beispiel eine Traumatisie-      fällig, in der zweiten Erhebungswelle      psychisch krank
    rung, sowie soziale Gründe, etwa Überforderung oder Mob-      (2014 bis 2017) immer noch 16,9 %.
    bing, zu psychischen Problemen führen. Allein in Deutsch-    Häufige Probleme bei Kindern und Jugendlichen sind Angst-
    land sind jedes Jahr etwa 27,8 % der erwachsenen Bevölke-     störungen, Depressionen, Störungen des Sozialverhaltens
    rung von einer psychischen Störung betroffen, so die Deut-    sowie die hyperkinetische Störung (adhs).
    sche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psy-       Im internationalen Vergleich steht Deutschland mit sei-
    chosomatik und Nervenheilkunde e. V. (dgppn). Beispiele      nem dichten und differenzierten Netz psychotherapeuti-
    für häufige psychische Störungen sind Depressionen, Angst-    scher Hilfs- und Versorgungsangebote recht gut da. Für viele
Die Seele - Heft 2 / 2019 Das Magazin der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung - Der ...
Wenn die Seele leidet: Psychische Erkr ankungen
                                                                                                                                                             7
                          Menschen ist der Hausarzt der erste Ansprechpartner. Dane-        therapie 15 410 tages- und nachtklinische Behandlungsplät-
                          ben gibt es ambulante Behandlungsmöglichkeiten in Bera-           ze bereit. In Fachabteilungen für Kinder- und Jugendpsychi-
                          tungsstellen, Ambulanzen und Praxen, teilstationäre Ange-         atrie und -psychotherapie gab es 2017 insgesamt 6311 Betten.
                          bote wie Tageskliniken sowie eine stationäre Versorgung in
                          Fachkliniken, Fachabteilungen von Krankenhäusern sowie               Wochen auf der Warteliste
                          in Kliniken für Psychosomatik.
                                                                                                Die Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz können
                              Hilfe für die Psyche                                          Wochen oder auch Monate betragen. Die Bundespsychothe-
                                                                                            rapeutenkammer veröffentlichte im April 2018 ihre Warte­
                               Die Therapie von Menschen mit psychischen Störungen          zeitenstudie, laut der Menschen mit psychischen Problemen
                           erfolgt im Wesentlichen durch Medikamente und/oder eine          5,7 Wochen auf eine Sprechstunde, 3,1 Wochen auf eine
                           Psychotherapie. Die ambulante psychotherapeutische Ver-          Akutbehandlung und im bundesweiten Durchschnitt 19,9
                           sorgung wird in Deutschland hauptsächlich durch die ge-          Wochen auf den Beginn einer Richtlinienpsychotherapie
                           setzlichen Krankenkassen finanziert. Der Gemeinsame Bun-         warten müssen.
mdk forum Heft 2 /2019

                           desausschuss (g-ba) hat in der Psychotherapie-Richtlinie             Der Gesetzgeber hat in den vergangenen Legislaturperio-
                           festgelegt, dass niedergelassene Psychotherapeutinnen und        den bereits verschiedene Maßnahmen zur Weiterentwick-
                          -therapeuten mit den Krankenkassen drei anerkannte Ver-           lung der psychotherapeutischen Versorgung ergriffen. So
                           fahren abrechnen können: die analytische Psychotherapie,         wurde im Terminservice- und Versor-
                           die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und die         gungsgesetz festgeschrieben, dass die        Seelische Probleme
                          Verhaltenstherapie.                                               Wartezeit auf eine psychotherapeuti- sind kein Tabu mehr
                               In psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken            sche Akutbehandlung maximal zwei
                           können weitere Psychotherapie-Formen angeboten und ab-           Wochen betragen darf. Auch der im Frühjahr 2019 vom Kabi-
                           gerechnet werden, etwa die systemische Therapie oder die         nett beschlossene Entwurf eines Gesetzes zur Reform der
                           Gesprächspsychotherapie. Eine stationäre Therapie erfolgt        Psychotherapeutenausbildung hat zum Ziel, die Versorgung
                           entweder als sta­   tionäre psychiatrische Krankenhausbe-        von Menschen mit psychischen Erkrankungen zu verbessern.
                           handlung, deren Kosten in der Regel die gesetzliche Kran-            Der Bedarf ist groß: Der Ende 2018 veröffentlichte Bericht
                           kenversicherung trägt, oder – wenn Erhalt oder Wiederher-        der Bundesregierung zum Stand von Sicherheit und Gesund­
                           stellung der Arbeitsfähigkeit im Vordergrund stehen – als        heit bei der Arbeit belegt, dass von den insgesamt 668 Millio-
                           medizinische Rehabilitation, die zulasten der gesetzlichen       nen krankheitsbedingten Fehltagen im Jahr 2017 rund 107
                           Rentenversicherung abgerechnet wird.                             Millionen auf psychische Leiden entfielen. Nur Muskel- und
                               In Deutschland gab es 2018 laut der von der Bundesärzte-     Skelettbeschwerden verursachten noch mehr Fehltage. Die
                           kammer veröffentlichten Ärztestatistik insgesamt 13 938          Produktionsausfälle, die durch psychische Erkrankungen
                          Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie beziehungs-          verursacht wurden, schlugen mit rund 12,2 Milliarden Euro
                           weise Nervenheilkunde, von denen 6094 ambulant und 6436          zu Buche. Laut Fehlzeiten-Report der aok ist die Zahl der
                           stationär tätig waren. An der vertragsärztlichen Versorgung      Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen in den vergan-
                           nahmen insgesamt 5876 Nervenärzte, Neurologen und Psy-           genen zehn Jahren konstant angestiegen, zwischen 2007 und
                           chiater, 6302 Ärztliche Psychotherapeuten (davon 2668 Ärzte      2017 um 67,5 %. Allein die Rentenversicherung bewilligte
                           für Psychosomatik und Psychotherapie), 20 801 Psycholo­          2018 mehr als 170 000 stationäre Rehabilitationen wegen
                           gische Psychotherapeuten und 5892 Kinder- und Jugend­            psychischer Krankheiten – rund 50 000 mehr als noch vor
                           lichenpsychotherapeuten teil.                                    zehn Jahren.
                                                                                                Längst nicht immer hat die Behandlung auch den ge-
                              Nur jeder Fünfte in Behandlung                                wünschten Erfolg. Das Versicherungsunternehmen Swiss
                                                                                            Life stellte im April 2019 seinen Report Berufsunfähigkeit vor.
                               Obwohl Studien zufolge die Inanspruchnahme medizini-         Psychische Erkrankungen sind danach mit 37 % der Fälle die
                           scher Leistungen seit Jahren steigt, sind nur etwa ein Fünftel   häufigste Ursache für eine Berufsunfähigkeit. Und während
                           der Patientinnen und Patienten mit einer psychiatrischen         1983 nicht einmal jede zehnte Erwerbsminderungsrente in
                           Diagnose in professioneller Behandlung. Pro Quartal werden       der gesetzlichen Rentenversicherung aufgrund seelischer
                                                etwa 1,8 Millionen gesetzlich versicherte   Probleme gezahlt wurde, war es 2017 bereits fast jede zweite.
                           Dichtes Netz an      Patienten durch niedergelassene Fach-           Über die Gründe für diesen Anstieg herrscht Uneinigkeit:
                         Hilfs- und Versor-     ärzte für Psychiatrie und Psychothera-      So werden häufig die zunehmend belastenden Arbeitsbedin-
                          gungsangeboten        pie beziehungsweise Nervenheilkunde         gungen als Ursache genannt. Eine mögliche Erklärung wäre
                                                behandelt, rund 1,1 Millionen durch         aber auch die gesellschaftliche Enttabuisierung seelischer
                           niedergelassene Psychotherapeuten. Für die Behandlung er-        Probleme, die mit einer stärkeren Sensibilisierung der Ärzte
                           wachsener Patienten standen nach Angaben der dgppn im            und einer größeren Offenheit der Patienten einhergeht. In
                           Jahr 2017 insgesamt 56 223 psychiatrische Krankenhausbet-        diesem Fall hätte sich nicht die Zahl der Erkrankungen, son-
                           ten zur Verfügung. In den mehr als 400 Fachkliniken und -ab-     dern lediglich die der Diagnosen erhöht.
                           teilungen werden jährlich über 800 000 stationäre Behand-
                           lungen durchgeführt. Weitere 150 000 Fälle wurden 2017 im
                                                                                                                     Dr. Silke Heller-Jung hat in Köln ein
                           teilstationären Bereich versorgt. Zu diesem Zweck standen                                 Redaktionsbüro für Gesundheitsthemen.
                           in insgesamt 408 Einrichtungen für Psychiatrie und Psycho-                                redaktion@heller-jung.de
Die Seele - Heft 2 / 2019 Das Magazin der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung - Der ...
Wenn die Seele leidet: Psychische Erkr ankungen
8

              Möglichkeiten der Diagnostik

                                       Ein einzelnes Symptom
                                     macht noch keine Erkrankung

                                                                                                                                       mdk forum Heft 2 /2019
      Psychische Erkrankungen haben meist mehr als eine Ursache, sind oft eine Folge komplexer
      Wechselwirkungen zwischen genetischen und umweltbedingten Faktoren. Wie kann diagnosti-
      ziert werden, ob eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung vorliegt?

                                                                       oder situationsbedingt üblich betrachtet werden müssen.
                                                                      Die Krankheitsdiagnosen werden auf Basis der Symptome
                                                                      mit Hilfe von Diagnosesystemen gestellt, ohne dass damit
                                                                      ­etwas über die Ursachen der Erkrankungen ausgesagt wird.
                                                                          Psychische Erkrankungen betreffen lebenswichtige kog-
                                                                      nitive und affektive Funktionsfähigkeiten. So sind Delirien
                                                                       charakterisiert durch Störungen der Wachheit und räum­
                                                                      lichen wie zeitlichen Orientierung. Bei Demenzen sind
                                                                      Merkfähigkeit und Gedächtnis beeinträchtigt. Schizophrene
                                                                      Psychosen zeichnen sich aus durch Stö-
                                                                      rungen der Zuschreibung von Gedan- Gespräch, Unter­
                                                                      ken und Wahrnehmungen zum eigenen           suchung, bild­-
                                                                      Ich und affektive Erkrankungen durch        gebende Verfahren
                                                                      Störungen der sogenannten affektiven
                                                                      Schwingungsfähigkeit, die sich in Affektstarre und Freud­
                                                                      losigkeit ausdrücken.
                                                                          Die Abgrenzung gegenüber neurologischen Erkrankun-
                                                                      gen ist oft unscharf, was nicht überrascht, da psychische wie
                                                                      neurologische Erkrankungen auf Störungen der Funktionen
                                                                      des zentralen Nervensystems zurückgehen. Beispielsweise
                                                                      finden sich Depressionen, aber auch psychotische Sympto-
                                                                      me bei der erblichen Erkrankung Chorea Huntington, die
                                                                      üblicherweise zu den neurologischen Erkrankungen gerech-
      auch bei psychischen Erkrankungen gilt: Die richtige            net wird, da hier zusätzlich die Motorik deutlich beeinträch-
      ­ iagnose ist die entscheidende Voraussetzung für eine an­
      D                                                               tigt ist.
      gemessene Therapie. Da bei jedem betroffenen Patienten in-
      dividuelle Ursachen und Ausprägungen von Symptomen zu              Nachweisbare Veränderungen
      beobachten sind, wird bei der Diagnosefindung über verschie­
                            dene Ansätze versucht, die Krankheit          Für manche psychischen Erkrankungen gibt es eindeuti-
Individuelle Ursachen,      und deren Therapiemöglichkeiten ge-       ge neurobiologische Korrelate, die zur Diagnostik beitragen.
     unterschiedliche       nau einzugrenzen. Eine vollständige       Bei der Alzheimer-Demenz zeigen sich zum Beispiel Auffäl-
             Symptome       psychiatrische Diagnostik umfasst das     ligkeiten im Liquor, jener Körperflüssigkeit, die das Zentral-
                            Untersuchungsgespräch mit einer Fach­     nervensystem (Gehirn und Rückenmark) umgibt. Bei Sucht­
      ärztin oder einem Facharzt für Psychiatrie und Psychothera-     erkrankungen sind es Veränderungen in Biomarkern, wie
      pie, die körperliche Untersuchung sowie verschie­dene weitere   dem Carbohydrate-Deficient-Transferrin (cdt), das bei mas-
      Maßnahmen (u. a. bildgebende Verfahren, Labor, Tests). Ne-      sivem Alkoholkonsum verändert ist.
      ben der Diagnosefindung geht es auch darum, medizinisch             Bei vielen psychischen Erkrankungen gibt es aber kein
      relevantes Leiden von Zuständen abzugrenzen, die als alters-    eindeutiges neurobiologisches Korrelat, das diese Störungen
Wenn die Seele leidet: Psychische Erkr ankungen
                                                                                                                                                                9
                         sicher von anderen Krankheitsbildern abgrenzt. So finden          dass er früher Prophezeiungen gemacht habe, die jetzt ein-
                         sich zwar bei schizophrenen und bei affektiven Psychosen          träfen. Wie sich herausstellte, war der betroffene Pa­tient
                         Störungen der dopaminergen Neurotransmission, jenes Bo-           während seiner Schulzeit sexuell missbraucht worden. Ängs-
                         tenstoffs im Gehirn, der die Durchführung von Bewegungen,         te, dass die Klassenkameraden darüber reden, können beim
                         aber auch die Motivation beeinflusst und mit der Entstehung       Patienten verstärkt Dopamin freisetzen und dazu führen,
                         psychotischer Symptome in Verbindung gebracht wird. Die           dass er zufällige Aussagen der Mitschüler auf sich bezieht,
                         Unterschiede gegenüber Gesunden sind allerdings so be-            sich bedroht fühlt und zur Abwehr den Inhalt umdeutet.
                         grenzt, dass sie zur klinischen Diagnostik allein nicht ausrei-
                         chen.                                                                Wie hoch ist der Leidensdruck?

                            Auswirkungen genetischer Faktoren                                  Auch bei den psychischen Erkrankungen gilt, dass ein
                                                                                           einzelnes Symptom noch keine Erkrankung macht. So schil-
                             Genetische Faktoren und Umweltfaktoren tragen glei-           derte ein Patient, dass er die Stimmen, die er höre (akusti-
                         chermaßen zur Entstehung psychischer Erkrankungen bei.            sche Halluzinationen), schätzen würde,
mdk forum Heft 2 /2019

                         So wird beispielsweise bei der Alkoholabhängigkeit ange-          da er an der Börse spekuliere und ihm      Schäden im
                         nommen, dass etwa die Hälfte des Risikos auf erbliche Fakto-      die Stimmen bisher immer die richti- MRT sichtbar
                         ren zurückgeht. Hierzu zählen alltägliche Eigenschaften, wie      gen Tipps gegeben hätten. Führt ein
                         etwa die Fähigkeit, viel Alkohol zu konsumieren, ohne akut        Symptom nicht zu einem persönlichen Leidensdruck und
                         besonders ausgeprägte unangenehme Wirkungen zu erlei-             ist es auch nicht mit Einschränkungen alltäglicher Fähigkei-
                         den. Die im Volksmund sogenannte Trinkfestigkeit hat ­also        ten (Nahrungsaufnahme, Körperpflege etc.) verbunden, liegt
                         einen partiell genetischen Hintergrund und ist ein Risiko         keine klinisch relevante Erkrankung vor.
                         und kein Schutzfaktor. Denn wer viel Alkohol verträgt, ist in         Aus medizinischer Sicht sind Halluzinationen Krank-
                         einer Gesellschaft, in der Trinkfestigkeit sozial belohnt wird,   heitszeichen. Klinische Relevanz erhalten sie aber nur, wenn
                         auch besonders gefährdet, zu viel zu trinken.                     sie zu einem Nachteil für den Patienten werden. Zur Dia­
                             Die meisten psychischen Erkrankungen sind durch das           gnostik gehört also, die Beschwerden darauf hin zu untersu-
                         Zusammentreffen zahlreicher genetischer Variationen ge-           chen, welche alltagsrelevanten Funktionsfähigkeiten beein-
                         kennzeichnet. So wurden für schizophrene Psychosen mehr           trächtigt sind. Entsprechend der Beeinträchtigungen und
                         als einhundert Genvarianten (genetische Polymorphismen)           den gegebenenfalls zusätzlich vorhandenen Biomarkern er-
                         identifiziert, die das Risiko beeinflussen, eine Psychose zu      folgt dann die diagnostische Zuordnung.
                         erleben. Jede einzelne dieser genetischen Variationen trägt
                         also nur einen minimalen Beitrag zum Risiko bei, psycho-             Bildgebende Verfahren
                         tisch zu erkranken.
                                                                                               Bildgebende Verfahren (mrt, cct) sind insbesondere
                            Umweltfaktoren                                                 bei Demenzerkrankungen richtungsweisend. Damit werden
                                                                                           zum Beispiel bestimmte Formen von Gewebeschwund sicht-
             Zu den Umweltfaktoren gehören vornehmlich Stress­                             bar (u. a. frontotemporale Atrophien) und ermöglichen so
         erfahrungen, die beispielsweise durch soziale Ausschließung                       Rückschlüsse auf entsprechende Erkrankungen.
         bedingt sein können. So finden sich erhöhte Raten an affek-                          Auch bei Suchterkrankungen, gerade bei der Alkoholab-
         tiven Erkrankungen bei Menschen, die wiederholt persön-                           hängigkeit, kommt es häufig zu Verminderungen des Hirn-
         lich gekränkt und diskriminiert werden und die Armut in ih-                       volumens, die neuronale Schäden durch den Alkoholkon-
         rem direkten Wohnumfeld erleben. Dies verstärkt sich, wenn                        sum anzeigen. Ähnliche Veränderungen finden sich auch bei
         die Betroffenen zu einer Gruppe gehören, die sozial insge-                        anderen Erkrankungen. Hier sind allerdings krankheitsbe-
         samt schlecht gestellt ist.                                                       dingte Veränderungen von solchen zu unterscheiden, die
             Auch finden sich erhöhte Psychose-Raten bei Geflüchte-                        durch Nebenwirkungen von Medikamenten entstehen kön-
         ten. Das lässt sich nicht durch erhöhte Psychose-Raten in                         nen. Bei den meisten psychischen Erkrankungen sind Ver-
         den Herkunftsländern erklären und ist somit offenbar durch                        minderungen des Hirnvolumens nur gering ausgeprägt und
         Stresserfahrungen während der Flucht bedingt. Solche Stress­                      betreffen lediglich 1 bis 2 % des Hirnvolumens.
         erfahrungen können sich direkt auf die dopaminerge Neuro-                             Mit modernen computergestützten Verfahren ergeben
                               transmission auswirken. So wurde be-                        sich hier neue Möglichkeiten der genaueren diagnostischen
    Genetische Ursachen        obachtet, dass Stress­erfahrungen in be-                    Zuordnung. Häufig deuten die beobachtbaren Veränderun-
    oder umweltbedingt?        stimmten Hirnregionen (hier Basalgan-                       gen aber nur auf beschleunigte Alterungseffekte hin. Denn
                               glien) zu einer erhöhten Dopaminfrei-                       mit zunehmendem Alter verringert sich das Hirnvolumen.
         setzung führen.                                                                   Die klinische Untersuchung ist demnach nach wie vor der
             Kommt es bei Patienten mit Psychosen kurzzeitig zu ei-                        entscheidende Zugang zur Diagnostik psychischer Erkran-
         ner erhöhten Dopaminfreisetzung, werden bei der Informa-                          kung.
         tionsverarbeitung im Gehirn wahrscheinlich ebenjene Um-
         weltreize besonders stark hervorgehoben, die gerade gleich-
         zeitig erlebt werden.
                                                                                                                    Prof. Dr. Andreas Heinz ist Präsident der
             So schilderte ein Patient, seine ehemaligen Klassen­                                                   Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie
         kameraden würden heimlich über ihn reden. Sie erzählten,                                                   und Psychotherapie, Psychosomatik und
                                                                                                                    Nervenheilkunde (DGPPN).
                                                                                                                    andreas.heinz@charite.de
Wenn die Seele leidet: Psychische Erkr ankungen
10

                                 Wie gut ist die psychiatrische
                             und psychotherapeutische Versorgung?

                                                                                                                                       mdk forum Heft 2 /2019
       Die psychiatrische und psychotherapeutische ambulante und stationäre Versorgung hat sich in
       den vergangenen Jahren spürbar verändert. So ist die Akzeptanz in der Bevölkerung für psychi-
       sche Störungen deutlich gewachsen, und die Stigmatisierung psychisch kranker Menschen hat
       in den vergangenen zehn Jahren abgenommen. Gleichzeitig gibt es deutlich mehr und bessere
      Versorgungsangebote für psychisch kranke Menschen.

       beispielsweise wurden neue ambulante Leistungen in                nahmen zu etablieren. In den ersten drei Monaten dieses
       das Fünfte Sozialgesetzbuch aufgenommen. Hierzu zählen            Jahres haben bereits ca. 20 Krankenhäuser hierzulande eine
       die Ambulante Soziotherapie (nach § 37a sgb v) und die            StäB für psychisch kranke Patientinnen und Patienten ange-
       Häusliche psychiatrische Krankenpflege (phkp). Auch wur-          boten.
       den die Angebote der Psychiatrischen Institutsambulanzen             Trotz solcher Tendenzen haben die stationären Kapazitä-
       (pia) ausgeweitet – derzeit gibt es über 700 pia an vollstatio-   ten an psychiatrischen und psychosomatischen Kranken-
       nären und teilstationären Einrichtungen in Deutschland.           häusern seit 2005 deutschlandweit zugenommen.
       Auf Bundesebene weit fortgeschritten sind auch die Ver-
       handlungen zur Implementierung Psychosomatischer Insti-              Veränderungen im ambulanten Bereich
       tutsambulanzen (PsIA) (nach § 118 sgb v Absatz 3) zwischen
       dem gkv-Spitzenverband (gkv-sv), der Kassenärztlichen                Bei der ambulanten psychiatrischen und psychothera-
       Bundesvereinigung (kbv) und der Deutschen Krankenhaus-            peutischen Versorgung gibt es zunehmend mehr Empfeh-
       gesellschaft e. V. (dkg). Daher ist noch in diesem Jahr bun-      lungen zur leitliniengestützten Behandlung diverser psychi-
       desweit mit der Einführung der PsIA zu rechnen.                   scher Krankheitsbilder.
                                                                            Insbesondere bei der ambulanten Psychotherapie wur-
          Neuerungen im stationären Bereich                              den die Kapazitäten ausgeweitet. Derzeit nehmen ca. 24 000
                                                                         Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ärztlicher
           In der stationären Versorgung war die Umstellung des          und psychologischer Profession an der Versorgung teil.
       Vergütungssystems auf ein pauschalierendes Entgelt in der
       Psychiatrie und Psychosomatik (pepp) ein ganz wesentlicher
                            Schritt hin zu mehr Transparenz bei der
     Neue Leistungen,       Leistungserbringung. Die Teilnahme
     andere Vergütung       an pepp ist inzwischen für alle statio­
                            nären Einrichtungen verpflichtend, so
       dass ab diesem Jahr wirklich alle Häuser auf das neue Ab­
       rechungssystem umstellen mussten.
           Als völlig neue Versorgungsleistung wurde die Stations-
       äquivalente psychiatrische Behandlung (StäB) im vergange-
       nen Jahr eingeführt: eine Krankenhausbehandlung im häus-
       lichen Umfeld des Patienten, die von mobilen ärztlich gelei-
       teten multiprofessionellen Behandlungsteams erbracht
       wird. Die StäB kann in medizinisch geeigneten Fällen eine
       vollstationäre Behandlung ersetzen. Sie kann als ein Versuch
       der Politik gewertet werden, sektorenübergreifende Maß-
Wenn die Seele leidet: Psychische Erkr ankungen
                                                                                                                                      11
          Dank einer umfassenden Strukturreform der Psycho­          stunde, werden von der Selbstverwaltung zeitnah evaluiert
      therapie-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses,         werden, um dem Gemeinsamen Bundesausschuss (g-ba)
      die im Februar 2017 wirksam wurde, profitieren heute zu-       ­evtuell weiterreichende Vorschläge machen zu können.
      nehmend mehr Patientinnen und Patienten von besseren                Die Anzahl der bisher zugelassenen ca. 31 500 Psychothe-
      Zugangsmöglichkeiten zur ambulanten psychotherapeuti-          rapeutinnen und Psychotherapeuten soll sich durch die An-
                           schen Behandlung und von neuen Ver-       passung der Bedarfsplanungs-Richtlinie voraussichtlich um
        Sektorenüber­      sorgungselementen. So wurde zum Bei-       ca. 800 erhöhen. Dies und die Ablösung der Psychiatrie-Per-
greifende Behandlung       spiel eine psychotherapeutische Sprech­   sonalverordnung (Psych-pv) durch eine neue g-ba-Richt­
                stärken    stunde eingeführt, die zeitnah einen      linie zur Personalausstattung der psychiatrischen und psy-
                           niedrigschwelligen Zugang zur ambu-        chosomatischen Krankenhäuser wird zu einer Verbesserung
      lanten Versorgung ermöglichen soll. Neu ist auch das Ange-     der Versorgung der gkv-Versicherten führen.
      bot einer psychotherapeutischen Akutbehandlung durch
      psychologische Psychotherapeuten als zeitnahe psychothe-          Ausblick
      rapeutische Intervention sowie die sogenannte Rezidivpro-
mdk forum Heft 2 /2019

      phylaxe. Ziel Letzterer ist es, nach einer Langzeittherapie         In der öffentlichen Diskussion spielen psychische Er-
      (lzt) bei einem drohenden Rückfall einen schnellen Zugang       krankungen eine immer wichtigere Rolle. Mit der steigenden
      zum Therapeuten zu bekommen. Hierfür werden von vorn-           Zahl krankheitsbedingter Fehlzeiten aufgrund psychischer
      herein Stunden aus dem Kontingent der lzt eingeplant und       Erkrankungen ist unter anderem auch die Nachfrage nach
      entsprechend mit beantragt. Sie können innerhalb von zwei       entsprechenden Versorgungsleistungen im ambulanten
      Jahren nach Abschluss der Therapie in Anspruch genommen         und stationären Sektor gestiegen. Leistungsausweitungen
      werden.                                                         fanden hier bislang überwiegend losgelöst voneinander statt,
          Auch wurden neue Anreize zur Förderung der Gruppen-         was wiederum zu einer erhöhten Inanspruchnahme führte.
      therapie geschaffen und die formalen Abläufe bei der Bean-          Bemühungen, sektorenübergreifende Behandlungsan-
      tragung von Richtlinientherapie erleichtert. Das gilt zum       sätze zu stärken, zeigen sich am Beispiel der (StäB). Die in
      Beispiel für die Bewilligung und Anzeige von Leistungen bei     diesem neuen Behandlungsangebot angedachte Verzah-
      den Krankenkassen.                                              nung der Behandlungssektoren birgt die Chance, die End-
          Spürbar reduziert wurde auch der bürokratische Auf-         losspirale von Angebot und Nachfrage zu unterbrechen, in-
      wand bei der Beantragung von ambulanter Richtlinien-Psy-        dem eine patientenindividuell notwendige und ausreichen-
      chotherapie. So wurden die Kontingente in der ambulanten        de Behandlung angeboten wird.
      psychotherapeutischen Versorgung vereinfacht. Die Kurz-             Für die Zukunft ist damit zu rechnen, dass Versorgungs-
      zeittherapien (kzt 1 und kzt 2 mit jeweils 12 Stunden Ein-      strukturen weiter verbessert und die ordnungspolitischen
      zeltherapie) müssen zwar bei der Krankenkasse beantragt        Rahmenbedingungen angepasst werden müssen. Insbeson-
      und von ihr genehmigt werden, aber ein Gutachterverfahren       dere die Einbeziehung von niedergelas-
      ist nicht notwendig. Auch muss eine erste Fortführung der       senen Psychiaterinnen und Psychiatern, Reform der
      Psychotherapie über das bewilligte Kontingent hinaus in der    Psychotherapeutinnen und Psychothe- Ausbildung
      Verhaltenstherapie und in der tiefenpsychologisch fundier-      rapeuten, Psychosomatikerinnen und
      ten Psychotherapie zwar bei der Krankenkasse beantragt, je-    Psychosomatikern sowie Hausärztinnen und Hausärzten in
      doch nicht mehr automatisch dem Gutachterverfahren zuge-        die Angebote der sektorenübergreifenden Behandlung ist
      führt werden.                                                   ordnungspolitisch zu regeln.
          Außerdem wurden die Anforderungen an die Qualifikati-           Schließlich sind die Auswirkungen des geplanten Ter-
      on der Gutachterinnen und Gutachter überarbeitet.               minservice- und Versorgungsgesetzes (tsvg) abzuwarten.
          Die Auswirkungen der Reform der Richtlinie zur ambu-       Diskutiert wird derzeit eine der psychotherapeutischen Be-
      lanten Psychotherapie, vor allem zur psychotherapeutischen      handlung vorgeschaltete Begutachtung durch erfahrene
      Akutbehandlung und zur psychotherapeutischen Sprech-           Therapeutinnen und Therapeuten. Auch die Reform der Aus-
                                                                      bildung der Psychologischen Psychotherapeutinnen und
                                                                     Psychotherapeuten, die künftig voraussichtlich nach einem
                                                                     Direktstudium der Psychotherapie direkt mit einer Approba-
                                                                      tion das Studium analog zu den Ärztinnen und Ärzten been-
                                                                      den werden, steht auf der Agenda. Daran soll sich – analog
                                                                      zur Facharztausbildung der Ärztinnen und Ärzte – eine fach-
                                                                      spezifische Ausbildung in einem Richtlinien-Verfahren an-
                                                                      schließen. Last but not least bleibt auch die vom g-ba Ende
                                                                     2018 beschlossene Aufnahme der Systemischen und Fami­
                                                                      lientherapie in die medizinische Versorgung abzuwarten.
                                                                     Die Beratungen beim g-ba zum Leistungsumfang werden
                                                                     ­voraussichtlich im Laufe dieses Jahres abgeschlossen sein.

                                                                                              Dr. Christoph J. Tolzin leitet das
                                                                                              Kompetenz-Centrum für Psychiatrie und
                                                                                              Psychotherapie der MDK-Gemeinschaft.
                                                                                              C.Tolzin@mdk-mv.de
Wenn die Seele leidet: Psychische Erkr ankungen
12

                                                  Generation Krise

                                                                                                                                        mdk forum Heft 2 /2019
     Leistungsdruck, Stress, Mobbing, Depression und neue Medien – birgt die heutige Kindheit
     mehr Potenzial für psychische Störungen? Wer trägt die Verantwortung und wie kann man ge-
     gensteuern?

     kopfschmerzen, magendrücken und am Ende erschöpft                 nen, lastet heute viel mehr Druck auf den Heranwachsenden.
     und depressiv: Immer mehr Schüler leiden an psychischen           Der hohe Leistungs- und Erwartungsdruck durch Eltern und
     Erkrankungen. Aktuelle Zahlen der Krankenkassen schil-            Schule, eine dauerbeschleunigte Gesellschaft sowie digitale
     dern ein dramatisches Bild: In den Klassen 5 bis 10 leidet fast   Reizüberflutung können Kinder und Jugendliche massiv un-
     jeder zweite Schüler (43 %) unter Stress, sagt eine Studie der    ter Stress setzen.
     dak-Gesundheit. Insbesondere die Behandlungen von De-                 »Die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben hängt vor
                          pressionen haben in den vergangenen          allem von den physischen, psychischen, sozialen und auch
 Leistungsdruck und       zehn Jahren bei den 13- bis 18-Jährigen      ökonomischen Ressourcen ab sowie von der Fähigkeit, Be-
            (zu) viele    stark zugenommen: um fast 120 %, bele-       lastungen zu bewältigen«, sagt Dipl.-Psychologin Heidrun
        Erwartungen       gen Daten der Kaufmännischen Kran-           Bründel. Als Auslöser für stressbedingte Beschwerden und
                          kenkasse (kkh). Leichte bis schwere de-      psychische Störungen sieht sie unter anderem Trennung der
     pressive Störungen zählen zu den häufigsten psychischen Er-       Eltern, Gewalterfahrungen in der Familie, Leiderfahrungen
     krankungen bei Kindern und Jugendlichen. Dies wiegt umso          in der Schule (Mobbing, Cyber­mobbing, Leistungsversagen)
     schwerer als Jugendliche mit Depressionen ein bis zu              sowie Konflikte und Beziehungsstörun-
     20-fach erhöhtes Risiko für suizidales Verhalten haben.           gen unter Gleichal­trigen. »Bei älteren    Stress durch digitale
                                                                       Kids spielt die Peergroup (Drogen- und     Reizüberflutung?
        Was Kinder stresst                                             Alkoholprobleme) eine große Rolle«,
                                                                       fügt sie hinzu. In der Verantwortung sehen Experten sowohl
        Trotz der alarmierenden Zahlen meint Ludwig Bilz, Pro-         das Elternhaus als auch die Schule. »Optimal ist eine enge
     fessor für Pädagogische Psychologie an der Brandenburgi-          Kooperation zwischen Eltern und Schule«, so Prof. Bilz. Un-
     schen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg: »Trotz         günstig sei eine einseitige Aufgabenteilung im Sinne von
     einer gefühlten angestiegenen Belastung von Kindern und           »Schule ist nur für das Lernen und die Familie für die Ge-
     Jugendlichen lässt sich eine Zunahme psychischer Auffällig-       sundheit zuständig«.
     keiten in dieser Altersgruppe in den letzten Jahren in Studien        Jugendkulturforscherin Dr. Beate Großegger fordert: »Die
     nicht nachweisen. Vielmehr liegen die Zahlen hierzu auf           Erwachsenengeneration muss aufhören, persönliche Zu-
     konstant hohem Niveau.« Dieses hohe Niveau bedeutet, dass         kunftsängste und, damit verbunden, auch Ängste um die Zu-
     jeder fünfte bzw. sechste 3- bis 17-Jährige in Deutschland        kunft der eigenen Kinder in die Kids hineinzuprojizieren
     psychisch auffällig ist, wie die kiggs-Studie des Robert-         und die eigenen Kinder mit Erfolgserwartungen zu über-
     Koch-Instituts zeigt. Im ersten Erhebungszeitraum 2003 bis        frachten.«
     2006 waren insgesamt 20 % psychisch auffällig; im zweiten
     Erhebungszeitraum zwischen 2014 und 2017 nur noch 16,9 %.            Mobbing: Schikane unter Schülern
     Deutlich gestiegen seien allerdings das Bewusstsein für psy-
     chosomatische Beschwerden bei Eltern und Ärzten sowie die            »Viele Studien zeigen, dass Mobbing (verstanden als eine
     Behandlungen.                                                     wiederholte Schikanierung, die mit einem Machtungleich-
        Experten sind sich einig: Damit Kinder gesund großwer-         gewicht zwischen Täter und Opfer einhergeht) einer der ver-
     den können, sollten ausreichend Freiräume für ein Experi-         heerendsten schulbezogenen Risikofaktoren für die psychi-
     mentieren, Wachsen und Werden bleiben. Doch lässt das die         sche Gesundheit der Betroffenen bis hinein ins Erwachse-
     Gesellschaft nur bedingt zu. Statt Freiräume nutzen zu kön-       nenalter ist. Hier ist auch die Schule in der Pflicht, Mobbing
Wenn die Seele leidet: Psychische Erkr ankungen
                                                                                                                                                                   13
                         zu erkennen, zu intervenieren und vorzubeugen«, sagt Lud-
                         wig Bilz. Er hat eine Studie mit mehr als 4000 Kindern an
                         sächsischen Gymnasien und Mittelschulen durchgeführt
                         und herausgefunden, dass gemobbte Schüler langfristig an-
                         fälliger für Ängste, depressive Symptome oder psychosoma-
                         tische Beschwerden sind. Wer in der fünften Klasse gemobbt
                         wurde, hatte vier Jahre später ein deutlich erhöhtes Risiko,
                         an psychosomatischen Beschwerden zu erkranken.
                             Experten zufolge kommt Mobbing heute quasi an jeder
                         Schule vor, an Grundschulen ebenso wie an weiterführenden
                         Schulen. Betroffene werden oft nicht direkt im Unterricht
                         schikaniert, sondern eher außerhalb, in der Pause, auf dem
                         Schulhof, im Bus. Sie werden wiederholt und oft sehr subtil
                         gehänselt, ausgegrenzt, provoziert, beleidigt und bloßgestellt
mdk forum Heft 2 /2019

                         – auch und zunehmend in den sozialen Netzwerken. Denn ge-
                         rade in der Anonymität des Internets
                         fallen Diffamierungen besonders leicht          Hilfen und Beratung
                         (Cyber­mobbing).
                             Die betroffenen Kids reagieren zum      Informationen zu psychischen Störungen     Projekt Law4school zur Prävention von
                         Beispiel wiederholt mit Magen- oder sowie bundesweite Kinder- und Jugend-
                         ­                                                                                      Cybermobbing: www.law4school.de/
                         Kopfschmerzen und weigern sich, in          psychotherapeutensuche über die
                         die Schule zu gehen. Neben körper­ Bundespsychotherapeutenkammer:                      EU-Initiative Klicksafe für mehr Sicherheit
                         lichen Beschwerden ohne organische          www.bptk.de                                im Netz für Eltern und Pädagogen:
                         Er­krankung können Rückzug, Müdig-                                                     www.klicksafe.de
                         keit, Schlafstörungen, Unkonzentriert- Informationen und Hilfe rund um
                         heit, Angst oder Erschöpfung auftau- Depres­sionen:                                    No Blame Approach – Mobbinginter­
                         chen.                                       www.deutsche-depres­sionshilfe.de          ventionsansatz ohne Schuldzuweisung:
                             Nach der aktuellen jim-Studie zur                                                  www.no-blame-approach.de
                         Mediennutzung Jugendlicher in Deutsch­ Projekt gegen Mobbing für Schulen und
                         land waren 8 % der Jugendlichen schon       Eltern: www.gemeinsam-klasse-sein.de/
                         einmal Opfer von Mobbing. Dies ent- anti-mobbing
                         spricht einer Größenordnung von etwa
                         einer halben Million Jugendlichen hier-
                         zulande. Wie dramatisch Mobbing enden kann, zeigt der Su- ­Eltern umfassend zu informieren. 2018 wurde das Projekt
                         izid einer 11-jährigen Schülerin in Berlin im Februar dieses     weiterentwickelt: Rund 100 Schulklassen aus Bremen, Ham-
                         Jahres, der für Schlagzeilen sorgte.                             burg und Schleswig-Holstein testen derzeit das neue Mate­
                             Heidrun Bründel hat bereits in den 1990er Jahren ein         rial, das unter anderem Filme über Cybermobbing, Tutorials
                         Suizidpräventionsprogramm für Schulen erarbeitet. »Das
                         ­                                                                zur Rechtslage sowie Rollenspiele zu Handlungsmöglichkei-
                         Suizidverhalten von Jugendlichen gehört zwar zur zweit­ ten enthält. Ab dem kommenden Schuljahr 2019 /2020 sollen
                         häufigsten Todesursache, ist aber in den letzten zehn Jahren     alle Schulen bundesweit das Projektmaterial nutzen können.
                         leicht rückläufig«, sagt sie. Suizidpräventionsprogramme             Ebenfalls bundesweit aufgestellt ist das Projekt Law4­
                         werden ihrer Ansicht nach »eher selten« in Schulen einge- school zur Aufklärung und Prävention von Cybermobbing:
                         setzt – dennoch: Es gibt sie.                                    Als Webinar bietet Rechtsanwältin Gesa Stückmann Präven-
                                                                                          tionsberatung online an – vormittags für Schulklassen, nach-
                             Prävention macht Schule                                      mittags für Lehrer und abends für Eltern. Mit über tausend
                                                                                          Webinaren hat sie in den vergangenen sechs Jahren fast
                             Um den Gefahren durch Mobbing entgegenzuwirken, 60 000 Menschen erreicht. »Lehrer und Eltern bekommen oft
                         gründen immer mehr Schulen Initiativen, Netzwerke und Ar- gar nicht mit, was sich in dieser digitalen Parallelwelt ab-
                         beitsgruppen. Ob Streitschlichter, Schulsozialarbeiter oder      spielt«, weiß sie aus Erfahrung. »Wir müssen eine Medien-
                         Schulpsychologen – es wird viel getan, um für das Thema zu       kompetenz vermitteln, aufklären und aufrütteln, damit es
                         sensibilisieren. Mit sogenannten Respekt Coaches unter- gar nicht erst zu Mobbingfällen kommt.«
                         stützt auch das Bundesministerium für Familie, Senioren,
                         Frauen und Jugend die Schulen dabei, Mobbing einzudäm-
                         men und Toleranz zu fördern. Das Programm hat seit 2018
                         speziell geschulte Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter an
                         bundesweit 170 Schulen entsandt.
                             Auch die Krankenkassen sind aktiv im Einsatz gegen
                         Mobbing. Beispielsweise hat die Techniker Krankenkasse
                                                                                                                     Larissa Nubert
                         (tk) seit 2007 etwa 15 000 Anti-Mobbing-Koffer mit Arbeits-                                 ist Fachberaterin Unternehmenskommunikation
                         materialien in Schulen eingesetzt, um Kinder, Lehrer und                                    beim MDK Bayern.
                                                                                                                        larissa.nubert@mdk-bayern.de
Sie können auch lesen