Heft 4 / 2020 Das Magazin der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung - MDS-ev.de
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ak tuell Liebe Leserin, lieber Leser, Aktuell in diesem Jahr ist alles anders, die Corona-Pande- Die Gute Frage Was machen Mediziner im Netz? 1 Auch das noch Vergiss es! 32 mie lässt uns keine Wahl: Um uns selbst ebenso zu schützen wie diejenigen, die chronisch krank sind, pflegebedürftig oder die wegen ihres Alters zur Titelthema Risikogruppe zählen, tragen wir Maske. Wir halten Kleiner Piks, große Wirkung 6 Kein Stich auf gut Glück 8 Kontaktbeschränkungen, Abstands- und Hygiene- Eine kurze Geschichte des Impfens 9 regeln ein. Begegnen können wir uns trotzdem – Wie Impfstoffe wirken 10 Die Angst vor dem Impfen 12 am Telefon, im Internet, in Gedanken. Angesichts »Vor Krankheiten, die man nicht kennt, mdk forum Heft 4 /2020 jüngster Entwicklungen in der Forschung wird hat keiner Angst« 14 Grippeimpfung in Corona-Zeiten 16 unsere Hoffnung, dass es bald einen Impfstoff gibt, der uns in die Normalität zurückkehren lässt, im- mer größer. Doch bis ein Impfstoff zum Einsatz Wissen & Standpunkte kommen kann, sind noch viele Hürden zu neh- Gesundheitsversorgung verbessern Digitale Gesundheits- anwendungen: Erste Bewertungen sind da 18 men. Dabei darf die Evidenz nicht auf der Strecke Pflegeheim: ›Testzentrum light‹? 20 bleiben, die Verteilung muss geklärt sein, die Logis tik sichergestellt. Das Thema Impfen bestimmt den Schwerpunkt Gesundheit & Pflege Gesundheitsprojekt für Geflüchtete Sprachbarrieren des aktuellen mdk forum: Welche Impfungen emp abbauen, Versorgung aufbauen 21 fiehlt die STIKO ? Was erleben Kinderärzte in ihrer »Unsere Patienten möchten leben und nicht sterben« 22 Praxis? Woher kommen Impfmythen? Daneben Öffentlicher Gesundheitsdienst Stiefkind gibt es weitere interessante Beiträge, zum Beispiel Gesundheitsämter 24 Betreutes Trinken im Pflegeheim 26 zum Recht auf selbstbestimmtes Sterben oder zum Stottern. Vielleicht finden Sie mit Blick auf die be- vorstehenden Feiertage ein bisschen Ruhe und Weitblick Muße zum Lesen. Therapien gegen das Stottern Wenn jedes Wort schwerfällt 28 Geben Sie weiter gut auf sich acht, bleiben Sie gesund, und erleben Sie trotz allem ein frohes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Gestern & Heute Jahr. Ehrlich färbt am längsten 30 Herzlichst, Ihr Dr. Ulf Sengebusch
die gute frage 1 Was machen Mediziner im Netz? Dr. Ulrike Koock ist überzeugte Allgemeinmedizinerin, Landärztin aus Leidenschaft, Buchauto- rin, erfolgreiche Bloggerin. Damit ist die 39-Jährige eine von immer mehr Medizinern, die auch mdk forum Heft 4 /2020 in den sozialen Netzwerken aktiv sind. Was ihr dabei wichtig ist, hat sie MDK forum erzählt. Ihr Profilname im Internet – bei Twitter und Wenn Sie zum Beispiel die Patientin beschreiben, Facebook – und auch Ihr Blog heißen Schwester die sorgenvoll in der Sprechstunde sitzt, ihre fraudoktor. Wie sind Sie ausgerechnet darauf Beschwerden schildert und fragt: »Kann man da gekommen? nicht mal ein MRT machen? So von allem?«, dann erkennen sich da gleichzeitig Patienten und Ärzte Bevor ich in die Landarztpraxis kam, habe ich im Kran- wieder. Der eine muss vielleicht nicken, der andere kenhaus gearbeitet – man muss ja für seine Weiterbildung schmunzeln. Ein leichter Zugang zu schweren auch stationäre Zeit sammeln. Und von meiner Statur her Themen – können andere Mediziner das nicht so bin ich nicht sehr groß, ich bin auch nicht sehr breit. Es kam transportieren? vor, dass ein männlicher Student neben mir für den »Herrn Doktor« gehalten wurde, und ich war die »Schwester«. Der Dieses normale Sprechen über Krankheiten, das Über Herr Doktor konnte sogar 10 Jahre jünger sein als ich, aber er setzen der im Studium gelernten ›Arztsprache‹, das liegt tat- wurde um ärztlichen Rat gefragt, während ich Jalousien sächlich nicht jedem, weil – zumindest war das während mei- schließen, Wasser holen oder das Pflegerische übernehmen nes Studiums so – das Kommunizieren nicht gelehrt wurde. sollte. Dabei stand auf meinem Namensschild genauso der Wir Hausärzte müssen die Krankheiten oft einfach mal über- Doktortitel wie auf seinem. Die Patienten guckten häufig er- setzen: Es ist beispielsweise nicht die Herzinsuffizienz, son- staunt und sagten erstmal »Schwester« – dann folgte der dern die Herzschwäche, nicht die Cholezystitis, sondern die Blick aufs Schild – »Äh, Frau Doktor« – das war der Klassiker. Gallenblasenentzündung. Und im Unterschied zu vielen an- deren Hausärzten bin ich in den sozialen Medien aktiv. Es Als Schwesterfraudoktor posten Sie eigene fachlich gibt tausend Kolleginnen und Kollegen, die das genauso fundierte Beiträge über Themen wie Depressionen, können, die nur nicht im Internet unterwegs sind. Hygiene, Müdigkeit, die Schilddrüse. Sie blicken – wie sagen Sie so schön? – (galgen)humorvoll auf Was, glauben Sie, muss verbessert werden bei der das Wunder der Geburt. Und wenn Sie die Arbeits Kommunikation über Medizin und Gesundheit? weise von Hausärzten beschreiben, dann hört sich das so an: »Warum wir manchmal nichts machen, Manchmal denke ich, man müsste die vielen Leute, die manchmal aggressiv zuwarten und manchmal im Internet falsche Informationen verbreiten, reglementie- alles tun, und zwar sofort«. Ihre ganz persönliche ren. Zum Beispiel, wenn jemand ganz abstruse und nicht- Art kommt offenbar an. Bei Twitter folgen Ihnen fundierte Dinge über sogenannte Alternativmedizin oder ak- mehr als 32 000 Menschen. Was wissen Sie über tuell über das Coronavirus schreibt. Auf der anderen Seite ist Ihre Follower? es natürlich auch gut, dass es dazu nur begrenzte Möglich- keiten gibt, weil Gegenpositionen die Diskussion beleben Da kriegt man manchmal leider zu wenig mit. Natürlich und bei uns freie Meinungsäußerung herrscht. Verbote för- bin ich mit vielen Medizinern vernetzt – eine Medizinerblase, dern extreme Einstellungen, aber man darf nicht müde wer- wie man das so nennt. Man folgt sich natürlich auch gegen- den, sachlich aufzuklären. Dafür ist Sprache wichtig, die ver- seitig. Ich merke aber auch, dass immer mehr große Organi- standen wird. Ich finde es gut, dass über die sozialen Medien sationen meine Beiträge lesen, auch Fachgesellschaften und manche Themen an Schrecken verloren haben und dass Verbände. Manche Leute folgen mir vielleicht auch, weil ich schlimme Krankheiten, Depressionen oder andere psychia hin und wieder einen Schokokuchen poste oder Nudeln mit trische Erkrankungen nicht mehr so stigmatisiert sind. Man Rucola (lacht) – das Normale in meinem Leben scheint irgend- geht heute viel offener damit um und kann sich über das In- wie anzukommen. Viele lesen meine Texte, weil sie sich für ternet Hilfe suchen. fachliche Informationen interessieren, die aber so aufberei- tet sind, dass sie auch Nicht-Mediziner verstehen.
die gute frage 2 Es scheint, dass sich immer mehr Mediziner im Wie viel Zeit wenden Sie am Tag für Twitter, für Netz tummeln. Denken Sie, das ist ein Trend? Ihren Blog, für die sozialen Medien auf ? Ich glaube, das hat zu Corona-Zeiten noch mal zugenom- Also ich arbeite 20 Stunden pro Woche in der Praxis und men. Vorher waren schon einige Mediziner im Netz aktiv, zusätzlich etwa 10 Stunden in der Woche für die sozialen aber jetzt ist es noch mal mehr geworden. Die Menschen su- Medien. Und wenn ich einen recht aufwendigen Blogartikel chen immer mehr Aufklärung im Internet, weil es frei und schreibe, dann sitze ich auch am Wochenende nochmal sicher leicht verfügbar ist. Es spaltet sich ja jetzt in diejenigen, die sechs Stunden am Computer. das Corona-Thema als Quatsch, Panikmache und Verschwö- rung abtun, und in diejenigen, die in den Krankenhäusern Sie arbeiten als Landärztin in der Wetterau, und Arztpraxen erleben, wie schlimm diese Erkrankung tat- nordöstlich von Frankfurt. Wie reagieren Ihre sächlich sein kann. Der Bedarf an Informationen ist groß, Patientinnen und Patienten auf Ihre Online- und viele Kolleginnen und Kollegen möchten ihren Beitrag Aktivitäten? Oder wissen die das gar nicht? leisten. Problematisch ist natürlich, dass jeder seinen Senf mdk forum Heft 4 /2020 dazugeben kann und dann irgendwelche YouTube-Videos Ja, das frage ich mich manchmal auch. Ich bin in der von Verschwörungstheoretikern veröffentlicht werden, und raxis eigentlich noch nie darauf angesprochen worden. Also, P das wird dann leider auch geglaubt. Da wären wir wieder bei ich bin jetzt hier keine lokale Berühmtheit oder so (lacht). der wichtigen fachlichen Aufklärung. Davon abgesehen glaube ich, hat man hier ja generell seinen besonderen Landarztstatus. Das ist ganz angenehm und hat Sie wurden ausgezeichnet als Goldene Bloggerin durchaus auch Vorteile: Manchmal kriegen meine Kinder Medizin 2019. Wie passt das zusammen, die ernsten dann die extra dicken Wurstscheiben beim Metzger. Themen Krankheit, Medizin, Pflege und die neuen Medien, denen man oft eine verkürzte Darstellung Sie sind ja nicht nur in den sozialen Medien oder einen lockeren Unterhaltungsanspruch unterwegs und arbeiten als Ärztin. Sie haben nachsagt? außerdem ein Buch geschrieben – »Frau Doktor, wo ich Sie gerade treffe …« –, das im Februar Mir macht es Spaß, über meinen Blog Wissen zu vermit- erscheint. Sie machen eine Fortbildung in teln und das eben so, dass es auch der Laie versteht. Das war Journalismus, haben zwei Kinder, backen leckere wohl der Hauptgrund für die Auszeichnung. Und Goldene Schokokuchen. Wie schaffen Sie das alles? Bloggerin Medizin 2019 zu sein ist eine schöne Bestätigung für meine investierte Zeit – ich verdiene ja nichts daran, ich Sie haben den Sport und meinen Gemüsegarten verges- bekomme nichts für meinen Blog, ich mach auch keine Wer- sen ... (lacht). Ich kann’s gar nicht sagen. Zum einen arbeite bung, es ist wirklich reines Freizeitvergnügen – und dafür, ich ja nur 50 %; und um das Buch schreiben zu können, habe dass es sich doch irgendwie lohnt. Bei mir ist es ein Zusam- ich eine späte Elternzeit genommen. Ich wollte Zeit zum menspiel von fachlicher Information und sehr viel Nähe zu Schreiben haben, weil das einfach meine Leidenschaft ist, den Leuten, die mit mir über Twitter oder E-Mails interagie- und ich wollte mehr Zeit für meine Kinder haben, sie sind ren. Außerdem finde ich, dass die Informationen, die man jetzt 7 und 9. Dazu kommt, dass ich tatsächlich ein paar über die sozialen Medien bekommt, hochaktuell sind. Man Hummeln im Hintern habe. Einfach nur herumsitzen und kann sowohl an sehr gute Informationen von Kollegen kom- nichts tun fällt mir extrem schwer. men als auch an normale Nachrichten oder Fachartikel, ge- rade jetzt in Corona-Zeiten. Das funktioniert insbesondere Und wo sehen Sie sich in 10 Jahren? Sind Sie mehr über Twitter wunderbar. Ärztin, mehr Journalistin, womöglich Bestseller- Autorin, oder haben Sie bei Twitter eine Million Follower? Ich möchte weiter als Ärztin arbeiten, weil ich diesen Be- ruf sehr mag. Aber ich möchte definitiv auch das Schreiben ausbauen und weiter viel in den sozialen Medien unterwegs sein. Ich würde gerne noch weitere Bücher schreiben, unter- wegs sein, mich politisch engagieren. Aber wahrscheinlich bräuchte mein Tag dann 48 Stunden. Die Fragen stellten Nina Speerschneider & Dorothee Buschhaus. Dr. Ulrike Koock
3 Drittes Bevölkerungsschutz- Die meisten Menschen, knapp sieben Bei den Begutachtungen im Bereich der gesetz in Kraft Millionen, haben die Krankenkassen im gesetzlichen Krankenversicherung finden Mit dem Dritten Gesetz zum Schutz der Jahr 2019 mit Präventionsmaßnahmen in während dieser Zeit ebenfalls in der Regel Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von Lebenswelten wie Kitas und Schulen keine körperlichen Untersuchungen statt. nationaler Tragweite sind neue Regelungen erreicht. Ausgegeben haben sie dafür im Auf diese Regelungen haben sich GKV-Spit- zur Bekämpfung der Corona-Pandemie in Berichtsjahr 166 Mio. Euro. Mit rund zenverband und die Medizinischen Dienste Kraft getreten. Einzelne Regelungen 240 Mio. Euro entfiel der größte Teil der in Abstimmung mit dem Bundesministe betreffen auch die Aufgabenwahrnehmung Präventionsausgaben 2019 auf die betriebli- rium für Gesundheit verständigt. der Medizinischen Dienste. So sind nach che Gesundheitsförderung – das entspricht einer Änderung des Krankenhausfinan einer Steigerung von 39 % zum Vorjahr. Ultraschall beim Frauenarzt – zierungsgesetzes weitere Ausnahmen bei Der Präventionsbericht ist als Download neue IGeL-Bewertung mdk forum Heft 4 /2020 Krankenhausprüfungen bis Juni 2021 unter www.mds-ev.de abrufbar. Erstmals hat das Team des IGeL-Monitors zulässig. Krankenhäuser, die durch die die Selbstzahlerleistung Ultraschall zur Versorgung von Patientinnen und Patienten Tipps für Pflegebedürftige Früherkennung von Gebärmutterkörper- mit einer Covid-19-Erkrankung besonders Die Corona-Pandemie belastet pflegebe- krebs bewertet – und zwar mit ›tendenziell betroffen sind, müssen unter bestimmten dürftige Menschen und pflegende Angehö- negativ‹. Außerdem wurde die Bewertung Voraussetzungen Strukturmerkmale nicht rige besonders stark: Aus Angst vor einer des Ultraschalls zur Früherkennung von nachweisen. Das Gesetz regelt auch den Corona-Infektion werden professionelle Eierstockkrebs aktualisiert: Die Unter Umgang mit Unterstützungsleistungen der Pflege- und Betreuungsleistungen oft nicht suchung wird weiterhin mit ›negativ‹ Medizinischen Dienste für den ÖGD und die mehr in Anspruch genommen. Auch sind bewertet. Versorgung. Durch den neu eingefügten die gewohnten Angebote nicht immer In Studien zu beiden Untersuchungen §275 Abs. 4b SGB V haben die Medizini- verfügbar. Die Einschränkung von sozialen gab es mehr Hinweise auf Schäden als schen Dienste die Möglichkeit, Mitarbeite- Kontakten als wirkungsvollste Prävention auf einen Nutzen für Patientinnen. rinnen und Mitarbeiter bestimmten gegen eine Covid-19-Ansteckung führt zur Fachgesellschaften raten übereinstimmend Einrichtungen zuzuweisen, um diese bei der Isolation pflegebedürftiger Menschen. Für davon ab, diese Untersuchungen als Pandemiebekämpfung zu unterstützen. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen hat Screening anzuwenden. Dennoch werden Hierdurch darf die Aufgabenwahrnehmung der MDS auf seiner Homepage eine Vielzahl die Untersuchungen häufig angeboten – der Medizinischen Dienste jedoch nicht von Unterstützungsangeboten zusammen- auch jüngeren Frauen, die offensichtlich beeinträchtigt werden, und die Zuweisung gefasst: www.mds-ev.de nicht zur Risikogruppe gehören. Gynäko muss auf Ersuchen der entsprechenden logische Praxen handeln damit gegen die Einrichtung erfolgen. Weitere Regelungen Keine Regelprüfungen und Empfehlungen medizinischer Fachgesell- betreffen die Einbindung des Bundestags persönlichen Hausbesuche schaften. Mehr Infos unter www.igel- und der Länderparlamente bei Entscheidun- Vor dem Hintergrund der durch Bundes monitor.de gen zu Maßnahmen der Pandemiebekämp- regierung und Landesregierungen verlän- fung. Das Gesetz sieht auch Freihalte-Pau- gerten Kontaktbeschränkungen zur Neue QPR-HKP ab 2021 schalen für Intensivbetten, die Vorbereitung Eindämmung der Corona-Infektionszahlen Am 1. Januar 2021 tritt eine neue Fassung von Impfprogrammen, Schutzmaßnahmen finden bis 15. Januar 2021 keine persön der Qualitätsprüfungs-Richtlinie häusliche für Risikogruppen und Unterstützungsleis- lichen Pflegebegutachtungen statt. Die Krankenpflege (QPR-HKP) in Kraft. Die tungen für erwerbstätige Eltern vor. Einstufung in Pflegegrade erfolgt alternativ Richtlinie wurde auf Grundlage der auf Basis bereits vorliegender Informatio- Regelungen zur außerklinischen ambulan- Präventionsbericht nen und eines ergänzenden strukturierten ten Intensivpflege in den Rahmenempfeh- Rund 631 Millionen Euro, und damit deutlich Telefoninterviews mit den Pflegebedürf lungen nach §132a Abs. 1 SGB V vom mehr als gesetzlich vorgesehen, haben die tigen bzw. den Bezugspflegepersonen. Der 30. August 2019 angepasst. Die überarbei Krankenkassen 2019 für Maßnahmen zur zeitnahe Leistungsbezug und die damit tete QPR-HKP, die die Fassung vom Gesundheitsförderung und Prävention in verbundene Versorgung sind sichergestellt. 27. September 2017 ablöst, hat der Lebenswelten, in Betrieben und für einzelne Die Medizinischen Dienste führen in GKV-Spitzenverband am 18. Dezember 2019 Versicherte ausgegeben. Dies geht aus dem dieser Zeit auch keine Qualitätsregelprü beschlossen. Sie ist die Grundlage für die aktuellen Präventionsbericht des GKV- fungen in stationären und ambulanten jährlichen Regelprüfungen und Anlass Spitzenverbandes und des Medizinischen Pflegeeinrichtungen statt. Anlassprüfungen prüfungen der Medizinischen Dienste bei Dienstes des GKV-Spitzenverbandes (MDS) sind jederzeit weiterhin möglich, wenn dies Leistungserbringern, die keinen Versor- hervor. Insgesamt haben die Krankenkassen aufgrund von Beschwerden erforderlich ist. gungsvertrag nach dem SGB XI haben und 10,9 Millionen Versicherte mit diesen Dabei werden strenge Hygiene- und ausschließlich Leistungen der häuslichen Maßnahmen erreichen können. Hinzu Sicherheitsmaßnahmen eingehalten. Die Krankenpflege nach dem SGB V erbringen. kommen mehr als 17 Millionen Euro, mit Medizinischen Dienste bauen derzeit Dabei handelt es sich insbesondere um denen die Pflegekassen Präventionsaktivi die Testkapazitäten aus und werden die spezialisierte Leistungserbringer, die täten in stationären Pflegeeinrichtungen Qualitätsregelprüfungen baldmöglichst außerklinische Intensivpflege anbieten. Die unterstützt haben. wieder aufnehmen. QPR-HKP ist abrufbar unter www.mds-ev.de
4 Kompendium Fehlzeiten-Report 2020 Arzneimittelversorgung von pflegebedürf Begutachtungswissen Geriatrie Immer mehr Menschen in Deutschland tigen Patienten in häuslicher Umgebung. Aktualisiert und neu aufgelegt wurde das bleiben wegen psychischer Krankheiten Hierfür werden durch eine Änderung der Kompendium Begutachtungswissen Geriatrie, ihrer Arbeit fern. Das ist ein Ergebnis des Arzneimittelpreisverordnung 150 Millionen das sich vor allem an Ärztinnen und Ärzte Fehlzeiten-Reports 2020 des Wissenschaft- Euro zur Verfügung gestellt. sowie Pflegefachkräfte richtet, die geria lichen Instituts der AOK (WIdO). Zu den trische Gutachten in Krankenhäusern, häufigsten psychischen Leiden zählen Qualitätsunterschiede bei Rehabilitationseinrichtungen, für Sozial Angststörungen, Depression sowie Knieprothesen-OP gerichte oder für den ambulanten und Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit. Beim Knieprothesenwechsel zeigen sich Pflegebereich erstellen. Das Werk liefert 11,9 % aller Fehltage der Arbeitnehmerinnen – wie auch bei den anderen planbaren Fachwissen, das jeder Gutachtende und Arbeitnehmer gingen 2019 auf chirurgischen Eingriffen – deutliche mdk forum Heft 3 /2020 benötigt – spezifisch für ältere Patienten. psychische Erkrankungen zurück. Damit Unterschiede in der Behandlungsqualität Dabei zeigen die Autoren Dr. Friedemann nahmen die Krankheitstage aus diesem zwischen den einzelnen Krankenhäusern. Ernst, Dr. Nobert Lübke, Dr. Matthias Meinck Grund seit 2008 um 67,5 % zu und standen Das zeigen aktuelle Qualitätsdaten des und Jörg-Christian Renz, Experten des zum ersten Mal im Fehlzeiten-Report an Wissenschaftlichen Instituts der AOK Kompetenz-Centrums Geriatrie, wie man zweiter Stelle – hinter Muskel-Skelett- (WIdO). Im Schnitt kommt es bei knapp 8 % entscheidungsrelevante Aspekte korrekt Erkrankungen (22,4 %), aber noch vor der Patienten nach der Operation zu und sicher bewertet und berücksichtigt. Atemwegserkrankungen (11,8 %). Komplikationen. Die nunmehr vierte vollständig überarbei Im Schwerpunkt widmete sich der Bei den Kliniken, die am besten tete und erweiterte Auflage berücksichtigt Fehlzeiten-Report in diesem Jahr dem abschneiden, liegt die Gesamt-Komplika die Erkenntnisse und Entwicklungen der Thema Gerechtigkeit und Gesundheit: tionsrate bei höchstens 5,1 %. Bei den vergangenen fünf Jahre und widmet sich 2500 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Krankenhäusern mit der schlechtesten unter anderem Fragestellungen zu Frailty, im Alter von 18 bis 65 Jahren wurden zu gemessenen Behandlungsqualität ist die Sarkopenie und ambulanter geriatrischer ihrem Gerechtigkeitsempfinden am Komplikationsrate mit mindestens 10,8 % Versorgung. Das Kompendium ist als ebook Arbeitsplatz befragt und die Auswirkungen dagegen mehr als doppelt so hoch. sowie als Softcover im Springer Verlag auf die Gesundheit analysiert. Das Ergebnis: Die Ergebnisse machen die Qualitäts erschienen und bestellbar unter der ISBN Beschäftige, die sich von ihrer Führungs- unterschiede zwischen den 264 Kliniken in 978-3-662-61447-1. kraft gerecht behandelt fühlen, weisen Deutschland transparent, die von 2014 bis weniger krankheitsbedingte Fehlzeiten auf. 2018 Knieprothesenwechsel bei mehr als DiGA auch in der Pflege Sie kommen durchschnittlich auf 12,7 16 000 AOK-Versicherten vorgenommen Auch in der Pflege sollen künftig digitale Arbeitsunfähigkeitstage pro Jahr, während haben. Sie vervollständigen die bereits Anwendungen im Internet oder Apps für die Gruppe derjenigen, die ihren Chef als verfügbaren Qualitätsdaten zur Erstimplan- das Smartphone zum Einsatz kommen. Das eher ungerecht wahrnehmen, im Durch- tation von Knie- und Hüftgelenken sowie sieht ein Referentenentwurf für ein Gesetz schnitt 15 Fehltage aufweisen. Mehr unter zum Wechsel von Hüftprothesen. Infos zur digitalen Modernisierung von Versorgung www.wido.de auch unter www.wido.de und Pflege (DVPMG) des Bundesministeri- ums für Gesundheit vor. Außerdem soll die Stärkung der Vor-Ort-Apotheken Operationen in Krankenhäusern Telemedizin ausgebaut und die nächste Apotheken sollen künftig mehr pharma 7,1 Millionen der 18,8 Millionen stationär in Ausbaustufe der Telematik-Infrastruktur zeutische Dienstleistungen anbieten. Krankenhäusern in Deutschland behandel- umgesetzt werden. Die Prüfung digitaler Versandapotheken dürfen gesetzlich ten Patientinnen und Patienten wurden im Pflegeanwendungen (DiPA) soll wie bei den Versicherten keine Rabatte mehr auf rezept- Jahr 2019 operiert (37,8 %). Gegenüber digitalen Gesundheits-Anwendungen (DigA) pflichtige Arzneimittel gewähren: Das sieht dem Vorjahr hat sich dieser Anteil kaum in der Verantwortung des Bundesinstituts das Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz verändert (2018: 37,9 %). Laut Statistischem für Arzneimittel und Medizinprodukte (VOSG) vor, das Ende Oktober vom Bundes- Bundesamt waren 3,6 Millionen und damit (BfArM) liegen. tag beschlossen wurde. Für gesetzlich mehr als die Hälfte der Personen, die sich Das dritte Digitalisierungs-Gesetz soll Versicherte soll künftig der gleiche Preis für 2019 während ihres Krankenhausaufent nach dem Digitale-Versorgung-Gesetz und verschreibungspflichtige Arzneimittel haltes einem chirurgischen Eingriff dem Patientendatendaten-Schutz-Gesetz gelten – unabhängig davon, ob diese über unterziehen mussten, 60 Jahre und älter. dem Gesundheitswesen weitere Impulse eine Apotheke vor Ort oder eine EU-Ver- Zu den häufigsten Operationen in der zur Digitalisierung geben. Das DVPMG soll sandapotheke bezogen werden. Um die Altersgruppe der ab 60-jährigen zählten mit voraussichtlich Mitte nächsten Jahres in Versorgung der Patientinnen und Patienten 285 200 Eingriffen sogenannte ›andere Kraft treten. zu verbessern, sollen der Deutsche Operationen am Darm‹, bei denen z. B. Apothekerverband und der GKV-Spitzen Verwachsungen gelöst oder Darmabschnit- verband außerdem neue pharmazeutische te aufgedehnt werden. Danach folgten Dienstleistungen vereinbaren. Denkbar endoskopische Operationen an den sind etwa eine intensive pharmazeutische Gallengängen (216 100) und das Einsetzen Betreuung bei einer Krebstherapie oder die von Hüftgelenk-Prothesen (204 900).
impfen: ein schutz fürs leben 6 Kleiner Piks, große Wirkung mdk forum Heft 4 /2020 Bei der Suche nach einem Impfstoff gegen das neuartige Corona-Virus lieferten sich Forscher weltweit ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Manche Menschen erhoffen sich von flächendeckenden Impfungen mehr Sicherheit und eine Rückkehr zur Normalität. Andere reagieren abwartend oder sogar ablehnend. Zwei Faktoren scheinen bei der Akzeptanz von Impfungen eine zentrale Rolle zu spielen: eine glaubwürdige Kommunikation und klare Belege für ihren Nutzen. mit der ankündigung, bald die Zulassung für einen ge- Impfungen schützen vor Infektionskrankheiten, indem meinsam entwickelten Corona-Impfstoff zu beantragen, sie die körpereigene Abwehr auf bestimmte Krankheitserre- machten das Mainzer Unternehmen Biontech und der ame- ger vorbereiten. Kommt es dann tatsächlich zu einer Infek rikanische Pharmahersteller Pfizer in der ersten November- tion, kann der Körper sich schnell und wirkungsvoll zur Wehr hälfte Schlagzeilen. Wenig später zog das us-amerikanische setzen. Manche Impfungen schützen ein Leben lang, andere Unternehmen Moderna nach. Am gleichen Tag, an dem Bion- müssen regelmäßig aufgefrischt wer- tech seine guten Nachrichten verkündete, führte Infratest den. Ist ein Großteil der Bevölkerung Impfungen retten Dimap eine bundesweite Befragung für den ›Deutschland geimpft, kann sich die entsprechende jedes Jahr Millionen trend‹ durch, den das Meinungsforschungsunternehmen je- Krankheit nicht mehr so schnell aus- Menschenleben. den Monat im Auftrag der ard-tagesthemen und verschiede- breiten. Von diesem Schutz profitieren ner Zeitungen erstellt. Angesichts der großen Hoffnungen, auch Menschen, die selbst (noch) nicht geimpft werden kön- die die Suche nach einem Impfstoff begleiteten, war das Er- nen – Neugeborene etwa oder chronisch Kranke. Experten gebnis überraschend: Nur ein gutes Drittel der Befragten zählen Schutzimpfungen zu den kostengünstigsten und wirk- (37 %) sagte, sie würden sich »auf jeden Fall« impfen lassen. samsten medizinischen Interventionsmaßnahmen. Der who Ein weiteres Drittel (34 %) wollte das »wahrscheinlich«. Und zufolge retten Impfungen jedes Jahr weltweit etwa zwei bis ein knappes Drittel (29 %) lehnte eine Impfung mehr oder drei Millionen Menschenleben, andere Schätzungen gehen weniger kategorisch ab. Wie kann das sein? sogar von sechs Millionen aus. Mit Hilfe von Impfungen kann es sogar gelingen, lebensbedrohliche Krankheiten ganz auszurotten. Mit vereinten Kräften Verschiedene internationale und nationale Initiativen kämpfen darum, weitere Infektionskrankheiten zu eliminie- ren. Die Global Polio Eradication Initiative, eine Allianz unter
impfen: ein schutz fürs leben 7 Beteiligung der who, hat es unter größten Anstrengungen ten, deutlich weniger die ebenfalls erforderliche zweite. Die geschafft, die Kinderlähmung weltweit weitgehend zurück- Impfquote gegen Kinderlähmung lag 2017 bei Schulanfän- zudrängen. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gern bei 92,9 %. Die who strebt Impfquoten von mindestens wollen die Masern und die Röteln in Europa ausrotten. Als 95 % an. Deutschland 2015 einen entsprechenden Nationalen Akti- onsplan auflegte, mahnte der damalige Gesundheitsminis- Mehrheit ist impffreundlich ter Hermann Gröhe: Trotz großer Fortschritte bei den Kin- derimpfungen – auch gegen Masern und Röteln – verfügten Ein Großteil der Bevölkerung in Deutschland steht Impfun- viele Kinder in Deutschland nicht über einen altersgemäßen gen traditionell positiv gegenüber. Bei einer repräsentativen Impfschutz. Befragung im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitli- Auf der Grundlage der neuesten wissenschaftlichen Er- che Aufklärung bezeichneten sich 2018 kenntnisse erarbeitet die Ständige Impfkommission (stiko) etwa drei Viertel der 16- bis 85-Jährigen Kleinkinder haben oft am Robert-Koch-Institut (rki) regelmäßig aktualisierte, nach als Impfbefürworter, nur 6 % lehnten nicht alle Impfungen. Bevölkerungsgruppen differenzierte Impfempfehlungen. Für Impfungen (eher) ab. Besonders impf- mdk forum Heft 4 /2020 Kinder in den ersten beiden Lebensjahren etwa empfiehlt freundlich äußerten sich Eltern: Hier beurteilten vier Fünftel die stiko derzeit Impfungen gegen Rotaviren, Tetanus, Diph- Impfungen positiv, nur 5 % lehnten sie (eher) ab. Der Anteil therie, Keuchhusten, Kinderlähmung, Hepatitis B, Pneumo- der Impfbefürworter hatte im Vergleich zur Vorgängerstudie kokken, Meningokokken C, Masern, Mumps, Röteln und 2012 deutlich zugenommen. Auch die Zahl der Impfungen Windpocken sowie gegen das Bakterium Haemophilus influ- wächst. Nach Angaben des Deutschen Apothekerverbandes enzae Typ b. Die gesetzliche Krankenversicherung übernimmt (dva) stiegen die Ausgaben der Krankenkassen für Impfstof- die Kosten für alle Impfungen, die den stiko-Empfehlun- fe im Gesamtjahr 2018 um 4,5 % auf 1,284 Milliarden Euro. gen entsprechen. Anders als in anderen Ländern gibt es in Deutschland kei- Freiwilligkeit steigert Impfbereitschaft ne Impfpflicht – mit einer Ausnahme: Am 1. März 2020 trat das Masernschutzgesetz in Kraft, nach dem alle Kinder bei Eine Eurobarometer-Studie im Auftrag der Europäischen Kita- oder Schuleintritt geimpft sein müssen. Gleiches gilt Union im März 2019 ergab, dass 85 % der eu-Bürgerinnen auch für die Beschäftigten in solchen oder in medizinischen und -Bürger Impfungen als wirksames Mittel zur Verhütung Einrichtungen. von Krankheiten sehen. Dennoch hegt fast die Hälfte der Befragten die (unbegründete) Befürchtung, dass Impfungen Wer ist geimpft? häufig schwere Nebenwirkungen haben können. Mehr als je- der Dritte denkt, dass eine Impfung die Krankheit verur Ein zentrales Register zum Impf- und Immunstatus der sachen kann, vor der sie schützen soll. Möglicherweise ist Bevölkerung in Deutschland gibt es nicht. Einschätzungen diese Sorge bei den in Rekordzeit entwickelten Corona-Impf- zur Impfsituation basieren auf regionalen Daten, Stichpro- stoffen besonders groß. ben oder Querschnittsuntersuchungen. Lange Zeit bildeten Neben Vergesslichkeit und Angst vor Nebenwirkungen die Schuleingangsuntersuchungen die einzige gesetzlich sind es aber vor allem mangelnde oder falsche Informatio- festgelegte systematische Quelle zur Erhebung bundesweiter nen, die zu Impflücken führen. Bei einer jüngst veröffent- Impfdaten. Das Robert-Koch-Institut arbeitet jedoch gemein- lichten Studie zur globalen Akzeptanz einer solchen Imp- sam mit den Kassenärztlichen Vereinigungen am Aufbau fung rangierte Deutschland im Juni 2020 mit 68,42 % Impf einer Impf-Surveillance. bereitschaft im unteren Mittelfeld. Den Autoren zufolge sind Offenbar verfügen längst nicht alle Erwachsenen über das Vertrauen in die jeweilige Regierung, eine möglichst einen ausreichenden Impfschutz. So betraf mehr als die glaubwürdige Kommunikation sowie die Freiwilligkeit der Hälfte aller Masernfälle, die in den ersten acht Monaten des Impfung wichtige Voraussetzungen für deren Akzeptanz. Jahres 2020 gemeldet wurden, Jugendliche und nach 1970 Gerade der glaubwürdigen Kommunikation könnte eine geborene Erwachsene, meldet das rki. Auch die für Men- Schlüsselrolle zukommen. Denn über eine mögliche Corona- schen über 60 empfohlene jährliche Standardimpfung ge- Impfung kursieren längst diverse, zum Teil absurde Ver- gen Grippe wird dem rki zufolge viel zu wenig in Anspruch schwörungserzählungen – bis hin zu der Behauptung, im Zuge genommen; Gleiches gilt für die für diese Altersgruppe eben- der Impfung sollten der Bevölkerung Mikro-Chips zur lücken- falls empfohlene einmalige Pneumokokken-Impfung. losen Überwachung implantiert werden. Die who hatte be- Auch bei Kindern ist der Impfschutz ausbaufähig. Eine reits Anfang 2019 – also lange vor dem Ausbruch der Corona- Auswertung von Versichertendaten der Techniker Kranken- Pandemie – Falschinformationen über Impfungen als eine kasse ergab: Nur etwa jedes zweite der im Jahr 2017 gebore- der zehn größten Bedrohungen für die öffentliche Gesund- nen Kinder verfügte an seinem zweiten Geburtstag über ei- heit eingestuft. Nun zeigt sich: Es gibt noch viel zu tun. nen vollständigen Impfschutz gemäß der stiko-Empfehlun- gen. Knapp 48 % dieses Jahrgangs hatten nur einen Teil der empfohlenen Impfungen erhalten, weitere 3,5 % keine ein zige. Manche Impflücken werden aber offenbar bis zur Ein- schulung geschlossen. Deutlich über 90 % der I-Dötzchen Dr. Silke Heller-Jung hat in Frechen bei Köln waren 2018 gegen Diphtherie, Tetanus und Keuchhusten ge- ein Redaktionsbüro für Gesundheitsthemen. impft. Mehr als 95 % hatten die erste Masernimpfung erhal- redaktion@heller-jung.de
impfen: ein schutz fürs leben 8 Kein Stich auf gut Glück mdk forum Heft 4 /2020 Die am Robert-Koch-Institut angesiedelte Ständige Impfkommission erarbeitet regelmäßig die Impfempfehlungen für die Bevölkerung. wann mit einer Zulassung erster Impfstoffe gegen covid-19 sondern der Gemeinsame Bundesausschuss auf Grundlage in der eu zu rechnen sein wird, kann derzeit keiner verläss- der Empfehlung. Durch die Aufnahme der Impfung in die so- lich sagen. Sicher ist aber, dass zunächst nicht ausreichend genannte Schutzimpfungsrichtlinie wird die präventive Maß- Impfstoff zur Verfügung stehen dürfte, um die gesamte Be- nahme auch zur Pflichtleistung der gesetzlichen Kranken- völkerung zu versorgen. Das Bundesgesundheitsministeri- kassen. Während es also bei der Zulassung eines neuen um arbeitet deshalb bereits an einer nationalen Impfstrate- Impfstoffes in erster Linie um Sicherheit, Qualität und Wirk- gie, die mit der Zulassung und Verfügbarkeit eines Impfstof- samkeit geht, muss sich die Ständige Impfkommission mit fes umgesetzt werden soll. Geplant ist demnach eine Imp- der Frage auseinandersetzen, wie der Impfstoff nach seiner fung der Bevölkerung in mehreren Phasen und Stufen, be- Zulassung in der Bevölkerung zum Einsatz kommen soll. ginnend mit einer gezielten Immunisierung der besonders anfälligen und gefährdeten Bevölkerungsgruppe. Definiert Ständig aktualisierter Impfkalender werden diese und weitere Gruppen der Impfstrategie durch den Ethikrat, die Nationale Akademie der Wissenschaften Die ersten Empfehlungen in der inzwischen fast 50-jähri- und die Ständige Impfkommission (stiko). gen Geschichte des Gremiums waren die zu Masern, Tollwut und Keuchhusten. Mittlerweile umfasst der kontinuierlich Empfehlung auf Grundlage medizinischer Fakten aktualisierte Impfkalender Präventionsempfehlungen ge- gen 15 Krankheiten, darunter beispielsweise Hepatitis B, Die stiko ist ein unabhängiges, derzeit 18-köpfiges Ex- Diphtherie oder aber Grippe. Zum Aufgabenbereich der stiko pertengremium, das zwei- bis dreimal im Jahr zusammen- gehören zudem Impfungen, die für Reisen, bestimmte Berufe kommt und Impfempfehlungen erarbeitet. Die Kommission oder aber aufgrund einer besonderen epidemiologischen Si- wurde 1972 am damaligen Bundesgesundheitsamt einge- tuation erforderlich oder zumindest zu empfehlen sind. Und richtet und nach dessen Auflösung 1994 an das Robert-Koch- in diesem Zusammenhang nicht zuletzt auch eine Empfeh- Institut angegliedert. Bei der Entwicklung seiner Impfemp- lung für eine zukünftige covid-19-Impfung. fehlungen orientiert sich das Gremium am aktuellen Status quo der Medizin, analysiert dafür systematisch die Fachlite- Der Weg zur Impfempfehlung bei Covid-19 ratur, um so eine möglichst hohe wissenschaftliche Qualität der Impfempfehlungen zu gewährleisten. Darüber hinaus »Bei der covid-19-Impfung sind ethische Aspekte von wird auch im Vorfeld einer Empfehlung ein mathematisches besonderer Bedeutung, weil die Pandemie in vielen Lebens- Modell entwickelt, um die epidemiologischen und gesund- bereichen der Menschen einschneidend wirkt und daher ein heitsökonomischen Folgen abschätzen zu können. Entspre- besonderer Bedarf einer gerechten Verteilung der Impfstoffe chend zeitaufwendig ist dieser Vorgang. Von der Recherche bei limitierten Impfstoffmengen besteht«, heißt es dazu sei- bis hin zur Empfehlung können Jahre vergehen. tens der stiko. Zudem sei es gerade in diesem Fall wichtig, den Prozess der Impfstoffentwicklung und auch den Weg bis Pflichtleistung gesetzlicher Krankenkassen hin zur Impfstoffempfehlung transparent und kommunika- tiv zu begleiten. Mit der Erarbeitung einer Impfstrategie durch die Ständi- ge Impfkommission wird festgelegt, ob eine Impfung als Standard-Impfung für die allgemeine Bevölkerung oder aber Uwe Hentschel lebt und arbeitet als freier nur für bestimmte Risikogruppen eingesetzt werden soll. Journalist in der Eifel und schreibt dort Die Entscheidung darüber trifft allerdings nicht die stiko, für deutsche und luxemburgische Medien. hentschel@geeifelt.de
impfen: ein schutz fürs leben 9 Eine kurze Geschichte des Impfens mdk forum Heft 4 /2020 Infektionskrankheiten – von der Entdeckung der Immunität im Jahr 1796 bis zur industriellen Herstellung moderner Impfstoffe war viel Forschung nötig. die geschichte des Impfens beginnt mit einer Kuh (latei- ten erkannt worden war, konnte gezielt an der Entwicklung nisch vacca), von der sich bis heute der Fachbegriff Vakzine antibakterieller Wirkstoffe gearbeitet werden. Am Preußi- (Impfstoff) herleitet. Im Jahr 1796 gelang es dem englischen schen Institut für Infektionskrankheiten, 1891 in Berlin ge- Arzt Edward Jenner, in einem riskanten Experiment den gründet, forschten unter anderem Koch, von Behring und Sohn seines Gärtners gegen die gefährliche Pockenkrankheit Paul Ehrlich (siehe auch S. 30–31), die der Bakteriologie und zu immunisieren. Er hatte den Achtjährigen zunächst mit Er- der Immunologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts regern der Kuhpocken infiziert, die für den Menschen harm- entscheidende Impulse gaben. los sind. Anschließend steckte er das Kind mit echten Po- cken an. Der Junge blieb gesund. Die Pockenschutzimpfung ddr – Hochburg des Impfens verbreitete sich schnell: So führten Hessen und Bayern schon 1807 eine Impfpflicht ein. Zeitgleich traten auch die Dennoch gab es erst in den 1960er Jahren in Europa flä- Vorläufer der zeitgenössischen Impfgegner auf den Plan. Ein chendeckenden Impfschutz gegen die sogenannten ›Kinder- prominenter Vertreter war Immanuel Kant. Der Aufklärungs- krankheiten‹, die gefährliche Komplikationen mit sich brin- philosoph warnte, mit den Erregern könnten dem Menschen gen können. Besonders eifrig geimpft wurde in der ehemali- »tierische« Wesenszüge eingeimpft werden. Das Impfen soll- gen ddr, wo die Überlegenheit des sozialistischen Gesund- te rasch zur Projektionsfläche zahlreicher Ängste werden. In heitswesens demonstriert werden sollte und der Kampf ge- den 1920er Jahren gab die »Reichs-Impfgegner-Zentrale« mit gen Röteln, Mumps, Masern und Co. zu einem Staatsziel er- Sitz in Berlin die Monatsschrift »Der Impfgegner« heraus. hoben wurde. Dank Impfpflicht und organisierter Impfun- Dennoch wurden Impfkampagnen gegen die gefürchteten gen in Schulen und Betreuungseinrichtungen gelang es, wei- Pocken konsequent fortgesetzt. Im Jahr 1980 erklärte die te Teile der ostdeutschen Bevölkerung zu immunisieren. An- Weltgesundheitsorganisation (who) Pockenviren schließ- ders in der brd, wo die Gesundheitsbehörden auf Freiwillig- lich als weltweit ausgerottet. Damit sind sie die einzige Infek- keit setzen. Nach der Wiedervereinigung sanken die deutlich tionskrankheit, die der Mensch bislang besiegte. höheren Quoten in den neuen Bundesländern. Seit 1967 führt die who weltweite Impfkampagnen durch. Erreger blieben lange unentdeckt Noch im Juli 2020 warnte sie vor deutlich niedrigeren Impf raten infolge der Corona-Pandemie, insbesondere in ärmeren Obgleich die Erreger der Pocken und anderer Epidemien Ländern. Bis zu 30 Impfkampagnen gegen Masern mussten zunächst unbekannt blieben, konnten zahlreiche Forscher abgesagt werden. an Jenners Entdeckung der Immunität anknüpfen. Der fran- zösische Chemiker Louis Pasteur (1822–1895) gilt als Weg bereiter der Mikrobiologie. Er stellte Impfstoffe gegen Geflü- gelcholera, Tollwut sowie Milzbrand her. Zugleich begründe- te er die moderne Massenproduktion mit der Schaffung ei- ner Firma, die hunderttausende Impfdosen jährlich vertrieb. Dem deutschen Mediziner Robert Koch gelang der Nachweis der Erreger von Milzbrand (1876) und Tuberkulose (1882). Emil von Behring, ein Schüler Kochs, entwickelte Impfstoffe in Form von Blutserum gegen Diphtherie und Tetanus. Er er- Dr. Andrea Exler ist Medizinjournalistin hielt 1901 den ersten Nobelpreis für Medizin. Nachdem der in Frankfurt / Main. Zusammenhang zwischen Erregern und Infektionskrankhei- Andrea.Exler@web.de
impfen: ein schutz fürs leben 10 Wie Impfstoffe wirken mdk forum Heft 4 /2020 Impfstoffe sind die medizinische Errungenschaft in der Menschheitsgeschichte. Bei einer Imp- fung gilt es, dem Immunsystem eine Infektion vorzutäuschen, ohne dass der Impfling tatsäch- lich erkrankt. die palette an Impfstoffen, die aktuell zum Schutz vor wirken die Maßnahmen, die einen Mikroorganismus un- Infektionskrankheiten bereitstehen, rettet jährlich schät- schädlich machen, dass er einen geringeren Reiz auf das Im- zungsweise zwei bis drei Millionen Menschen auf der Welt munsystem ausübt. Dadurch muss er mehrmals oder immer das Leben. Dabei ist die Herstellung eines wirksamen Impf- wieder verabreicht werden, um einen Immunschutz zu erzeu stoffes ein Balanceakt. Die Vakzine muss effektiv sein, darf gen beziehungsweise zu erhalten. den Impfling aber nicht gefährden. Der Kontakt mit einer ab- geschwächten Erreger-Variante oder abgetöteten Erregern Welche Impfstoffe es zurzeit gibt soll eine Infektion vortäuschen. Das ›trainiert‹ die Immunab- wehr. Begegnet sie dann im Ernstfall dem Virus oder Bakteri- Als Lebendimpfstoffe werden in der Regel solche Viren um tatsächlich, stehen Immunzellen und Antikörper bereit, verwendet, die sich nicht (mehr) gut in menschlichen Zellen die die Eindringlinge abwehren, bevor sie sich im Körper vermehren können. Oder sie enthalten einen verwandten, ausbreiten können. für den Menschen ungefährlichen Erre- ger, wie das Kuhpockenvirus oder Bak- Impfung ahmt Das Prinzip »Impfung« terien, die beim Rind, nicht jedoch beim natürliche Infektion Menschen eine Tuberkulose verursachen nach Dem Grundprinzip der Impfung kam man schon vor können. Die Impfungen gegen Masern, mehr als tausend Jahren in China und im Nahen Osten auf Mumps, Röteln, Gelbfieber, Windpocken, die orale Polio- die Spur. Menschen waren gegen die Pocken gefeit, wenn sie Vakzine, Tuberkulose-Impfung und eine über die Nase ver- sie überlebt hatten oder wenn ihnen über eine kleine Schnitt- abreichte Influenza-Impfung erfolgen mit Lebendimpfstof- wunde ein wenig Material ausgetrockneter Pocken-Pusteln fen. Durch Hitze oder Chemikalien abgetötete Erreger oder der Erkrankten übertragen wurde. einzelne Bestandteile von Mikroorganismen, wie inaktivier- Die meisten, die auf diese Weise geimpft wurden, waren te Toxine oder gentechnisch hergestellte einzelne Bausteine, lebenslang immun. Doch insgesamt waren die Folgen schwer können das Immunsystem ebenfalls zu einer Schutzreaktion absehbar, bei rund drei von 100 Geimpften kam es ungewollt anregen. Nach diesem Prinzip funktionieren etwa Impfstoffe zu einer schweren bis tödlichen Pockenerkrankung. Der bri- gegen Keuchhusten, Diphtherie, Tetanus, Hepatitis A oder B, tische Arzt Edward Jenner entdeckte, dass die auf den Men- humane Papillomaviren (hpv), Influenza, Meningokokken schen übertragbaren, aber für ihn ungefährlichen Kuhpocken oder Pneumokokken. auch gegen die echten Pocken immunisierten. Im Jahr 1796 impfte er einen kleinen Jungen erfolgreich mit dieser Lebend Was bei einer Impfung im Körper passiert impfung. Seine Entdeckung war der Startschuss für die Entwicklung Eine Impfung ahmt in gewisser Weise eine natürliche In- weiterer Impfstoffe. Dabei schlägt man auch heute noch zwei fektion nach, ohne dass der Impfling tatsächlich erkrankt. Hauptwege ein: Es wird mit abgeschwächten (lebenden) oder Unmittelbar nach Gabe der Impfdosis per Injektion in den mit abgetöteten Erregern experimentiert. Lebendimpfstoffe Muskel, unter die Haut, als Schluckimpfung oder über die erzeugen einen guten, anhaltenden Schutz, bergen aber die Nasenschleimhaut treffen die für den Körper fremden Be- Gefahr, bei Personen mit stark geschwächter Immunabwehr standteile auf die Zellen der angeborenen Immunantwort. eine heftige Infektion auszulösen. Dieses Risiko besteht bei Diese ›Abteilung‹ des Immunsystems erkennt die Eindring- Impfstoffen mit abgetöteten Erregern nicht. Allerdings be- linge recht grob an körperfremden ›Mustern‹ auf deren Ober-
impfen: ein schutz fürs leben 11 fläche. Werden Fremdmoleküle aufgespürt, schlagen infizierte Impfungen mit abgetöteten oder gar einzelnen Bestand- Körper- oder herbeigeeilte Immunzellen Alarm. Botenstoffe teilen des Erregers sind zwar ›sauberer‹, sie aktivieren die Im- werden ausgeschüttet, die weitere Abwehrzellen anlocken. munabwehr aber in der Regel nicht so stark. Das versucht Eine wichtige Aufgabe haben hier man durch die Zugabe von Wirkverstärkern, Adjuvanzien, Bleibender Eindruck die dendritischen Zellen (dc), die als auszugleichen. Am häufigsten kommen hier Aluminiumsal- bei der Immunabwehr Wächter überall im Körper stationiert ze zum Einsatz, die eine Art Depot bilden, aus dem Impfanti- sind. Sie erkennen die fremden, über gene an der Einstichstelle über längere Zeit in kleinen Men- die Impfung in den Körper eingebrachten Strukturen des Vi- gen abgegeben werden. rus oder Bakteriums, nehmen sie auf, verdauen sie und prä- Mit Ausnahme einiger weniger Lebendimpfstoffe erfor- sentieren die Bruchstücke auf ihrer Zelloberfläche. Dabei dern die meisten Impfungen eine Auffrischung, einen Boos- wandern die dc in den regionalen Lymphknoten und treffen ter, um die Antikörperantwort zu steigern. Gerade wenn der dort auf andere Immunzellen, wie T- und B-Zellen. Erkennen Erreger im natürlichen Lebensumfeld kaum noch anzutref- diese Zellen, die Teil der adaptiven ›lernfähigen‹ Immunab- fen ist, bewirkt ein mehrmaliges Boostern, dass sich ein wehr sind, mit ihren ganz speziellen Rezeptoren die präsen- schützendes Immungedächtnis ausbildet. Im Idealfall wan- mdk forum Heft 4 /2020 tierten Bruchstücke auf der Oberfläche der dc, werden sie dern Gedächtniszellen in das Knochenmark ein, von wo aus ihrerseits aktiv und vermehren sich. Als Folge werden Anti- sie jahrzehntelang Antikörper freisetzen. körper gegen die geimpften Krankheitserreger produziert. Im Idealfall hinterlässt der Impfstoff einen bleibenden Nebenwirkungen Eindruck bei der Immunabwehr. Gedächtniszellen werden angelegt, die über Jahre bis sogar Jahrzehnte permanent An- Eine Impfung soll den Körper anregen, einen Schutz gegen tikörper produzieren beziehungsweise sich bei einem erneu- den geimpften Erreger aufzubauen. Damit das geschehen ten Kontakt rasch dazu anregen lassen. Lebendimpfstoffe kann, müssen Abwehrzellen mobilisiert und aktiviert, im- prägen sich in der Regel tiefer in das Immungedächtnis ein munologische Botenstoffe ausgeschüttet werden. Schwellun- und hinterlassen einen breiteren Schutz als Totimpfstoffe. gen, Rötungen, Schmerzen an der Ein- Das hat mindestens zwei Ursachen: Die abgeschwächten Er- stichstelle oder auch leichtes Fieber, Impfkomplikationen reger vermehren sich – zwar in geringem Umfang und für Krankheitsgefühl und Kopfschmerzen sind selten eine kurze Zeit – im Körper des Geimpften. Dadurch sind die sind Anzeichen für ein ›Anspringen‹ der Immunzellen länger mit den Fremdmolekülen in Kontakt Immunantwort. Eine solche Impfreaktion hält Stunden bis und alarmiert. Außerdem vermehren sich eine kleine Anzahl wenige Tage nach der Impfung an und verschwindet dann von Impfviren IN den Körperzellen, was neben der Antikör- ohne Nachwirkungen. per-Produktion noch ein weitere wichtige Immunabteilung Impfkomplikationen sind sehr selten und treten bei weit auf den Plan ruft: Sogenannte zytotoxische T-Zellen können unter 0,01% der ausgegebenen Impfdosen auf. Zu Impfschä- virusinfizierte Zellen abtöten und selbst auch ein Immunge- den kommt es noch seltener, sie können zum Beispiel durch dächtnis ausbilden. eine allergische Reaktion auf eine im Impfstoff anhaltende Substanz ausgelöst werden. Anaphylaktische Schockreaktio- nen treten bei ungefähr einer je eine Million verabreichten Impfdosen auf. In jeder Gesellschaft gibt es Personen, deren Immunsys- tem geschwächt ist und / oder die aus anderen Gründen nicht geimpft werden können. Um die Ausbreitung eines Krank- heitserregers zu stoppen, reicht es jedoch aus, wenn ein Teil der Gemeinschaft immun ist. Wie hoch dieser Anteil, die Herdenimmunität, sein muss, hängt von der Infektiosität des Krankheitserregers ab. Für die hoch ansteckenden Ma- sern muss der Anteil bei 92 % liegen, für die Influenza-Grippe dagegen reichen 50 %. Dr. Ulrike Gebhardt arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin in den Bereichen Medizin und Biowissenschaften. gebhardt.bremen@t-online.de
impfen: ein schutz fürs leben 12 Die Angst vor dem Impfen mdk forum Heft 4 /2020 Häufig spielen diffuse Ängste eine Rolle, wenn Menschen eine Impfung von sich selbst oder der eigenen Kinder ablehnen. Verstärkt wird dieses Misstrauen durch Verschwörungsmythen, die sich im Internet rasant verbreiten und immer mehr Anhänger finden. »wähle, um zu heilen, eine Arznei, welche ein ähnliches heitsschädlich, so verbreitet wie im Umfeld von Homöopa- Leiden für sich erregen kann« – als Samuel Hahnemann, then und Anthroposophen. Auch die Rückkehr einer lebens- deutscher Arzt und Begründer der Homöopathie, dies bedrohlichen Seuche hat daran nichts geändert. Im Gegen- schrieb und für die neuartige Pockenimpfung eines briti- teil. Das Virus Sars-CoV-2 befeuert alte Verschwörungsfanta- schen Kollegen die Werbetrommel rührte, konnte er nicht sien, so dass der Berufsverband der Homöopathen bereits ahnen, dass 200 Jahre später radikale Impfgegner zu seinen um seinen guten Ruf bangt. Er warnt vor Fake-News und Gu- treuesten Anhängern zählen würden. Nirgendwo sonst ist rus der alternativen Medizin im Internet und in den sozialen der Irrglaube, Vakzine seien eine »Störung des ewigen Kreis- Medien. laufs des Lebens« und deshalb überflüssig oder gar gesund- Empfänglich für irreführende Informationen Gesundheitsbehörden beobachten diese Entwicklung bereits seit langem mit Sorge. Das Robert-Koch-Institut (rki) beklagte vor ein paar Jahren, dass eine kleine Minderheit radikaler Impfgegner das Netz zunehmend mit Impfmythen versorgt und damit Eltern nachhaltig verunsichert. Wie seriös die Informationen sind, sei für die Leser der Webseiten in der Regel nicht erkennbar, warnt das rki. Vom Glauben an einen »allumfassenden Nestschutz« durch Muttermilch und die Vorstellung, eine »echte« Erkrankung sei sicherer und löse den gleichen Schutz wie eine Imp- fung aus, bis zur Mär, Zusatzstoffe wie Neues Virus – Aluminium oder Queck silber würden alte Verschwörungs Impfstoffe vergiften, ist da die Rede. fantasien Längst widerlegte Behauptungen wer- den als Wahrheiten verbreitet, die angeblich von der Medi- zin- und Pharmalobby u nterdrückt würden. Nebenwirkun- gen und Risiken einer Impfung, so der pauschale Vorwurf der Gegner, seien unkalkulierbar. Das rki schätzt, dass etwa 2 bis 5 % der Bevölkerung er- klärte Impfgegner sind; weitere 20 bis 30 % seien empfäng- lich für irreführende Informationen und gelten als Impf skeptiker. Impfmüdigkeit zählt die who mittlerweile zu den zehn größten Gefahren für die Gesundheit. Das Impfstoff-Ver- trauensprojekt der britischen Anthropologin Heidi Larson, das sich zum Ziel gesetzt hat, weltweit frühzeitig Gerüchte gegen Impfstoffe aufzuspüren, veröffentlichte Ende vergan- genen Jahres in der Fachzeitschrift Lancet Daten über die
impfen: ein schutz fürs leben 13 Impfmüdigkeit in 149 Ländern. Danach lag die Impfbereit- Lamberty. Wobei gern verschwiegen wird, dass es dabei nicht schaft in Deutschland 2015 bei 52 % und stieg bis 2020 auf um lebendige Krankheitserreger, sondern um inaktive Be- 58 %. Finnland schnitt mit 78 % am besten ab; Frankreich am standteile der Giftstoffe geht – um einen Bruchteil der Milli- schlechtesten. Larsons Projektgruppe belegte in einer weite- arden von Keimen, die im Fall einer Infektion ein Kind fluten. ren Studie die große Wirkung von Falschinformationen in Diese diffusen Ängste mischen sich den sozialen Medien. Das Gerücht eines vermeintlichen nach Ansicht von Lamberty mit einer Krisen machen Whistleblowers, wonach ein covid-19-Impfstoff bei 97 % der ideologisch verbrämten Verschwörungs- empfänglich für Geimpften zur Zeugungsunfähigkeit führte, ließ die Impfbe- geschichte. Nazi-Kampfschriften agitier Lügen reitschaft der Befragten – trotz fehlender Belege – prompt ten bereits früh gegen die »verjudete um sechs Prozentpunkte sinken. Schulmedizin« und gegen von Juden erfundene Impfungen, mit denen die »Arier« vergiftet werden sollten. Lamberty ver- Gerüchte halten sich beharrlich mutet, dass Krisen wie die aktuelle Pandemie die Menschen für derartige Lügen wieder empfänglicher machen. Seriöse Ganz oben auf der Liste gängiger Impfmythen steht seit Aufklärer hätten keine Chance. Studien zeigten, dass Ver- mdk forum Heft 4 /2020 vielen Jahren das Gerücht, die Schutzimpfung gegen Masern schwörungsgläubige nicht zwischen Aussagen von Experten verursache bei Kindern Autismus. Grundlage ist eine kleine und Laien bei der Frage der Glaubwürdigkeit unterscheiden. Studie, die der britische Chirurg Andrew Wakefield 1998 in Impfskeptiker seien keine unwissenden Wissenschaftsleug- einem Fachblatt veröffentlichte. Wakefields angebliche Ent- ner, warnt Heidi Larson in ihrem gerade auf Englisch er- deckung, unter anderem finanziert von einem impfkritischen schienenen Buch über Impfgerüchte. Sie seien auf der Suche Anwalt, verbreitete sich rasant und verunsicherte Millionen nach Orientierung; ihre Ängste und Zweifel sollte man ernst Eltern. Erst zehn Jahre später wies die britische Ärztekam- nehmen. mer nach, dass die Ergebnisse gefälscht, 2 bis 5% erklärte die Daten manipuliert und die Wissen- Meinungsmache im Internet? Impfgegner schaftler bestochen worden waren. 2010 wurde Wakefield mit Berufsverbot be- Der Mainzer Direktor der Kinder- und Jugendmedizin legt. Er selbst sieht sich als Opfer einer Verschwörung der Fred Zepp, zugleich Mitglied der Ständigen Impfkommissi- Weltgesundheitsorganisation und weiterer Wissenschafts- on am rki, hat eine weitere Erklärung für das wachsende organisationen. Misstrauen gegen Impfungen. Er sieht die Medizin als Opfer Wakefields Kampagne ist ein Grund, warum die hochan- ihrer eigenen überwältigenden Erfolgsgeschichte. Die Ein- steckende Masernerkrankung bis heute nicht, wie erhofft, dämmung von gefährlichen Viruserkrankungen durch Impf- ausgerottet ist. 97 % der Kinder, die in Deutschland einge- programme habe die Furcht vor Erkrankungen und deren schult werden, sind zwar einmalig gegen Masern geimpft, Risiken aus der Wahrnehmung der Menschen verschwinden aber nur 93 % haben eine Zweitimpfung, und in einigen Län- lassen, schreibt er in einem Beitrag für die Monatsschrift dern wie Baden-Württemberg ist die Quote deutlich geringer. Kinderheilkunde. Ist die Bedrohung – beispielsweise durch Das Bundesgesundheitsministerium hat reagiert: Seit März das Polio-Virus, das nachweislich durch Impfung und Herden gilt eine Masern-Impfpflicht beim Zugang zu Schulen und immunität ausgerottet wurde – nicht mehr präsent, so wür- Kitas und für Beschäftigte in Betreuungs-, Gesundheits- und den vermeintliche Impfstoffnebenwirkungen plötzlich als Pflegeeinrichtungen. Die Mainzer Sozialpsychologin Pia Lam- größeres Risiko wahrgenommen. Irreführende Berichte ver- berty schreibt in ihrem Buch Fake Facts: »Wenn Impfmythen stärkten diese Sicht und richteten einen großen Schaden so verbreitet sind, dass Masern wieder zum Problem werden, an. Zepp ist überzeugt, dass die Einstellung der Bevölkerung ist es nicht mehr lustig.« in wachsendem Umfang durch Meinungen im Internet be- Ähnlich langlebig wie der Autismus-Vorwurf ist die Be- stimmt wird. hauptung eines französischen Arztes, es gebe einen Zusam- Was tun? Sollte man Impfmythen ignorieren? Mehr Auf- menhang zwischen der Impfung gegen Hepatitis B und dem klärung in Schulen, fordert das Robert-Koch-Institut. Mehr Ausbruch von Multipler Sklerose. Mehrere epidemiologische Überzeugungsarbeit, empfiehlt der Deutsche Ethikrat. Der Untersuchungen, unter anderem an der Berliner Charité, Impfschutz der Kinder sei keine reine Privatsache, sondern widerlegten bereits vor der Jahrtausendwende diese These. eine moralische Verpflichtung. Der Mediziner Fred Zepp Eine Studie im Auftrag der französischen Regierung kam so- sieht vorrangig die Kinderärzte in der Pflicht. Sie sollten gar zu dem Ergebnis, dass Multiple Sklerose unter Geimpf- Missverständnisse ansprechen, die das Vertrauen in Impfun- ten seltener auftrat als bei Nicht-Geimpften. Dennoch kur- gen beschädigen. siert noch heute das Gerücht, Impfungen verursachten Auto immunerkrankungen. Diffuse Ängste und Verschwörungsgeschichten Aber warum ranken sich um den kleinen Piks, der Leben retten kann, so viele Mythen? Wie kann es sein, dass eine Schutzimpfung mehr Ängste hervorruft als die Erkrankung Gabi Stief hat viele Jahre als Hauptstadt- selbst? »Weil man etwas in den Körper gespritzt bekommt, korrespondentin für die Hannoversche das man nicht versteht«, vermutet Sozialpsychologin Pia Allgemeine Zeitung geschrieben und arbeitet als freie Journalistin in Hannover. gabi-stief@gmx.de
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