Ein Jahr Gewässerforschung - IGB Berlin

 
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Ein Jahr Gewässerforschung - IGB Berlin
Forschen für die Zukunft unserer Gewässer

JAHRESFORSCHUNGSBERICHT 2021        Biodiversität
                                    Die Lebensräume für
Ein Jahr                            Süßwasserarten schwinden

Gewässerforschung
~
                                    Umweltwandel
                                    Wasserknappheit stellt Städte
                                    vor Herausforderungen

                                    Ökosystemleistungen
                                    Bergbau und Industrie
                                    belasten Fließgewässer
Ein Jahr Gewässerforschung - IGB Berlin
FOTO: SOLVIN ZANKL

                     Jahresforschungsbericht 2021
Ein Jahr Gewässerforschung - IGB Berlin
Angelfischerei           Forschen für die Zukunft unserer Gewässer
      Aquakultur und
      Aquaponik                Das IGB ist das größte deutsche und eines der international führenden
                               Zentren für die Binnengewässerforschung. Unsere Vision ist es, aquatische
      Biodiversität
                               Systeme in all ihrer Komplexität zu verstehen und mit diesem Forschungs-
      Dialog und
                               wissen den nachhaltigen Umgang mit gewässerbasierten Ressourcen und
      Transfer                 Ökosystemen zu unterstützen.

      Erbgut und
      Evolution
                               Wir denken: wissenschaftliche Erkenntnisse, die auf exzellenter Forschung
                               beruhen, sind eine zentrale Grundlage für kluge Entscheidungen. Ein besse-
      Gewässerökosysteme       res Verständnis der Gewässer und all ihrer ökologischen Aspekte unterstützt
                               Politik und Gesellschaft dabei, globalen Herausforderungen zu begegnen
      Nutzung und
      Management               und Gewässer zum Wohl von Mensch und Natur zu nutzen und zu erhalten.

      Schadstoffe und          Auf den folgenden Seiten stellen wir Ihnen ausgewählte Forschungsergeb-
      Belastungen
                               nisse und Aktivitäten aus dem Jahr 2021 vor. Sie sind verschiedenen
      Umweltwandel             Themenbereichen zugeordnet, in denen wir alles bündeln, was für Sie rund
                               um unsere Forschungsarbeit interessant sein könnte. Zu den einzelnen
      Verhaltensbiologie und   Themen finden Sie auf unserer Webseite weitere Informationen, Materia-
      Schwarmintelligenz
                               lien, Fachleute sowie Hintergründe und aktuelle Meldungen.
      Wasser- und
      Stoffkreisläufe
                               Wir wünschen viele Aha-Momente beim Lesen und Entdecken!

Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei                                                  3
Ein Jahr Gewässerforschung - IGB Berlin
VORWORT

          Liebe Leserin, lieber Leser,

                                                            Im Bestreben, Exzellenz und Relevanz
                                                            miteinander zu verbinden, geht das IGB
                                                            dazu über, seine Arbeit und Kommunika-
                                                            tion entlang neuer Programmbereiche zu
                                                            organisieren, die sich mit Fragen wie dem
                                                            besseren Schutz der aquatischen Biodiver-
                                                            sität oder der nachhaltigeren Nutzung und
                                                            Bewirtschaftung gewässerbasierter Öko-
                                                            systeme und Ressourcen im Anthropozän
                                                            beschäftigen.

                                                            Auf den folgenden Seiten stellen wir Ihnen
                                                            einige unserer Ergebnisse vor. Sie zei-
                                                            gen die wichtigsten wissenschaftlichen
                              FOTO: DAVID AUSSERHOFER/IGB   Erkenntnisse, die wir darüber gewonnen
                                                            haben, wie natürliche Systeme funktio-
                                                            nieren und wie sie auf Stressoren und
          Exzellenz und Relevanz – dafür steht das          Management reagieren. Sie verdeutlichen
          IGB. Zwei grundlegende Beobachtungen              auch, wie wichtig diese Erkenntnisse und
          spiegeln sich darin wider: Erstens muss           Aktivitäten für die Erreichung der Nachhal-
          wissenschaftliche Forschung höchsten An-          tigkeitsziele sind.
          sprüchen genügen, um wirklich von Bedeu-
          tung zu sein und nicht nur den Anschein           All dies wäre nicht möglich gewesen ohne
          zu erwecken. Zweitens ist es wichtig, über        die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit
          die Auswirkungen unserer Arbeit nachzu-           vielen Partnern und Akteuren, die unsere
          denken und darüber zu kommunizieren,              Forschungs-, Lehr- und Transferaktivitäten
          selbst wenn die Anwendungen nicht sofort          unterstützt und inspiriert haben. Das IGB
          ersichtlich oder komplizierter zu erklären        steht vor weiteren Fortschritten und stra-
          sind. Eine von Neugier getriebene Wissen-         tegischen Veränderungen. Ich danke Ihnen
          schaft ist der Schlüssel zu unserer Weiter-       für Ihren Beitrag zu diesen Entwicklungen
          entwicklung als Gesellschaft. Sie hält uns        und für die Unterstützung unserer Arbeit!
          wachsam für unvorhergesehene Konse-
          quenzen und unerwartete Zusammen-                 Ihr
          hänge und hilft gerade deshalb in späteren
          Stadien oft bei der Lösung anwendungsbe-
          zogener Fragen. Eine Richtschnur für die
          Relevanz sind die UN-Nachhaltigkeitsziele.        Luc De Meester
          Diese mehrdimensionalen Ziele ordnen die          Direktor
          großen Herausforderungen und Chancen,
          vor denen wir als Gesellschaften stehen.
          Und sie regen uns zum Nachdenken über
          die Zielkonflikte an, die ihre Verwirklichung
          oft behindern.

4                                                                            Jahresforschungsbericht 2021
Ein Jahr Gewässerforschung - IGB Berlin
Inhalt

6        Gute Nachrichten

         DIE UNSCHEINBAREN
10       Warum auch ganz kleine
         Gewässer schützenswert sind
                                                            Biodiversität: Die Lebensräume
         DIE L AST DER FLÜS SE
                                                            für Süßwasserarten schwinden
14       Über die Folgen des Bergbaus
                                                            Seite 24
         und der Industrie

         DIE KRISE
20       Wie der Klimawandel unsere
         Gewässer verändert

         SCHWINDENDE LEBENSR ÄUME
24       Für viele Süßwasserarten
         wird der Lebensraum knapp

         DIE VIELFALT
32       Welchen Wert hat Biodiversität?

         DIE GROS SE TROCKENHEIT
36       Gewässer- und Flächen-
         management gemeinsam
         betrachten
                                                            Umweltwandel: Wasserknapp-
         KÖPFE                                              heit stellt Städte vor Herausfor-
42       Auszeichnungen und neue                            derungen Seite 36
         Gesichter

44       Jahresrückblick

52       2021 in Zahlen

54       Struktur und Vertretungen

55       Impressum
                                                            Ökosystemleistungen: Bergbau
                                                            und Industrie belasten Fließge-
                                                            wässer Seite 14

Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei                                       5
Ein Jahr Gewässerforschung - IGB Berlin
Gute Nachrichten

HR Excellence in
Research Award                                FOTO: BIRGIT MÜLLER

Für unsere Personalentwicklungsstra-
tegie wurden wir von der Europäischen       Natürliche
Kommission abermals mit dem „HR
Excellence in Research Award“ aus-          Selbstreinigungskraft
gezeichnet. Alle drei Jahre wird das
                                                        Viele Arzneimittel oder Industriechemika-
Institut nach dem HRS4R-Standard der
                                                        lien sind selbst für moderne Kläranlagen
EU begutachtet: Wurden die Arbeits-
                                            eine große Herausforderung und so gelangen diese
und Forschungsbedingungen für unsere
                                            Substanzen und ihre Abbauprodukte mit dem auf-
Mitarbeitenden verbessert? Und sind
                                            bereiteten Abwasser als organische Spurenstoffe in
die weiteren Schritte, die wir uns für
                                            Gewässer. Dort belasten sie Trinkwasserressourcen,
die nächsten drei Jahre vorgenommen
                                            Ökosysteme und aquatische Organismen. Doch sie
haben, zielführend und ambitioniert ge-
                                            werden auch abgebaut, vor allem im Flussbett, wo
nug? Die Gutachter*innen befanden: ja!
                                            sich Fluss- und Grundwasser mischen. Die sogenann-
Für die nächsten drei Jahre haben wir
                                            te hyporheische Zone ist maßgeblich für die enorme
uns u. a. zum Ziel gesetzt, die Chancen-
                                            Selbstreinigungskraft von Gewässern verantwortlich.
gleichheit weiter zu verbessern, unsere
                                            IGB-Forschende fanden heraus, dass die Spurenstoff-
Onboarding-Prozesse zu optimieren,
                                            konzentration dort deutlich stärker abnimmt als im
mehr hybrides Arbeiten zu ermögli-
                                            Oberflächenwasser. Je mehr Wasser dabei ins Sedi-
chen, die Kommunikation innerhalb des
                                            ment eindringt und ausgetauscht wird, desto besser.
Instituts zu intensivieren und unseren
                                            Ein unverbautes Flussbett sowie Strukturen aus Tot-
Nachwuchswissenschaftler*innen eine
                                            holz oder großen Steinen fördern diesen Prozess und
gezieltere Karriereberatung anzubieten.
                                            helfen, die Belastung mit Spurenstoffen abzumildern.
DR. KIRSTEN POHLMANN,
kirsten.pohlmann@igb-berlin.de              BIRGIT MARIA MÜLLER, birgit-maria.mueller@igb-berlin.de

    www.igb-berlin.de/news/hr-excellence-   DR. JÖRG LEWANDOWSKI, joerg.lewandowski@igb-berlin.de
R
    research-award                          R www.igb-berlin.de/news/spurenstoffe-hyporheische-zone

6                                                                          Jahresforschungsbericht 2021
Ein Jahr Gewässerforschung - IGB Berlin
Evolution der Geschlechter
                                              Seit etwa 100 Jahren untersuchen Forschende die Evolution
                                              der Geschlechtschromosomen – trotzdem sind viele Aspekte
                                       der Geschlechtsentwicklung bei Wirbeltieren noch immer rätsel-
                                       haft. Kein Wunder, die Arten der Vermehrung sind unvorstellbar
                                       vielfältig und teilweise erst durch neue molekulargenomische Me-
                                       thoden nachweisbar. Forschende unter Leitung von Matthias Stöck
                                       vom IGB und Lukáš Kratochvíl von der tschechischen Faculty of
                                       Science of the Charles University in Prag haben mit einem interna-
                                       tionalen Expertenteam das Wissen zusammengefasst und in zwei
                                       Sonderausgaben der Fachzeitschrift Philosophical Transactions of
                                       the Royal Society B veröffentlicht. Ein einzigartiger wissenschaft-
                                       licher Überblick.

                                       PD DR. MAT THIAS STÖCK, matthias.stoeck@igb-berlin.de
                                       R www.igb-berlin.de/news/evolution-der-geschlechter

Fischereiwissen
      Aktuelle Studien und Forschungs-
      erkenntnisse zu den Themen
Berufs- und Angelfischerei, Aquakultur,
Bestandsmanagement und Artenschutz
in Binnen-, Küsten- und Meeresöko-
systemen bietet die neue Zeitschrift für
Fischerei (kurz: FischZeit). Alle Beiträge
sind begutachtet, deutschsprachig und                                                       FOTO: SEBASTIAN HENNIGS

online frei zugänglich. Herausgeber ist
das Fachgebiet für Integratives Fische-
reimanagement an der Humboldt-Uni-                   Die Rückkehr
versität zu Berlin in Kooperation mit                       Nach über 30 Jahren wurden 2021 wieder aus-
dem IGB. Wir wünschen eine interes-                         gewachsene Exemplare des Europäischen Störs
sante Lektüre!                                       in Elbe und Dordogne gesichtet. Sie stammen aus dem
PROF. DR. ROBERT ARLINGHAUS,                         gemeinsamen Wiedereinbürgerungsprogramm des
robert.arlinghaus@igb-berlin.de                      IGB und des französischen INRAE, das vor mehr als
R www.zeitschrift-fischerei.de                       einem Vierteljahrhundert startete. In einem Interview
                                                     erzählt IGB-Forscher Jörn Geßner von Hindernissen
                                                     und Glücksfällen auf dem Weg dorthin. Und er macht
                                                     klar, warum die Störwiederansiedlung in Nord- und Ost-
                                                     see trotz der bisherigen Erfolge schwierig bleiben wird:
                                                     Ausbaupläne für die Oder und neuerdings auch für die
                                                     Elbe gefährden den Lebensraum dieser und zahlreicher
                                                     weiterer Arten in unseren Flusssystemen.

                                                     DR. JÖRN GESSNER, joern.gessner@igb-berlin.de
                                                     R Interview lesen: www.igb-berlin.de/news/der-stoer-kehrt-zurueck

Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei                                                                7
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GUTE NACHRICHTEN

                                          Birken gegen Mikro-
                                          plastik
                                                 Mithilfe von Bäumen könnten mikroplas-
                                                 tikbelastete Böden saniert werden. Wie
                                          Forschende unter Leitung des IGB zeigten, nehmen
                                          Hänge-Birken während der Wachstumsphase
                                          Mikroplastik über die Wurzeln auf. Dafür markierten
                                          die Forschenden Mikroplastikkügelchen (5 – 50 μm)
                                          mit fluoreszierendem Farbstoff und gaben sie in die
                                          Erde von eingetopften Bäumen. Nach fünf Mona-
                                          ten untersuchten sie Wurzelproben mithilfe von
                                          Fluoreszenz- und konfokaler Laser-Scanning-Mikro-
                                          skopie und fanden fluoreszierendes Mikroplastik
                                          in verschiedenen Abschnitten und Schichten des
                                          Wurzelwerks. Der prozentuale Anteil der Wurzel-
                                          abschnitte mit Mikroplastikpartikeln betrug bei den
                                          Versuchsbäumen 5 bis 17 Prozent.

                                          DR. KAT AUSTEN, kat.austen@igb-berlin.de
                                          DR. FRANZ HÖLKER, franz.hoelker@igb-berlin.de
    FOTO: KAT AUSTEN                      R   www.igb-berlin.de/news/birken-entfernen-mikroplastik-
                                              aus-dem-boden

Umweltsinn
            Warum man beim Werben
            für mehr Gewässerschutz in
Deutschland nicht zu sehr auf Fisch-
arten setzen sollte, haben Forschende
in einer Längsschnittstudie mit jeweils
1.000 Befragten aus Deutschland,
Frankreich, Norwegen und Schweden
herausgefunden. Im Vergleich zur Be-
völkerung in den anderen europäischen
Ländern haben Deutsche nur wenig
Bezug zu Fischen. Was aber nicht heißt,
                                          Ausblick: 100 Jahre SIL
sie hätten keine ökologischen Grund-      Wir freuen uns, vom 7. bis zum 10. August
werte: Sie sind empfänglicher für Argu-   2022 den 36. Kongress der Internationalen Ge-
mente hinsichtlich der Wasserqualität     sellschaft für Limnologie (SIL) als Hybrid-Kon-
oder des ganzheitlichen Biodiversitäts-   ferenz auf dem Campus der Freien Universität
schutzes.                                 Berlin auszurichten!

DR. CARSTEN RIEPE, riepe@igb-berlin.de    R www.sil2022.org
R www.igb-berlin.de/news/umweltsinn

8                                                                      Jahresforschungsbericht 2021
Ein Jahr Gewässerforschung - IGB Berlin
FOTO: ANDREAS JECHOW/IGB

                     Die Farbe von Seen
                     Wenn Starkregenereignisse Stoffe vom Land in Seen ein-
                     tragen, können sich die Gewässer stark verfärben. Humin-
                     stoffe verursachen etwa eine Braunfärbung. Sie vermindert
                     die Lichtdurchlässigkeit und schränkt das Wachstum von
                     Phytoplankton und Makrophyten ein. Nährstoffe bewirken
                     das Gegenteil: Sie stimulieren das Algenwachstum und
                     führen dadurch zu einer Grünfärbung. Unklar ist jedoch,
                     wie sich der gleichzeitige Eintrag beider Stoffklassen aus-
                     wirkt. Mit Unterstützung des AQUACOSM Transnational
                     Access Programms untersuchten im Sommer 2021 über
                     40 Forschende solche Auswirkungen im Seelabor des IGB.
                     Die eingesetzten Methoden reichten von der Fernerkun-
                     dung mit Drohnen über Laboranalysen bis zur Dauerüber-
                     wachung mit Multiparametersonden. Dabei zeigten sich
                     starke Reaktionen der Gewässer durch die Stoffeinträge,
                     deren Wirkungen sich gegenseitig beeinflussten. Betrof-
                     fen waren nicht nur die Zusammensetzung und die Bio-
                     masse des Phytoplanktons, sondern auch seine Tiefenver-
                     teilung. Realistische Vorhersagen, wie sich klimabedingte
                     Starkregenereignisse auswirken werden, müssen deshalb
                     die Wechselwirkungen aller relevanten Faktoren berück-
                     sichtigen.

                     DR. STELLA A. BERGER, stella.berger@igb-berlin.de
                       DR. JENS C. NEJSTGAARD, jens.nejstgaard@igb-berlin.de
Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei                                          9
                     R www.aquacosm.eu
Ein Jahr Gewässerforschung - IGB Berlin
Die Unscheinbaren

     Warum auch ganz
     kleine Gewässer
     schützenswert sind
     5 Fragen an 5 Forschende

     Kleine Gewässer, also natürliche Teiche, Sölle und
     Tümpel, machen weltweit 30 bis 50 Prozent der
     stehenden Gewässer aus. Doch aufgrund ihrer
     geringen Größe wurde lange unterschätzt, welche
     Bedeutung sie haben. Noch immer finden sie in
     Regelwerken und gesetzlichen Bestimmungen
     deshalb kaum Berücksichtigung. Inzwischen weiß
     man: Wegen ihrer Häufigkeit, Heterogenität, außer-
     gewöhnlichen Biodiversität und biogeochemischen
     Potenz spielen Kleingewässer eine wichtige Rolle
     in Einzugsgebieten, Landschaften und möglicher-
     weise sogar auf kontinentaler Ebene, die in keinem
     Verhältnis zu ihrer geringen Größe steht.

     FOTO: STEVEN KLEINSASSER AUF UNSPLASH

10                                           Jahresforschungsbericht 2021
PD DR. THOMAS MEHNER                                          DR. SABINE WOLLR AB

Herr Mehner, in Ihrem kürzlich gestarteten EU-              Frau Wollrab, Sie modellieren die räumliche
Projekt PONDERFUL dreht sich alles um Klein-                Verteilung von Arten in der Landschaft. Wie
gewässerökosysteme. Dafür sehen Sie sich ein                wichtig ist dabei ein solches Netz aus Kleinge-
Gebiet im Nordosten Deutschlands genauer an.                wässern? Werden wir Arten und Populationen
Welchen Nutzen haben Sölle und Tümpel dort                  verlieren, wenn die Zahl der Kleingewässer
und anderswo?                                               dramatisch abnimmt?

Kleingewässer wie Sölle, Tümpel, Pfuhle und                 Gerade Kleingewässer wie die Sölle in Nordost-
Weiher werden in der seenreichen Landschaft                 deutschland bieten Lebensraum für viele Arten.
in Nordostdeutschland oft übersehen oder als                Damit erhöhen sie signifikant die Biodiversität in
wenig wertvoll empfunden. Zu unrecht, denn sie              der Landschaft. Dabei hat die Anzahl und räumli-
sind von zentraler Wichtigkeit für die aquatische           che Distanz der Kleingewässer zueinander einen
Biodiversität, etwa als Trittsteinbiotope für nahe-         großen Einfluss auf die Artenvielfalt. Je weniger
zu 70 Prozent der regionalen Süßwasserarten in              Kleingewässer und je größer die Distanz zwi-
Europa. Sie schaffen inselartige Verbindungen               schen ihnen, desto geringer ist die Wahrschein-
zwischen entfernten Habitaten und ermöglichen               lichkeit, dass Arten diese Gewässer erreichen.
so die Rück- oder Neubesiedlung von Lebens-                 Vor allem für Arten, die passiv verteilt werden
räumen. Zudem spielen diese Kleingewässer                   wie Planktonorganismen oder Arten mit gerin-
eine wichtige Rolle bei der Abschwächung von                ger Reichweite, hat die Gewässerdichte einen
Klimafolgen und bei der Klimaanpassung und                  großen Einfluss. Ein Verlust von Kleingewässern
erbringen vielfältige Ökosystemleistungen, etwa             durch Austrocknung oder andere Faktoren ist
für die Regulierung des Kohlenstoffzyklus, die              somit immer ein Verlust von wichtigem Lebens-
Wasserversorgung, den Hochwasserschutz, die                 raum. Da wir davon ausgehen müssen, dass
Grundwasserneubildung oder auch die Naherho-                Kleingewässer im Zuge der Klimaerwärmung
lung. In unserer Region haben wir allerdings 70             häufiger austrocknen oder dauerhaft trocken
bis 80 Prozent der Sölle und Pfuhle durch Aus-              fallen, wird das auch die Anzahl und Abundanz
trocknung verloren – auch in Folge der vergan-              von Arten negativ beeinflussen. Tatsächlich
genen Dürre-Sommer. Welche Folgen das für die               deuten unsere Modellanalysen darauf hin, dass
Biodiversität und die Ökosystemdienstleistun-               es hier kritische Untergrenzen in der Lebens-
gen hat, ist noch nicht vollständig übersehbar.             raumverfügbarkeit gibt, die von der Reichweite
thomas.mehner@igb-berlin.de                                 der einzelnen Arten abhängen. Für belastbare
                                                            Zahlen sind hier allerdings weitere Forschungs-
                                                            arbeiten nötig. Kleingewässer sind ja nicht nur
                                                            Habitate für aquatische Organismen, sondern
                                                            auch eine wichtige Wasserquelle für Landtiere.
                                                            Es ist daher sehr wichtig, diesen Lebensraum zu
                                                            schützen.
                                                            sabine.wollrab@igb-berlin.de

Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei                                                   11
DIE UNSCHEINBAREN

                   DR. MINA BIZIC                                    DR. CHRISTIAN WOLTER

Frau Bizic, auch Sie haben zuletzt Kleingewäs-         Herr Wolter, anders als Ihre Kolleg*innen haben
ser in einer nordostdeutschen Agrarlandschaft          Sie sich vor allem mit urbanen Kleingewässern
erforscht und u. a. mithilfe von eRNA unter-           beschäftigt, konkret mit den mehr als 400
sucht, wie sich die Art der Landnutzung auf die        städtischen Tümpeln, Kleinseen und Gräben
Lebensgemeinschaften im Wasser auswirkt.               in Berlin. Welche Rolle spielen diese Gewässer
Was haben Sie herausgefunden?                          für das Stadtklima, die Naherholung und die
                                                       Regenwasserbewirtschaftung und was folgt
Bei unserer Arbeit im Rahmen des Projekts              daraus für die Stadtplanung von morgen?
Bridging in Biodiversity Science (BIBS) haben wir
DNA und RNA aus der Umwelt genutzt, um ein             Urbane Kleingewässer sind sehr unterschied-
ganzheitliches Bild der Artenvielfalt im Untersu-      lich und reichen von gepflegten Parkgewässern
chungsgebiet zu erhalten. Einerseits nutzten wir       bis hin zu beinahe vergessenen, eingezäunten
die Tiefensequenzierung von Markergenen, um            Tümpeln. Dementsprechend unterschiedlich
die Verteilung von Organismen – von Bakterien          ist auch ihre Erholungsnutzung. Grundsätz-
bis zu Säugetieren – in den Kleingewässern und         lich sind Gewässer immer Anziehungspunkte
ihrer Umgebung zu verfolgen. Andererseits haben        für Erholungssuchende und Spaziergänger.
wir aus den RNA-Daten die Identität und die Gen-       Darüber hinaus sind sie für viele Stadtbewohner
expressionsmuster der aktiven Gemeinschaften           der erste oder sogar der Begegnungspunkt mit
extrahiert. Der Vergleich der DNA-Ergebnisse           Natur. Auch wenn innerstädtische Kleingewäs-
aus dem Teichwasser mit denen aus dem Sedi-            ser nicht gerade die Hotspots der Biodiversität
ment zeigte uns, dass es in der Vergangenheit          sind, so sind sie doch sehr wichtige Natur-Erfah-
durchaus eine Rolle spielte, ob das Gewässer von       rungsstätten. Und sie wirken sich positiv auf das
Wald, einer Wiese oder einem Acker umgeben             Stadtklima aus, indem sie zusammen mit der
war, während heute, nach Jahrzehnten intensiver        mehr oder weniger ausgeprägten Ufervegetation
Landnutzung, die biologische Vielfalt mehr oder        Verdunstungskühle produzieren, was lokal zur
weniger homogen ist. Die RNA-Analysen haben            Temperaturabsenkung führt. Wasserrückhalt
ergeben, dass auch diese homogenen Gemein-             in der Landschaft ist eine weitere wesentliche
schaften noch auf Einträge aus der Umgebung,           Funktion von Kleingewässern, die in Berlin noch
wie zum Beispiel die Düngung von Feldern,              ausbaufähig ist. Vielerorts wird das Regen-
reagieren – wenn auch nur für kurze Zeit. Obwohl       wasser über die Kanalisation abgeleitet und
also die intensive Landwirtschaft der letzten          fehlt dann in den Gewässern. In den trockenen
Jahrzehnte die biologische Vielfalt im Vergleich       Jahren von 2018 bis 2020 sind deshalb auch in
zu dem früheren Zustand bereits verändert hat,         Berlin viele Kleingewässer ganz oder beinahe
reagieren die Gemeinschaften weiterhin auf die         trockengefallen. Die Stadtplanung muss daher
Art der Landnutzung. Um die fortschreitende            vermehrt den Rückbau versiegelter Flächen
Verschlechterung der biologischen Vielfalt zu          im Einzugsgebiet nicht nur der Kleingewässer
verhindern, ist es daher unerlässlich, die unmittel-   vorantreiben und Dachentwässerungen u. a. vor
baren Auswirkungen der lokalen landwirtschaft-         Ort versickern lassen.
lichen Praktiken auf Kleingewässer zu verstehen,       christian.wolter@igb-berlin.de
und dafür bietet die Umwelt-RNA (eRNA) ein
hilfreiches Instrument.
mina.bizic@igb-berlin.de

12                                                                               Jahresforschungsbericht 2021
PROF. DR. HANS-PETER GROSSART

Herr Grossart, die angesprochenen Dürren, die               Für die Artenvielfalt dieser Ökosysteme ist dies
Versiegelung, aber auch Entwässerung graben                 verheerend, denn generell ist die Populations-
Kleingewässern in Städten buchstäblich das                  dichte in urbanen Habitaten oft sehr niedrig.
Wasser ab. Was passiert, wenn Gewässer zeit-                Populationen, die an diese Gewässer gebunden
weise austrocknen und wie erholen sie sich                  sind, z. B. Amphibien, sind durch lokale Extink-
davon?                                                      tionsereignisse sehr viel stärker gefährdet als
                                                            Populationen in größeren und besser vernetzten
Die Vereinten Nationen rechnen damit, dass in               Gewässern. Damit ist zu befürchten, dass die Ar-
den nächsten zehn Jahren 1,1 Milliarden mehr                tenvielfalt noch stärker abnehmen wird. Mit dem
Menschen in urbanisierten Gebieten leben wer-               zunehmenden Austrocknen der Gewässer und
den. Damit einher gehen eine Versiegelung der               dem Verschwinden von Arten aus der urbanen
Landschaft und starke Eingriffe in die Hydrologie           Landschaft verändern sich auch die Ökosystem-
von Gewässern. Das ist problematisch, denn                  funktionen, etwa das Reinigen der Gewässer, die
Kleingewässer in urbanen Gebieten trocknen                  Verfügbarkeit von Sauerstoff oder die Remine-
infolge höherer Temperaturen und längerer                   ralisierung von Kohlenstoff. Häufigere Wetter-
Dürreperioden schon heute öfter aus. Wie der                extreme gefährden diese wichtigen Funktionen
Kleingewässerreport 2020/21 des BUND zeigt,                 zusätzlich. So produzieren verschmutzte,
weisen 55,3 Prozent der Berliner Gewässer große             nährstoffreiche Gewässer deutlich mehr der
Mängel auf, weil sie z. B. trocken liegen oder sehr         schädlichen Klimagase Methan und Kohlendi-
stark zugewachsen sind. Nahezu 10 Prozent der               oxid. Diesen negativen Konsequenzen gilt es
Kleingewässer waren nicht mehr als solche er-               deshalb verstärkt durch nachhaltige Maßnahmen,
kennbar. Diese dramatischen Zahlen zeigen, dass             z. B. durch einen besseren Wasserrückhalt in der
viele Kleingewässer nicht mehr nur zeitweise                Landschaft, entgegenzuwirken.
austrocknen, sondern komplett verschwinden.                 hanspeter.grossart@igb-berlin.de

                                                            FOTOS: DAVID AUSSERHOFER/IGB , LENA GIOVANAZZI (1)
   „Mit dem zunehmenden
   Austrocknen der                                          Mehr erfahren:
   Gewässer und dem                                         R https://ponderful.eu
   Verschwinden von Arten                                   R www.urban-waters.org

   verändern sich auch die                                  Bizic et al. (2022). Land-use type temporarily affects active
                                                            pond community structure but not gene expression patterns.
   Ökosystemfunktionen.“                                    Molecular Ecology. Early view. https://doi.org/10.1111/
                                                            mec.16348

                                                            Ionescu et al. (2021). From microbes to mammals: agriculture
   Prof. Dr. Hans-Peter Grossart
                                                            homogenizes pond biodiversity across different land-use ty-
                                                            pes. ARPHA Conference Abstracts, 4, Article e65062. https://
                                                            doi.org/10.3897/aca.4.e65062

                                                            Onandia et al. (2021). Key drivers structuring rotifer com-
                                                            munities in ponds: insights into an agricultural landscape.
                                                            Journal of Plankton Research. 43(3), 396–412. https://doi.
                                                            org/10.1093/plankt/fbab033

Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei                                                                 13
Die Last der Flüsse

      Über die Folgen von
     Bergbau und Industrie

     Verunreinigungen aus dem Abbau fossiler Rohstoffe und der
     industriellen Produktion belasten Flusssysteme überall auf der
     Welt. IGB-Wissenschaftler*innen beschäftigen sich in Studien
     und Stellungnahmen mit den Quellen und Folgen dieser Belas-
     tungen, etwa an der Spree: Hohe Sulfatwerte und organische
     Spurenstoffe machen dem Fluss sowie den mit ihm verbunde-
     nen Ökosystemen zu schaffen und gefährden außerdem die
     Trinkwasserqualität in der Millionenmetropole Berlin. Das Pro-
     blem dürfte sich verschärfen, denn mit dem Klimawandel wird
     es wärmer und trockener in der Region, die bereits heute zu den
     niederschlagsärmsten Deutschlands zählt. Vor diesem Hinter-
     grund empfehlen IGB-Forschende auch ein besonders sorgsa-
     mes Vorgehen und die Garantie eines nachhaltigen Wasserma-
     nagements bei der Ansiedlung großer Industrievorhaben, wie
     etwa beim Elektroauto-Hersteller Tesla in Grünheide.

14                                                      Jahresforschungsbericht 2021
E
        ingriffe des Menschen in die Natur wur-
        den spätestens mit dem Industriezeital-
        ter zum Umweltproblem. Als bedenklich
        erwies sich etwa der Saure Regen, eine
Folge der Verbrennung fossiler Brennstoffe: Da-
bei gelangten große Mengen an Schwefel in die
Atmosphäre. Sie führten zu Sulfatbelastungen,
die Waldsterben auslösten und auch Gewässer
stark belasteten. Kraftwerke in Nordamerika
und Europa wurden deshalb in den 1980er Jah-
ren zur Rauchgasentschwefelung nachgerüstet.
In Deutschland sanken die atmosphärischen
Schwefeleinträge um 90 Prozent.

Trotzdem sind in Binnengewässern die Konzen-
trationen an Sulfat, das aus Schwefel gebildet
wird, in den letzten Jahrzehnten nahezu un-
verändert geblieben, wie eine Untersuchung
unter IGB-Beteiligung zeigt; in einigen Regionen            Die Hauptspree bei Spreewitz im Lausitzer Braun-
stiegen sie sogar. Auch in der Spree: In einigen            kohlerevier: Während Sulfat in gelöster Form nicht
Abschnitten des Flusses überschreiten die                   sichtbar ist, verursacht die große Fracht an schwer
Sulfatkonzentrationen zumindest zeitweise                   löslichen Eisenoxyhydroxiden eine starke orange-
den Trinkwassergrenzwert von 250 Milligramm                 braune Trübung des Flusswassers.
pro Liter. Die Spree wird in Berlin als indirekte           FOTO: TOBIAS GOLDHAMMER / IGB

Trinkwasserquelle genutzt; etwa durch Ufer-
filtration. Sulfat wird bei der Uferfiltration und
der technischen Trinkwasseraufbereitung nicht
abgebaut. „Deswegen mischt man es, falls nötig,             Braunkohleförderung wird die Sulfatabgabe in
mit Rohwasser anderer Brunnengalerien, um                   die Spree noch jahrzehntelang andauern.
den Grenzwert zu unterschreiten“, berichtet Jörg
Lewandowski.                                                SULFATRÜCKSTÄNDE FINDEN SICH AUCH IN
                                                            DEN SEDIMENTEN
Doch wie kommt es heute zu den hohen Sulfat-
konzentrationen im Wasser? Sie entstehen                    Sulfat beeinträchtigt nicht nur die Trinkwasser-
durch verschiedene menschliche Aktivitäten: Die             qualität, es beeinflusst auch die Stoffkreisläufe
Entwässerung von Mooren, Düngerauswaschun-                  von Kohlenstoff, Stickstoff und Phosphor. Die
gen aus landwirtschaftlich genutzten Böden so-              Folgen: Der Nährstoffgehalt in Gewässern steigt,
wie Abwässer aus Landwirtschaft und Industrie               Pflanzen- und Algenwachstum nehmen zu, es
spielen dabei eine Rolle. „Am relevantesten für             gibt mehr Nahrungsangebot für aquatische Or-
die Spree sind Einträge aus dem Tagebau“, sagt              ganismen. Daraus folgt ein Sauerstoffmangel im
Tobias Goldhammer. Noch immer wird im Ein-                  Wasser, der die weitere Freisetzung von Phos-
zugsbereich des Flusses Braunkohle abgebaut;                phat aus dem Sediment fördert – ein Teufels-
auf etwa 15 Prozent ihrer Länge durchfließt die             kreis. Sulfat und seine Abbauprodukte, insbeson-
Spree einen ca. 2.000 Quadratkilometer großen               dere Sulfid, können zudem giftig auf aquatische
Grundwasserabsenkungstrichter, Relikt des                   Lebewesen wirken.
ehemaligen Braunkohletagebaus südlich des
Spreewaldes. „In den offenen Abraumhalden ist               Auch in den Sedimenten der Spree haben IGB-
viel Schwefel gebunden, der in den kommenden                Forschende Sulfatrückstände aus dem Tagebau
Jahrzehnten langsam weiter durchoxidiert wird“,             gefunden, ebenso Eisen und Spurenmetalle wie
sagt der Forscher. Dabei entsteht Sulfat, das               Nickel und Kobalt – bis zu 90 Kilometer von der
ausgewaschen wird und über das Grundwasser                  Eintragsquelle entfernt. „Dies kann den Lebe-
in die Spree gelangt. Auch nach dem Ende der                wesen im Gewässer schaden“, sagt Doktorandin

Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei                                                    15
DIE L AST DER FLÜSSE

                                                                            Saurer Regen war ein
                                                                            Phänomen der 1980er
                                                                            Jahre. Doch obwohl
                                                                            die atmosphärischen
                                                                            Schwefeleinträge inzwi-
                                                                            schen stark gesunken
                                                                            sind, blieben die Sulfat-
                                                                            konzentrationen in Bin-
                                                                            nengewässern nahezu
                                                                            unverändert; in einigen
                                                                            Regionen stiegen sie
                                                                            sogar. Ein Zeichen
                                                                            dafür, dass andere
                                                                            Quellen an Bedeutung
                                                                            gewonnen haben.
                                                                            FOTO: LUCA BRAVO AUF
                                                                            UNSPLASH

Giulia Kommana. Während die Eisenkonzen-           Ausbaustufe will Tesla zudem jährlich 921.000
trationen entlang der Fließstrecke sinken, lässt   Kubikmeter Abwasser abführen. Je nach Markt-
sich Sulfat in gebundener Form im gesamten         entwicklung sind weitere Ausbaustufen geplant;
Spreelauf nachweisen: „Unter sauerstoffarmen       bis zu 40.000 Angestellte könnten einmal in der
Bedingungen kann Sulfat im Wasser in den           Gigafactory arbeiten. „Dann dürfte wesentlich
Sedimenten in Sulfid umgewandelt werden und        mehr Abwasser anfallen, nicht nur wegen Tesla
als Eisensulfid (FeS2) ausfallen. Und da das An-   selbst, sondern auch weil sich Zulieferbetriebe
gebot von Sulfat im Wasser bis Berlin sehr groß    und zahlreiche Menschen in der Gegend ansie-
bleibt, geschieht dies auch“, erklärt die Nach-    deln werden“, erläutert Jörg Lewandowski.
wuchswissenschaftlerin.
                                                   Wo und wie die Tesla-Abwässer zukünftig ge-
TESLAS GIGAFACTORY UND DIE SPREE                   klärt werden, ist aktuell noch ungewiss. In den
                                                   ersten zehn Jahren ist eine Ableitung über das
Weiter belastet werden dürfte die Spree zu-        Klärwerk Münchehofe in die Erpe geplant, einem
künftig auch durch die neue Tesla-Gigafactory in   Zufluss der Spree. Danach sollen die Abwässer
Grünheide, südöstlich von Berlin und im Spree-     der Gigafactory über ein neues Klärwerk ge-
einzugsgebiet gelegen. Dort sollen zunächst        reinigt werden. Ursprünglich war als Standort
12.000 Angestellte bis zu 500.000 Elektroautos     Freienbrink an der Müggelspree vorgesehen, bis
pro Jahr bauen, inklusive Batteriefertigung.       2029 sollte die neue Anlage stehen. Der Wasser-
Jährlich 1,4 Millionen Kubikmeter Wasser hat       verband Strausberg-Erkner, der sie bauen soll,
man Tesla für die Produktion zugesichert. Das      hat seine Ausschreibung jedoch zurückgenom-
entspricht einer Steigerung des Verbrauchs in      men. Damit ist auch offen, wo die Abwässer
der gesamten Region um mehr als 10 Pro-            eingeleitet werden, ob in die Müggelspree, den
zent. Das ist viel für eine Region, die bereits    Oder-Spree-Kanal oder die Erpe.
jetzt unter Wassermangel leidet. In der ersten

16                                                                      Jahresforschungsbericht 2021
Auch die Trinkwasserversorgung Berlins könnte               für die Wissenschaft schwer einzuschätzen. Was
beeinträchtigt werden, denn die problematischen             aber bekannt ist, stimmt bedenklich: So sollen
Stoffe aus der Gigafactory, die in der Kläranla-            etwa Korrosions- und Frostschutzmittel zum
ge nicht oder nicht vollständig entfernt werden             Einsatz kommen. Die darin enthaltenen Benzo-
können, gelangen unabhängig von den derzeit                 triazole zählen zu den persistenten organischen
diskutierten Einleitungsstellen in die Spree und            Spurenstoffen, sie reichern sich in der Umwelt
nehmen damit Kurs auf die Metropole. Die Be-                an und wirken toxisch auf Wasserlebewesen wie
lastung des Müggelsees und der umliegenden                  Fische und Krebstiere. „Zwar existieren keine
Uferfiltrationsbrunnen könnte sich so dauerhaft             Grenzwerte für solche Stoffe, es sollte aber
erhöhen. „Da wurde aus wasserwirtschaftlicher               grundsätzlich das Vorsorgeprinzip gelten, also
Sicht so ziemlich der ungünstigste Standort aus-            die Idee, alles aus dem Wasser herauszuhalten,
gesucht“, sagt Jörg Lewandowski.                            was dort nicht hineingehört“, betont Jörg Lewan-
                                                            dowski. Auch zur Sulfatbelastung wird Tesla bei-
ORGANISCHE SPURENSTOFFE GEFÄHRDEN                           tragen. Das Unternehmen hat die Einleitung von
ÖKOSYSTEME                                                  Sulfat über das Abwasser beantragt, was dessen
                                                            Konzentrationen in Spree und Müggelsee weiter
Eine im Sommer 2021 veröffentlichte wissen-                 erhöhen dürfte.
schaftliche Einschätzung des IGB zur Gigafactory
erklärt, warum bei der erwarteten Gewässer-                 Wie stark die Tesla-Fabrik mit ihren Abwässern
belastung organische Spurenstoffe im Fokus                  das Wasser der Spree belasten wird, hängt laut
stehen. Solche vom Menschen hergestellte, che-              der IGB-Stellungnahme vor allem von den im
mische Verbindungen sind etwa in Medikamen-                 Produktionsprozess verwendeten Stoffen, von
ten, Reinigungsmitteln, Pestiziden, Korrosions-             der Reinigungstechnologie in der betrieblichen
schutzmitteln, Farben und Lacken enthalten und              Abwasserbehandlungsanlage der Gigafactory
häufig sehr langlebig. Schon niedrige Konzentra-            selbst sowie davon ab, wie die noch zu bauende
tionen mancher Spurenstoffe können negative                 kommunale Kläranlage ausgestattet sein wird.
Auswirkungen auf Ökosysteme oder die mensch-                Am sinnvollsten wäre es, Emissionen so weit
liche Gesundheit haben. Viele dieser Substanzen             wie möglich zu vermeiden. Dazu könnten etwa
sind wasserlöslich und können in Kläranlagen                strengere Auflagen beitragen, die dem Unterneh-
nicht oder nicht vollständig abgebaut werden.               men vorschreiben, mehr Wasser im Kreislauf zu
Sie gelangen daher über die Kläranlagen, aber               führen. „Dann sinkt der Bedarf, und es wird auch
auch durch andere Quellen wie den Regenablauf               weniger verschmutztes Wasser abgeleitet. Aber
in die Gewässer. Bereits seit 2009 misst das                solche Maßnahmen kosten natürlich Geld“, sagt
IGB in der Erpe, in die das Klärwerk Münchehofe             Jörg Lewandowski.
entwässert, eine erhebliche Belastung des Ober-
flächenwassers mit organischen Spurenstoffen.
Spurenstoffe aus der Erpe können bereits heute
in Trinkwasserbrunnen der Berliner Wasserbe-
                                                            DR. JÖRG LEWANDOWSKI
triebe nachgewiesen werden. Das neue Klärwerk,              joerg.lewandowski@igb-berlin.de
dessen Bau noch ungewiss ist, könnte mit einer
                                                            DR. TOBIAS GOLDHAMMER
4. Reinigungsstufe ausgestattet werden, die                 tobias.goldhammer@igb-berlin.de
Spurenstoffe zu einem großen Teil entfernt. Aber
                                                            GIULIA KOMMANA
auch dann ist keine vollständige Elimination un-            giulia.kommana@igb-berlin.de
erwünschter Wasserinhaltsstoffe möglich.
                                                            Mehr erfahren auf www.igb-berlin.de:

Die Tesla-Abwässer sollen verschiedene Chemi-               R Saurer Regen war gestern
kalien enthalten. Welche das genau sind, wurde              R Der lange Arm des Tagebaus
nicht öffentlich gemacht. „Die einsehbaren Aus-             R Die Region Berlin-Brandenburg und Tesla
schreibungsunterlagen waren an vielen Stellen               Zak et al. (2021). Sulphate in freshwater ecosystems: a
geschwärzt, da beruft man sich auf das Betriebs-            review of sources, biogeochemical cycles, ecotoxicologi-
                                                            cal effects and bioremediation. Earth-Science Reviews,
geheimnis“, sagt Jörg Lewandowski. Wie prob-                212, Article 103446. https://doi.org/10.1016/j.earsci-
lematisch die Abwässer sein werden, ist daher               rev.2020.103446

Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei                                                              17
Rätsel um einen imposanten Fisch
     Der südamerikanische Arapaima (Arapaima gigas) ist
     einer der größten Süßwasserfische der Welt. Weil die Tiere
     extrem schnell wachsen, stoßen sie in der Aquakultur auf
     großes Interesse. Haltung und Reproduktion der urtümlichen
     Lungenatmer, die in der freien Natur zu den gefährdeten
     Megafauna-Arten zählen, stellen Wissenschaft und nach-
     haltige Aquakultur jedoch vor Herausforderungen. Am IGB
     befassen sich deshalb gleich mehrere Gruppen mit der
     außergewöhnlichen Art: In internationalen Kooperationen
     trugen IGB-Forschende zur Sequenzierung des Genoms
     sowie eines molekularen Markers bei, der die sonst schwie-
     rige Geschlechtsermittlung mittels DNA im Labor ermög-
     licht. Um Haltung und Vermehrung zu optimieren, erforscht
     ein weiteres Team mithilfe künstlicher Intelligenz, wie sich
     adulte und juvenile Tiere verhalten. In der Aquarienhalle des
     IGB laufen zudem Versuche zur kontrollierten Reproduktion.
     Kooperationspartner ist das regionale Aquakultur-Unter-
     nehmen Manich Food Innovations, das sich auf die Aufzucht
     dieser Art spezialisiert hat.

     PD DR. MATTHIAS STÖCK, matthias.stoeck@igb-berlin.de
     DR. FABIAN SCHÄFER, fabian.schaefer@igb-berlin.de
     ALESSANDRA ESCURRA ALEGRE UND DR. DAVID BIERBACH,
     david.bierbach@igb-berlin.de
     PROF. DR. WERNER KLOAS, werner.kloas@igb-berlin.de
     Adolfi et al. (2021). A duplicated copy of id2b is an unusual sex-determining
     candidate gene on the Y chromosome of arapaima (Arapaima gigas). Scien-
     tific Reports, 11, Article 21544. https://doi.org/10.1038/s41598-021-01066-z
     He et al. (2021). Impacts of loss of free-flowing rivers on global freshwa-
     ter megafauna. Biological Conservation, 263, Article 109335. https://doi.
     org/10.1016/j.biocon.2021.109335
                                                                                     FOTO: DAVID AUSSERHOFER/IGB

18
Insektensterben durch zu viel künstli-
        ches Licht
        Anzahl und Vielfalt der Insekten gehen global massiv zurück.
        Mit den Tieren könnten auch wichtige Leistungen verloren
        gehen, die sie für intakte Ökosysteme erbringen. Ursachen
        gibt es viele: Neben der intensiven Anwendung von Pes-
        tiziden und dem Verlust einer Vielzahl an Blühpflanzen
        gehört auch die Lichtverschmutzung in und um Siedlungen
        dazu. Davon betroffen sind sogar aquatische Insekten, wie
        Forschende herausfanden. Am IGB laufen aktuell mehrere
        Projekte zum Thema: In AuBe und NaturLicht wird etwa
        untersucht, welche Insekten von welcher Lichtquelle angezo-
        gen werden. In BELLVUE befassen sich Forschende mit der
        Standardisierung von Lichtmessungen für die Planung von
        Beleuchtungsanlagen und für einen besseren Naturschutz.
        Welche Fragen zum Einfluss der Lichtverschmutzung außer-
        dem noch relevant sind, zeigt eine Übersichtsarbeit unter
        Federführung des IGB. Darin fassen die Forschenden zu-
        sammen, welche Wissenslücken noch geschlossen werden
        müssen und welche Möglichkeiten und Herausforderungen
        es für eine nachhaltigere Nutzung von Licht gibt.

         PD DR. FRANZ HÖLKER, franz.hoelker@igb-berlin.de
         DR. ANDREAS JECHOW, andreas.jechow@igb-berlin.de
         DR. GREGOR KALINKAT, gregor.kalinkat@igb-berlin.de
        R www.igb-berlin.de/news/insekten-unter-wasser-reagieren-empfindlich-
           auf-lichtverschmutzung
        R www.igb-berlin.de/news/schneegluehen-und-belaubte-baeume-im-winter

                                                                                19
FOTO: GREGOR KALINKAT/IGB
Die Krise

     Wie der Klima-
     wandel unsere
     Gewässer verändert
     3 Fragen an 3 Forschende

     Im Herbst 2021 unterzeichneten auf dem Welt-
     klimagipfel in Glasgow fast 200 Staaten eine
     gemeinsame Erklärung zum Klimaschutz. Auch in
     Deutschland hat sich die neue Bundesregierung zu
     mehr Klimaschutz bekannt. Doch Binnengewässer
     bleiben dabei häufig unter dem Radar. Die IGB-Pro-
     fessor*innen Rita Adrian, Sonja Jähnig und Mark
     Gessner ordnen ein, welche Auswirkungen die
     Erderwärmung auf die Binnengewässer hat und
     erzählen, ob sie die aktuellen politischen Ziele zu-
     versichtlich stimmen.

     Gewässer werden wärmer: Für den Stechlinsee im
     Norden Brandenburgs hat das IGB seit Ende der
     1960er Jahre eine Erwärmung des Oberflächenwas-
     sers von etwa 2 Grad gemessen. Die Langzeitdaten
     vom Müggelsee in Berlin zeigen sogar eine Erhö-
     hung der sommerlichen Temperaturen um 0,6 Grad
     pro Dekade seit 1978. FOTO: MICHAEL FEIERABEND

20                                     Jahresforschungsbericht 2021
PROF. DR. RITA ADRIAN                                      PROF. DR. SONJA JÄHNIG

Frau Adrian, Sie können als Mitautorin des Welt-            Frau Jähnig, die Klimakrise überdeckt die Biodi-
klimaberichts sowohl die wissenschaftlichen als             versitätskrise. Werden die beiden ökologischen
auch die politischen Diskussionen unmittelbar               Krisen nach wie vor zu isoliert voneinander be-
mitverfolgen. Welche Rolle spielen Gewässer in              trachtet? Und wie wirkt die eine auf die andere?
den aktuellen Debatten?
                                                            In der Tat sind beide Krisen eng verknüpft – das
Binnengewässer werden oftmals nicht explizit                wird aber oft nicht bedacht. Im Abschluss-
genannt und häufig dem Land zugeordnet. Das                 dokument der COP26-Konferenz wird diese
war auch bei der COP26-Konferenz der Fall. Der              Verbindung nur einmal kurz erwähnt. Durch den
Vielfalt der Ökosysteme kann natürlich nicht im             Klimawandel gehen Lebensräume verloren, zum
Detail Rechnung getragen werden. Eine Erwäh-                Beispiel weil Gewässer temporär trockenfallen.
nung von Binnengewässern als wesentliche Süß-               Das betrifft weltweit die Hälfte aller Fließge-
wasser-Ressource und Ökosysteme, die sich im                wässer. Dieser Trend wird weiter zunehmen. Im
Zuge der globalen Erwärmung stark verändern,                Gewässer müssen Tiere, die nur eine geringe
halte ich jedoch für sehr wichtig. So haben sich            Temperaturspanne tolerieren, in andere Regionen
Seen in den vergangenen Dekaden im globa-                   ausweichen. Das ist nicht immer möglich. Die
len Mittel um mehr als 1 Grad erwärmt. Dieser               Verschlechterung der Wasserqualität, von der
Trend könnte sich unter verschiedenen Klima-                Rita Adrian spricht, spielt natürlich auch eine
szenarien auf bis zu 3–6 Grad fortsetzen. Die               Rolle. Außerdem begünstigt der Klimawandel
Folgen sind gravierend: In nährstoffreichen Seen            die Ausbreitung gebietsfremder Arten, die mit
steigt etwa das Risiko von Algenblüten, in nähr-            den heimischen Tieren konkurrieren oder ihnen
stoffarmen Seen nimmt die Algenbiomasse eher                durch Fraßdruck oder Krankheitsübertragung
ab – mit negativen Auswirkungen auf den Fisch-              schaden. Klimaschutz und Biodiversitätsschutz
ertrag. Seen verlieren ihren Freizeitwert, wenn             sollten Hand in Hand gehen. Wenn Flüssen zum
sich die Wasserqualität verschlechtert oder die             Beispiel mehr Platz eingeräumt wird, trägt das
Eisbedeckung abnimmt. Aber es ist nicht nur                 maßgeblich zum Schutz vor Hochwasser bei und
eine Frage der Qualität, sondern vor allem auch             unterstützt gleichzeitig artenreiche und vielfältige
der Quantität: Ganze Regionen sind bereits heu-             Lebensräume. Dort können nämlich sogenannte
te von Wasserverknappung und Rückgang der                   Refugialräume wie Altarme, Pools oder Wurzel-
Grundwasserstände betroffen. Binnengewässer                 unterstände entstehen, die eine Wiederbesied-
haben also enorme gesellschaftliche Relevanz.               lung mit Lebewesen nach Perioden mit stark
Unabhängig davon haben aquatische Ökosyste-                 schwankendem Wasserstand gewährleisten. Ein
me und ihre Biodiversität einen inhärenten Wert,            weiterer Punkt, der mir sehr am Herzen liegt, ist
den es zu schützen gilt.                                    die Auflösung des vermeintlichen Zielkonflikts
rita.adrian@igb-berlin.de                                   zwischen Klima- und Biodiversitätsschutz bei
                                                            der Wasserkraft. Die Wasserkraft ist zwar eine
                                                            erneuerbare, aber keine umweltfreundliche Ener-
                                                            giequelle. Gerade die sogenannte kleine Wasser-
                                                            kraft trägt nur zu einem verschwindend geringen
                                                            Anteil zur Energiewende bei, verschlechtert den
                                                            ökologischen Zustand der Gewässer und ihrer
                                                            Lebewesen aber erheblich.
                                                            sonja.jaehnig@igb-berlin.de

Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei                                                     21
DIE KRISE

            PROF. DR. MARK GESSNER

Die COP26-Rahmenentscheidung erkennt an,            Charakter. Eine Temperaturerhöhung von 1,5
„dass die Auswirkungen des Klimawandels viel        bis 2 Grad im Winter macht hier einen großen
geringer sein werden bei einem Temperatur-          Unterschied. Daran gekoppelt sind außerdem
anstieg um 1,5 Grad verglichen mit 2 Grad“ und      die Sauerstoffverhältnisse im Tiefenwasser.
sagt zu, die „Bemühungen zur Begrenzung des         Das ist der zweite wichtige Aspekt. Eine längere
Temperaturanstiegs auf 1,5 Grad fortzusetzen.“      Schichtungsdauer im Sommer führt zu verstärk-
Herr Gessner, aus Sicht eines Gewässerfor-          ter Sauerstoffzehrung. Aber eine verlängerte
schers: Was erwartet uns bei 1,5 oder 2 Grad        Mischungsphase während des Winters – und
Erwärmung?                                          das ist die gute Nachricht – verbessert die Wie-
                                                    derbelüftung. Das ist wichtig, weil die negativen
Das Bekenntnis zur Begrenzung der Erwärmung         Auswirkungen auf Fische und andere Gewässer-
ist grundsätzlich ein gutes Ergebnis. Es kommt      organismen enorm sind, wenn der Sauerstoff
aber jetzt darauf an, auch wirksame Maßnah-         vollständig aufgebraucht wird, viel größer als die
men zu ergreifen, damit dieses Ziel erreicht        Auswirkungen der Temperaturerhöhung selbst.
wird. Für Gewässer können die Schwellenwerte        Hinzu kommt bei vollständiger Sauerstoff-
von 1,5 oder 2 Grad allerdings nicht eins zu eins   zehrung die Freisetzung von Nährstoffen aus
übertragen werden. Rita Adrian hat es schon         dem Sediment, die die Eutrophierung von Seen
gesagt: Viele Seen haben diese Marke bereits        begünstigt – mit allen ihren negativen Folgen.
gerissen. Neben den langfristigen Temperatur-       Schließlich dürfen wir drittens extreme Wetter-
trends sind mindestens drei weitere Faktoren        ereignisse nicht vergessen, deren Häufigkeit und
entscheidend: Erstens das Mischungsregime.          Intensität zunehmen werden. Hitzewellen und
Wie die Modelle unserer Seenphysiker zeigen,        Stürme können Massenentwicklungen poten-
wird die Erwärmung in einigen größeren Seen         ziell giftiger Blaualgen auslösen, ebenso wie
dazu führen, dass im Winter keine Schichtung        Fischsterben. Am Stechlinsee haben wir solche
mehr auftritt. Diese Seen werden dann in der        Beobachtungen dokumentiert und auch in einem
kalten Jahreshälfte durchgehend gemischt und        großen Freilandversuch nachvollziehen können.
bekommen dadurch einen grundlegend anderen          mark.gessner@igb-berlin.de

     „Für Gewässer können die
     Schwellenwerte von 1,5 oder
     2 Grad nicht eins zu eins
     übertragen werden.“
     Prof. Dr. Mark Gessner

                                                    FOTOS: DAVID AUSSERHOFER/IGB

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FOTO: DAVID AUSSERHOFER/IGB

             Die Anpassung an Umweltveränderungen rekonstruieren
             Ob sich Pflanzen- und Tierpopulationen schnell an veränderte Umweltbedingungen anpassen
             können, hängt davon ab, ob sie über eine ausreichend hohe genetische Vielfalt verfügen. Mit
             einer detaillierten Genomsequenzierung rekonstruierten Forschende des IGB und der Uni-
             versitäten Birmingham (UK) und Leuven (Belgien) die Entwicklung einer Wasserfloh-Popula-
             tion (Daphnia magna), die aufgrund von Fischbesatz zeitweise einem hohen Selektionsdruck
             ausgesetzt war. Sie nutzten Eier aus verschiedenen Zeiträumen der 1970er und 1980er Jahre,
             die im Sediment eines Sees überdauert hatten. Dieser Ansatz der „Wiederbelebungsgsöko-
             logie“ erlaubt Rückschlüsse auf die Entwicklung von Körpergröße und anderen Merkmalen,
             sodass genomische Veränderungen mit Anpassungsreaktionen in Verbindung gebracht werden
             können. Wie die Ergebnisse zeigen, ging die rasche Evolution von Eigenschaften zur Raubtier-
             vermeidung mit Veränderungen auf der Ebene des Genoms einher. Diese beruhten vollständig
             auf der genetischen Variation, die bereits vor dem Fischbesatz in der Population vorhanden
             war. Andere Wasserfloh-Populationen in der Region wiesen im Screening ein ähnlich hohes
             Maß an genetischer Vielfalt auf. Die Fähigkeit, sich schnell an Umweltveränderungen anzupas-
             sen, könnte also bei vielen Arten davon abhängen, dass in einer Region mehrere und genetisch
             vielfältige Populationen vorhanden sind. Größere und weniger weit verbreitete Arten, die durch
             kleinere Populationsgrößen gekennzeichnet sind, stellt das vor Herausforderungen.

             PROF. DR. LUC DE MEESTER, luc.demeester@igb-berlin.de
             Chaturvedi et al. (2021). Extensive standing genetic variation from a small number of founders enables rapid adaptation
         Leibniz-Institut für Gewässerökologie
             in Daphnia. Nature  Communications, 12,undArticle
                                                        Binnenfischerei
                                                               4306. https://doi.org/10.1038/s41467-021-24581-z
Der Europäische Biber (Castor fiber)
                                               hat in der Vergangenheit einen starken
                                               Rückgang seiner Population und seines
                                               Verbreitungsgebiets erlebt – bis hin zur
                                               Ausrottung in vielen Ländern. Doch mitt-
                                               lerweile ist er wieder in vielen europäi-
                                               schen Regionen zu finden. Der Erfolg ist
                                               vor allem Schutzmaßnahmen und Wieder-
                                               ansiedlungsprojekten zu verdanken.

                     Schwindende Lebensräume

      Für viele Süßwasserarten
     wird der Lebensraum knapp
                           ILLUSTRATIONEN: WWW.STUDIOADEN.BERLIN

Die Biodiversität nimmt weltweit in drastischem Tempo ab. Besonders gefährdet
sind Pflanzen und Tiere, die in Süßgewässern leben. IGB-Forschende waren an ver-
schiedenen Studien beteiligt, die aufzeigen, wo und warum aquatische Lebensräu-
me schrumpfen: In den Tiefenschichten vieler Seen herrscht zunehmender Sauer-
stoffmangel, die Wassertemperaturen steigen, und viele Fließgewässer werden
zunehmend verbaut oder fallen periodisch trocken.

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B
         elastende Einflüsse wie der Klimawandel
         und steigende Bevölkerungszahlen set-
         zen die Süßgewässer überall auf der Welt
         stark unter Druck. Damit schwinden auch
die Lebensräume vieler Arten, die auf bestimmte             „Dämme blockieren die Wander-
Bedingungen angewiesen sind, während anpas-
                                                            routen der Süßwasser-Megafau-
sungsfähige, teilweise invasive Spezies neue Räu-
me erobern können. Welche Entwicklungen waren               na und können zu einer vermin-
in den vergangenen Jahrzehnten zu beobachten,               derten Fortpflanzung und zur
und wie werden sich die Trends fortsetzen? Kann
man gegensteuern, und was sind sinnvolle Maß-               genetischen Isolation führen.“
nahmen? Mit diesen Fragen beschäftigen sich                 Prof. Dr. Sonja Jähnig
IGB-Forschende in verschiedenen aktuellen Vorha-
ben aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Klar ist:
Um die biologische Vielfalt in den Süßgewässern
weltweit zu erhalten, von denen auch menschli-
ches Leben abhängt, müssen wir handeln.

WENIGER SAUERSTOFF – WENIGER VIELFÄL-
TIGES LEBEN

Langzeitdaten etwa zu Temperatur oder Nähr-
stoffsättigung zeigen Entwicklungen über mehre-
re Jahrzehnte; für viele Seen weltweit existieren
solche Zeitreihen. Eine Studie unter IGB-Betei-
ligung hat Daten von knapp 400 Seen und damit
über 45.000 Sauerstoff- und Temperaturprofile
analysiert, die seit 1941 gesammelt wurden. Die-
se Langzeitdaten stammen großteils aus der ge-
mäßigten Zone. Die Auswertung zeigt, dass der
Sauerstoffgehalt in den untersuchten Seen seit
1980 im Mittel um 6 Prozent an der Oberfläche
und um 19 Prozent in der Tiefenzone gesunken
ist. Seen verlieren damit etwa drei- bis neunmal
schneller Sauerstoff als die Ozeane. Und auch die
Temperaturprofile zeigten deutliche Änderungen:
In 68 Prozent der untersuchten Seen gehen die
Lebensräume für viele Kaltwasserarten zurück.

Zum Beispiel im Stechlinsee: „Die sauerstofffreie                   Die Populationen der Flussperlmu-
Zone dehnt sich an seiner tiefsten Stelle seit                      schel (Margaritifera margaritifera)
etwa zehn Jahren kontinuierlich aus. Das führt                      sind seit den 1930er Jahren um über
dazu, dass der See im späten Herbst ab einer                        90 Prozent zurückgegangen. Dies
                                                                    liegt vor allem an der Verschlammung
Tiefe von 40 Metern keinen Lebensraum für Tiere
                                                                    von Gewässerbetten, denn die bis zu
wie die endemische Fontanemaräne mehr bietet“,
                                                                    16 cm große holarktische Art benötigt
erläutert Hans-Peter Grossart. Auch andere im                       stabile Schotter- und Kiessubstrate
Stechlin heimische Arten leiden: Fische benöti-                     mit wenig Feinmaterial.
gen eine Sauerstoffsättigung des Wassers von
60 bis 70 Prozent, und auch kleinere Wasser-
lebewesen, etwa Schnecken, sind auf Sauerstoff
angewiesen. Bei null Prozent überleben in Seen
nur noch Mikroorganismen.

Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei                                                   25
SCHWINDENDE LEBENSR ÄUME

                                                     Als einzige Robbenart fühlt sich die
                                                     Baikalrobbe (Pusa sibirica) ausschließ-
                                                     lich im Süßwasser wohl. Die Aufzucht
                                                     der Jungen erfolgt auf dem Eis, daher
                                                     könnte die Baikalrobbe durch den
                                                     Klimawandel gefährdet sein.

In von Sauerstoffarmut betroffenen Seen wie          selbst“, sagt Hans-Peter Grossart. Je länger die
dem Stechlin ist meist die geringere Durch-          sauerstofffreien Phasen andauern, umso mehr
mischung das Problem: Die Phase der Strati-          Phosphor wird aus dem Seeboden freigesetzt;
fizierung, während der sich die obere, sauerstoff-   die Freisetzung verstärkt sich dann von Jahr zu
reichere und die sauerstoffarme untere Schicht       Jahr nahezu exponentiell. Dieser freigesetzte
eines Sees nicht mischen, ist länger geworden.       Phosphor bedingt wiederum eine verstärkte Bio-
Die thermische Schichtung tritt im Frühjahr etwa     masseproduktion der Algen im darauffolgenden
zwei Wochen eher ein und endet im Herbst zwei        Jahr. Diese Biomasse sinkt zum Seeboden und
Wochen später. In den letzten Jahren hat der         wird dann durch Mikroorganismen umgesetzt
dimiktische Stechlinsee mehrmals statt zwei          (z.T. „veratmet“), was wiederum verstärkt Sauer-
Durchmischungen pro Jahr nur noch eine Durch-        stoff verbraucht, der dann den höheren Lebewe-
mischung gezeigt, ist dann also monomiktisch. In     sen im See fehlt.
beiden Fällen bedeutet das einen in der Jahresbi-
lanz deutlich höheren Sauerstoffverbrauch in den     Dass die beschriebenen Mechanismen in Gang
tiefen Wasserschichten.                              kommen, hat vor allem zwei Ursachen: zum einen
                                                     die globale Erwärmung. Sie bewirkt neben der
Fehlt dauerhaft Sauerstoff in der Tiefenzone,        verminderten Durchmischung, dass im Ober-
setzt sich eine Spirale in Gang: Je sauerstoffär-    flächenwasser Sauerstoff verlorengeht, denn die
mer ein Seeboden, umso mehr an Eisen ge-             Sauerstoffsättigung – also die Menge an Sauer-
bundener Phosphor (P) wird rückgelöst und ins        stoff, die das Wasser aufnehmen kann – sinkt,
Wasser freigesetzt und dient nach der Seen-          wenn die Temperatur steigt. Ein weiterer Grund ist
durchmischung als wichtiger Nährstoff für das        die zunehmende Eutrophierung von Gewässern
Phytoplanktonwachstum im lichtdurchfluteten          über menschliche Aktivitäten, durch die etwa Ab-
Oberflächenwasser. „Man nennt das interne            wässer, Nährstoffe aus der Landwirtschaft oder
Eutrophierung, denn der See düngt sich quasi         Abfallstoffe aus Siedlungen in die Seen geraten.

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