FLÄCHENSPAREN - ABER WIE? - Akademie für Raumforschung und ...

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Nachrichten der ARL _ 01 / 2018 _ 48. Jahrgang

                                                       FL ÄCHENSPAREN –
                                                       ABER WIE?

L ANDSCHAF TSWANDEL ZWISCHEN STADT UND L AND
Catrin Schmidt 

DER DOPPELTE L ANDSCHAF TSWANDEL
Olaf Kühne                                                          

VON MAKRO ZU MIKRO
Elisabeth Merk

NICHT OHNE KONTINGENTIERUNG
Stephanie Bock, Thomas Preuß

QUANTIFIZIERUNG DER ZERSIEDELUNG
Martin Behnisch, Jochen A. G. Jaeger, Tobias Krüger

QUANTITATIVE VORGABEN
Daniel Wachter

KOORDINATIONSWIRKUNG DER REGIONALPL ANUNG
Christoph Hemberger, Thomas Kiwitt
FLÄCHENSPAREN - ABER WIE? - Akademie für Raumforschung und ...
Nachrichten der ARL

Herausgeber:
ARL
Akademie für Raumforschung
und Landesplanung
Hohenzollernstraße 11
30161 Hannover
Tel. +49 511 34842-0
Fax +49 511 34842-41
arl@arl-net.de
www.arl-net.de

Redaktion:
Dr. Gabriele Schmidt (v.i.S.d.P.)
Sprachliches Lektorat:
C. M. Hein, H. Wegner
Satz und Layout:
G. Rojahn, O. Rose
Cover:
© Klaus Leihdorf
Druck:
Linden-Druck Verlagsgesellschaft mbH
30453 Hannover

Die Nachrichten der ARL
erscheinen viermal im Jahr.
Die PDF-Version ist unter shop.arl-net.de
frei verfügbar (Open Access).
CC-Lizenz BY-ND 3.0 Deutschland

Heft 01, August 2018
48. Jahrgang
Auflage: 2200

ISSN 1612-3891 (Print-Version)
ISSN 1612-3905 (PDF-Version)

Inhalt gedruckt auf
100% Recyclingpapier
FLÄCHENSPAREN - ABER WIE? - Akademie für Raumforschung und ...
01/ 2 018 _ N AC H R I C H T EN D ER A R L                                                                I N H A LT   1

EDITORIAL                                                 Neue Perspektiven einer zukunftsfähigen Raumordnung
                                                          in Bayern. Orientierung – Strategien – Visionen
                                                          Andreas Klee                                       45
Gabriele Schmidt                                    2
                                                          Die große Transformation – Herausforderung und
AK TUELL                                                  Chance für die Raumplanung
                                                          Barbara Warner                                        46
Nachhaltige Stadtentwicklung
                                                          Akademien und Verbände fordern ein neues
Rainer Danielzyk, Stefan Siedentop, Mario Reimer,
                                                          Raumkonzept für Bayern
Runrid Fox-Kämper                                   5
                                                          Hubert Job, Florian Lintzmeyer                         47

THEMA                                                     Daseinsvorsorge mit allen Generationen
                                                          weiterentwickeln

                                                          Interview mit Sarah Schreiber                         48
Alles im Fluss – Landschaftswandel zwischen Stadt
und Land
                                                          Neuerscheinungen                                     52
Catrin Schmidt                                      9
                                                          Personen                                              54
Der doppelte Landschaftswandel
Physische Räume, soziale Deutungen, Bewertungen
Olaf Kühne                                         14
                                                     
                                                          AUS R AUMFORSCHUNG
Von Makro zu Mikro                                        UND -PL ANUNG
Elisabeth Merk                                     18
                                                          Mediatisierung und Digitalisierung des Handels
Flächensparen – nicht ohne Kontingentierung               Gabriela Christmann                                   56
Stephanie Bock, Thomas Preuß                       21
                                                          Wie wirkt der Klimawandel auf Migration und
Welche Vorteile bietet die Quantifizierung                Verstädterung?
der Zersiedelung?                                         Stefan Siedentop                                       57
Martin Behnisch, Jochen A. G. Jaeger,
Tobias Krüger                                      25    Förderkreis für Raum- und Umweltforschung              57

Flächensparen über quantitative Vorgaben                  Räumliche Transformation erforschen und gestalten –
Ansatz und Umsetzung im Kanton Bern (Schweiz)             wie, mit wem und wozu?
Daniel Wachter                                     31    Angelina Göb                                       58

Gute Bremsen, aber kein Gaspedal!                         RuR goes Open Access
Zur Koordinationswirkung der Regionalplanung              Heiderose Kilper, Andreas Klee                        60
Christoph Hemberger, Thomas Kiwitt                 33
                                                          Werner-Ernst-Preis 2018
                                                          Gabriele Schmidt                                      62
AUS DER ARL
                                                         Beirat für Raumentwicklung neu konstituiert
Flächenentwicklung im Widerstreit der Interessen          Gabriele Schmidt                                      64
Angelina Göb, Martina Hülz, Andreas Klee, Florian
Muarrawi, Gabriele Schmidt, Martin Sondermann,            Ausgewählte Zeitschriftenbeiträge                     65
Andreas Stefansky, Barbara Warner                  37
                                                          Neuerscheinungen aus anderen Verlagen                 69
9 1. Mitgliederversammlung der ARL
 Andreas Klee                                      42
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2   ED I TO R I A L                                                                            01/ 2 018 _ N AC H R I C H T E N D ER A R L

    EDITORIAL

    Liebe Leserinnen und Leser,

    in Deutschland werden jeden Tag rund 60 ha Fläche ver-        wir sie bewerten. Anhand empirischer Forschungsergeb-
    baut. Das sind in etwa 94 Fußballfelder. Während der Anteil   nisse erläutert er, wie die Deutungen und Bewertungen
    von Siedlungs- und Verkehrsflächen kontinuierlich zu-         von Landschaft zwischen unterschiedlichen Bevölkerungs-
    nimmt, geht der Anteil an landschaftlichen Flächen zurück.    gruppen variieren und welche Schlussfolgerungen sich da-
    Dabei korrespondiert der Flächenverbrauch längst nicht        raus für die Raumplanung ergeben.
    überall mit steigenden Einwohnerzahlen – im Gegenteil,        Die nachfolgenden Beiträge beleuchten unterschiedliche
    häufig wird gerade in schrumpfenden Gemeinden Bauland         Ansätze und Steuerungsinstrumente zum Flächensparen:
    am Ortsrand ausgewiesen. Von ihrem 30-ha-Ziel ist die               Dr. Stefanie Bock und Thomas Preuß, beide wissen-
    Bundesregierung also weit entfernt. Das hat negative öko-     schaftliche Mitarbeiter am Deutschen Institut für Urbanis-
    nomische, soziale und ökologische Folgen. Denn weniger        tik (DIFU), stellen die Ergebnisse aus zwei Forschungsvor-
    natürliche Flächen bedeuten weniger Lebensräume für die       haben zur Bestandsaufname und Weiterentwicklung von
    Tier- und Pflanzenwelt, weniger Naherholungsräume und         Steuerungsinstrumenten vor. Ihr Ergebnis: Bislang konzen-
    dadurch einen Rückgang an Lebensqualität.                     trieren sich viele Aktivitäten zum Flächensparen darauf,
          Warum funktioniert Flächensparen nicht und wie          Bauland und Gebäude im Bestand zu mobilisieren und Flä-
    können Nutzungsinteressen besser miteinander in Einklang      chen effizient zu nutzen. Die Flächenneuinanspruchnahme
    gebracht werden? Welche planerischen Steuerungsinstru-        werde hingegen kaum wirksam gesteuert und begrenzt.
    mente und Lösungsmöglichkeiten gibt es und wie können         Bock und Preuß plädieren für eine Kombination der bereits
    diese wirkungsvoller eingesetzt werden? Diese Fragen stan-    vorhandenen Steuerungsinstrumente mit quantitativen
    den im Zentrum des ARL-Jahreskongresses am 26. und 27.        Zielvorgaben (Kontingentierierung).
    April 2018 in München. Die hohe Teilnehmerzahl, das medi-           Hieran knüpft der Beitrag von Prof. Dr. Daniel Wach-
    ale Interesse und die vielen anregenden Diskussionen ha-      ter, Vorsteher des Amts für Gemeinden und Raumordnung
    ben deutlich gemacht: Flächensparen ist eines der derzeit     des Kantons Bern, an. Am Beispiel des Kantons Bern zeigt
    großen Themen, für die dringend funktionierende Lö-           er, wie die seit der Novellierung des Bundesgesetzes über
    sungsansätze gesucht werden. Aus diesem Grund möchten         die Raumplanung im Jahr 2012 geltenden Vorgaben zur
    wir die Arbeitsergebnisse des Kongresses einem breiteren      Flächenneuausweisung – hierbei geht es z. B. um quantitati-
    Publikum zugänglich machen und widmen den The-
    menschwerpunkt dieser Heftausgabe dem Kongressthema.
          Eine Einführung ins Thema bietet der Beitrag von Ca-
    trin Schmidt, Professorin für Landschaftsplanung an der
    TU Dresden und Mitglied der ARL. Sie geht der Frage nach,
    welche Transformationsprozesse gegenwärtig den Land-
    schaftswandel in Städten und ländlichen Räumen prägen
    und welche Herausforderungen für die räumliche Planung
    hieraus resultieren. Dabei wird deutlich, wie sehr die Ent-
    wicklungen zwischen den verschiedenen Raumtypen ge-
                                                                                                                                              Foto: Fotostudio Eidens-Holl

    genwärtig auseinandergehen. Die komplexen und tiefgrei-
    fenden Wandlungsprozesse können, so Schmidt, nur durch
    ein stärkeres Zusammenwirkungen von Regional- und
    Landschaftsrahmenplanung strategisch gesteuert werden.
          Prof. Dr. Dr. Olaf Kühne von der Eberhard Karls Uni-
    versität Tübingen behandelt in seinem konzeptionellen Bei-
    trag die Fragen, was Landschaft eigentlich ausmacht, wel-
                                                                  Von links: Andrea Hartz (agl Hartz • Saad • Wendl), Prof. Dr.-Ing.
    chen Wandlungsprozessen sie unterliegt, wie wir               Sabine Baumgart (Vizepräsidentin der ARL)
    Landschaft sozial konstruieren und nach welchen Kriterien
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01/ 2 018 _ N AC H R I C H T EN D ER A R L                                                                              E D I TO R I A L   3

 ve Mindestvorgaben für die Nutzungsdichte von Bauzonen               Auch in der Rubrik „Aus der ARL“ nimmt das Kon-
– in der Praxis umgesetzt werden und welche Wirkung sie         gressthema einen wichtigen Platz ein. In einem ausführli-
 entfalten.                                                     chen Veranstaltungsbericht fassen wir die wichtigsten Er-
        Dr. Jochen A. G. Jaeger, Associate Professor an der     gebnisse aus den acht thematischen Workshops des Kon-
 Concordia-Universität in Montréal (Kanada), Dr. Martin         gresses zusammen. Darüber hinaus informieren wir Sie wie
 Behnisch und Dr. Tobias Krüger, beide Seniorwissenschaft-      gewohnt über aktuelle Neuigkeiten aus der Akademie.
 ler am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung              In der Rubrik „Aktuell“ präsentieren Prof. Dr. Stefan
(IÖR), gehen der Frage nach, wie man Zersiedelung eigent-       Siedentop, wissenschaftlicher Direktor des ILS-Institut für
 lich messen und bewerten kann. Hierfür wenden sie das          Landes- und Stadtentwicklungsforschung, Dr. Mario Rei-
 vom Schweizer Bundesamt für Umwelt entwickelte Mess-           mer und Runrid Fox-Kämper, beide wissenschaftliche Mit-
 konzept der gewichteten Zersiedelung auf Deutschland an        arbeiter am ILS, sowie Prof. Dr. Rainer Danielzyk, General-
 und zeigen auf Ebene der Gemeindeverbände, wie sich die        sekretär der ARL, ein im Auftrag des BMBF erarbeitetes
Zersiedelung in unterschiedlichen Räumen entwickelt.            Thesenpapier zu den Forschungsbedarfen im Bereich der
Thomas Kiwitt, Leitender technischer Direktor, und Dr.          nachhaltigen Stadtentwicklung.
 Christoph Hemberger, Referent des Verbands Region                    In der Rubrik „Aus Raumforschung und -planung“
 Stuttgart, widmen sich einem umgekehrten Problem: Es           stellen wir Ihnen wie gewohnt Neuigkeiten aus dem Netz-
 geht nicht darum, kommunale Baulandausweisungen zu             werk der ARL und aus anderen Einrichtungen der Raumfor-
 verhindern, sondern darum, sie an bestimmten Stellen an-       schung und -planung vor.
zuregen. Hier sehen beide die Regionalplanung vor einem
 Steuerungsproblem. Denn anders als bei den „klassischen“       Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre!
 Planungsaufgaben greife hier nicht das formelle Planungs-
 instrumentarium von Ge- und Verboten, sondern man sei
 auf Mitwirkung der Steuerungsadressaten angewiesen. Ki-
 witt und Hemberger fragen: „Welche Einflussmöglichkei-                             D R . G A B R I E L E S C H M I DT
 ten verbleiben den für Regionalplanung und -entwicklung                            Stabsstelle
zuständigen Stellen, wenn die Kommunen auf die (ihnen                               Wissenschaftskommunikation
                                                                                    Tel. +49 511 3484256
 allein zustehende) Möglichkeit der Baulandbereitstellung
                                                                                    schmidt@arl-net.de
 verzichten?“ Am Beispiel der Region Stuttgart zeigen sie ei-
 nige grundsätzliche Probleme auf, die eine gemeinsame
Zielverfolgung von Region und Kommune erschweren, und
 unterbreiten konkrete Lösungsvorschläge.
        Einen Einblick in die Planungspraxis der Metropolre-
 gion München gibt der Beitrag von Prof. Dr.(I) Elisabeth
 Merk, Stadtbaurätin der Landeshauptstadt München und
 Präsidentin der Deutschen Akademie für Städtebau und
 Landesplanung (DASL). Merk macht deutlich, welche for-
 mellen und informellen Steuerungsinstrumente gegen Flä-
 chenversiegelung bereits eingesetzt werden, und plädiert
 mit dem Begriff der „ästhetischen Dichte“ dafür, den psy-
 chologischen Faktoren der Raumwahrnehmung eine höhe-
 re Aufmerksamkeit bei der Gestaltung und Planung von
 Räumen einzuräumen.
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AKTUELL
4   A K T U EL L    01/ 2 018 _ N AC H R I C H T E N D ER A R L
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01/ 2 018 _ N AC H R I C H T EN D ER A R L                                                                        A K T U EL L   5

Rainer Danielzyk, Stefan Siedentop, Mario Reimer, Runrid Fox-Kämper

NACHHALTIGE
STADTENTWICKLUNG
Thesenpapier von ILS und ARL zur sozial-ökologischen
Forschungsagenda des BMBF

Seit dem Jahr 2000 fördert das Bundesministerium für Bil-       Konzentration von Akteuren, Wissen, Infrastruktur und Ka-
dung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Förder-                 pital gelten große Metropolen und Stadtregionen als Orte
schwerpunktes Sozial-ökologische Forschung (SÖF) inter-         der Innovation (Florida et al. 2017).
und transdisziplinäre Forschungsprojekte, die sich mit den             Die sozialräumlichen und baulich-physischen Ausprä-
Herausforderungen einer nachhaltigen Wirtschafts-, Kon-         gungen der urbanen Raumentwicklung beeinflussen zu-
sum- oder Lebensweise auseinandersetzen. Im Zentrum             gleich die Teilhabechancen und die Lebensqualität der
stehen sowohl neue Technologien, gesellschaftliche Initia-      Menschen wie auch Art und Umfang der Ressourceninan-
tiven und innovative Geschäftsmodelle als auch die politi-      spruchnahme. Städtische Siedlungsräume ökologisch
schen und wirtschaftlichen Rahmensetzungen, die Innova-         nachhaltiger, sozial gerechter und infrastrukturell effizien-
tionen ermöglichen. Mit einem inter- und transdisziplinären     ter zu gestalten, ist daher eine der zentralen Aufgaben un-
Forschungsansatz fördert SÖF problemorientierte For-            serer Zeit. Das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung urbaner
schung und das Zusammenwirken unterschiedlicher wis-            Räume erfährt derzeit als globales Narrativ (Habitat III,
senschaftlicher Disziplinen wie auch die Beteiligung gesell-    New Urban Agenda) eine besondere Aufmerksamkeit. Die
schaftlicher Akteure am Forschungsprozess. SÖF versteht         Sustainable Development Goals (SDGs) greifen dies insbe-
sich als „lernender“ Förderschwerpunkt, die Auswahl der         sondere mit dem SDG 11 auf und fordern eine inklusive,
Förderthemen wird deswegen in einem partizipativen              nachhaltige Stadtentwicklung, u. a. durch eine partizipato-
Agenda-Prozess entwickelt. Diese Themen stehen jedoch           rische, integrierte und nachhaltige Siedlungsplanung, die
nicht unverändert fest, sondern der Prozess bleibt für An-      Sicherung des Zugangs zu sicheren und inklusiven Grünflä-
regungen von außen offen.                                       chen und öffentlichen Räumen sowie den Zugang zu siche-
      Das ILS-Institut für Landes- und Stadtentwicklungs-       rem und bezahlbarem Wohnraum und zu Transportsyste-
forschung und die ARL haben gemeinsam auf Nachfrage             men. Auch der gesellschaftspolitische Diskurs zur
des BMBF folgendes Thesenpapier zu Forschungsbedarfen           nachhaltigen Transformation fokussiert auf urbane Räume
im Themenfeld der nachhaltigen Stadtentwicklung einge-          (vgl. auch WBGU-Gutachten 2016) im Sinne eines „pro-ur-
reicht:                                                         ban policy consensus“ (Barnett/Purcell 2016). Allerdings
                                                                werden die räumlichen, sozialen, ökologischen, ökonomi-
Sozial-ökologische Problemlagen                                 schen und politischen Dynamiken in Städten und Stadtregi-
Die Urbanisierung mit ihren komplexen Wechselwirkungen          onen sowie die damit verbundenen komplexen Wechselbe-
und Dynamiken gilt als eine der bedeutendsten Erscheinun-       ziehungen und Aushandlungsprozesse im politischen
gen der Globalisierung. Städte gelten als Kristallisationsor-   Mehrebenensystem vor dem Hintergrund veränderter ins-
te des sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politi-      titutioneller Rahmenbedingungen noch nicht ausreichend
schen Wandels und als Orte des Fortschritts – sie gelten        verstanden, sodass die politische und planerische Umset-
aber auch als Orte, an denen soziale Ungleichheit und res-      zung einer nachhaltigen Stadtentwicklung häufig scheitert.
sourcenintensive Lebens- und Konsumstile sichtbar und           Die lokale Interpretation, Deutung und Umsetzung einer
baulich verfestigt sind. Städte sind für einen Großteil des     der Nachhaltigkeit verpflichteten Stadtentwicklung ist ein-
weltweiten Ressourcenverbrauchs und der Treibhausgase-          gebettet in ganz unterschiedliche gesellschafts- und pla-
missionen verantwortlich, sie versprechen mit ihren grö-        nungskulturelle Kontexte. Vor diesem Hintergrund wird
ßen- und dichtebedingten Effizienzvorteilen zugleich Bei-       verständlich, dass die ortsbezogene Realisierung einer
träge zur Beantwortung der großen Zukunftsfragen der            nachhaltigen Stadtentwicklung abhängig ist von spezifi-
Menschheit. Das „Urban Age“ (Burdett and Sudjic 2007)           schen Wahrnehmungsmustern, Werthaltungen und Tradi-
prägt fundamental die Art und Weise des Wirtschaftens           tionen, die ihre planerische Umsetzung beeinflussen.
und Zusammenlebens von Menschen. Durch die räumliche
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6   A K T U EL L                                                                           01/ 2 018 _ N AC H R I C H T E N D ER A R L

    Wissensstand und Forschungslücken                               drückt beschreiben Planungskulturen das komplexe Zu-
    Nachhaltige Stadtentwicklung ist nur vorstellbar im Zusam-      sammenspiel manifestierter (z. B. rechtliche Grundlagen,
    menspiel mit dem Umland von Städten. Daher ist eine             administrative Organisationsstrukturen, Planwerke, Strate-
    nachhaltige Stadt nur in einer nachhaltigen Stadtregion zu      gien und Konzepte) und nicht manifestierter Elemente
    gestalten. Weiterhin ist das Handeln der Städte immer,          (z. B. individuelle und kollektive Wahrnehmungsmuster
    auch im Hinblick auf Nachhaltigkeit, von den rechtlichen        und internalisierte Handlungsmuster), die das Planungs-
    und finanziellen Rahmenbedingungen (Ge-/Verbote, finan-         handeln bestimmen. Die Aufarbeitung dieser komplexen
    zielle Anreize durch Fördermittel usw.) bestimmt. Insofern      Ausgangslage, die Erfassung des Wechselspiels von gebau-
    gilt es, Städte und Stadtregionen als eng miteinander ver-      ter Umwelt und gesellschaftlichem Wandel unter Einbezie-
    wobene Handlungsräume zu betrachten und dabei vor al-           hung der Kulturen, Praktiken und Steuerungsfähigkeiten
    lem das Zusammenspiel verschiedener räumliche Ebenen            städtischer Akteure stellt eine Forschungslücke dar und ist
    und Arenen im Rahmen einer nachhaltigen Stadt- und Regi-        eine wichtige Aufgabe der sozial-ökologischen Forschung.
    onalentwicklung stärker in den Blick zu nehmen (Multi-Le-       Im Rahmen einer so verstandenen Fokussierung der Raum-
    vel-Governance).                                                und Planungsforschung, die die Praktiken des planerischen
           Der gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskurs      Handelns in ihrer gesellschafts- und planungskulturellen
    über eine nachhaltige „urbane Transformation“ fokussiert        Verankerung beleuchtet, sollen kontextspezifische Er-
    im Kontext aktueller Wachstumsdynamiken auf die Chan-           kenntnisse zu den Pfadabhängigkeiten, Narrativen und Aus-
    cen und Grenzen der Innenentwicklung und die damit zu-          handlungsprozessen nachhaltiger Entwicklung im urbanen
    sammenhängenden Fragen zu Flächenkonkurrenzen, urba-            Kontext generiert werden.
    nen Freiräumen sowie der Resilienz städtischer Strukturen.
    Hier kommt den Prozessen des Aushandelns und Imple-             Forschungsfragen
    mentierens von Strategien und Maßnahmen und den dabei           Bei der Beschreibung möglicher Forschungsfragen geht es
    involvierten Akteuren, Governance-Arrangements und Pla-         zum einen um integrierte Forschungsansätze, die das The-
    nungskulturen besondere Bedeutung zu. Dabei treffen Ver-        ma in seiner Komplexität umfassend und inter- und trans-
    änderungsdynamiken mit ganz unterschiedlichen Taktun-           disziplinär aufarbeiten, zum anderen sollte ein weiterer
    gen zusammen: hoch-dynamische ökonomische und                   Schwerpunkt auf die im Zusammenhang mit einer nachhal-
    soziale Prozesse und eine eher träge bauliche Physis, die       tigen Stadtentwicklung zu beobachtenden Prozesse und
    nur punktuell und längerfristig verändert werden kann.          Akteursstrukturen gelegt werden.
           Im Kontext von nachhaltiger Stadtentwicklung spie-
    len darüber hinaus Inklusion und Beteiligung eine große         >> Welche Bedingungen und Einflussfaktoren prägen eine
    Rolle. Allerdings kommen zugleich zunehmend Grenzen                nachhaltige Herstellung und Weiterentwicklung von
    der Beteiligung ins Blickfeld: In vielen Metropolen, aber          Stadt? Und welche Widersprüche zeigen sich? Zu be-
    auch sonstigen größeren Städten nimmt die Zahl der dort            trachten wären hier u. a. auch das Verhältnis von Stadt
    vertretenen Sprachen und Kulturen immer mehr zu. Auch              und Stadtregion im Hinblick auf die verschiedenen Di-
    die ambitioniertesten Beteiligungsansätze können dem               mensionen der Nachhaltigkeit sowie die Möglichkeiten
    nicht vollständig gerecht werden. Des Weiteren stellt sich         der Gestaltung einer nachhaltigen Stadt im Kontext von
    die schwierige normativ-ethische Frage, ob wirklich alle das       Multi-Level-Governance (etwa das Verhältnis von städti-
    gleiche „Recht auf Stadt“ haben sollen/dürfen. In vielen           schen Handlungsansätzen und der Stadtentwicklungs-
    deutschen Städten wird etwa ein „Recht auf Stadt“ auch für         politik /den Förderstrategien der Landes- und Bundes-
    Obdachlose dringend eingefordert. Wenn diese aber ganze            ebene).
    Plätze derartig besetzen, dass sich andere, etwa ältere
    Menschen, nicht mehr dorthin trauen, entsteht neue Exklu-       >> Wie lässt sich das Zusammenspiel von physisch-materi-
    sion.                                                              ellen Aspekten (Morphologie/Materialität) der Stad-
           Nachhaltige Stadtentwicklung steht also in einem en-        tentwicklung und den dahinterliegenden Akteursstruk-
    gen Zusammenhang mit der Rolle von Governance und der              turen und Aushandlungsprozessen in ihrer kulturellen
    Planungskultur, wie sich u. a. auch in der zunehmenden Be-         Gebundenheit verstehen?
    deutung diskursiver, nichthierarchischer Steuerungsfor-
    men, die auf kollektive Selbststeuerung zielen, zeigt. Die in   >> Welche Governance-Arrangements und planungskultu-
    Deutschland bislang wenig überzeugende Umsetzung von               rellen Settings sind geeignet, um Kommunen eine nach-
    kommunalen und regionalen Nachhaltigkeitskonzepten                 haltige Stadtentwicklung im Sinne des SDG11 zu ermög-
    liegt offenbar auch an planungskulturellen Faktoren. In der        lichen, um z. B. Nutzungskonkurrenzen im Stadtraum zu
    Raum- und Planungsforschung wird dieser Feststellung seit          verhandeln und dabei im Sinne einer inklusiven Stadt-
    einiger Zeit Rechnung getragen, indem Zugänge skizziert            entwicklung in einer zunehmend diversifizierten Stadt-
    werden, die diese kulturell codierten Prägungen des plane-         gesellschaft alle Protagonisten zu erreichen?
    rischen Handelns näher beleuchten. Vereinfachend ausge-
FLÄCHENSPAREN - ABER WIE? - Akademie für Raumforschung und ...
01/ 2 018 _ N AC H R I C H T EN D ER A R L                                                                                       A K T U EL L   7

>> Wie können unter den Bedingungen rasanter Urbanisie-
                                                                      Literatur
   rung Governance-Strukturen aufgebaut werden, die ur-
                                                                      Barentt, C.; Parnell, S. (2016): Ideas, implementation and indicators:
   bane Transformationen erfolgreich initiieren und steu-             epistemologies of the post-2015 urban agenda. In: Environment & Ur-
   ern?                                                               banization 28 (1): 87-98.
                                                                      Burdett, Ricky; Sudjic, Deyan (eds.) (2007): The endless city: an au-
>> Welche institutionellen Strukturen oder besonderen                 thoritative and visually rich survey of the contemporary city. LSE Ci-
   Formate (wie etwa das der European Green Capital)                  ties. Phaidon Press, London.
   können eine Umsetzung von SDG 11 und 13 verhindern                 Florida, Richard; Adler, Patrick; Mellander, Charlotta (2017): The city
                                                                      as innovation machine. In: Regional Studies, 51 (1): 86-96.
   oder befördern?
                                                                      UN Habitat III (2017): The New Urban Agenda. Quito: UN.
                                                                      http://habitat3.org/wp-content/uploads/NUA-English.pdf (10.07.2018).
                                                                      WBGU (2016): Der Umzug der Menschheit: Die transformative Kraft
                                                                      der Städte. Berlin: WBGU.

                        P R O F. D R . R A I N E R DA N I E L Z Y K                           DR. MARIO REIMER
                        ist Generalsekretär der Akademie für Raum-                            ist stellvertretender Forschungsgruppenleiter
                        forschung und Landesplanung (ARL) und                                 am ILS – Institut für Landes- und Stadtent-
                        Hochschullehrer an der Leibniz-Universität                            wicklungsforschung.
                        Hannover.

                                                                                              Tel. +49 231 9051268
                        Tel. +49 0511 5384237
                                                                                              mario.reimer@ils-research.de
                        danielzyk@arl-net.de

                        P R O F. D R . S T E FA N S I E D E N TO P                            R U N R I D FOX- K Ä M P E R
                        ist Wissenschaftlicher Direktor des ILS –                             ist Forschungsgruppenleiterin am ILS –
                        Institut für Landes- und Stadtentwicklungs-                           Institut für Landes- und Stadtentwicklungs-
                        forschung und Hochschullehrer an der TU                               forschung.
                        Dortmund.

                                                                                              Tel. +49 241 40994511
                        Tel. +49 231 9051100
                                                                                              runrid.fox-kaemper@ils-forschung.de
                        stefan.siedentop@ils-forschung.de
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THEMA
8   THEMA    01/ 2 018 _ N AC H R I C H T E N D ER A R L
01/ 2 018 _ N AC H R I C H T EN D ER A R L                                                                                    THEMA     9

Catrin Schmidt

ALLES IM FLUSS –
L ANDSCHAFTSWANDEL
ZWISCHEN STADT UND L AND

Seit es den Menschen gibt, verändert er die Landschaft.             Teil der Zuwanderung ausmacht, die Binnenwanderung ist
Auch das Verhältnis zwischen Städten und ländlichen Räu-            nicht weniger wichtig. Wer nun daraus jedoch schlussfol-
men war nie konstant, sondern stets im Wandel begriffen.            gert, dass die größte Inanspruchnahme für Siedlungs- und
Welche landschaftlichen Transformations­prozesse sind es            Verkehrsflächen in unseren Städten erfolgt, der irrt. Denn
gegenwärtig, die den Landschaftswandel zwischen Stadt               betrachtet man für diesen Zeitraum die siedlungsstruktu-
und Land prägen? Und welche Herausforderungen ergeben               rellen Kreistypen, zeigt sich vielmehr eine genau umgekehr-
sich daraus für die Planung?                                        te Tendenz: Frei nach dem Motto „Im ländlichen Raum gibt
                                                                    es genug Fläche“, weisen gerade die dünn besiedelten länd-
                                                                    lichen Räume den größten Zuwachs an Siedlungs- und Ver-
                                                                    kehrsflächen auf, die kreisfreien Großstädte hingegen den
                                                                    geringsten (vgl. Abb. 2). Die Schere zwischen Bevölke-
                                                                    rungsentwicklung und Flächeninanspruchnahme klafft im-
                                                                    mer weiter auseinander.
                                                                          Die Flächeninanspruchnahme ist insofern bei Weitem
                                                                    nicht nur ein Problem unserer Städte. Aufgrund der
                                                                    beschränk­teren Ver­fügbarkeit von Flächen hat sich jedoch
                                                                    insbesondere in unseren Großstädten die Konfliktlage stär-
                                                                    ker zugespitzt als in ländlichen Räumen. Bundesweit ist die
                                                                    Siedlungs- und Verkehrsfläche zwischen 1996 und Ende
                                                                    2015 – also in nur 19 Jahren – insgesamt um eine Fläche
                                                                    angewachsen, die dem 2,7-Fachen des Saarlandes ent-
Abb. 1: Bevölkerungsentwicklung (in %) zwischen 2010 und 2015       spricht. Während in unseren Städten in den letzten 20 Jah-
(Auswertung der Daten des statistischen Bundesamtes nach den        ren das Flächennutzungsmosaik u. a. durch urbane Gärtne-
siedlungsstrukturellen Kreistypen des BBSR) / Quelle: Zürn (2018)   rei und Waldflächen vielfältiger geworden ist, hat die
                                                                    Artenvielfalt in den ländlichen Räumen abgenommen bei
       Beginnen wir zunächst bei unseren Städten: Betrach-          einer gleichzeitigen Erhöhung der Nutzungsintensität. Die
tet man die Bevölkerungsentwicklung der letzten Jahre,              Ausdünnung von Landschaftsstrukturen in ländlichen Räu-
zeigt sich, dass von unseren Großstädten nach wie vor eine
enorme Sogwirkung ausgeht. Greift man beispielsweise die
siedlungsstrukturellen Kreistypen des Bundesinstituts für
Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) auf (vgl. Abb. 1),
so wird deutlich: Die Gewinner der Bevölkerungsentwick-
lung mit einem Plus von 2,42 % waren zwischen 2010 und
2015 eindeutig die Großstädte, die Verlierer mit einem Mi-
nus von 1,33 % die dünn besiedelten ländlichen Kreise. Bei
allen Unterschieden, die stets im Einzelfall zu verzeichnen
sind: Der Urbanisierungstrend ist nach wie vor statistisch
signifikant.
       Das liegt nicht zuletzt daran, dass unsere Großstädte
Zuwanderungsmagneten sind. So haben die kreisfreien
Großstädte im Zeitraum von 2010–2015 mit einem Plus                 Abb. 2: Entwicklung der Siedlungs- und Verkehrsflächen (in %)
von 20,2 % ein höheres Wanderungssaldo gegenüber dem                zwischen 2010 und 2015 (Auswertung der Daten des statistischen
Ausland erzielt als dünn besiedelte ländliche Räume. Dabei          Bundesamtes nach den siedlungsstrukturellen Kreistypen des BBSR) /
                                                                    Quelle: Zürn (2018)
ist klar, dass die grenzüberschreitende Migration nur einen
10   THEMA                                                                                                 01/ 2 018 _ N AC H R I C H T E N D ER A R L

     Abb. 3: Entwicklung der Feld- und Wegraine in der Gemarkung Krostitz / Quelle: Schmidt et al. (2011)

     men lässt sich beispielsweise gut an dem immensen Rück-                    druckes bei gleichzeitiger Vervielfältigung der Nutzergrup-
     gang von Feld- und Wegrainen verdeutlichen (vgl. Abb. 3).                  pen und Nutzeransprüche zu tun. Hinzu kommen gewach-
     Diversifizierungs- und Konzentrationsprozessen auf der                     sene klimatische Herausforderungen: Dresden hatte z. B.
     städtischen Seite stehen ökologische Verarmungsprozesse                    im Zeitraum von 1961–1990 durchschnittlich ca. 5,5 Hitze-
     auf der ländlichen Seite gegenüber.                                        tage pro Jahr zu verzeichnen, 2015 waren es 23 Hitzetage.
           In Sachsen gelten 69,7 % der Offenlandarten, also ge-                Wir haben immer häufiger zu viel oder zu wenig Nieder-
     rade die Arten ländlicher Agrarlandschaften, als gefährdet                 schlag. Die Spannweite steigt und fordert ein Mehr an An-
     oder vom Aussterben bedroht. Damit sind deutlich mehr                      passungsfähigkeit und Resilienz, wobei wir in der Realität
     Offenlandarten gefährdet als Arten in Städten und anderen                  vielfach eher ein Weniger zu beklagen haben.
     Landschaftstypen, für diese liegt in Sachsen der Durch-
     schnitt bei ca. 45,2 %. Schaut man bundesweit und greift
     auf der Basis von Daten des Bundesamtes für Naturschutz
     Vogelarten heraus, so hat sich der Bestand an repräsentati-
     ven Arten in den Agrarlandschaften seit 1970 am deutlichs-
     ten reduziert und liegt heute sogar unter dem Bestand im
     Siedlungsbereich (vgl. Abb. 4).
           Selbst der Honigbiene geht es mittlerweile in städti-
     schen Räumen besser als auf dem Land, weil dort nicht
     solch ein großes sommerliches „Blühloch“ klafft, wie es
     mittlerweile unsere Agrarlandschaften im Sommer prägt.
     Nach Hallmann et al. (2017) ist die Biomasse von fliegen-
     den Insekten seit 1989 um über 75 % zurückgegangen; 94 %
     der untersuchten Standorte dieser Langzeitstudie lagen im
     Agrarraum. Zugleich ist in Städten allerdings auch eine zu-
     nehmende Konzentration von „Problemarten“ zu verzeich-
     nen. Denn Städte sind aufgrund ihres spezifischen Klimas,
     aber auch der Konzentration an Infrastruktur und vielfälti-
     ger ökologischer Störungen oftmals Ausgangspunkt für die
     Verbreitung invasiver, nicht einheimischer Pflanzen und
     Tiere. Die Konfliktlagen in städtischen Grün- und Freiflä-                 Abb. 4: Bestand repräsentativer Vogelarten in verschiedenen Lebens-
     chen wachsen aber längst nicht nur deshalb. Wir haben es                   raum- und Landschaftstypen (Indikator des UBA zu Artenvielfalt und
     vielmehr mit einem erheblichen Zuwachs des Nutzungs-                       Landschaftsqualität) / Quelle: UBA (2018)
01/ 2 018 _ N AC H R I C H T EN D ER A R L                                                                                                           THEMA                11

Landschaft: Zwischen Sehnsuchtsort und                                             zum Grünlanderhalt in diesen Räumen bei. Auch hier ver-
Veränderungsdynamik                                                                zeichnen wir also konträre Entwicklungen im Vergleich zum
Parallel dazu erfolgt ein Wandel von Sehnsuchtsbildern.                            ländlichen Raum.
Wertet man beispielsweise Werbeanzeigen in Publikums­                                     Allein in den Jahren 2008–2015 hat die räumliche
zeitschriften wie dem Spiegel seit dem Jahr 1945 aus, kann                         Verteilung von Photovoltaikanlagen die Anzahl der Netzan-
man konstatieren, dass heute fast doppelt so häufig mit                            schlüsse auf 1,5 Millionen anwachsen lassen (Abb. 6). Da-
„unberührter“ Natur geworben wird wie noch vor 60 bis 70                           bei ballen sich Photovoltaikanlagen auf Hausdächern längst
Jahren (Richter 2009). Die Sehnsucht nach möglichst „un-                           nicht nur in den Städten, sondern konzentrieren sich we-
berührter“ Natur wächst in dem Maße, wie man sie zu ver-                           gen der Förderrichtlinien des Energieeinspeisegesetzes
lieren meint. In ganz ähnlichem Maße wächst in den Städ-                           (EEG) in hohem Maße in ländlichen Räumen. Selbst im
ten auch die Sehnsucht nach dem Ländlichen. 60 % der                               Bundesmaßstab lässt sich ein Konzentrationseffekt im Be-
über 1 Million Leser der Zeitschrift „Landlust“ leben bei-                         reich von 110 m beidseitig von Schienenwegen verzeich-
spielsweise in Städten, 31 % sogar in Großstädten (Mayr                            nen.
2012). Am liebsten hätte ein nicht zu unterschätzender Teil                               Windenergieanlagen sind, bedingt durch immissions-
unserer Stadtbevölkerung die ländliche Idylle mit Haus,                            schutzrechtliche Abstände, ohnehin auf den Außenbereich
Garten und möglichst noch Hühnern mitten in der Stadt.                             angewiesen und konzentrieren sich damit zwangsläufig au-
Das Bild vom Ländlichen ist mittlerweile in die Stadt                              ßerhalb von Städten (vgl. Abb. 7). Ihre Anzahl stieg auf
emigriert, die Realität auf dem Land sieht allerdings anders                       28.217 im Jahr 2017, wobei sich ihre Gesamthöhe seit
aus.                                                                               1990 mehr als verdreifacht hat und mittlerweile nahezu
      Wie sieht das Leben und die Landschaft in ländlichen                         jede zweite mit einer Nachtbefeuerung ausgerüstet ist. Es
Räumen aus? Hier ist als erstes die Energiewende prägend,                          ist also auch eine Veränderung unserer Nachtlandschaften
denn die findet nach wie vor überwiegend im ländlichen                             zu verzeichnen, insbesondere in ländlichen Räumen. Groß-
Raum statt, und zwar mit einer enormen Dynamik. Es ist                             räumige Windenergielandschaften haben vor allem ländli-
also mitnichten noch so, dass Großstädte als Gateways glo-                         che Agrarlandschaften im Norden Deutschlands überprägt.
baler Entwicklungen eine höhere Transformationsdynamik                             Sie machten schon 2013 ca. 11 % der Fläche der Bundes-
aufweisen als ländliche Räume. Das war früher so. Derzeit                          republik aus.
verändert sich der Landschaftscharakter in den ländlichen                                 Aktuell werden Windenergieanlagen in wachsendem
Räumen durch die Energiewende schneller, flächenhafter                             Maße in Waldlandschaften geplant, wo sie auf eine nicht zu
und tiefgreifender als in den Städten. Die Anzahl der Bioga-                       unterschätzende Anzahl an Bürgerinitiativen treffen: Von
sanlagen und Biomasseheizkraftwerke hat sich beispiels-                            280 in einem gemeinsamen Forschungsprojekt mit der Uni-
weise in nur sieben Jahren versechsfacht, und das freilich                         versität Tübingen untersuchten Bürgerinitiativen bezogen
primär auf dem Land (vgl. Abb. 5).                                                 sich beispielsweise 28 % auf Projekte in Waldlandschaften,
      Diese Entwicklung führte dazu, dass zwischen 1990                            alle anderen Landschaftstypen hatten deutlich kleinere An-
und 2013 eine Fläche an Dauergrünland verloren ging, die                           teile (Schmidt et al. 2018). Untersucht man die Argumen-
ungefähr der Hälfte der Landesfläche Sachsens entspricht,                          tation der Bürgerinitiativen näher, rufen Waldlandschaften
oft zugunsten des Maisanbaus. Nach 2013 konnte der Ver-                            eine größere Emotionalität und, im Falle einer Ablehnung,
lust an Grünland gestoppt werden, aber das grundsätzliche                          eine höhere Schärfe der Ablehnung hervor als andere
Problem, Grünland im ländlichen Raum zu erhalten, be-                              Landschaftstypen. Aber all das geht freilich an unseren
steht nach wie vor. Ganz im Gegensatz dazu ist das Grün-                           Städten tangential vorbei, denn hier wird zwar die Energie
land im Umland von Großstädten oft „Pferdeland“: Im Um-                            schwerpunktmäßig verbraucht, ausgetragen werden die
kreis von 5 bis 15 km von Großstädten reihen sich oft                              Konsequenzen der Energiewende jedoch überwiegend auf
kranzförmig Pferdehöfe auf und tragen nicht unwesentlich                           dem Land.

                                                                                                                                 Dichte Biomasse in Anlagen pro 1000 km2
                                                                                                                                 (Bezugsebene: Kreis, interpoliert)

                                                                2004                                  2008                2011

                                                           Datenquelle: Auswertung EEG-Stammdaten                        TUD, A.Dunkel (2012)

                                                     Landschaftswandel durch Biomasseanlagen
       1990		                              2004		          2008
                                                    Entwicklung                   2011
                                                                der Dichte an Biogasanlagen           2015
                                                                                            sowie Biomasseheizkraftwerken pro km²

Abb. 5: Entwicklung der Dichte von Biomasseanlagen in der Bundesrepublik auf der Basis einer Auswertung der EEG-Anlagenstammdaten der Netz-
             2004                        2008                         2011
betreiber / Quelle: Gruhl/Schmidt (2016)

         Datenquelle: Auswertung EEG-Stammdaten                                TUD, A.Dunkel (2012)

 Landschaftswandel durch Biomasseanlagen
Entwicklung der Dichte an Biogasanlagen sowie Biomasseheizkraftwerken pro km²
12    THEMA                                                                                                                                     01/ 2 018 _ N AC H R I C H T E N D ER A R L

                                                                                          Abb. 4:   Entwicklung der Windenergienutzung in Deutschland von 1990 bis 2015, von den blauen über die gelben bis hin
                                                                                                    zu den roten Farbtönen steigt die Dichte an Windenergieanlagen (Quelle: TU DRESDEN, GRUHL, 2015)
     Abb. 4:   Entwicklung der Windenergienutzung in Deutschland von 1990 bis 2015, von den blauen über die gelben bis hin
               zu den roten Farbtönen steigt die Dichte an Windenergieanlagen (Quelle: TU DRESDEN, GRUHL, 2015)

                                                                                                                                                                                    Anzahl PV-Anlagen pro 10 km2
                                                                                                                                                                                    (Bezugsebene: Kreis, interpoliert)

                                                                          Abb. 5:   Entwicklung der Photovoltaikanlagen in Deuschland von 1990 bis 2015, von den blauen über die gelben bis zu den
                                                                                    roten Farbtönen steigt die Dichte an Photovoltaikanlagen (Quelle: TU DRESDEN, GRUHL, 2015)
               1990		                             2004		                              2008		                             2011		                            2015
                                                                          8
      Abb. 6: Entwicklung der Dichte von Photovoltaikanlagen in der Bundesrepublik auf der Basis einer Auswertung der EEG-Anlagenstammdaten der
      Netzbetreiber / Quelle: Gruhl/Schmidt (2016)

     Abb. 5:   Entwicklung der Photovoltaikanlagen in Deuschland von 1990 bis 2015, von den blauen über die gelben bis zu den
               roten Farbtönen steigt die Dichte an Photovoltaikanlagen (Quelle: TU DRESDEN, GRUHL, 2015)                                                                        Anzahl Windenergieanlagen pro 1000 km2
                                                                                                                                                                                 (Bezugsebene: Kreis, interpoliert)
                                                                                          Abb. 5:    Entwicklung der Photovoltaikanlagen in Deuschland von 1990 bis 2015, von den blauen über die gelben bis zu den
     8                                                                                               roten Farbtönen steigt die Dichte an Photovoltaikanlagen (Quelle: TU DRESDEN, GRUHL, 2015)

                                                                                          8

                                                                          Abb. 4:   Entwicklung der Windenergienutzung in Deutschland von 1990 bis 2015, von den blauen über die gelben bis hin
                                                                                    zu den roten Farbtönen steigt die Dichte an Windenergieanlagen (Quelle: TU DRESDEN, GRUHL, 2015)
               1990		                             2004		                              2008		                             2011		                            2015

      Abb. 7: Entwicklung der Dichte von Windenergieanlagen in der Bundesrepublik auf der Basis einer Auswertung der EEG-Anlagenstammdaten der
      Netzbetreiber / Quelle: Gruhl/Schmidt (2016)

                                                                                                           Abb. 4:
                                                                                                                 Entwicklung der Windenergienutzung in Deutschland von 1990 bis 2015, von den blauen über die gelben bis hin
                                                                                                                 zu den roten Farbtönen steigt die Dichte an Windenergieanlagen (Quelle: TU DRESDEN, GRUHL, 2015)
     Abb. 4:   Entwicklung der Windenergienutzung in Deutschland von 1990 bis 2015, von den blauen über die gelben bis hin
      Äußere und innere Veränderungen                                                                    Und in diesen virtuellen Realitäten, wie beispielsweise im
               zu den roten Farbtönen steigt die Dichte an Windenergieanlagen (Quelle: TU DRESDEN, GRUHL, 2015)
      Nun habe ich bislang vor allem die äußeren Landschaftsver-                                         „second life“, werden Landschaften in großem Maßstab re-
      änderungen beschrieben. Was ist aber mit unseren inneren                                           produziert oder neu entworfen, und mitunter wird auch
      Bildern von Landschaft? Denn manche Konflikte entstehen                                            das ausgelebt, was im wirklichen Leben nicht möglich
      gerade dadurch, dass sich unsere Vorstellungen von Land-                                           scheint. Die Digitalisierung wird also die Sicht auf Land-
      schaft deutlich langsamer als ihr äußeres Bild verändern.                                          schaft und den Landschaftswandel verändern. Offen ist al-
      Die Wahrnehmung des Landschafts­                            wandels ist dabei                      lerdings noch wie.
      selbstverständlich individuell höchst unterschiedlich und                                                   Festzuhalten ist an dieser Stelle zunächst, dass sich
      hängt von vielen Faktoren ab, z. B. davon, wie die Prozesse                                        der aktuelle Landschaftswandel auf einer äußeren und ei-
      beeinflusst werden können. In einem Interview im Land-                                             ner inneren Ebene vollzieht, und – ganz gleich auf welcher
      kreis Mittelsachsen wurde beispielsweise inAbb.                    Bezug       auf eine
                                                                            5: Entwicklung               von beiden
                                                                                               der Photovoltaikanlagen       – ausgesprochen
                                                                                                                        in Deuschland von 1990 bis 2015, tiefgreifend
                                                                                                                                                           von den blauen überund     komplex
                                                                                                                                                                               die gelben bis zu den ab-
                                                                                  roten Farbtönen steigt die Dichte an Photovoltaikanlagen (Quelle: TU DRESDEN, GRUHL, 2015)
      Windfarm geäußert: „… die haben wir gewollt … also muss                                            läuft (vgl. hierzu auch der Artikel von Kühne in diesem
      ich sie nicht als was Negatives betrachten“8(Schmidt et al.                                        Heft). Zwischen Stadt und Land sind durchaus unter-
      2014). Das zeigt sehr plastisch, dass Veränderungen grund-                                         schiedliche Transformationspfade zu erkennen, teilweise
      sätzlich positiver beurteilt werden, wenn an ihnen persön-                                         entstehen sogar pure Parallelwelten.
      lich mitgewirkt wurde. Hinzu kommen noch Trends, deren
      Konsequenzen wir noch gar nicht wirklich abschätzen kön-
      nen, z. B. die Digitalisierung. Die künstliche Intelligenz war
                                                                                                          Abb. 5: Entwicklung der Photovoltaikanlagen in Deuschland von 1990 bis 2015, von den blauen über die gelben bis zu den
      im Dezember letzten Jahres so weit, dass Computer selbst-                                                     roten Farbtönen steigt die Dichte an Photovoltaikanlagen (Quelle: TU DRESDEN, GRUHL, 2015)
      ständig lernfähig sind. Wir leben also immer stärker in vir-
     Abb. 5: Entwicklung der Photovoltaikanlagen in Deuschland von 1990 bis 2015, von den blauen über die gelben bis zu den
                                                                                                          8
      tuellen    Realitäten,
             roten Farbtönen steigtdie   durchaus
                                   die Dichte            ihr Eigenleben
                                              an Photovoltaikanlagen (Quelle: TU Dentfalten.
                                                                                   RESDEN, GRUHL, 2015)

     8
01/ 2 018 _ N AC H R I C H T EN D ER A R L                                                                                  THEMA      13

Herausforderungen für die Planung in Städten                    schafts(rahmen)planung! Dies trifft insbesondere auch für
und ländlichen Räumen                                           die beiden räumlichen Gegenpole Stadt und Land zu, denn
Die planerischen Handlungsfelder sind dementsprechend           auch zwischen ihnen brauchen wir ein Mehr an Vernetzung
verschieden: In Metropolen stehen Bevölkerungswachs-            und Teilhabe und insgesamt eine querschnittsorientierte,
tum und Siedlungsdruck im Fokus, in dünn besiedelten            gesamträumliche Perspektive und Verantwortung.
ländlichen Räumen eher Schrumpfungsprozesse. In Metro-
polen ist zudem eine robuste grüne Infrastruktur zu defi-
nieren. Diese sollte eine breite Vielfalt an Grünflächentypen
beinhalten, die multifunktional auf engem Raum möglichst        Literatur
viele ökologische und zugleich Erholungsfunktionen erfüllt,     Bode, V.; Hanewinkel, C. (2018): Kleinstädte im Wandel. National-
klimawandelangepasst ist und zugleich den unterschiedli-        atlas. Leibniz-Institut für Länderkunde.
chen kulturellen Wurzeln der Stadtbevölkerung (z. B. im         Gruhl, E.; Schmidt, C. (2016): Monitoring der Landschaftsentwick-
                                                                lung. Forschungsprojekt am Lehr- und Forschungsgebiet Landschafts-
Hinblick auf Migration) Rechnung trägt. Die Waldfläche ist
                                                                planung der TU Dresden im Auftrag des Bundesamtes für Naturschutz.
im Übrigen in den letzten 20 Jahren in unseren Großstäd-        Hallmann, C. A. et al. (2017): More than 75 percent decline over 27
ten stärker gewachsen als auf dem Land. Der Flächenanteil       years in total flying insect biomass in protected areas. PLOS One.
von Wald ist in den kreisfreien Großstädten zwischen 1996       Mayr, M. (2012): Städter stillen ihre Sehnsucht durch Hochglanz-Ma-
und 2015 von 15,8 % auf 17,3 % angestiegen, stärker als im      gazine. Artikel vom 3. Juni 2012 in der Augsburger Allgemeinen Zei-
bundesweiten Durchschnitt. Wenn man den Zeitraum                tung.
2010–2015 herausgreift und wieder die vier siedlungs-           Richter, A. (2009): Landschaft in der Werbung – Sehnsuchtsbilder von
                                                                Landschaften in der Printwerbung zwischen 1930 und 2009. Diplom-
strukturellen Kreistypen miteinander vergleicht, so hatten      arbeit am Lehr- und Forschungsgebiet Landschaftsplanung der TU
in diesem Zeitraum die kreisfreien Großstädte interessan-       Dresden, Betreuung Prof. Dr. C. Schmidt.
terweise auch bundesweit die allergrößte Zuwachsrate.           Schmidt, C. et al. (2011): Naturschutzfachliche Bewertungsgrund-
Wald ist also mittlerweile längst in den Kernstädten der Me-    lagen für die Ausstattung mit Arten, Lebensgemeinschaften und Le-
tropolen angekommen. Offen ist allerdings, ob dieser            bensräumen in Agrarlandschaften. Freiberg.
                                                                Schmidt, C. et al. (2014): Kulturlandschaftsprojekt Mittelsachsen.
Trend langfristig anhält.                                       Dresden.
       In den ländlichen Räumen drängen sich ganz andere        Schmidt, C. et al. (2018): Landschaftsbild und Energiewende. For-
Entwicklungsschwerpunkte auf. Dort ist zunächst zu fra-         schungsvorhaben im Auftrag des Bundesamtes für Naturschutz. Dres-
gen, was das typisch Ländliche und Dörfliche zukünftig aus-     den.
machen soll. Hier gibt es ein Spannungsfeld zwischen den        Zürn, A. (2018): Landschaftswandel. Projektarbeit am Lehr- und For-
Klischeevorstellungen, die manche Städter mitbringen,           schungsgebiet Landschaftsplanung der TU Dresden, Betreuung Prof.
                                                                Dr. C. Schmidt.
dem Beharrungsvermögen der Alteinwohner und den Ide-
en von Raumpionieren.
       Und wie sieht die Zukunft der Kleinstädte aus? Diese
stellen gerade im ländlichen Raum oftmals wichtige Anker-
                                                                                       P R O F. D R . C AT R I N S C H M I DT
punkte dar. Bundesweit hat aber ein Drittel der Kleinstädte                            ist Mitglied der ARL und des Beirats für Raum-
seit 2001 erhebliche Funktions- und Bedeutungsverluste                                 entwicklung der Bundesregierung. Sie ist
hinnehmen müssen (Bode et al. 2018). Dies trifft ländliche                             Dekanin und Professorin für Landschafts-
Räume besonders hart. Ebenso steht die aktive Gestaltung                               planung an der TU Dresden.
der Energiewende an, und dies nicht nur in Bezug auf einen
Energieträger, sondern energieträgerübergreifend sowie in                              Tel. +49 351 463 33383
Bezug auf Infrastrukturlandschaften. Eine grüne Infrastruk-                            catrin.schmidt@tu-dresden.de
tur als Pendant und Gegenstück dazu ist hier letztlich nicht
weniger wichtig als im städtischen Fokus. Klar ist aber auch,
dass sich solche Ziele wohl kaum durch solitäre Einzelvor-
haben umsetzen lassen.

Gesucht: Strategische Planung und
Vernetzung
Damit kommen wir zu einem zentralen Punkt: Die Proble-
me unserer Zeit lassen sich nicht durch fragmentierte Plan-
feststellungsverfahren lösen. So profund diese auch im
Einzelnen sein mögen, sie können nicht das ersetzen, was
eigentlich nötig wäre: strategisches Vorausdenken, über-
greifende, integrative Konzepte und Initialprojekte, mit de-
nen Entwicklungsprozesse initiiert oder unterstützt wer-
den. Je komplexer und tiefgreifender der Landschaftswandel
wird, desto wichtiger wird strategische Planung. Und da
sind wir kommunal übergreifend bei nichts anderem als der
Regionalplanung im engen Zusammenwirken mit der Land-
14   THEMA                                                                                  01/ 2 018 _ N AC H R I C H T E N D ER A R L

     Olaf Kühne

     DER DOPPELTE
     L ANDSCHAFTSWANDEL
     Physische Räume, soziale Deutungen, Bewertungen

     Im Zuge der Diskussion um die räumlichen Auswirkungen          re) Geschwister, Großeltern, später auch in der Gleichaltri-
     der Energiewende, von Verkehrswegen und Gewerbege-             gengruppe etc. Gemäß diesem Verständnis muss ein als
     bieten sowie der Gewinnung mineralischer Rohstoffe hat         Landschaft gedeuteter physischer Raum nicht (stereoty-
     die Frage, was Landschaft ausmacht und nach welchen Kri-       pen) Schönheitsnormen entsprechen, er muss vertraut
     terien sie bewertet wird, an Aktualität gewonnen. Den Aus-     sein, was die Norm der Stabilität beinhaltet.
     gangspunkt bilden häufig Protestaktivitäten von Bürgerin-             Stereotype Landschaftsvorstellungen werden hinge-
     nen und Bürgern, die sich gegen Veränderungen dessen,          gen vermittelt, z. B. durch den Schulunterricht (eigens
     was sie als „Landschaft“ bezeichnen und was sie als erhal-     Schulbücher), durch Filme, Internet oder Bildbände. Die
     tenswert verstehen, zur Wehr setzen.                           hier verinnerlichten Deutungs- und (Be)Wertungsmuster
           Hieran knüpft der vorliegende Beitrag an: Er befasst     basieren weniger auf Vertrautheit als auf gesellschaftlich
     sich mit den sozialen Deutungen und Bewertungen von            geteilten, insbesondere ästhetischen Normen, aber auch
     Landschaft und stellt die These auf, dass der Raum bzw. die    auf Vorstellungen der individuellen Nützlichkeit (z. B. für
     Konstruktion von Landschaft einem doppelten Wandel un-         Spaziergänge oder als Kulisse für sportliche Aktivitäten).
     terliegen. Zum einen wandelt sich die Deutung und Bewer-       Wird ein physischer Raum unter dem Modus der stereoty-
     tung dessen, was im physischen Raum eine Änderung er-          pen Landschaft beurteilt, werden Elemente, die stereoty-
     fährt, zum anderen unterliegen die Deutungs- und               pen Vorstellungen nicht entsprechen, negativ bewertet,
     Bewertungsmuster selbst einem Wandel. Zu Beginn wird           eine Revision dieser Objekte wird befürwortet. Unter dem
     das dem Beitrag zugrunde liegende sozialkonstruktivisti-       Modus der „heimatlichen Normallandschaft“ erhalten hin-
     sche Verständnis von Landschaft näher erläutert. Hierbei       gegen auch diese Objekte eine stark positiv-emotionale Be-
     unterscheide ich drei verschiedene Zugänge zu Land-            zugnahme (Kühne 2018a).
     schaftskonstruktionen. Anschließend werden die sich ver-              Die in Berufsausbildung und insbesondere wissen-
     ändernden Deutungen und Bewertungen von Landschaft             schaftlichem Studium vermittelten Sonderwissensbestän-
     anhand empirischer Forschungsergebnisse erläutert und          de zum Thema „Landschaft“ sind einerseits stark kognitiv,
     daraus Schlussfolgerungen für die raumbezogene Planung         andererseits defizitorientiert geprägt: Fachlich konsensua-
     gezogen.                                                       lisierte Deutungen und Wertungen werden mit einer spezi-
                                                                    fischen Terminologie verbunden, als Landschaften be-
     Landschaft – ein komplexer Begriff                             schriebene Räume werden gemäß der fachlichen
     In diesem Beitrag wird Landschaft nicht als Ausschnitt ei-     Deutungsmuster beschrieben und anhand von Kriterien-
     nes physischen Raumes mittlerer Dimension o. ä. verstan-       sets bewertet, wobei in der Regel Defizite im Sinne einer
     den, sondern als soziale bzw. individuelle Konstruktion (un-   Sein-Sollen-Differenz konstruiert werden, um dann Vor-
     ter vielen: Greider/Garkovich 1994; Gailing/Leibenath          schläge zu einer Angleichung des „Seins-“ an den „Sollens-
     2010; Kühne 2018b). Landschaft entsteht demgemäß               zustand“ zu formulieren (Kühne 2008b; Hokema 2015).
     durch die Zusammenschau physischer Objekte auf Grund-          Die Deutungs- und Bewertungsmuster sind dabei nicht sta-
     lage gesellschaftlicher Konventionen. Diese gesellschaftli-    bil, sondern unterliegen einer zeitlichen (aber auch einer
     chen Konventionen werden im Prozess der Sozialisation          kulturellen und sozialen) Veränderlichkeit.
     vermittelt. Dieser Prozess wiederum lässt sich in die Ent-
     stehung der „heimatlichen Normallandschaft“ und der            Deutungen und (Be)Wertungen im Wandel
     „stereotypen Landschaft“ differenzieren. Bei einer land-       Der Wandel der physischen Grundlagen von Landschaft ist
     schaftsbezogenen (Berufs-)Ausbildung verinnerlichen ei-        Gegenstand zahlreicher Untersuchungen und lässt sich ei-
     nige Personen zudem bestimmte landschaftsbezogene              gens anhand des Vergleichs topographischer Karten, von
     Sonderwissensbestände (vgl. Kühne 2008a; Stotten 2013).        Luftbildern oder Fotos gleicher Perspektive visuell doku-
           Die heimatliche Normallandschaft entsteht in der         mentieren. Der Wandel gesellschaftlicher Deutungen und
     Kindheit durch die Aneignung des Umfeldes des elterlichen      (Be)Wertungen von Landschaft ist hingegen deutlich we-
     Wohnsitzes, vermittelt durch Eltern, (insbesondere älte-       niger intensiv untersucht. Gerade aus sozialkonstruktivisti-
01/ 2 018 _ N AC H R I C H T EN D ER A R L                                                                                              THEMA       15

scher Perspektive ist dieser Wandel jedoch der bedeutsa-                   physischer Räume hin zur Erhaltung „historischer Kultur-
mere Teil des „doppelten Landschaftswandels“, da die                       landschaften“ ist hierfür ein prägnantes Beispiel (vgl. Ipsen
sozialen bzw. individuellen Konstruktionen von Landschaft                  2006; Kühne 2008b).
– wie oben gezeigt – den konstitutiven Teil der Erzeugung                         Stereotype Landschaftsvorstellungen sind das Ergeb-
von Landschaft ausmachen. Doch auch für die physischen                     nis eines Jahrhunderte dauernden Prozesses der Deutung
Grundlagen von Landschaft ist die Ebene gesellschaftlicher                 und Umdeutung, Bewertung und Umbewertung dessen,
bzw. individueller Deutungs- und Bewertungsmuster von                      was unter „Landschaft“ zu verstehen sei. Im deutschen
zentraler Relevanz, schließlich findet bei deren Wandel                    Sprachraum mischen sich hier beispielsweise materielle As-
etwa eine Verschiebung zwischen Erwünschtheit, Indiffe-                    pekte (seit dem Mittelalter, Landschaft als physischer Ge-
renz oder Unerwünschtheit von physischen Objekten statt.                   genstand) mit ästhetischen Zuschreibungen (seit der
       Diese Veränderungen betreffen sowohl Sonderwis-                     Renaissance) wie auch moralischen Aufladungen (seit der
sensbestände, stereotype Landschaftskonstruktion als                       Romanik, verbunden mit der Ablehnung etwa von industri-
auch die heimatliche Normallandschaft, jedoch in jeweils                   ellen Entwicklungen, rationeller Landbewirtschaftung, Ver-
unterschiedlicher Weise. Die Sonderwissensbestände un-                     städterung etc.) bis hin zu emotionalen Zugriffen als „Hei-
terliegen der wissenschaftlichen Entwicklung und sind so-                  mat“, seit der Romantik und immer wieder zu Zeiten
mit stets durch Perspektiv- oder Paradigmenwechsel rever-                  raschen gesellschaftlichen Wandels besonders intensiv ak-
sibel. Der Paradigmenwechsel in den landschaftsbezogenen                   tualisiert (Kühne/Spellerberg 2010; Schenk 2013; Kühne
Planungswissenschaften von einer rationellen Gestaltung                    2018b).

Abb. 1: Anteile der Antworthäufigkeiten auf die geschlossene Frage in Bezug auf eine Abbildung, die einen Park im Stile eines englischen Gartens
darstellt: „Wie würden Sie den oben dargestellten Wald charakterisieren?“ Bis zu drei Antworten waren möglich. Auswertung nach Alterskohorten,
die Alterskohorte „15 und jünger“ ist hellgrau dargestellt, da hier aufgrund der geringen Fallzahlen keine signifikanten Aussagen getroffen werden
können (n = 1,546) / Quelle: Kühne 2018a: 19
16   THEMA                                                                                                                      01/ 2 018 _ N AC H R I C H T E N D ER A R L

                                                                Gleichgültigkeit
                        Erhebungsjahr

                                                                                                                                   Zugehörigkeit
                                                Behaglichkeit

                                                                                                                                                             weiß nicht
                                                                                                       Abscheu

                                                                                                                                                   anderes

                                                                                                                                                                          Summe
                                                                                            Freude
                                                                                   Trauer
                                        Angst

                                                                                                                 Liebe

                                                                                                                         Stolz
      Gau             2004                0,2    45,3                   2,4           0,0   22,4          0,0      2,2     0,4      16,0              4,8         6,2     100,0
                      2016                0,3    33,6                   1,0           0,0   33,6          0,0      1,8     2,0      23,5              3,8         0,5     100,0
      Industrie       2004                4,6         0,7        18,2                 7,3      0,2     19,1        0,0     3,1      22,4           12,7       11,6        100,0
                      2016                3,4         0,9        18,1                 7,8      0,0     12,2        0,0     9,2      27,8           16,3           4,4     100,0
      Wald            2004                1,3    33,2                   7,5           1,3   29,9          0,4      1,8     2,2       11,4             7,3         3,7     100,0
                      2016                0,7    23,5            14,6                 1,2   26,2          0,5      0,5     3,9      16,7              6,3         5,8     100,0
      Windkraft       2004                3,7         2,4        32,3                 7,7      4,2     17,1        0,0     4,0           4,8        11,0     12,7         100,0
                      2016                7,4         1,6        24,7              11,1        3,9     14,3        0,0     3,2       11,1          14,5           8,1     100,0

     Tab. 1: Die Antworten darauf, welche Gefühle die abgebildeten Landschaften bei den Befragten auslösen, nach den Erhebungsjahren 2004 (n = 455)
     und 2016 (n = 436; gleiche Erhebungsmethodik: Untersuchungsraum Saarland, postalische Haushaltsbefragung, gleicher Fragebogen). Die hellgraue
     Flächenfärbung bezeichnet einen signifikanten, die dunkelgraue einen hochsignifikanten Unterschied zwischen den dargestellten Werten. Angaben
     in Prozent, es war nur jeweils eine Antwort möglich / Quelle: Kühne 2018a: 51

            Bei der heimatlichen Normallandschaft spielt noch                                        des“, also mit Unterwuchs und Totholz, das von Jüngeren
     ein weiterer Aspekt eine bedeutende Rolle: die Intergene-                                       mit positiven Attributen, von Älteren mit negativen Attribu-
     rationalität der Deutung und Bewertung von Landschaft.                                          ten versehen wird. Hier wird neben dem Wandel gesell-
     Als „normal“ wird eine Landschaft empfunden, wenn sie                                           schaftlicher (stereotyper) Deutungs- und Bewertungs-
     dem Zustand aus der eigenen frühen Entwicklungsphase                                            muster auch der intergenerationelle Wandel heimatlicher
     und damit der frühkindlichen Erfahrungswelt entspricht.                                         Normallandschaft deutlich: Mit dem Paradigmenwechsel
     Wandeln sich die physischen Grundlagen von Landschaft,                                          der Forstwirtschaft von der Altersklassen- zur naturnahen
     wird dies als normwidrige Entwicklung verstanden. Für                                           Waldwirtschaft wurde „wilder Wald“ zunehmend durch
     nachfolgende Generationen, die mit dieser Entwicklung so-                                       Jüngere als „normal“ konstruiert (Kühne/Jenal/Currin
     zialisiert wurden, wird der Zustand der Landschaft hinge-                                       2014).
     gen als „normal“ empfunden. Um es beispielhaft zuzuspit-                                              Häufig unterschieden sich auch die Zuschreibungen
     zen: Personen, die in einer durch Streuobstwiesen                                               zu vier vorgelegten Fotos unterschiedlichen Inhalts zwi-
     geprägten Landschaft aufgewachsen sind, werden die Be-                                          schen den Erhebungsjahren 2004 und 2016 (Tab. 1). Be-
     pflanzung der Hänge mit Büschen als „Verlust heimatlicher                                       merkenswert ist hier u. a. die signifikante Steigerung der
     Landschaft“ wahrnehmen, während die nachfolgende Ge-                                            Zuschreibung von Zughörigkeit zu einem als „Offenland-
     neration, die mit den von Büschen bewachsenen Hängen                                            schaft mit Windkraftanlagen“ beschreibbaren abgebilde-
     groß wurde, eine Freistellung dieser Hänge als Verlust emp-                                     ten Raum wie auch die Abnahme von Gleichgültigkeit (ge-
     findet. Die heimatliche Normallandschaft unterliegt ent-                                        tragen durch jüngere Befragte) und die Zunahme von
     sprechend einem (zumindest potenziell) starkem interge-                                         Angst (bei Älteren). Hinsichtlich der übrigen vorgelegten
     nerationellen Wandel (zusammenfassend: Kühne 2018a).                                            Fotos fanden sich deutlich geringere intergenerationelle
            Die erhebliche intergenerationelle Veränderlichkeit                                      Unterschiede bei der Veränderung der Deutung, was eher
     wird in der Deutung und Bewertung von Fotos unterschied-                                        auf einen Wandel stereotyper Landschaftskonstrukte denn
     licher, üblicherweise als Landschaft verstehbarer Räume                                         heimatlicher Normallandschaft schließen lässt (schließlich
     deutlich. So unterscheiden sich die Antworten zu einem                                          sind die physischen Manifeste der Energiewende ein Phä-
     vorgelegten Foto eines englischen Gartens zwischen den                                          nomen, das in eher jüngerer Zeit flächenhaft auftritt).
     unterschiedlichen Alterskohorten deutlich (Abb. 1): Je
     jünger die Befragten, desto höher die Neigung, das vorge-                                       Doppelter Landschaftswandel: Folgen
     legte Foto als hässlich oder modern zu bezeichnen; je älter                                     für die Raumforschung
     die Befragten, desto häufiger eine Zuschreibung von tradi-                                      Die dargestellten theoretischen Überlegungen und empi-
     tionell, schön, natürlich, interessant oder romantisch (bis-                                    rischen Befunde verdeutlichen die in der Raumforschung
     weilen mit kleineren Abweichungen zu diesen Trends). In-                                        bislang nur am Rande behandelten Veränderungen gesell-
     vers zu der Beurteilung des Fotos des englischen Gartens                                        schaftlicher (und mit diesen rückgekoppelten individuel-
     vollzieht sich die Beurteilung eines Fotos eines „wilden Wal-                                   len) Landschaftskonstrukte. Ein tieferes Verständnis die-
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