FLÄCHENSPAREN - ABER WIE? - Akademie für Raumforschung und ...
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Nachrichten der ARL _ 01 / 2018 _ 48. Jahrgang FL ÄCHENSPAREN – ABER WIE? L ANDSCHAF TSWANDEL ZWISCHEN STADT UND L AND Catrin Schmidt DER DOPPELTE L ANDSCHAF TSWANDEL Olaf Kühne VON MAKRO ZU MIKRO Elisabeth Merk NICHT OHNE KONTINGENTIERUNG Stephanie Bock, Thomas Preuß QUANTIFIZIERUNG DER ZERSIEDELUNG Martin Behnisch, Jochen A. G. Jaeger, Tobias Krüger QUANTITATIVE VORGABEN Daniel Wachter KOORDINATIONSWIRKUNG DER REGIONALPL ANUNG Christoph Hemberger, Thomas Kiwitt
Nachrichten der ARL Herausgeber: ARL Akademie für Raumforschung und Landesplanung Hohenzollernstraße 11 30161 Hannover Tel. +49 511 34842-0 Fax +49 511 34842-41 arl@arl-net.de www.arl-net.de Redaktion: Dr. Gabriele Schmidt (v.i.S.d.P.) Sprachliches Lektorat: C. M. Hein, H. Wegner Satz und Layout: G. Rojahn, O. Rose Cover: © Klaus Leihdorf Druck: Linden-Druck Verlagsgesellschaft mbH 30453 Hannover Die Nachrichten der ARL erscheinen viermal im Jahr. Die PDF-Version ist unter shop.arl-net.de frei verfügbar (Open Access). CC-Lizenz BY-ND 3.0 Deutschland Heft 01, August 2018 48. Jahrgang Auflage: 2200 ISSN 1612-3891 (Print-Version) ISSN 1612-3905 (PDF-Version) Inhalt gedruckt auf 100% Recyclingpapier
01/ 2 018 _ N AC H R I C H T EN D ER A R L I N H A LT 1 EDITORIAL Neue Perspektiven einer zukunftsfähigen Raumordnung in Bayern. Orientierung – Strategien – Visionen Andreas Klee 45 Gabriele Schmidt 2 Die große Transformation – Herausforderung und AK TUELL Chance für die Raumplanung Barbara Warner 46 Nachhaltige Stadtentwicklung Akademien und Verbände fordern ein neues Rainer Danielzyk, Stefan Siedentop, Mario Reimer, Raumkonzept für Bayern Runrid Fox-Kämper 5 Hubert Job, Florian Lintzmeyer 47 THEMA Daseinsvorsorge mit allen Generationen weiterentwickeln Interview mit Sarah Schreiber 48 Alles im Fluss – Landschaftswandel zwischen Stadt und Land Neuerscheinungen 52 Catrin Schmidt 9 Personen 54 Der doppelte Landschaftswandel Physische Räume, soziale Deutungen, Bewertungen Olaf Kühne 14 AUS R AUMFORSCHUNG Von Makro zu Mikro UND -PL ANUNG Elisabeth Merk 18 Mediatisierung und Digitalisierung des Handels Flächensparen – nicht ohne Kontingentierung Gabriela Christmann 56 Stephanie Bock, Thomas Preuß 21 Wie wirkt der Klimawandel auf Migration und Welche Vorteile bietet die Quantifizierung Verstädterung? der Zersiedelung? Stefan Siedentop 57 Martin Behnisch, Jochen A. G. Jaeger, Tobias Krüger 25 Förderkreis für Raum- und Umweltforschung 57 Flächensparen über quantitative Vorgaben Räumliche Transformation erforschen und gestalten – Ansatz und Umsetzung im Kanton Bern (Schweiz) wie, mit wem und wozu? Daniel Wachter 31 Angelina Göb 58 Gute Bremsen, aber kein Gaspedal! RuR goes Open Access Zur Koordinationswirkung der Regionalplanung Heiderose Kilper, Andreas Klee 60 Christoph Hemberger, Thomas Kiwitt 33 Werner-Ernst-Preis 2018 Gabriele Schmidt 62 AUS DER ARL Beirat für Raumentwicklung neu konstituiert Flächenentwicklung im Widerstreit der Interessen Gabriele Schmidt 64 Angelina Göb, Martina Hülz, Andreas Klee, Florian Muarrawi, Gabriele Schmidt, Martin Sondermann, Ausgewählte Zeitschriftenbeiträge 65 Andreas Stefansky, Barbara Warner 37 Neuerscheinungen aus anderen Verlagen 69 9 1. Mitgliederversammlung der ARL Andreas Klee 42
2 ED I TO R I A L 01/ 2 018 _ N AC H R I C H T E N D ER A R L EDITORIAL Liebe Leserinnen und Leser, in Deutschland werden jeden Tag rund 60 ha Fläche ver- wir sie bewerten. Anhand empirischer Forschungsergeb- baut. Das sind in etwa 94 Fußballfelder. Während der Anteil nisse erläutert er, wie die Deutungen und Bewertungen von Siedlungs- und Verkehrsflächen kontinuierlich zu- von Landschaft zwischen unterschiedlichen Bevölkerungs- nimmt, geht der Anteil an landschaftlichen Flächen zurück. gruppen variieren und welche Schlussfolgerungen sich da- Dabei korrespondiert der Flächenverbrauch längst nicht raus für die Raumplanung ergeben. überall mit steigenden Einwohnerzahlen – im Gegenteil, Die nachfolgenden Beiträge beleuchten unterschiedliche häufig wird gerade in schrumpfenden Gemeinden Bauland Ansätze und Steuerungsinstrumente zum Flächensparen: am Ortsrand ausgewiesen. Von ihrem 30-ha-Ziel ist die Dr. Stefanie Bock und Thomas Preuß, beide wissen- Bundesregierung also weit entfernt. Das hat negative öko- schaftliche Mitarbeiter am Deutschen Institut für Urbanis- nomische, soziale und ökologische Folgen. Denn weniger tik (DIFU), stellen die Ergebnisse aus zwei Forschungsvor- natürliche Flächen bedeuten weniger Lebensräume für die haben zur Bestandsaufname und Weiterentwicklung von Tier- und Pflanzenwelt, weniger Naherholungsräume und Steuerungsinstrumenten vor. Ihr Ergebnis: Bislang konzen- dadurch einen Rückgang an Lebensqualität. trieren sich viele Aktivitäten zum Flächensparen darauf, Warum funktioniert Flächensparen nicht und wie Bauland und Gebäude im Bestand zu mobilisieren und Flä- können Nutzungsinteressen besser miteinander in Einklang chen effizient zu nutzen. Die Flächenneuinanspruchnahme gebracht werden? Welche planerischen Steuerungsinstru- werde hingegen kaum wirksam gesteuert und begrenzt. mente und Lösungsmöglichkeiten gibt es und wie können Bock und Preuß plädieren für eine Kombination der bereits diese wirkungsvoller eingesetzt werden? Diese Fragen stan- vorhandenen Steuerungsinstrumente mit quantitativen den im Zentrum des ARL-Jahreskongresses am 26. und 27. Zielvorgaben (Kontingentierierung). April 2018 in München. Die hohe Teilnehmerzahl, das medi- Hieran knüpft der Beitrag von Prof. Dr. Daniel Wach- ale Interesse und die vielen anregenden Diskussionen ha- ter, Vorsteher des Amts für Gemeinden und Raumordnung ben deutlich gemacht: Flächensparen ist eines der derzeit des Kantons Bern, an. Am Beispiel des Kantons Bern zeigt großen Themen, für die dringend funktionierende Lö- er, wie die seit der Novellierung des Bundesgesetzes über sungsansätze gesucht werden. Aus diesem Grund möchten die Raumplanung im Jahr 2012 geltenden Vorgaben zur wir die Arbeitsergebnisse des Kongresses einem breiteren Flächenneuausweisung – hierbei geht es z. B. um quantitati- Publikum zugänglich machen und widmen den The- menschwerpunkt dieser Heftausgabe dem Kongressthema. Eine Einführung ins Thema bietet der Beitrag von Ca- trin Schmidt, Professorin für Landschaftsplanung an der TU Dresden und Mitglied der ARL. Sie geht der Frage nach, welche Transformationsprozesse gegenwärtig den Land- schaftswandel in Städten und ländlichen Räumen prägen und welche Herausforderungen für die räumliche Planung hieraus resultieren. Dabei wird deutlich, wie sehr die Ent- wicklungen zwischen den verschiedenen Raumtypen ge- Foto: Fotostudio Eidens-Holl genwärtig auseinandergehen. Die komplexen und tiefgrei- fenden Wandlungsprozesse können, so Schmidt, nur durch ein stärkeres Zusammenwirkungen von Regional- und Landschaftsrahmenplanung strategisch gesteuert werden. Prof. Dr. Dr. Olaf Kühne von der Eberhard Karls Uni- versität Tübingen behandelt in seinem konzeptionellen Bei- trag die Fragen, was Landschaft eigentlich ausmacht, wel- Von links: Andrea Hartz (agl Hartz • Saad • Wendl), Prof. Dr.-Ing. chen Wandlungsprozessen sie unterliegt, wie wir Sabine Baumgart (Vizepräsidentin der ARL) Landschaft sozial konstruieren und nach welchen Kriterien
01/ 2 018 _ N AC H R I C H T EN D ER A R L E D I TO R I A L 3 ve Mindestvorgaben für die Nutzungsdichte von Bauzonen Auch in der Rubrik „Aus der ARL“ nimmt das Kon- – in der Praxis umgesetzt werden und welche Wirkung sie gressthema einen wichtigen Platz ein. In einem ausführli- entfalten. chen Veranstaltungsbericht fassen wir die wichtigsten Er- Dr. Jochen A. G. Jaeger, Associate Professor an der gebnisse aus den acht thematischen Workshops des Kon- Concordia-Universität in Montréal (Kanada), Dr. Martin gresses zusammen. Darüber hinaus informieren wir Sie wie Behnisch und Dr. Tobias Krüger, beide Seniorwissenschaft- gewohnt über aktuelle Neuigkeiten aus der Akademie. ler am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung In der Rubrik „Aktuell“ präsentieren Prof. Dr. Stefan (IÖR), gehen der Frage nach, wie man Zersiedelung eigent- Siedentop, wissenschaftlicher Direktor des ILS-Institut für lich messen und bewerten kann. Hierfür wenden sie das Landes- und Stadtentwicklungsforschung, Dr. Mario Rei- vom Schweizer Bundesamt für Umwelt entwickelte Mess- mer und Runrid Fox-Kämper, beide wissenschaftliche Mit- konzept der gewichteten Zersiedelung auf Deutschland an arbeiter am ILS, sowie Prof. Dr. Rainer Danielzyk, General- und zeigen auf Ebene der Gemeindeverbände, wie sich die sekretär der ARL, ein im Auftrag des BMBF erarbeitetes Zersiedelung in unterschiedlichen Räumen entwickelt. Thesenpapier zu den Forschungsbedarfen im Bereich der Thomas Kiwitt, Leitender technischer Direktor, und Dr. nachhaltigen Stadtentwicklung. Christoph Hemberger, Referent des Verbands Region In der Rubrik „Aus Raumforschung und -planung“ Stuttgart, widmen sich einem umgekehrten Problem: Es stellen wir Ihnen wie gewohnt Neuigkeiten aus dem Netz- geht nicht darum, kommunale Baulandausweisungen zu werk der ARL und aus anderen Einrichtungen der Raumfor- verhindern, sondern darum, sie an bestimmten Stellen an- schung und -planung vor. zuregen. Hier sehen beide die Regionalplanung vor einem Steuerungsproblem. Denn anders als bei den „klassischen“ Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre! Planungsaufgaben greife hier nicht das formelle Planungs- instrumentarium von Ge- und Verboten, sondern man sei auf Mitwirkung der Steuerungsadressaten angewiesen. Ki- witt und Hemberger fragen: „Welche Einflussmöglichkei- D R . G A B R I E L E S C H M I DT ten verbleiben den für Regionalplanung und -entwicklung Stabsstelle zuständigen Stellen, wenn die Kommunen auf die (ihnen Wissenschaftskommunikation Tel. +49 511 3484256 allein zustehende) Möglichkeit der Baulandbereitstellung schmidt@arl-net.de verzichten?“ Am Beispiel der Region Stuttgart zeigen sie ei- nige grundsätzliche Probleme auf, die eine gemeinsame Zielverfolgung von Region und Kommune erschweren, und unterbreiten konkrete Lösungsvorschläge. Einen Einblick in die Planungspraxis der Metropolre- gion München gibt der Beitrag von Prof. Dr.(I) Elisabeth Merk, Stadtbaurätin der Landeshauptstadt München und Präsidentin der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung (DASL). Merk macht deutlich, welche for- mellen und informellen Steuerungsinstrumente gegen Flä- chenversiegelung bereits eingesetzt werden, und plädiert mit dem Begriff der „ästhetischen Dichte“ dafür, den psy- chologischen Faktoren der Raumwahrnehmung eine höhe- re Aufmerksamkeit bei der Gestaltung und Planung von Räumen einzuräumen.
01/ 2 018 _ N AC H R I C H T EN D ER A R L A K T U EL L 5 Rainer Danielzyk, Stefan Siedentop, Mario Reimer, Runrid Fox-Kämper NACHHALTIGE STADTENTWICKLUNG Thesenpapier von ILS und ARL zur sozial-ökologischen Forschungsagenda des BMBF Seit dem Jahr 2000 fördert das Bundesministerium für Bil- Konzentration von Akteuren, Wissen, Infrastruktur und Ka- dung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Förder- pital gelten große Metropolen und Stadtregionen als Orte schwerpunktes Sozial-ökologische Forschung (SÖF) inter- der Innovation (Florida et al. 2017). und transdisziplinäre Forschungsprojekte, die sich mit den Die sozialräumlichen und baulich-physischen Ausprä- Herausforderungen einer nachhaltigen Wirtschafts-, Kon- gungen der urbanen Raumentwicklung beeinflussen zu- sum- oder Lebensweise auseinandersetzen. Im Zentrum gleich die Teilhabechancen und die Lebensqualität der stehen sowohl neue Technologien, gesellschaftliche Initia- Menschen wie auch Art und Umfang der Ressourceninan- tiven und innovative Geschäftsmodelle als auch die politi- spruchnahme. Städtische Siedlungsräume ökologisch schen und wirtschaftlichen Rahmensetzungen, die Innova- nachhaltiger, sozial gerechter und infrastrukturell effizien- tionen ermöglichen. Mit einem inter- und transdisziplinären ter zu gestalten, ist daher eine der zentralen Aufgaben un- Forschungsansatz fördert SÖF problemorientierte For- serer Zeit. Das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung urbaner schung und das Zusammenwirken unterschiedlicher wis- Räume erfährt derzeit als globales Narrativ (Habitat III, senschaftlicher Disziplinen wie auch die Beteiligung gesell- New Urban Agenda) eine besondere Aufmerksamkeit. Die schaftlicher Akteure am Forschungsprozess. SÖF versteht Sustainable Development Goals (SDGs) greifen dies insbe- sich als „lernender“ Förderschwerpunkt, die Auswahl der sondere mit dem SDG 11 auf und fordern eine inklusive, Förderthemen wird deswegen in einem partizipativen nachhaltige Stadtentwicklung, u. a. durch eine partizipato- Agenda-Prozess entwickelt. Diese Themen stehen jedoch rische, integrierte und nachhaltige Siedlungsplanung, die nicht unverändert fest, sondern der Prozess bleibt für An- Sicherung des Zugangs zu sicheren und inklusiven Grünflä- regungen von außen offen. chen und öffentlichen Räumen sowie den Zugang zu siche- Das ILS-Institut für Landes- und Stadtentwicklungs- rem und bezahlbarem Wohnraum und zu Transportsyste- forschung und die ARL haben gemeinsam auf Nachfrage men. Auch der gesellschaftspolitische Diskurs zur des BMBF folgendes Thesenpapier zu Forschungsbedarfen nachhaltigen Transformation fokussiert auf urbane Räume im Themenfeld der nachhaltigen Stadtentwicklung einge- (vgl. auch WBGU-Gutachten 2016) im Sinne eines „pro-ur- reicht: ban policy consensus“ (Barnett/Purcell 2016). Allerdings werden die räumlichen, sozialen, ökologischen, ökonomi- Sozial-ökologische Problemlagen schen und politischen Dynamiken in Städten und Stadtregi- Die Urbanisierung mit ihren komplexen Wechselwirkungen onen sowie die damit verbundenen komplexen Wechselbe- und Dynamiken gilt als eine der bedeutendsten Erscheinun- ziehungen und Aushandlungsprozesse im politischen gen der Globalisierung. Städte gelten als Kristallisationsor- Mehrebenensystem vor dem Hintergrund veränderter ins- te des sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politi- titutioneller Rahmenbedingungen noch nicht ausreichend schen Wandels und als Orte des Fortschritts – sie gelten verstanden, sodass die politische und planerische Umset- aber auch als Orte, an denen soziale Ungleichheit und res- zung einer nachhaltigen Stadtentwicklung häufig scheitert. sourcenintensive Lebens- und Konsumstile sichtbar und Die lokale Interpretation, Deutung und Umsetzung einer baulich verfestigt sind. Städte sind für einen Großteil des der Nachhaltigkeit verpflichteten Stadtentwicklung ist ein- weltweiten Ressourcenverbrauchs und der Treibhausgase- gebettet in ganz unterschiedliche gesellschafts- und pla- missionen verantwortlich, sie versprechen mit ihren grö- nungskulturelle Kontexte. Vor diesem Hintergrund wird ßen- und dichtebedingten Effizienzvorteilen zugleich Bei- verständlich, dass die ortsbezogene Realisierung einer träge zur Beantwortung der großen Zukunftsfragen der nachhaltigen Stadtentwicklung abhängig ist von spezifi- Menschheit. Das „Urban Age“ (Burdett and Sudjic 2007) schen Wahrnehmungsmustern, Werthaltungen und Tradi- prägt fundamental die Art und Weise des Wirtschaftens tionen, die ihre planerische Umsetzung beeinflussen. und Zusammenlebens von Menschen. Durch die räumliche
6 A K T U EL L 01/ 2 018 _ N AC H R I C H T E N D ER A R L Wissensstand und Forschungslücken drückt beschreiben Planungskulturen das komplexe Zu- Nachhaltige Stadtentwicklung ist nur vorstellbar im Zusam- sammenspiel manifestierter (z. B. rechtliche Grundlagen, menspiel mit dem Umland von Städten. Daher ist eine administrative Organisationsstrukturen, Planwerke, Strate- nachhaltige Stadt nur in einer nachhaltigen Stadtregion zu gien und Konzepte) und nicht manifestierter Elemente gestalten. Weiterhin ist das Handeln der Städte immer, (z. B. individuelle und kollektive Wahrnehmungsmuster auch im Hinblick auf Nachhaltigkeit, von den rechtlichen und internalisierte Handlungsmuster), die das Planungs- und finanziellen Rahmenbedingungen (Ge-/Verbote, finan- handeln bestimmen. Die Aufarbeitung dieser komplexen zielle Anreize durch Fördermittel usw.) bestimmt. Insofern Ausgangslage, die Erfassung des Wechselspiels von gebau- gilt es, Städte und Stadtregionen als eng miteinander ver- ter Umwelt und gesellschaftlichem Wandel unter Einbezie- wobene Handlungsräume zu betrachten und dabei vor al- hung der Kulturen, Praktiken und Steuerungsfähigkeiten lem das Zusammenspiel verschiedener räumliche Ebenen städtischer Akteure stellt eine Forschungslücke dar und ist und Arenen im Rahmen einer nachhaltigen Stadt- und Regi- eine wichtige Aufgabe der sozial-ökologischen Forschung. onalentwicklung stärker in den Blick zu nehmen (Multi-Le- Im Rahmen einer so verstandenen Fokussierung der Raum- vel-Governance). und Planungsforschung, die die Praktiken des planerischen Der gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskurs Handelns in ihrer gesellschafts- und planungskulturellen über eine nachhaltige „urbane Transformation“ fokussiert Verankerung beleuchtet, sollen kontextspezifische Er- im Kontext aktueller Wachstumsdynamiken auf die Chan- kenntnisse zu den Pfadabhängigkeiten, Narrativen und Aus- cen und Grenzen der Innenentwicklung und die damit zu- handlungsprozessen nachhaltiger Entwicklung im urbanen sammenhängenden Fragen zu Flächenkonkurrenzen, urba- Kontext generiert werden. nen Freiräumen sowie der Resilienz städtischer Strukturen. Hier kommt den Prozessen des Aushandelns und Imple- Forschungsfragen mentierens von Strategien und Maßnahmen und den dabei Bei der Beschreibung möglicher Forschungsfragen geht es involvierten Akteuren, Governance-Arrangements und Pla- zum einen um integrierte Forschungsansätze, die das The- nungskulturen besondere Bedeutung zu. Dabei treffen Ver- ma in seiner Komplexität umfassend und inter- und trans- änderungsdynamiken mit ganz unterschiedlichen Taktun- disziplinär aufarbeiten, zum anderen sollte ein weiterer gen zusammen: hoch-dynamische ökonomische und Schwerpunkt auf die im Zusammenhang mit einer nachhal- soziale Prozesse und eine eher träge bauliche Physis, die tigen Stadtentwicklung zu beobachtenden Prozesse und nur punktuell und längerfristig verändert werden kann. Akteursstrukturen gelegt werden. Im Kontext von nachhaltiger Stadtentwicklung spie- len darüber hinaus Inklusion und Beteiligung eine große >> Welche Bedingungen und Einflussfaktoren prägen eine Rolle. Allerdings kommen zugleich zunehmend Grenzen nachhaltige Herstellung und Weiterentwicklung von der Beteiligung ins Blickfeld: In vielen Metropolen, aber Stadt? Und welche Widersprüche zeigen sich? Zu be- auch sonstigen größeren Städten nimmt die Zahl der dort trachten wären hier u. a. auch das Verhältnis von Stadt vertretenen Sprachen und Kulturen immer mehr zu. Auch und Stadtregion im Hinblick auf die verschiedenen Di- die ambitioniertesten Beteiligungsansätze können dem mensionen der Nachhaltigkeit sowie die Möglichkeiten nicht vollständig gerecht werden. Des Weiteren stellt sich der Gestaltung einer nachhaltigen Stadt im Kontext von die schwierige normativ-ethische Frage, ob wirklich alle das Multi-Level-Governance (etwa das Verhältnis von städti- gleiche „Recht auf Stadt“ haben sollen/dürfen. In vielen schen Handlungsansätzen und der Stadtentwicklungs- deutschen Städten wird etwa ein „Recht auf Stadt“ auch für politik /den Förderstrategien der Landes- und Bundes- Obdachlose dringend eingefordert. Wenn diese aber ganze ebene). Plätze derartig besetzen, dass sich andere, etwa ältere Menschen, nicht mehr dorthin trauen, entsteht neue Exklu- >> Wie lässt sich das Zusammenspiel von physisch-materi- sion. ellen Aspekten (Morphologie/Materialität) der Stad- Nachhaltige Stadtentwicklung steht also in einem en- tentwicklung und den dahinterliegenden Akteursstruk- gen Zusammenhang mit der Rolle von Governance und der turen und Aushandlungsprozessen in ihrer kulturellen Planungskultur, wie sich u. a. auch in der zunehmenden Be- Gebundenheit verstehen? deutung diskursiver, nichthierarchischer Steuerungsfor- men, die auf kollektive Selbststeuerung zielen, zeigt. Die in >> Welche Governance-Arrangements und planungskultu- Deutschland bislang wenig überzeugende Umsetzung von rellen Settings sind geeignet, um Kommunen eine nach- kommunalen und regionalen Nachhaltigkeitskonzepten haltige Stadtentwicklung im Sinne des SDG11 zu ermög- liegt offenbar auch an planungskulturellen Faktoren. In der lichen, um z. B. Nutzungskonkurrenzen im Stadtraum zu Raum- und Planungsforschung wird dieser Feststellung seit verhandeln und dabei im Sinne einer inklusiven Stadt- einiger Zeit Rechnung getragen, indem Zugänge skizziert entwicklung in einer zunehmend diversifizierten Stadt- werden, die diese kulturell codierten Prägungen des plane- gesellschaft alle Protagonisten zu erreichen? rischen Handelns näher beleuchten. Vereinfachend ausge-
01/ 2 018 _ N AC H R I C H T EN D ER A R L A K T U EL L 7 >> Wie können unter den Bedingungen rasanter Urbanisie- Literatur rung Governance-Strukturen aufgebaut werden, die ur- Barentt, C.; Parnell, S. (2016): Ideas, implementation and indicators: bane Transformationen erfolgreich initiieren und steu- epistemologies of the post-2015 urban agenda. In: Environment & Ur- ern? banization 28 (1): 87-98. Burdett, Ricky; Sudjic, Deyan (eds.) (2007): The endless city: an au- >> Welche institutionellen Strukturen oder besonderen thoritative and visually rich survey of the contemporary city. LSE Ci- Formate (wie etwa das der European Green Capital) ties. Phaidon Press, London. können eine Umsetzung von SDG 11 und 13 verhindern Florida, Richard; Adler, Patrick; Mellander, Charlotta (2017): The city as innovation machine. In: Regional Studies, 51 (1): 86-96. oder befördern? UN Habitat III (2017): The New Urban Agenda. Quito: UN. http://habitat3.org/wp-content/uploads/NUA-English.pdf (10.07.2018). WBGU (2016): Der Umzug der Menschheit: Die transformative Kraft der Städte. Berlin: WBGU. P R O F. D R . R A I N E R DA N I E L Z Y K DR. MARIO REIMER ist Generalsekretär der Akademie für Raum- ist stellvertretender Forschungsgruppenleiter forschung und Landesplanung (ARL) und am ILS – Institut für Landes- und Stadtent- Hochschullehrer an der Leibniz-Universität wicklungsforschung. Hannover. Tel. +49 231 9051268 Tel. +49 0511 5384237 mario.reimer@ils-research.de danielzyk@arl-net.de P R O F. D R . S T E FA N S I E D E N TO P R U N R I D FOX- K Ä M P E R ist Wissenschaftlicher Direktor des ILS – ist Forschungsgruppenleiterin am ILS – Institut für Landes- und Stadtentwicklungs- Institut für Landes- und Stadtentwicklungs- forschung und Hochschullehrer an der TU forschung. Dortmund. Tel. +49 241 40994511 Tel. +49 231 9051100 runrid.fox-kaemper@ils-forschung.de stefan.siedentop@ils-forschung.de
01/ 2 018 _ N AC H R I C H T EN D ER A R L THEMA 9 Catrin Schmidt ALLES IM FLUSS – L ANDSCHAFTSWANDEL ZWISCHEN STADT UND L AND Seit es den Menschen gibt, verändert er die Landschaft. Teil der Zuwanderung ausmacht, die Binnenwanderung ist Auch das Verhältnis zwischen Städten und ländlichen Räu- nicht weniger wichtig. Wer nun daraus jedoch schlussfol- men war nie konstant, sondern stets im Wandel begriffen. gert, dass die größte Inanspruchnahme für Siedlungs- und Welche landschaftlichen Transformationsprozesse sind es Verkehrsflächen in unseren Städten erfolgt, der irrt. Denn gegenwärtig, die den Landschaftswandel zwischen Stadt betrachtet man für diesen Zeitraum die siedlungsstruktu- und Land prägen? Und welche Herausforderungen ergeben rellen Kreistypen, zeigt sich vielmehr eine genau umgekehr- sich daraus für die Planung? te Tendenz: Frei nach dem Motto „Im ländlichen Raum gibt es genug Fläche“, weisen gerade die dünn besiedelten länd- lichen Räume den größten Zuwachs an Siedlungs- und Ver- kehrsflächen auf, die kreisfreien Großstädte hingegen den geringsten (vgl. Abb. 2). Die Schere zwischen Bevölke- rungsentwicklung und Flächeninanspruchnahme klafft im- mer weiter auseinander. Die Flächeninanspruchnahme ist insofern bei Weitem nicht nur ein Problem unserer Städte. Aufgrund der beschränkteren Verfügbarkeit von Flächen hat sich jedoch insbesondere in unseren Großstädten die Konfliktlage stär- ker zugespitzt als in ländlichen Räumen. Bundesweit ist die Siedlungs- und Verkehrsfläche zwischen 1996 und Ende 2015 – also in nur 19 Jahren – insgesamt um eine Fläche angewachsen, die dem 2,7-Fachen des Saarlandes ent- Abb. 1: Bevölkerungsentwicklung (in %) zwischen 2010 und 2015 spricht. Während in unseren Städten in den letzten 20 Jah- (Auswertung der Daten des statistischen Bundesamtes nach den ren das Flächennutzungsmosaik u. a. durch urbane Gärtne- siedlungsstrukturellen Kreistypen des BBSR) / Quelle: Zürn (2018) rei und Waldflächen vielfältiger geworden ist, hat die Artenvielfalt in den ländlichen Räumen abgenommen bei Beginnen wir zunächst bei unseren Städten: Betrach- einer gleichzeitigen Erhöhung der Nutzungsintensität. Die tet man die Bevölkerungsentwicklung der letzten Jahre, Ausdünnung von Landschaftsstrukturen in ländlichen Räu- zeigt sich, dass von unseren Großstädten nach wie vor eine enorme Sogwirkung ausgeht. Greift man beispielsweise die siedlungsstrukturellen Kreistypen des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) auf (vgl. Abb. 1), so wird deutlich: Die Gewinner der Bevölkerungsentwick- lung mit einem Plus von 2,42 % waren zwischen 2010 und 2015 eindeutig die Großstädte, die Verlierer mit einem Mi- nus von 1,33 % die dünn besiedelten ländlichen Kreise. Bei allen Unterschieden, die stets im Einzelfall zu verzeichnen sind: Der Urbanisierungstrend ist nach wie vor statistisch signifikant. Das liegt nicht zuletzt daran, dass unsere Großstädte Zuwanderungsmagneten sind. So haben die kreisfreien Großstädte im Zeitraum von 2010–2015 mit einem Plus Abb. 2: Entwicklung der Siedlungs- und Verkehrsflächen (in %) von 20,2 % ein höheres Wanderungssaldo gegenüber dem zwischen 2010 und 2015 (Auswertung der Daten des statistischen Ausland erzielt als dünn besiedelte ländliche Räume. Dabei Bundesamtes nach den siedlungsstrukturellen Kreistypen des BBSR) / Quelle: Zürn (2018) ist klar, dass die grenzüberschreitende Migration nur einen
10 THEMA 01/ 2 018 _ N AC H R I C H T E N D ER A R L Abb. 3: Entwicklung der Feld- und Wegraine in der Gemarkung Krostitz / Quelle: Schmidt et al. (2011) men lässt sich beispielsweise gut an dem immensen Rück- druckes bei gleichzeitiger Vervielfältigung der Nutzergrup- gang von Feld- und Wegrainen verdeutlichen (vgl. Abb. 3). pen und Nutzeransprüche zu tun. Hinzu kommen gewach- Diversifizierungs- und Konzentrationsprozessen auf der sene klimatische Herausforderungen: Dresden hatte z. B. städtischen Seite stehen ökologische Verarmungsprozesse im Zeitraum von 1961–1990 durchschnittlich ca. 5,5 Hitze- auf der ländlichen Seite gegenüber. tage pro Jahr zu verzeichnen, 2015 waren es 23 Hitzetage. In Sachsen gelten 69,7 % der Offenlandarten, also ge- Wir haben immer häufiger zu viel oder zu wenig Nieder- rade die Arten ländlicher Agrarlandschaften, als gefährdet schlag. Die Spannweite steigt und fordert ein Mehr an An- oder vom Aussterben bedroht. Damit sind deutlich mehr passungsfähigkeit und Resilienz, wobei wir in der Realität Offenlandarten gefährdet als Arten in Städten und anderen vielfach eher ein Weniger zu beklagen haben. Landschaftstypen, für diese liegt in Sachsen der Durch- schnitt bei ca. 45,2 %. Schaut man bundesweit und greift auf der Basis von Daten des Bundesamtes für Naturschutz Vogelarten heraus, so hat sich der Bestand an repräsentati- ven Arten in den Agrarlandschaften seit 1970 am deutlichs- ten reduziert und liegt heute sogar unter dem Bestand im Siedlungsbereich (vgl. Abb. 4). Selbst der Honigbiene geht es mittlerweile in städti- schen Räumen besser als auf dem Land, weil dort nicht solch ein großes sommerliches „Blühloch“ klafft, wie es mittlerweile unsere Agrarlandschaften im Sommer prägt. Nach Hallmann et al. (2017) ist die Biomasse von fliegen- den Insekten seit 1989 um über 75 % zurückgegangen; 94 % der untersuchten Standorte dieser Langzeitstudie lagen im Agrarraum. Zugleich ist in Städten allerdings auch eine zu- nehmende Konzentration von „Problemarten“ zu verzeich- nen. Denn Städte sind aufgrund ihres spezifischen Klimas, aber auch der Konzentration an Infrastruktur und vielfälti- ger ökologischer Störungen oftmals Ausgangspunkt für die Verbreitung invasiver, nicht einheimischer Pflanzen und Tiere. Die Konfliktlagen in städtischen Grün- und Freiflä- Abb. 4: Bestand repräsentativer Vogelarten in verschiedenen Lebens- chen wachsen aber längst nicht nur deshalb. Wir haben es raum- und Landschaftstypen (Indikator des UBA zu Artenvielfalt und vielmehr mit einem erheblichen Zuwachs des Nutzungs- Landschaftsqualität) / Quelle: UBA (2018)
01/ 2 018 _ N AC H R I C H T EN D ER A R L THEMA 11 Landschaft: Zwischen Sehnsuchtsort und zum Grünlanderhalt in diesen Räumen bei. Auch hier ver- Veränderungsdynamik zeichnen wir also konträre Entwicklungen im Vergleich zum Parallel dazu erfolgt ein Wandel von Sehnsuchtsbildern. ländlichen Raum. Wertet man beispielsweise Werbeanzeigen in Publikums Allein in den Jahren 2008–2015 hat die räumliche zeitschriften wie dem Spiegel seit dem Jahr 1945 aus, kann Verteilung von Photovoltaikanlagen die Anzahl der Netzan- man konstatieren, dass heute fast doppelt so häufig mit schlüsse auf 1,5 Millionen anwachsen lassen (Abb. 6). Da- „unberührter“ Natur geworben wird wie noch vor 60 bis 70 bei ballen sich Photovoltaikanlagen auf Hausdächern längst Jahren (Richter 2009). Die Sehnsucht nach möglichst „un- nicht nur in den Städten, sondern konzentrieren sich we- berührter“ Natur wächst in dem Maße, wie man sie zu ver- gen der Förderrichtlinien des Energieeinspeisegesetzes lieren meint. In ganz ähnlichem Maße wächst in den Städ- (EEG) in hohem Maße in ländlichen Räumen. Selbst im ten auch die Sehnsucht nach dem Ländlichen. 60 % der Bundesmaßstab lässt sich ein Konzentrationseffekt im Be- über 1 Million Leser der Zeitschrift „Landlust“ leben bei- reich von 110 m beidseitig von Schienenwegen verzeich- spielsweise in Städten, 31 % sogar in Großstädten (Mayr nen. 2012). Am liebsten hätte ein nicht zu unterschätzender Teil Windenergieanlagen sind, bedingt durch immissions- unserer Stadtbevölkerung die ländliche Idylle mit Haus, schutzrechtliche Abstände, ohnehin auf den Außenbereich Garten und möglichst noch Hühnern mitten in der Stadt. angewiesen und konzentrieren sich damit zwangsläufig au- Das Bild vom Ländlichen ist mittlerweile in die Stadt ßerhalb von Städten (vgl. Abb. 7). Ihre Anzahl stieg auf emigriert, die Realität auf dem Land sieht allerdings anders 28.217 im Jahr 2017, wobei sich ihre Gesamthöhe seit aus. 1990 mehr als verdreifacht hat und mittlerweile nahezu Wie sieht das Leben und die Landschaft in ländlichen jede zweite mit einer Nachtbefeuerung ausgerüstet ist. Es Räumen aus? Hier ist als erstes die Energiewende prägend, ist also auch eine Veränderung unserer Nachtlandschaften denn die findet nach wie vor überwiegend im ländlichen zu verzeichnen, insbesondere in ländlichen Räumen. Groß- Raum statt, und zwar mit einer enormen Dynamik. Es ist räumige Windenergielandschaften haben vor allem ländli- also mitnichten noch so, dass Großstädte als Gateways glo- che Agrarlandschaften im Norden Deutschlands überprägt. baler Entwicklungen eine höhere Transformationsdynamik Sie machten schon 2013 ca. 11 % der Fläche der Bundes- aufweisen als ländliche Räume. Das war früher so. Derzeit republik aus. verändert sich der Landschaftscharakter in den ländlichen Aktuell werden Windenergieanlagen in wachsendem Räumen durch die Energiewende schneller, flächenhafter Maße in Waldlandschaften geplant, wo sie auf eine nicht zu und tiefgreifender als in den Städten. Die Anzahl der Bioga- unterschätzende Anzahl an Bürgerinitiativen treffen: Von sanlagen und Biomasseheizkraftwerke hat sich beispiels- 280 in einem gemeinsamen Forschungsprojekt mit der Uni- weise in nur sieben Jahren versechsfacht, und das freilich versität Tübingen untersuchten Bürgerinitiativen bezogen primär auf dem Land (vgl. Abb. 5). sich beispielsweise 28 % auf Projekte in Waldlandschaften, Diese Entwicklung führte dazu, dass zwischen 1990 alle anderen Landschaftstypen hatten deutlich kleinere An- und 2013 eine Fläche an Dauergrünland verloren ging, die teile (Schmidt et al. 2018). Untersucht man die Argumen- ungefähr der Hälfte der Landesfläche Sachsens entspricht, tation der Bürgerinitiativen näher, rufen Waldlandschaften oft zugunsten des Maisanbaus. Nach 2013 konnte der Ver- eine größere Emotionalität und, im Falle einer Ablehnung, lust an Grünland gestoppt werden, aber das grundsätzliche eine höhere Schärfe der Ablehnung hervor als andere Problem, Grünland im ländlichen Raum zu erhalten, be- Landschaftstypen. Aber all das geht freilich an unseren steht nach wie vor. Ganz im Gegensatz dazu ist das Grün- Städten tangential vorbei, denn hier wird zwar die Energie land im Umland von Großstädten oft „Pferdeland“: Im Um- schwerpunktmäßig verbraucht, ausgetragen werden die kreis von 5 bis 15 km von Großstädten reihen sich oft Konsequenzen der Energiewende jedoch überwiegend auf kranzförmig Pferdehöfe auf und tragen nicht unwesentlich dem Land. Dichte Biomasse in Anlagen pro 1000 km2 (Bezugsebene: Kreis, interpoliert) 2004 2008 2011 Datenquelle: Auswertung EEG-Stammdaten TUD, A.Dunkel (2012) Landschaftswandel durch Biomasseanlagen 1990 2004 2008 Entwicklung 2011 der Dichte an Biogasanlagen 2015 sowie Biomasseheizkraftwerken pro km² Abb. 5: Entwicklung der Dichte von Biomasseanlagen in der Bundesrepublik auf der Basis einer Auswertung der EEG-Anlagenstammdaten der Netz- 2004 2008 2011 betreiber / Quelle: Gruhl/Schmidt (2016) Datenquelle: Auswertung EEG-Stammdaten TUD, A.Dunkel (2012) Landschaftswandel durch Biomasseanlagen Entwicklung der Dichte an Biogasanlagen sowie Biomasseheizkraftwerken pro km²
12 THEMA 01/ 2 018 _ N AC H R I C H T E N D ER A R L Abb. 4: Entwicklung der Windenergienutzung in Deutschland von 1990 bis 2015, von den blauen über die gelben bis hin zu den roten Farbtönen steigt die Dichte an Windenergieanlagen (Quelle: TU DRESDEN, GRUHL, 2015) Abb. 4: Entwicklung der Windenergienutzung in Deutschland von 1990 bis 2015, von den blauen über die gelben bis hin zu den roten Farbtönen steigt die Dichte an Windenergieanlagen (Quelle: TU DRESDEN, GRUHL, 2015) Anzahl PV-Anlagen pro 10 km2 (Bezugsebene: Kreis, interpoliert) Abb. 5: Entwicklung der Photovoltaikanlagen in Deuschland von 1990 bis 2015, von den blauen über die gelben bis zu den roten Farbtönen steigt die Dichte an Photovoltaikanlagen (Quelle: TU DRESDEN, GRUHL, 2015) 1990 2004 2008 2011 2015 8 Abb. 6: Entwicklung der Dichte von Photovoltaikanlagen in der Bundesrepublik auf der Basis einer Auswertung der EEG-Anlagenstammdaten der Netzbetreiber / Quelle: Gruhl/Schmidt (2016) Abb. 5: Entwicklung der Photovoltaikanlagen in Deuschland von 1990 bis 2015, von den blauen über die gelben bis zu den roten Farbtönen steigt die Dichte an Photovoltaikanlagen (Quelle: TU DRESDEN, GRUHL, 2015) Anzahl Windenergieanlagen pro 1000 km2 (Bezugsebene: Kreis, interpoliert) Abb. 5: Entwicklung der Photovoltaikanlagen in Deuschland von 1990 bis 2015, von den blauen über die gelben bis zu den 8 roten Farbtönen steigt die Dichte an Photovoltaikanlagen (Quelle: TU DRESDEN, GRUHL, 2015) 8 Abb. 4: Entwicklung der Windenergienutzung in Deutschland von 1990 bis 2015, von den blauen über die gelben bis hin zu den roten Farbtönen steigt die Dichte an Windenergieanlagen (Quelle: TU DRESDEN, GRUHL, 2015) 1990 2004 2008 2011 2015 Abb. 7: Entwicklung der Dichte von Windenergieanlagen in der Bundesrepublik auf der Basis einer Auswertung der EEG-Anlagenstammdaten der Netzbetreiber / Quelle: Gruhl/Schmidt (2016) Abb. 4: Entwicklung der Windenergienutzung in Deutschland von 1990 bis 2015, von den blauen über die gelben bis hin zu den roten Farbtönen steigt die Dichte an Windenergieanlagen (Quelle: TU DRESDEN, GRUHL, 2015) Abb. 4: Entwicklung der Windenergienutzung in Deutschland von 1990 bis 2015, von den blauen über die gelben bis hin Äußere und innere Veränderungen Und in diesen virtuellen Realitäten, wie beispielsweise im zu den roten Farbtönen steigt die Dichte an Windenergieanlagen (Quelle: TU DRESDEN, GRUHL, 2015) Nun habe ich bislang vor allem die äußeren Landschaftsver- „second life“, werden Landschaften in großem Maßstab re- änderungen beschrieben. Was ist aber mit unseren inneren produziert oder neu entworfen, und mitunter wird auch Bildern von Landschaft? Denn manche Konflikte entstehen das ausgelebt, was im wirklichen Leben nicht möglich gerade dadurch, dass sich unsere Vorstellungen von Land- scheint. Die Digitalisierung wird also die Sicht auf Land- schaft deutlich langsamer als ihr äußeres Bild verändern. schaft und den Landschaftswandel verändern. Offen ist al- Die Wahrnehmung des Landschafts wandels ist dabei lerdings noch wie. selbstverständlich individuell höchst unterschiedlich und Festzuhalten ist an dieser Stelle zunächst, dass sich hängt von vielen Faktoren ab, z. B. davon, wie die Prozesse der aktuelle Landschaftswandel auf einer äußeren und ei- beeinflusst werden können. In einem Interview im Land- ner inneren Ebene vollzieht, und – ganz gleich auf welcher kreis Mittelsachsen wurde beispielsweise inAbb. Bezug auf eine 5: Entwicklung von beiden der Photovoltaikanlagen – ausgesprochen in Deuschland von 1990 bis 2015, tiefgreifend von den blauen überund komplex die gelben bis zu den ab- roten Farbtönen steigt die Dichte an Photovoltaikanlagen (Quelle: TU DRESDEN, GRUHL, 2015) Windfarm geäußert: „… die haben wir gewollt … also muss läuft (vgl. hierzu auch der Artikel von Kühne in diesem ich sie nicht als was Negatives betrachten“8(Schmidt et al. Heft). Zwischen Stadt und Land sind durchaus unter- 2014). Das zeigt sehr plastisch, dass Veränderungen grund- schiedliche Transformationspfade zu erkennen, teilweise sätzlich positiver beurteilt werden, wenn an ihnen persön- entstehen sogar pure Parallelwelten. lich mitgewirkt wurde. Hinzu kommen noch Trends, deren Konsequenzen wir noch gar nicht wirklich abschätzen kön- nen, z. B. die Digitalisierung. Die künstliche Intelligenz war Abb. 5: Entwicklung der Photovoltaikanlagen in Deuschland von 1990 bis 2015, von den blauen über die gelben bis zu den im Dezember letzten Jahres so weit, dass Computer selbst- roten Farbtönen steigt die Dichte an Photovoltaikanlagen (Quelle: TU DRESDEN, GRUHL, 2015) ständig lernfähig sind. Wir leben also immer stärker in vir- Abb. 5: Entwicklung der Photovoltaikanlagen in Deuschland von 1990 bis 2015, von den blauen über die gelben bis zu den 8 tuellen Realitäten, roten Farbtönen steigtdie durchaus die Dichte ihr Eigenleben an Photovoltaikanlagen (Quelle: TU Dentfalten. RESDEN, GRUHL, 2015) 8
01/ 2 018 _ N AC H R I C H T EN D ER A R L THEMA 13 Herausforderungen für die Planung in Städten schafts(rahmen)planung! Dies trifft insbesondere auch für und ländlichen Räumen die beiden räumlichen Gegenpole Stadt und Land zu, denn Die planerischen Handlungsfelder sind dementsprechend auch zwischen ihnen brauchen wir ein Mehr an Vernetzung verschieden: In Metropolen stehen Bevölkerungswachs- und Teilhabe und insgesamt eine querschnittsorientierte, tum und Siedlungsdruck im Fokus, in dünn besiedelten gesamträumliche Perspektive und Verantwortung. ländlichen Räumen eher Schrumpfungsprozesse. In Metro- polen ist zudem eine robuste grüne Infrastruktur zu defi- nieren. Diese sollte eine breite Vielfalt an Grünflächentypen beinhalten, die multifunktional auf engem Raum möglichst Literatur viele ökologische und zugleich Erholungsfunktionen erfüllt, Bode, V.; Hanewinkel, C. (2018): Kleinstädte im Wandel. National- klimawandelangepasst ist und zugleich den unterschiedli- atlas. Leibniz-Institut für Länderkunde. chen kulturellen Wurzeln der Stadtbevölkerung (z. B. im Gruhl, E.; Schmidt, C. (2016): Monitoring der Landschaftsentwick- lung. Forschungsprojekt am Lehr- und Forschungsgebiet Landschafts- Hinblick auf Migration) Rechnung trägt. Die Waldfläche ist planung der TU Dresden im Auftrag des Bundesamtes für Naturschutz. im Übrigen in den letzten 20 Jahren in unseren Großstäd- Hallmann, C. A. et al. (2017): More than 75 percent decline over 27 ten stärker gewachsen als auf dem Land. Der Flächenanteil years in total flying insect biomass in protected areas. PLOS One. von Wald ist in den kreisfreien Großstädten zwischen 1996 Mayr, M. (2012): Städter stillen ihre Sehnsucht durch Hochglanz-Ma- und 2015 von 15,8 % auf 17,3 % angestiegen, stärker als im gazine. Artikel vom 3. Juni 2012 in der Augsburger Allgemeinen Zei- bundesweiten Durchschnitt. Wenn man den Zeitraum tung. 2010–2015 herausgreift und wieder die vier siedlungs- Richter, A. (2009): Landschaft in der Werbung – Sehnsuchtsbilder von Landschaften in der Printwerbung zwischen 1930 und 2009. Diplom- strukturellen Kreistypen miteinander vergleicht, so hatten arbeit am Lehr- und Forschungsgebiet Landschaftsplanung der TU in diesem Zeitraum die kreisfreien Großstädte interessan- Dresden, Betreuung Prof. Dr. C. Schmidt. terweise auch bundesweit die allergrößte Zuwachsrate. Schmidt, C. et al. (2011): Naturschutzfachliche Bewertungsgrund- Wald ist also mittlerweile längst in den Kernstädten der Me- lagen für die Ausstattung mit Arten, Lebensgemeinschaften und Le- tropolen angekommen. Offen ist allerdings, ob dieser bensräumen in Agrarlandschaften. Freiberg. Schmidt, C. et al. (2014): Kulturlandschaftsprojekt Mittelsachsen. Trend langfristig anhält. Dresden. In den ländlichen Räumen drängen sich ganz andere Schmidt, C. et al. (2018): Landschaftsbild und Energiewende. For- Entwicklungsschwerpunkte auf. Dort ist zunächst zu fra- schungsvorhaben im Auftrag des Bundesamtes für Naturschutz. Dres- gen, was das typisch Ländliche und Dörfliche zukünftig aus- den. machen soll. Hier gibt es ein Spannungsfeld zwischen den Zürn, A. (2018): Landschaftswandel. Projektarbeit am Lehr- und For- Klischeevorstellungen, die manche Städter mitbringen, schungsgebiet Landschaftsplanung der TU Dresden, Betreuung Prof. Dr. C. Schmidt. dem Beharrungsvermögen der Alteinwohner und den Ide- en von Raumpionieren. Und wie sieht die Zukunft der Kleinstädte aus? Diese stellen gerade im ländlichen Raum oftmals wichtige Anker- P R O F. D R . C AT R I N S C H M I DT punkte dar. Bundesweit hat aber ein Drittel der Kleinstädte ist Mitglied der ARL und des Beirats für Raum- seit 2001 erhebliche Funktions- und Bedeutungsverluste entwicklung der Bundesregierung. Sie ist hinnehmen müssen (Bode et al. 2018). Dies trifft ländliche Dekanin und Professorin für Landschafts- Räume besonders hart. Ebenso steht die aktive Gestaltung planung an der TU Dresden. der Energiewende an, und dies nicht nur in Bezug auf einen Energieträger, sondern energieträgerübergreifend sowie in Tel. +49 351 463 33383 Bezug auf Infrastrukturlandschaften. Eine grüne Infrastruk- catrin.schmidt@tu-dresden.de tur als Pendant und Gegenstück dazu ist hier letztlich nicht weniger wichtig als im städtischen Fokus. Klar ist aber auch, dass sich solche Ziele wohl kaum durch solitäre Einzelvor- haben umsetzen lassen. Gesucht: Strategische Planung und Vernetzung Damit kommen wir zu einem zentralen Punkt: Die Proble- me unserer Zeit lassen sich nicht durch fragmentierte Plan- feststellungsverfahren lösen. So profund diese auch im Einzelnen sein mögen, sie können nicht das ersetzen, was eigentlich nötig wäre: strategisches Vorausdenken, über- greifende, integrative Konzepte und Initialprojekte, mit de- nen Entwicklungsprozesse initiiert oder unterstützt wer- den. Je komplexer und tiefgreifender der Landschaftswandel wird, desto wichtiger wird strategische Planung. Und da sind wir kommunal übergreifend bei nichts anderem als der Regionalplanung im engen Zusammenwirken mit der Land-
14 THEMA 01/ 2 018 _ N AC H R I C H T E N D ER A R L Olaf Kühne DER DOPPELTE L ANDSCHAFTSWANDEL Physische Räume, soziale Deutungen, Bewertungen Im Zuge der Diskussion um die räumlichen Auswirkungen re) Geschwister, Großeltern, später auch in der Gleichaltri- der Energiewende, von Verkehrswegen und Gewerbege- gengruppe etc. Gemäß diesem Verständnis muss ein als bieten sowie der Gewinnung mineralischer Rohstoffe hat Landschaft gedeuteter physischer Raum nicht (stereoty- die Frage, was Landschaft ausmacht und nach welchen Kri- pen) Schönheitsnormen entsprechen, er muss vertraut terien sie bewertet wird, an Aktualität gewonnen. Den Aus- sein, was die Norm der Stabilität beinhaltet. gangspunkt bilden häufig Protestaktivitäten von Bürgerin- Stereotype Landschaftsvorstellungen werden hinge- nen und Bürgern, die sich gegen Veränderungen dessen, gen vermittelt, z. B. durch den Schulunterricht (eigens was sie als „Landschaft“ bezeichnen und was sie als erhal- Schulbücher), durch Filme, Internet oder Bildbände. Die tenswert verstehen, zur Wehr setzen. hier verinnerlichten Deutungs- und (Be)Wertungsmuster Hieran knüpft der vorliegende Beitrag an: Er befasst basieren weniger auf Vertrautheit als auf gesellschaftlich sich mit den sozialen Deutungen und Bewertungen von geteilten, insbesondere ästhetischen Normen, aber auch Landschaft und stellt die These auf, dass der Raum bzw. die auf Vorstellungen der individuellen Nützlichkeit (z. B. für Konstruktion von Landschaft einem doppelten Wandel un- Spaziergänge oder als Kulisse für sportliche Aktivitäten). terliegen. Zum einen wandelt sich die Deutung und Bewer- Wird ein physischer Raum unter dem Modus der stereoty- tung dessen, was im physischen Raum eine Änderung er- pen Landschaft beurteilt, werden Elemente, die stereoty- fährt, zum anderen unterliegen die Deutungs- und pen Vorstellungen nicht entsprechen, negativ bewertet, Bewertungsmuster selbst einem Wandel. Zu Beginn wird eine Revision dieser Objekte wird befürwortet. Unter dem das dem Beitrag zugrunde liegende sozialkonstruktivisti- Modus der „heimatlichen Normallandschaft“ erhalten hin- sche Verständnis von Landschaft näher erläutert. Hierbei gegen auch diese Objekte eine stark positiv-emotionale Be- unterscheide ich drei verschiedene Zugänge zu Land- zugnahme (Kühne 2018a). schaftskonstruktionen. Anschließend werden die sich ver- Die in Berufsausbildung und insbesondere wissen- ändernden Deutungen und Bewertungen von Landschaft schaftlichem Studium vermittelten Sonderwissensbestän- anhand empirischer Forschungsergebnisse erläutert und de zum Thema „Landschaft“ sind einerseits stark kognitiv, daraus Schlussfolgerungen für die raumbezogene Planung andererseits defizitorientiert geprägt: Fachlich konsensua- gezogen. lisierte Deutungen und Wertungen werden mit einer spezi- fischen Terminologie verbunden, als Landschaften be- Landschaft – ein komplexer Begriff schriebene Räume werden gemäß der fachlichen In diesem Beitrag wird Landschaft nicht als Ausschnitt ei- Deutungsmuster beschrieben und anhand von Kriterien- nes physischen Raumes mittlerer Dimension o. ä. verstan- sets bewertet, wobei in der Regel Defizite im Sinne einer den, sondern als soziale bzw. individuelle Konstruktion (un- Sein-Sollen-Differenz konstruiert werden, um dann Vor- ter vielen: Greider/Garkovich 1994; Gailing/Leibenath schläge zu einer Angleichung des „Seins-“ an den „Sollens- 2010; Kühne 2018b). Landschaft entsteht demgemäß zustand“ zu formulieren (Kühne 2008b; Hokema 2015). durch die Zusammenschau physischer Objekte auf Grund- Die Deutungs- und Bewertungsmuster sind dabei nicht sta- lage gesellschaftlicher Konventionen. Diese gesellschaftli- bil, sondern unterliegen einer zeitlichen (aber auch einer chen Konventionen werden im Prozess der Sozialisation kulturellen und sozialen) Veränderlichkeit. vermittelt. Dieser Prozess wiederum lässt sich in die Ent- stehung der „heimatlichen Normallandschaft“ und der Deutungen und (Be)Wertungen im Wandel „stereotypen Landschaft“ differenzieren. Bei einer land- Der Wandel der physischen Grundlagen von Landschaft ist schaftsbezogenen (Berufs-)Ausbildung verinnerlichen ei- Gegenstand zahlreicher Untersuchungen und lässt sich ei- nige Personen zudem bestimmte landschaftsbezogene gens anhand des Vergleichs topographischer Karten, von Sonderwissensbestände (vgl. Kühne 2008a; Stotten 2013). Luftbildern oder Fotos gleicher Perspektive visuell doku- Die heimatliche Normallandschaft entsteht in der mentieren. Der Wandel gesellschaftlicher Deutungen und Kindheit durch die Aneignung des Umfeldes des elterlichen (Be)Wertungen von Landschaft ist hingegen deutlich we- Wohnsitzes, vermittelt durch Eltern, (insbesondere älte- niger intensiv untersucht. Gerade aus sozialkonstruktivisti-
01/ 2 018 _ N AC H R I C H T EN D ER A R L THEMA 15 scher Perspektive ist dieser Wandel jedoch der bedeutsa- physischer Räume hin zur Erhaltung „historischer Kultur- mere Teil des „doppelten Landschaftswandels“, da die landschaften“ ist hierfür ein prägnantes Beispiel (vgl. Ipsen sozialen bzw. individuellen Konstruktionen von Landschaft 2006; Kühne 2008b). – wie oben gezeigt – den konstitutiven Teil der Erzeugung Stereotype Landschaftsvorstellungen sind das Ergeb- von Landschaft ausmachen. Doch auch für die physischen nis eines Jahrhunderte dauernden Prozesses der Deutung Grundlagen von Landschaft ist die Ebene gesellschaftlicher und Umdeutung, Bewertung und Umbewertung dessen, bzw. individueller Deutungs- und Bewertungsmuster von was unter „Landschaft“ zu verstehen sei. Im deutschen zentraler Relevanz, schließlich findet bei deren Wandel Sprachraum mischen sich hier beispielsweise materielle As- etwa eine Verschiebung zwischen Erwünschtheit, Indiffe- pekte (seit dem Mittelalter, Landschaft als physischer Ge- renz oder Unerwünschtheit von physischen Objekten statt. genstand) mit ästhetischen Zuschreibungen (seit der Diese Veränderungen betreffen sowohl Sonderwis- Renaissance) wie auch moralischen Aufladungen (seit der sensbestände, stereotype Landschaftskonstruktion als Romanik, verbunden mit der Ablehnung etwa von industri- auch die heimatliche Normallandschaft, jedoch in jeweils ellen Entwicklungen, rationeller Landbewirtschaftung, Ver- unterschiedlicher Weise. Die Sonderwissensbestände un- städterung etc.) bis hin zu emotionalen Zugriffen als „Hei- terliegen der wissenschaftlichen Entwicklung und sind so- mat“, seit der Romantik und immer wieder zu Zeiten mit stets durch Perspektiv- oder Paradigmenwechsel rever- raschen gesellschaftlichen Wandels besonders intensiv ak- sibel. Der Paradigmenwechsel in den landschaftsbezogenen tualisiert (Kühne/Spellerberg 2010; Schenk 2013; Kühne Planungswissenschaften von einer rationellen Gestaltung 2018b). Abb. 1: Anteile der Antworthäufigkeiten auf die geschlossene Frage in Bezug auf eine Abbildung, die einen Park im Stile eines englischen Gartens darstellt: „Wie würden Sie den oben dargestellten Wald charakterisieren?“ Bis zu drei Antworten waren möglich. Auswertung nach Alterskohorten, die Alterskohorte „15 und jünger“ ist hellgrau dargestellt, da hier aufgrund der geringen Fallzahlen keine signifikanten Aussagen getroffen werden können (n = 1,546) / Quelle: Kühne 2018a: 19
16 THEMA 01/ 2 018 _ N AC H R I C H T E N D ER A R L Gleichgültigkeit Erhebungsjahr Zugehörigkeit Behaglichkeit weiß nicht Abscheu anderes Summe Freude Trauer Angst Liebe Stolz Gau 2004 0,2 45,3 2,4 0,0 22,4 0,0 2,2 0,4 16,0 4,8 6,2 100,0 2016 0,3 33,6 1,0 0,0 33,6 0,0 1,8 2,0 23,5 3,8 0,5 100,0 Industrie 2004 4,6 0,7 18,2 7,3 0,2 19,1 0,0 3,1 22,4 12,7 11,6 100,0 2016 3,4 0,9 18,1 7,8 0,0 12,2 0,0 9,2 27,8 16,3 4,4 100,0 Wald 2004 1,3 33,2 7,5 1,3 29,9 0,4 1,8 2,2 11,4 7,3 3,7 100,0 2016 0,7 23,5 14,6 1,2 26,2 0,5 0,5 3,9 16,7 6,3 5,8 100,0 Windkraft 2004 3,7 2,4 32,3 7,7 4,2 17,1 0,0 4,0 4,8 11,0 12,7 100,0 2016 7,4 1,6 24,7 11,1 3,9 14,3 0,0 3,2 11,1 14,5 8,1 100,0 Tab. 1: Die Antworten darauf, welche Gefühle die abgebildeten Landschaften bei den Befragten auslösen, nach den Erhebungsjahren 2004 (n = 455) und 2016 (n = 436; gleiche Erhebungsmethodik: Untersuchungsraum Saarland, postalische Haushaltsbefragung, gleicher Fragebogen). Die hellgraue Flächenfärbung bezeichnet einen signifikanten, die dunkelgraue einen hochsignifikanten Unterschied zwischen den dargestellten Werten. Angaben in Prozent, es war nur jeweils eine Antwort möglich / Quelle: Kühne 2018a: 51 Bei der heimatlichen Normallandschaft spielt noch des“, also mit Unterwuchs und Totholz, das von Jüngeren ein weiterer Aspekt eine bedeutende Rolle: die Intergene- mit positiven Attributen, von Älteren mit negativen Attribu- rationalität der Deutung und Bewertung von Landschaft. ten versehen wird. Hier wird neben dem Wandel gesell- Als „normal“ wird eine Landschaft empfunden, wenn sie schaftlicher (stereotyper) Deutungs- und Bewertungs- dem Zustand aus der eigenen frühen Entwicklungsphase muster auch der intergenerationelle Wandel heimatlicher und damit der frühkindlichen Erfahrungswelt entspricht. Normallandschaft deutlich: Mit dem Paradigmenwechsel Wandeln sich die physischen Grundlagen von Landschaft, der Forstwirtschaft von der Altersklassen- zur naturnahen wird dies als normwidrige Entwicklung verstanden. Für Waldwirtschaft wurde „wilder Wald“ zunehmend durch nachfolgende Generationen, die mit dieser Entwicklung so- Jüngere als „normal“ konstruiert (Kühne/Jenal/Currin zialisiert wurden, wird der Zustand der Landschaft hinge- 2014). gen als „normal“ empfunden. Um es beispielhaft zuzuspit- Häufig unterschieden sich auch die Zuschreibungen zen: Personen, die in einer durch Streuobstwiesen zu vier vorgelegten Fotos unterschiedlichen Inhalts zwi- geprägten Landschaft aufgewachsen sind, werden die Be- schen den Erhebungsjahren 2004 und 2016 (Tab. 1). Be- pflanzung der Hänge mit Büschen als „Verlust heimatlicher merkenswert ist hier u. a. die signifikante Steigerung der Landschaft“ wahrnehmen, während die nachfolgende Ge- Zuschreibung von Zughörigkeit zu einem als „Offenland- neration, die mit den von Büschen bewachsenen Hängen schaft mit Windkraftanlagen“ beschreibbaren abgebilde- groß wurde, eine Freistellung dieser Hänge als Verlust emp- ten Raum wie auch die Abnahme von Gleichgültigkeit (ge- findet. Die heimatliche Normallandschaft unterliegt ent- tragen durch jüngere Befragte) und die Zunahme von sprechend einem (zumindest potenziell) starkem interge- Angst (bei Älteren). Hinsichtlich der übrigen vorgelegten nerationellen Wandel (zusammenfassend: Kühne 2018a). Fotos fanden sich deutlich geringere intergenerationelle Die erhebliche intergenerationelle Veränderlichkeit Unterschiede bei der Veränderung der Deutung, was eher wird in der Deutung und Bewertung von Fotos unterschied- auf einen Wandel stereotyper Landschaftskonstrukte denn licher, üblicherweise als Landschaft verstehbarer Räume heimatlicher Normallandschaft schließen lässt (schließlich deutlich. So unterscheiden sich die Antworten zu einem sind die physischen Manifeste der Energiewende ein Phä- vorgelegten Foto eines englischen Gartens zwischen den nomen, das in eher jüngerer Zeit flächenhaft auftritt). unterschiedlichen Alterskohorten deutlich (Abb. 1): Je jünger die Befragten, desto höher die Neigung, das vorge- Doppelter Landschaftswandel: Folgen legte Foto als hässlich oder modern zu bezeichnen; je älter für die Raumforschung die Befragten, desto häufiger eine Zuschreibung von tradi- Die dargestellten theoretischen Überlegungen und empi- tionell, schön, natürlich, interessant oder romantisch (bis- rischen Befunde verdeutlichen die in der Raumforschung weilen mit kleineren Abweichungen zu diesen Trends). In- bislang nur am Rande behandelten Veränderungen gesell- vers zu der Beurteilung des Fotos des englischen Gartens schaftlicher (und mit diesen rückgekoppelten individuel- vollzieht sich die Beurteilung eines Fotos eines „wilden Wal- len) Landschaftskonstrukte. Ein tieferes Verständnis die-
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