Erwachsenwerden - mehr als nur der Übergang

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Erwachsenwerden - mehr als nur der Übergang
Erwachsenwerden – mehr als nur der Übergang
s

                             von Schule in Beruf

              Gesundheitsbelastungen und -risiken
          s

                                 bei Jugendlichen

             Einstellungen Jugendlicher und junger
         s

                            Erwachsener zu Europa
Erwachsenwerden - mehr als nur der Übergang
2   INHALT                                                                                                                 BWP 4/2017

         EDITORIAL                                                                    WEITERE THEMEN

     3   Ein neues Ausbildungsjahr mit großen Heraus­                           40    Integration junger Flüchtlinge in Ausbildung
         forderungen                                                                  und Beruf
         F R I E D R I CH H U BER T E SSE R                                           Das hessische Landesprogramm »Wirtschaft
                                                                                      integriert«
         BERUFSBILDUNG IN ZAHLEN                                                      GUDRUN REI N HA RT

     4   Geflüchtete auf dem Weg in Ausbildung –                                42    Integration Geflüchteter in den Arbeitsmarkt
         Welche Unterstützung wünschen sie sich?                                      Welche Unterstützungsangebote kennen und
         J U L I A G E I , STE PH ANIE M ATTH ES                                      nutzen Unternehmen?
                                                                                      S A RA H P I EREN KEMP ER, S VEN JA JA MBO

         THEMENSCHWERPUNKT
                                                                                44    Dualisierte Ausbildungsprogramme auf den
     6   Erwachsenwerden – mehr als nur der Übergang                                  Philippinen
         von der Schule in den Beruf                                                  MI C HA EL S C HWA RZ, FELI X WEN ZELMA N N ,
         A N N E B E R NGR U BER , NOR A GAU PP                                       MA RI C RI S V. C A P I S TRA N O

    10   Berufliche Aspirationen von Jugendlichen mit                           48    Gleichwertigkeit der Berufsbildung im DQR –
         und ohne Migrationshintergrund                                               Durchbruch oder Mogelpackung?
         A L E X A N D R A W ICHT, M ATTH IAS SIEM BAB,                               HERMA N N S C HMI DT, MA N FRED KREMER
         W O L F G A N G LU D W IG- M AYER H OFE R

                                                                                50    Inklusion in der Lehrerausbildung
    14   Berufswünsche und Einflüsse auf die Berufswahl                               Zugänge und Ansätze am Beispiel der Gesundheits-
         von Jugendlichen                                                             berufe
         H O L L E GR ÜNE R T, SU SANNE K AUFM ANN                                    URS ULA BYLI N S KI

    19   Sind Jugendliche mit starker Marktposition                                   BERUFE
         anspruchsvoller bei der Betriebswahl?
         V E R E N A E B E R HAR D , JOACHIM GE R D ULR ICH                     53    Novellierung der kaufmännischen Luft­
                                                                                      verkehrsberufe
    24   Ausbildung in den IT-Berufen –                                               A N KE KOC K

         Bewertung aus Sicht der Auszubildenden
         STE P H A N I E CONEIN, H ENR IK SCHW AR Z                                   HAUPTAUSSCHUSS

    26   Gesundheitsbelastungen und -risiken                                    55    Bericht der Sitzung 2/2017 in Bonn
         bei Jugendlichen                                                             THOMA S VOLLMER
         M A N F R E D B ETZ, SY LVIA BR AND

                                                                                      REZENSIONEN
    30   Die Einstellungen Jugendlicher und junger
         Erwachsener zu Europa und zur EU                                       57    Identifikation von Wirkungen der Beratung
         MONIQUE LANDBERG                                                             REI N HOLD WEI ß

    34   Sprache lernen und netzwerken                                          58    Akademisierung der Berufsbildung
         Lukas Brandl, dual Studierender und Kosmopolit,                              A N GELA FOGOLI N

         über den Gewinn von Auslandspraktika
                                                                                59    KURZ UND AKTUELL
    36   Neue Kulturen kennenlernen, Freundschaften
         knüpfen und fürs Leben lernen                                          66    Autorinnen und Autoren
         Lena Langguth über ihr Erasmus+-Praktikum                                    Impressum
         in England
                                                                                      Diese BWP-Ausgabe als E-Paper:
    38   Literaturauswahl zum Themenschwerpunkt                                       www.bibb.de/bwp-4-2017

                         Diese Netzpublikation wurde bei der Deutschen Nationalbibliothek angemeldet und archiviert. URN: urn:nbn:de:0035-bwp-17400-3
Erwachsenwerden - mehr als nur der Übergang
BWP 4/2017                                                                                               EDITORIAL         3

Ein neues Ausbildungsjahr mit großen
Herausforderungen
                                                                                             FR IE DR IC H H UB E R T E S S E R
                                                                                             Prof. Dr., Präsident des Bundes­
                                                                                             instituts für Berufsbildung

Liebe Leserinnen und Leser,

zum Ausbildungsstart sollte abgeschlossen sein, was in          Ausbildungsberufen in Deutschland oder schlicht bei der
Forschung und Politikberatung immer mehr ins Blickfeld          Bewältigung der Alltagsorganisation – endet nicht mit dem
gerät: ein strukturierter Berufsorientierungsprozess. Die­      Beginn einer Ausbildung. Hier ist auch ausbildungsbeglei­
ser Prozess ist als erfolgreich anzusehen, wenn junge Men­      tend individuelle Unterstützung nötig, wie Ergebnisse der
schen in der Lage sind, eine ihren Fähigkeiten und Talen­       BA-/BIBB-Migrationsstudie verdeutlichen. Um dies zu
ten entsprechende Berufswahl zu treffen. Denn wir wissen:       gewährleisten, sind neben persönlichem Engagement vor
Wer eine Entscheidung trifft, die möglichst gut zu den ei­      allem Rahmenbedingungen gefragt, die eine Förderung
genen Vorstellungen und Fähigkeiten passt, ist zufriedener      im Regelsystem ermöglichen. Förderprogramme und Ini­
im Beruf. Doch nicht allen Jugendlichen gelingt es, in ih­      tiativen auf Bundes- und Länderebene stimmen hier zuver­
rem Wunschberuf eine Ausbildung zu beginnen.                    sichtlich!

Passungsprobleme bleiben eine Herausforderung                   Unterstützungsstrukturen für Betriebe stärken

Obwohl sich die Gesamtsituation auf dem Ausbildungs­            Integrationsangebote können jedoch nur dann ihre Wir­
markt auch dank des vielfältigen Engagements von Wirt­          kung entfalten, wenn sie den Verantwortlichen in den
schaft und Politik in den letzten zehn Jahren verbessert hat,   Betrieben bekannt sind und von ihnen genutzt werden.
sind viele junge Erwachsene ohne formale Qualifikation.         Hier scheint mir noch weitere Informations- und Aufklä­
Bundesweit sind es immer noch ca. zwei Millionen junge          rungsarbeit erforderlich zu sein. An die Akteure in den Re­
Menschen unter 34 Jahren! Über 80.000 junge Menschen            gionen gerichtet: Der Aufbau einer zukunftsorientierten
blieben 2016 bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz          Unterstützungsstruktur für die Betriebe ist mit besonderer
erfolglos. Wir tun also gut daran, vor allem Zugänge in         Priorität voranzutreiben. Dabei geht es etwa um anforde­
die Berufsausbildung aus Sicht der Jugendlichen im Blick        rungsgerechte Angebote, z. B. von Kammern, Kreishand­
zu behalten. Dabei sollten wir auf bewährte Praxis setzen.      werkerschaften und Innungen, die den Betrieben für die
Einstiegsqualifizierung und Assistierte Ausbildung sind         Ausbildungsanbahnung wie auch für die Ausbildungs­
nur zwei Instrumente, die es auch in Zukunft mit Nach­          durchführung in den Regionen zur Verfügung stehen. Zu­
druck zu fördern und zu nutzen gilt.                            sammen mit modernen Technologie- und Bildungszentren
                                                                sowie smarten Berufsschulen können die Ausbildungs­
Junge Geflüchtete auf dem Weg in Ausbildung                     regionen damit deutlich an Schlagkraft gewinnen.
unterstützen                                                    Bleibt mir zum Schluss, allen Akteuren der Berufsbildung
                                                                ein gutes Händchen beim Meistern der anstehenden He­
Der Übergangsbereich ist nicht zuletzt durch die Einmün­        rausforderungen zu wünschen, damit der Einstieg ins Be­
dung junger Flüchtlinge wieder stark gewachsen. Viele           rufsleben allen jungen Menschen, die sich für eine Berufs­
von ihnen nutzen bspw. das Berufsvorbereitungsjahr zum          ausbildung entschieden haben, gelingt!
Spracherwerb und zum Erwerb beruflicher Grundkennt­
nisse.
Alle Akteure in Praxis und Politik haben mittlerweile ver­
standen, dass der Übergang in Ausbildung bei jungen
Flüchtlingen viel Zeit und Ressourcen erfordert. Ihr Un­
terstützungsbedarf – sei es beim Erlernen der deutschen
Sprache, bei der Orientierung zu Bildungsgängen und
Erwachsenwerden - mehr als nur der Übergang
4   BERUFSBILDUNG IN ZAHLEN                                                                              BWP 4/2017

    Geflüchtete auf dem Weg in Ausbildung –
    Welche Unterstützung wünschen sie sich?

    JUL I A GEI                                suchten die allgemeinbildende Schule.       Befragten aufgrund ihrer Registrierung
    Mitarbeiterin im Arbeitsbereich »Berufs­
    bildungsangebot und -nachfrage/
                                               Etwa jeder/jedem Fünften gelang der         als Bewerber/-innen offiziell als »aus­
    Bildungsbeteiligung« im BIBB               Weg in das deutsche Bildungssystem          bildungsreif« gelten und somit auch
                                               bislang nicht: Zehn Prozent der Befrag­     über ausreichende Deutschkenntnisse
    S T EP HA N I E MA T TH ES
    Wiss. Mitarbeiterin im Arbeitsbereich      ten gaben an, zum Befragungszeitpunkt       verfügen müssen, äußerte fast jede/-r
    »Berufsbildungsangebot und -nachfrage/     zu arbeiten bzw. zu jobben, weitere elf     Zweite den Wunsch nach mehr Unter­
    Bildungsbeteiligung« im BIBB
                                               Prozent waren arbeitslos.                   stützung. Auch von den Geflüchteten,
                                                                                           die erfolgreich in eine vollqualifizie­
                                               Unterstützungsbedarf von                    rende Ausbildung oder ein Studium
                                               Geflüchteten                                eingemündet waren, wünschten sich
    Die Integration Geflüchteter in Ausbil­                                                dies immerhin 44 Prozent.
    dung zählt aktuell zu den zentralen        Wo hätten die befragten Geflüchte­          Signifikante Unterschiede zwischen je­
    gesellschaftspolitischen Aufgaben in       ten mehr Hilfe benötigt? Welche Un­         nen, die erfolgreich in eine vollqualifi­
    Deutschland. Doch wie gut gelingt dies     terstützung wünschen sich vor allem         zierende Ausbildung oder ein Studium
    bislang? In der BA/BIBB-Migrations­        jene Geflüchteten, denen bislang kein       eingemündet sind, und jenen, denen
    studie 2016 konnten rund 1.600 Aus­        erfolgreicher Übergang in eine Ausbil­      ein solcher Übergang noch nicht ge­
    bildungsstellenbewerber/-innen mit         dung gelungen ist? Um diesen Fragen         lungen ist, zeigen sich in Bezug auf
    Fluchthintergrund zu ihrer aktuellen       nachzugehen, wurden den Befragten           den Zugang zu Informationen und
    Situation und ihren Einschätzungen         verschiedene Items vorgelegt, die sich      die Kontaktaufnahme mit Betrieben.
    befragt werden. Deutlich wird, welche      in Vorgesprächen mit Berufsberate­          Jeweils rund ein Drittel der bislang
    Probleme Geflüchtete auf ihrem Weg         rinnen und -beratern und Geflüchte­         erfolglosen Bewerber/-innen gab an,
    in Ausbildung sehen und wo sie sich        ten als relevant erwiesen hatten. Die       dass ein besserer Überblick über die
    Unterstützung wünschen.                    Befragten wurden gebeten, alle auf sie      verschiedenen Bildungswege und
                                               zutreffenden Unterstützungsbedarfe          Ausbildungsberufe, Einblicke in den
    Verbleibe von Personen mit                 anzukreuzen und ggfs. weitere Aspekte       Alltag der Berufsausbildung sowie
    Fluchthintergrund                          offen anzugeben.                            mehr Hilfe bei den ersten Kontakten
                                               Nahezu alle Befragten (91%) gaben un­       zu Ausbildungsbetrieben nötig gewesen
    Von den befragten Bewerberinnen und        abhängig von ihrem Verbleib an, dass        wäre. Mehr Hilfe beim Schreiben von
    Bewerbern, die aus einem der nicht eu­     sie mehr Hilfe benötigt hätten. Der drin­   Bewerbungen wünschen sich 40 Pro­
    ropäischen Asylzugangsländer nach          gendste Unterstützungsbedarf besteht        zent der bislang nicht in vollqualifi­
    Deutschland geflüchtet waren, gab rund     ihren Angaben zufolge beim Erlernen         zierende Ausbildung oder Studium
    ein Drittel an, sich zum Befragungs­       der deutschen Sprache. Wenngleich die       eingemündeten Bewerber/-innen. Der
    zeitpunkt in einer vollqualifizierenden
    Ausbildung oder in einem Studium zu
    befinden (duale Ausbildung: 30 %,
    vollzeitschulische Ausbildung: 2 %,
    Studium: 1 %). Fast ein Viertel (23 %)
    der Befragten absolvierte Ende 2016/
    Anfang 2017 eine teilqualifizierende
    Maßnahme (Einstiegsqualifizierung:
    8 %, Praktikum: 3 %, sonstige Über­
    gangsmaßnahme wie z.B. Berufsvorbe­
    reitungsjahr: 12 %). Weitere 16 Prozent
    befanden sich in einem Deutsch- bzw.
    Integrationskurs und vier Prozent be­
Erwachsenwerden - mehr als nur der Übergang
BWP 4/2017                                                                   BERUFSBILDUNG IN ZAHLEN                     5

Anteil der erfolgreich eingemündeten       Gebrauch. Ihre Angaben deuten darauf       Bildungssystem. Für die berufliche
Bewerber/-innen, die dies für relevant     hin, dass die Ausbildungsplatzsuche        Orientierung und die Kontaktaufnahme
hielten, fiel deutlich geringer aus, lag   nicht immer die dringlichste Sorge ist,    zu Betrieben stellen bewährte Regel­
aber dennoch zwischen 19 Prozent und       sondern zunächst großer Unterstüt­         instrumente eine wichtige Grundlage
32 Prozent (vgl. Abb.).                    zungsbedarf bei der Alltagsorganisa­       dar, müssen aber an die spezifischen
Unabhängig von ihrem Erfolg bei der        tion und Integration in Deutschland        Bedarfe dieser Zielgruppe angepasst
Ausbildungsplatzsuche wünschte sich        besteht. So äußern auffällig viele den     werden. Eine kontinuierliche Sprach­
rund ein Viertel der Geflüchteten zu­      Wunsch nach mehr Hilfe beim Finden         förderung ist hierbei von besonderer
dem mehr schulische Vorbereitung           von Sprachkursen, bei der Wohnungs-        Bedeutung (vgl. Reinhart in diesem
und einen Überblick über finanzielle       und Kinderbetreuungssuche, der Kor­        Heft).
Hilfen. Aufschlussreich ist die Rück­      respondenz mit Behörden sowie dem          Die vorgestellten Auswertungen ver­
meldung von rund einem Drittel der         Asylverfahren generell.                    deutlichen zudem, dass »Integration«
Befragten, die mehr Hilfe bei Behörden     Es erscheint daher wichtig, junge Ge­      mit der Aufnahme einer Ausbildung
bzw. dem Umgang mit diesen benötigt        flüchtete frühzeitig und individuell       nicht abgeschlossen ist. Auch jene
hätten. Ihre offenen Antworten geben       passend zu begleiten, um die Voraus­       Geflüchteten, denen ein Übergang in
hier konkretere Einblicke.                 setzungen zu schaffen, sich aktiv auf      eine Ausbildung gelungen ist, äußern
                                           Ausbildungsplatzsuche begeben zu           weiterhin großen Unterstützungsbedarf.
Hoher Unterstützungsbedarf bei             können. Insbesondere für Personen, die     Bewährte Instrumente wie die Assistier­
der Alltagsorganisation                    sich noch nicht so lange in Deutschland    te Ausbildung oder ausbildungsbeglei­
                                           aufhalten, bedarf es der Hilfe sowohl      tende Hilfen sollten daher verstärkt ge­
Von der Möglichkeit, weitere Unter­        in Bezug auf alltagspraktische Anliegen    nutzt werden, weil sie eine individuelle
stützungsbedarfe offen anzugeben,          (z. B. Wohnungssuche) als auch in Be­      Unterstützung der jungen Menschen
machten insgesamt rund 140 Personen        zug auf die Orientierung im deutschen      und der Betriebe ermöglichen.
                                                                                                                      s
Erwachsenwerden - mehr als nur der Übergang
6                                    THEMENSCHWERPUNKT                                                                                      BWP 4/2017

                                     Erwachsenwerden – mehr als nur der Übergang von der
                                     Schule in den Beruf

                                                   ANNE BERNGRU BER                  Nicht nur Qualifizierungsschritte und Entscheidungen über die Berufswahl
                                                   Dr., wiss. Mitarbeiterin in der
                                                                                     kennzeichnen für junge Menschen den Übergang ins Erwachsensein – auch
                                                   Fachgruppe Lebenslagen und
                                                   Lebensführung Jugendlicher        Schritte wie beispielsweise das selbstständige Wohnen außerhalb des Eltern­
                                                   am Deutschen Jugendinstitut
                                                   München                           hauses, erste Liebesbeziehungen oder das Zusammenziehen mit dem Partner/
                                                                                     der Partnerin. Erwachsenwerden ist damit mehr als nur der Schritt in die
    Fotos: David Ausserhofer / DJI

                                                   NORA GAU PP
                                                   Dr., Leiterin der Fachgruppe      finanzielle Selbstständigkeit. Der Beitrag nimmt verschiedene Verselbststän­
                                                   Lebenslagen und Lebensfüh­
                                                   rung Jugendlicher am              digungsschritte in den Blick und untersucht auf Grundlage des DJI-Surveys
                                                   Deutschen Jugendinstitut
                                                   München
                                                                                     AID:A (»Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten«) Zeitpunkte und Fakto­
                                                                                     ren, die diese Schritte beeinflussen.

                                     Verselbstständigung als Kernherausforderung des
                                     Jugend- und jungen Erwachsenenalters                                Ein Argument, das für ein verzögertes Erwachsenwerden
                                                                                                         sprechen könnte, ist der allgemeine Trend zum Erwerb hö­
                                     Der 15. Kinder- und Jugendbericht (BMFSFJ 2017, S. 49)              herer Bildungszertifikate. Denn der Anstieg der Abschluss­
                                     beschreibt die Jugendphase mit dem Dreiklang Qualifi­               quoten von jungen Menschen mit Abitur führt dazu, dass
                                     zierung, Selbstpositionierung, Verselbstständigung. Das             ein immer größerer Anteil junger Menschen mehr Lebens­
                                     heißt, Erwachsenwerden charakterisiert sich nicht allein            zeit in Bildungseinrichtungen verbringt (Stichwort: »Scho­
                                     durch den Erwerb von Bildungszertifikaten, die Ausbil­              larisierung der Jugendphase«, vgl. Fraij/Maschke/Ste­
                                     dungsbeteiligung und den Einstieg in den Arbeitsmarkt               cher 2015). Insbesondere schulische Übergänge in den
                                     (Qualifizierung). Es ist nach diesem Verständnis zusätz­            tertiären Bildungsbereich (Fachschulen, Berufsakademien,
                                     lich gekennzeichnet durch die Herstellung einer Balance             Hochschulen, Universitäten) sind in Deutschland stark von
                                     zwischen subjektiver Freiheit und sozialer Zugehörigkeit            formalen Bildungszertifikaten abhängig und damit auch
                                     (Selbstpositionierung) sowie verschiedenen Verselbststän­           nicht losgelöst von den zeitlichen Rahmenbedingungen
                                     digungsprozessen und einer damit einhergehenden stär­               der Sekundarschulen. Zudem sind Entwicklungen festzu­
                                     keren Verantwortungsübernahme (Verselbstständigung).                stellen, dass der Eintritt in die berufliche Ausbildung zeit­
                                     Die Wege ins Erwachsenenleben von Jugendlichen umfas­               lich immer näher an das Alter des Abiturs heranrückt. Das
                                     sen damit viel mehr als Übergänge von Schule in Ausbil­             Durchschnittsalter der Ausbildungsanfänger/-innen lag im
                                     dung und Beruf.                                                     Jahr 2015 bei 19,4 Jahren (vgl. BIBB 2017, S. 180).
                                     Oft wird gefragt, ob sich das Erwachsenwerden zeitlich              Diese institutionell vorgegebenen Übergänge stellen die
                                     verändert hat. Werden junge Menschen immer später er­               Voraussetzung für einen beruflichen Einstieg in den Ar­
                                     wachsen? Einerseits wird diskutiert, dass sich Verselbst­           beitsmarkt dar und schaffen damit gleichzeitig die Mög­
                                     ständigungsschritte zeitlich stärker voneinander entkop­            lichkeit zur finanziellen Unabhängigkeit von den Eltern.
                                     peln, weiter ausdifferenzieren und verzögern. In diesem             Daneben sind auch Verselbstständigungsschritte wie der
                                     Zusammenhang ist von »De-Standardisierungsprozessen«                Auszug aus dem Elternhaus und das partnerschaftliche
                                     (vgl. Brückner/Mayer 2005) und »Jo-Jo-Biografien«                   Zusammenwohnen abhängig von der finanziellen Situa­
                                     (vgl. Biggart/Walther 2006) die Rede. Auf der anderen               tion der jungen Erwachsenen.
                                     Seite spricht Lüders (2007) von einer »Verdichtung der              Eine gegenteilige Entwicklung ließe sich durch neuere
                                     Jugendphase«. Diese These nimmt an, dass Verselbststän­             bildungspolitische Entwicklungen wie die Verkürzung
                                     digungsprozesse zunehmend stringenter und zeitlich en­              der Schulzeit durch die zwischenzeitliche Einführung der
                                     ger verlaufen und diese eher zu einer Beschleunigung der            achtjährigen Gymnasialzeit (G8) sowie die Bologna-Re­
                                     Jugendphase führen.                                                 form vermuten. Denn diese sind mit dem Ziel eingeführt
Erwachsenwerden - mehr als nur der Übergang
BWP 4/2017                                                                       THEMENSCHWERPUNKT                    7

worden, dass junge Menschen dem Arbeitsmarkt früher zur       Zusammenziehen mit einem Partner oder einer Partnerin
Verfügung stehen. Mittlerweile sind viele Bundesländer je­    zur Verfügung. Für die Analysen werden die retrospektiven
doch wieder zu G9 zurückgekehrt oder bieten die Auswahl       Angaben zu ersten Übergängen im Lebenslauf von jungen
zwischen acht- und neunjährigem Gymnasium an.                 Erwachsenen des DJI-Survey AID:A II verwendet (vgl. Info­
Ein Vergleich von Schulabsolventinnen und -absolventen        kasten).
für die Jahre 2007 und 2012 weist darauf hin, dass die
verkürzte Schulzeit zu einem früheren Schulabschluss          Zeitpunkte erster Verselbstständigungsschritte
von Gymnasiastinnen und Gymnasiasten geführt hat (vgl.
Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, S. 94).         Insgesamt zeigen sich unterschiedliche Entwicklungen mit
Was den Übergang vom Gymnasium in Ausbildung oder             Blick auf die einzelnen Verselbstständigungsschritte, diffe­
Studium betrifft, so können Böwing-Schmalenbrock/             renziert nach der schulischen Bildung (vgl. Abb., S. 8) und
Lex (2015) anhand eines Vergleichs zweier Kohorten            Geschlecht.
zeigen, dass die verkürzte Gymnasialzeit bislang nicht zu
einem schnelleren Übergang in Ausbildung oder Studium         Unterschiede nach schulischem Bildungsabschluss
geführt hat, da junge Menschen die gewonnene Zeit statt­
dessen zur beruflichen (z. B. Praktika, Jobben) oder allge­   Der Beginn einer Ausbildung findet mit höherer Bildung
meinen Orientierung (z. B. Auslandsaufenthalt, Freiwilli­     tendenziell später statt (max. Hauptschulabschluss: 18 Jah­
ges Soziales/Ökologisches Jahr) nutzen (ebd., S. 54).         re; Mittlere Reife: 17 Jahre; Fachhochschulreife: 19 Jahre;
Der Beitrag geht der Frage nach, wie sich junge Erwachsene    Abitur: 20 Jahre). Ein klares Bild zeigt sich beim Einstieg
verschiedener Bildungsgruppen in Zeitpunkt, Reihenfolge       in die Erwerbstätigkeit. Dieser wird mit höherer Bildung
sowie zeitlichem Abstand zwischen Übergängen voneinan­        zunehmend später vollzogen, was damit auch im Schnitt
der unterscheiden oder sogar beeinflussen. Hierzu werden      zu einer Verzögerung der finanziellen Selbstständigkeit
erste Übergänge im Lebenslauf, die sozial, räumlich sowie     von höher Qualifizierten (Abitur: 25 Jahre) im Vergleich
ökonomisch die Unabhängigkeit vom Elternhaus markie­          zu den niedrigeren Bildungsgruppen (max. Hauptschulab­
ren, betrachtet.                                              schluss: 20 Jahre; Mittlere Reife: 21 Jahre; Fachhochschul­
                                                              reife: 22 Jahre) führt.
Datengrundlage und methodisches Vorgehen                      Beim Auszug aus dem Elternhaus hingegen zeigt sich das
                                                              umgekehrte Bild. Die Analysen verdeutlichen, dass junge
Als ökonomische Markierungspunkte werden dabei die Zeit­      Erwachsene mit Abitur hier früher selbstständig werden
punkte des Beginns der ersten Ausbildung bzw. des ersten      (21 Jahre) als niedrigere Bildungsgruppen, die im Schnitt
Studiums sowie der Beginn der ersten Erwerbstätigkeit he­     mit Mitte 20 das Elternhaus verlassen (max. Hauptschul­
rangezogen. Als räumlicher Übergang wird der erste Aus­       abschluss: 25 Jahre; Mittlere Reife und Fachhochschulrei­
zug aus dem Elternhaus betrachtet. Für die Untersuchung       fe: 24 Jahre).
sozialer Übergänge stehen die erste feste Partnerschaft mit   Der Zeitpunkt des Durchlaufens sozialer Verselbstständi­
einer Dauer von mindestens einem Jahr sowie das erste         gungsschritte wie der Beginn der ersten festen Partner­
                                                              schaft von mindestens einem Jahr (max. Hauptschulab­
                                                              schluss: 19 Jahre; Mittlere Reife und Fachhochschulreife:
                                                              18 Jahre; Abitur: 19 Jahre) sowie das Zusammenziehen mit
                                                              einem Partner oder einer Partnerin (max. Hauptschulab­
                                                              schluss: 27 Jahre; Mittlere Reife: 26 Jahre; Fachhochschul­
                                                              reife: 27 Jahre; Abitur: 28 Jahre) sind vergleichsweise
                                                              bildungsunabhängig. Hier unterscheiden sich die verschie­
                                                              denen Bildungsgruppen nicht so stark voneinander.
                                                              Die Ergebnisse der AID:A-Studie machen zudem deutlich,
                                                              dass der Auszug aus dem Elternhaus in den niedrigeren
                                                              Bildungsgruppen erst nach einem Erwerbseinstieg und
                                                              somit nach der finanziellen Selbstständigkeit stattfindet.
                                                              Je niedriger der Schulabschluss der jungen Erwachsenen,
                                                              umso näher liegen Auszug und Zusammenziehen mit dem
                                                              Partner bzw. der Partnerin beisammen. Dies weist darauf
                                                              hin, dass junge Menschen mit niedrigerer Bildung häufig
                                                              dann ausziehen, wenn sie mit einem Partner oder einer
                                                              Partnerin einen gemeinsamen Haushalt gründen.
Erwachsenwerden - mehr als nur der Übergang
8   THEMENSCHWERPUNKT                                                                               BWP 4/2017

    Wie sich hingegen bei den jungen Erwachsenen mit Abi­          Unterschiede nach Geschlecht
    tur zeigt, erfolgt die räumliche Selbstständigkeit noch vor
    dem Eintritt ins Erwerbsleben und damit vor der finanziel­     Mit Blick auf geschlechtsspezifische Unterschiede weisen
    len Unabhängigkeit. Der Zeitpunkt des Auszugs und der          die Ergebnisse von Berngruber (2016) darauf hin, dass
    Beginn eines Studiums oder einer Ausbildung liegen bei         junge Frauen und Männer ein bildungsspezifisch vergleich­
    Abiturientinnen und Abiturienten mit Anfang zwanzig eng        bares Muster in der Reihenfolge der Schritte aufweisen.
    beieinander. Dies weist darauf hin, dass ein Verlassen des     Der Beginn einer ersten Ausbildung bzw. eines ersten Stu­
    elterlichen Haushalts bei ihnen häufig mit dem Beginn ei­      diums und die Einmündung in die Erwerbstätigkeit erfolgt
    nes Studiums zusammenfällt. Viele Studierende sind wäh­        für junge Frauen und Männer weitestgehend gleichzeitig.
    rend des Studiums noch auf die finanzielle Unterstützung       Nichtsdestotrotz unterscheiden sich junge Frauen und
    der Eltern angewiesen, auch wenn staatliche Förderinstru­      Männer hinsichtlich räumlicher und sozialer Verselbst­
    mentarien (z. B. BAföG, Stipendien) sowie Nebenjobs eine       ständigungsschritte: Frauen verlassen das Elternhaus frü­
    gewisse finanzielle Selbstständigkeit ermöglichen. Daher       her, gehen früher eine feste Partnerschaft ein und ziehen
    ist zu vermuten, dass es die Einkommenssituation der El­       auch früher mit einem Partner bzw. einer Partnerin zusam­
    tern auch erlauben muss, zum Studium auszuziehen.              men als Männer. Die »engere Taktung« von Verselbststän­
    Die beiden sozialen Verselbstständigungsschritte liegen        digungsschritten bei jungen Frauen weist darauf hin, dass
    über alle Bildungsgruppen hinweg zeitlich am weitesten         das Erwachsenwerden für diese insgesamt zeitlich »dich­
    auseinander. Der zeitliche Abstand zwischen einer ersten       ter« erfolgt, wohingegen junge Männer die verschiedenen
    festen Partnerschaft und dem Zusammenziehen mit einem          Übergänge unabhängiger voneinander zu durchlaufen
    Partner bzw. einer Partnerin liegt bei durchschnittlich acht   scheinen.
    bis neun Jahren und erstreckt sich damit vom Ende des
    zweiten Lebensjahrzehnts bis ungefähr zum Ende des drit­
    ten Lebensjahrzehnts.
Erwachsenwerden - mehr als nur der Übergang
BWP 4/2017                                                                                     THEMENSCHWERPUNKT                            9

Die Rahmenbedingungen müssen stimmen,                                      stellen. Der 15. Kinder- und Jugendbericht (BMFSFJ 2017,
damit Verselbstständigung gelingen kann                                    S. 69) formuliert, »dass Gesellschaft und Politik, aber auch
                                                                           die Institutionen des Aufwachsens ›Jugend ermöglichen‹
Auch wenn der Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenal­                      müssen«. Hier sind vor allem Jugend-, Bildungs- und Ar­
ter stark durch die in der Schule verbrachte Zeit sowie die                beitsmarktpolitik mit ihren Arbeitsfeldern und die Akteure
anschließende Positionierung auf dem Ausbildungs- und                      aus der Praxis gefordert. Aufgabe von Jugendpolitik kann
Arbeitsmarkt geprägt ist, vollziehen junge Menschen in                     dabei sein, Jugendlichen Räume und Zeiten zu ermögli­
dieser Lebensphase vielfältige Verselbstständigungsschrit­                 chen, um ihr »jugendlich sein« leben zu können. Dies kann
te. Wie die Analysen zeigen, hängen die Zeitpunkte, zu                     insbesondere Freiräume, Moratoriumszeiten, Zeiten des
denen diese Schritte durchlaufen werden, vom Bildungs­                     Ausprobierens und der Orientierung beinhalten. Als Bei­
hintergrund der jungen Menschen ab. Auch sind einige ge­                   spiel sind hier Angebote der offenen Jugendarbeit oder
schlechtsspezifische Unterschiede zu beobachten.                           Möglichkeiten des ehrenamtlichen Engagements zu nen­
Insgesamt lässt sich festhalten, dass sich mit steigender                  nen. Im Kontext bildungspolitischer Strategien kann eine
Bildung die finanzielle Selbstständigkeit durch spätere Er­                stärkere Durchlässigkeit zwischen Bildungsinstitutionen
werbstätigkeit verzögert. Umgekehrt verhält es sich beim                   und Bildungsgängen eine Strategie darstellen, die Passung
Verlassen des Elternhauses. Hier führt die Aufnahme eines                  von Rhythmen im Lebenslauf der Jugendlichen und jungen
Studiums nach dem Abitur eher zu einer Beschleunigung                      Erwachsenen mit den Rhythmen von Bildungsverläufen
des Auszugsverhaltens als bei jungen Erwachsenen mit                       zu unterstützen. Schüler/-innen, Auszubildende und Stu­
niedrigerer Bildung, die eine Ausbildung beginnen und                      dierende sind nicht nur Bildungsteilnehmer/-innen, son­
bei denen die finanzielle Selbstständigkeit häufig Voraus­                 dern daneben einfach junge Menschen mit altersgemäßen
setzung für das selbstständige Wohnen ist. Das Eingehen                    Wünschen und Bedürfnissen. Aufgabe von Arbeitsmarkt­
einer festen Partnerschaft und die Gründung eines ge­                      politik für die Altersgruppe und Lebenssituation junger
meinsamen Haushalts sind hingegen relativ bildungsun­                      Erwachsener kann sein, in dieser Zeit, die oftmals durch
abhängig. Während sich eine Homogenisierung des Zeit­                      Befristungen, Teilzeitarbeit und insgesamt unsichere Ar­
punkts von Übergängen in Ausbildung und Beruf zwischen                     beitsverhältnisse geprägt ist, durch Instrumente der finan­
jungen Männern und Frauen zeigt, finden räumliche und                      ziellen Absicherung zu einer besseren Planungssicherheit
soziale Verselbstständigungsschritte bei jungen Männern                    für die vielfältigen Verselbstständigungsschritte junger Er­
später statt als bei jungen Frauen. Demnach muss betont                    wachsener beizutragen. Institutionen des Arbeitsmarktes
werden, dass sich Wege ins Erwachsenenalter vielfältig                     wie Gewerkschaften, Kammern oder Arbeitgeberverbände
und individueller gestalten.                                               sind dazu aufgerufen, Risiken unsicherer Berufseinstiegs­
Damit Verselbstständigung gelingen kann, ist die Gesell­                   verläufe abzumildern.
                                                                                                       s

schaft gefordert, geeignete Rahmenbedingungen bereitzu-

Literatur                                                                  Blossfeld, H.-P.; Golsch, K.; Rohwer, G.: Event History Analysis with
                                                                           Stata. Mahwah 2007
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                                                                           vergleich. In: Walper, S.; Bien, W.; Rauschenbach, T. (Hrsg.): Aufwach­
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                                                                           Brückner, H.; Mayer, K. U.: De-Standardization of the Life Course: What
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                                                                           Aufbruch und Anpassung. München 2007, S. 4–10
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Erwachsenwerden - mehr als nur der Übergang
10   THEMENSCHWERPUNKT                                                                                    BWP 4/2017

     Berufliche Aspirationen von Jugendlichen mit und ohne
     Migrationshintergrund

                                                   Bildungs- und Berufsaspirationen von Einheimischen und von Jugendlichen
                   ALEX ANDRA WICHT                mit Migrationshintergrund unterscheiden sich deutlich. Wie aber lassen sich
                   Dr., wiss. Mitarbeiterin
                   im Fach Soziologie an der       diese Unterschiede erklären? Während etablierte Erklärungsansätze auf Indi­
                   Universität Siegen
                                                   viduen und ihre Familien abstellen, wird im Beitrag anhand von Daten des
                                                   Nationalen Bildungspanels aufgezeigt, dass darüber hinaus auch die Schul­
                   MATTHIAS SIEMBAB
                                                   form und die Schulkultur bzw. die Zusammensetzung der Schulklasse eine
                   Wiss. Mitarbeiter im Fach
                   Soziologie an der Universität   wichtige Rolle spielen.
                   Siegen

                   WOLF GANG
                   LU DWIG-MAY ERHOF ER
                   Prof. Dr., Professor für
                   Soziologie und Empirische
                   Sozialforschung an der Uni­
                   versität Siegen

     Aspirationen beim Übergang in Ausbildung                          mit Migrationshintergrund verantwortlich ist: Gemäß der
     und Beruf                                                         Informationsdefizithypothese wird angenommen, dass die
                                                                       aus dem Ausland zugezogenen Eltern das deutsche Bil­
     Berufliche Aspirationen haben gerade in einem stark beruf­        dungs- und Berufssystem zu wenig verstehen und ihren
     lich orientierten Ausbildungs- und Arbeitsmarkt wie dem           Kindern daher »übertriebene« Aspirationen vermitteln.
     deutschen eine erhebliche Bedeutung: Sie geben Ziele und          Solche Informationsdefizite sollten mit der Dauer des Auf­
     Orientierung vor, bestimmen also, welche Berufe Jugend­           enthalts der Familien in Deutschland abnehmen. Eine al­
     lichen erstrebenswert bzw. zugänglich erscheinen. Aspira­         ternative Hypothese geht von wahrgenommenen »blocked
     tionen steuern damit zu einem beträchtlichen Teil das Ver­        opportunities« im Zielland aus: Menschen mit Migrations­
     halten der Bewerber/-innen auf dem Ausbildungsmarkt.              hintergrund, die glauben, mit größeren Hürden oder gar
     Dadurch können sich auch Ungleichheiten reproduzieren:            Diskriminierung konfrontiert zu sein, kompensieren diese
     Wer sich nur einen wenig angesehenen Beruf zutraut, hat           durch höhere Aspirationen.
     geringere Chancen auf sozialen Aufstieg.                          Neben der Familie dürften aber auch andere Kontexte von
     Besonderes Interesse gilt schon seit geraumer Zeit den            Bedeutung sein. Am wichtigsten ist hier die weiterführen­
     Aspirationen von Personen mit Migrationshintergrund.              de Schule, gerade im hochgradig stratifizierten Schulsys­
     In vielen Ländern zeigt sich, dass diese im Vergleich zur         tem Deutschlands, in dem Jugendliche schon recht früh auf
     einheimischen Bevölkerung höhere Bildungs- und Berufs­            unterschiedliche Bildungswege verteilt werden. Aber auch
     aspirationen aufweisen (vgl. Kao/Tienda 1998; Wicht/              innerhalb des gleichen Schultyps können sich Schulen
     Ludwig-Mayerhofer 2014). Woher aber rühren diese                  oder Schulklassen hinsichtlich ihres »Ethos« oder »Schul­
     Aspirationen?                                                     klimas« unterscheiden. Es bilden sich sozial vorgefertigte
                                                                       Mentalitäten im Sinne vorherrschender Wertorientierun­
     Wie kann man unterschiedliche Aspirationen                        gen heraus, die die beruflichen Aspirationen Jugendlicher
     erklären?                                                         beeinflussen. Die ethnische Zusammensetzung der Schü­
                                                                       lerschaft könnte ebenfalls eine Rolle spielen. Beispielswei­
     Die Herkunftsfamilien, etwa ihr sozialer Status oder ihr          se könnten sich Jugendliche mit Migrationshintergrund in
     kulturelles Kapital, üben einen sehr wichtigen Einfluss auf       Schulen, in denen sie viel auf ihresgleichen treffen, eher
     die Aspirationen von Jugendlichen aus. Es wird vermutet,          von den deutschen Jugendlichen abkapseln, was mögliche
     dass die Herkunftsfamilie auch für die Unterschiede in den        Informationsdefizite aufrechterhält oder sogar verstärkt.
     Aspirationen von einheimischen Jugendlichen und solchen           Allerdings könnten Schulen mit einem hohen Migran­
BWP 4/2017                                                                      THEMENSCHWERPUNKT                     11

tenanteil auch einen Schutz vor Diskriminierung durch       stigmatisiert wurde. Eine weitere Gruppe bilden Jugendli­
einheimische Jugendliche bieten.                            che aus anderen Herkunftsländern, die aufgrund zu gerin­
Im Fall von Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind     ger Fallzahlen nicht als eigenständige Gruppen betrachtet
jedoch nicht nur die Erfahrungen im Zielland bedeutsam,     werden können.
sondern auch die jeweiligen Migrationsgeschichten. Aus      Die folgenden Analysen basieren auf den Daten des Natio­
diesem Grund betrachten wir Migrantinnen und Migran­        nalen Bildungspanels (zur Datengrundlage und Methode
ten nicht hinsichtlich ihres Generationenstatus, sondern    vgl. Infokasten).
mit Blick auf ihr Herkunftsland. In unserem Beitrag be­
schränken wir uns auf einen Vergleich zwischen einheimi­    Berufsaspirationen variieren je nach Schulform
schen Jugendlichen und solchen, die aus der Türkei bzw.     und -milieu
der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland migriert
sind. Diese beiden Migrantengruppen sind die in Deutsch­    In Abbildung 1 (S. 12) ist die deskriptive Verteilung der rea­
land quantitativ bedeutsamsten und unterscheiden sich       listischen Berufsaspirationen der Jugendlichen für Haupt-
zudem hinsichtlich ihrer Migrationsgeschichte: Tür­         und Realschüler/-innen differenziert nach Herkunftsgrup­
kischstämmige Jugendliche bzw. ihre Familien sind vor­      pe dargestellt. Die Höhe der Aspirationen unterscheidet
nehmlich als Arbeitsmigrantinnen und -migranten nach        sich grundsätzlich je nach Schulform. Früheren Analysen
Deutschland gekommen, um ein besseres Leben als in ihrer    zufolge gilt dies auch, wenn man die soziale Herkunft (ein­
ursprünglichen Heimat zu führen. Hingegen zeichnet sich     schließlich des Migrationshintergrunds), die individuellen
die Migrationsgeschichte Jugendlicher aus der ehemaligen    schulischen Leistungen und auch das Schulklima, insge­
Sowjetunion, darunter vor allem (Spät-)Aussiedler/-innen,   samt also die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft,
durch mehrfache Diskriminierungserfahrungen aus. Be­        berücksichtigt (vgl. Wicht/Ludwig-Mayerhofer 2014),
reits in ihrem Herkunftsland bildeten sie eine ethnische    sodass wir im Folgenden bei der vereinfachten Darstel­
Minderheit, die als »Deutsche« oder gar als »Nazis« und     lung der Ergebnisse bleiben. Wir betrachten ausschließlich
schließlich in Deutschland beispielsweise als »Russen«      Schulen unterhalb des Gymnasiums, also Haupt- und Real­
                                                            schule, da diese beiden Schulformen sich hinsichtlich des
                                                            erreichbaren Qualifikationsniveaus am ähnlichsten sind.
                                                            Jugendliche, die die Realschule besuchen, weisen im
                                                            Durchschnitt höhere Aspirationen auf und scheinen auch
                                                            eine größere Bandbreite an beruflichen Optionen in Be­
                                                            tracht zu ziehen als Hauptschüler/-innen. Mit unter­
                                                            schiedlichen Schulformen verbinden sich offensichtlich
                                                            öffentliche Labels, derer sich Schüler/-innen bewusst
                                                            sind. Überdies weisen Jugendliche mit Migrationshin­
                                                            tergrund tendenziell höhere berufliche Aspirationen auf
                                                            als Deutsche. Dieser Unterschied zeigt sich umso deut­
                                                            licher, je niedriger die Schulform ist. Für die Gruppe der
                                                            türkischstämmigen Jugendlichen kann hier von einem
                                                            Mechanismus der Überkompensation ausgegangen wer­
                                                            den. Berücksichtigt man die Migrationsgeschichte dieser
                                                            Herkunftsgruppe, ist anzunehmen, dass sie gerade dann,
                                                            wenn sie sich auf niedrigen Schulformen befinden, nach
                                                            höheren sozialen Positionen streben. Für Jugendliche aus
                                                            der ehemaligen Sowjetunion ist das Bild weniger eindeu­
                                                            tig: Während sie auf der Hauptschule leicht höhere Aspi­
                                                            rationen im Vergleich zu Deutschen aufweisen, sind ihre
                                                            Aspirationen auf der Realschule niedriger als die der Ein­
                                                            heimischen.
                                                            Für die Erklärung der Unterschiede in den Aspirationen
                                                            von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund
                                                            ist jedoch nicht allein die Schulform bedeutsam, sondern
                                                            darüber hinaus auch das soziokulturelle Milieu in Schu­
                                                            len. Das zeigen Ergebnisse zum Einfluss der ethnischen
                                                            Zusammensetzung der Schülerschaft auf die Aspirationen
12   THEMENSCHWERPUNKT                                                                            BWP 4/2017

     Jugendlicher unterschiedlicher Herkunftsgruppen (vgl.       Milieu durch Migrantinnen und Migranten geprägt ist, ha­
     Wicht 2016). Abbildung 2 zeigt die Höhe der realistischen   ben aus dieser Perspektive eine »schützende« Funktion für
     Aspirationen der vier Herkunftsgruppen in Abhängigkeit      Migrantinnen und Migranten in Deutschland. Die Abbil­
     vom Anteil Jugendlicher mit Migrationshintergrund in        dung zeigt überdies einen weiteren interessanten Befund:
     der Schule. Während mit steigendem Anteil an Migran­        Mit steigendem Anteil an Migrantinnen und Migranten an
     tinnen und Migranten in der Schule die Aspirationen tür­    einer Schule nehmen auch die Aspirationen der einheimi­
     kischstämmiger Jugendlicher sinken, steigen sie bei allen   schen Jugendlichen zu. Hier werden Prozesse der sozialen
     anderen Herkunftsgruppen. Dieses Bild kann nicht über       Ansteckung sichtbar, wonach sich einheimische Jugend­
     die Informationsdefizithypothese erklärt werden, der zu­    liche durch gesellschaftliche Minoritäten zu höheren Be­
     folge sich mit zunehmendem Anteil an Migrantinnen und       rufsaspirationen »mitreißen« lassen. Weitere (hier nicht
     Migranten innerhalb einer Schule die Aspirationen al­       dargestellte) Analysen zeigen, dass es sich für deutsche
     ler Herkunftsgruppen in ähnlicher Weise von denen der       Jugendliche um einen Effekt des normativen Schulklimas
     Deutschen unterscheiden müssten. Vielmehr kann zur Er­      hinsichtlich der Berufswahl handelt (vgl. Wicht 2016).
     klärung des Musters die »blocked opportunities«-Theorie
     herangezogen werden, derzufolge unterschiedliche Her­       Schulkontext in Berufsorientierung und
     kunftsgruppen auf unterschiedliche Weise mit subjektiv      -beratung berücksichtigen
     wahrgenommener Diskriminierung umgehen. In Schulen
     mit einem hohen Anteil an Migrantinnen und Migranten        Unsere Forschungen zeigen, dass bereits der Typ der be­
     werden solche Diskriminierungserfahrungen seltener sein,    suchten Schule einen prägenden Einfluss auf die beruf­
     weshalb türkischstämmige Jugendliche keine Notwen­          lichen Aspirationen von Jugendlichen hat – auch dann,
     digkeit sehen, Einheimische hinsichtlich der beruflichen    wenn man ihre soziale Herkunft und ihre schulischen Leis­
     Bildung zu »überholen«. Jugendliche mit Wurzeln in der      tungen berücksichtigt. Schulen sind also wichtige »Platz­
     ehemaligen Sowjetunion, darunter vornehmlich (Spät-)        anweiser«, indem sie Jugendlichen Vorstellungen davon
     Aussiedler/-innen, deren Migrationsgeschichte häufig be­    vermitteln, was sie im Leben erreichen können. Das gilt
     reits durch Diskriminierungserfahrungen geprägt ist, nei­   freilich nur bei Betrachtung der großen Masse der Daten­
     gen hingegen zu einer eher »entmutigten« Haltung, wenn      werte; einzelne Schüler/-innen weichen in ihren Aspira­
     sie erneut feindliche Erfahrungen durch Einheimische        tionen deutlich nach unten oder nach oben ab. Im Regel­
     machen. Mit steigendem Migrationsanteil in der Schule       fall sind aber Aspirationen nicht nur Ausdruck individuel­
     sollten ihre Aspirationen also zunehmen. Schulen, deren     ler bzw. in der Herkunftsfamilie erworbener Präferenzen,
BWP 4/2017                                                                            THEMENSCHWERPUNKT                           13

sondern spiegeln Lernprozesse wider, die in sozialen Kon­    wahrzunehmen und zu thematisieren. Aber auch im bera­
texten gemacht werden; hier lernen Jugendliche, sich im      tenden Einzelgespräch scheint es nicht angemessen, aus­
gesellschaftlichen Gefüge zu verorten, wodurch soziale       schließlich auf die individuellen Jugendlichen zu fokus­
Ungleichheiten verfestigt werden.                            sieren; auch hier könnte es sinnvoll sein, gemeinsam mit
Zu diesen Kontexten gehört über den bloßen Schultyp hi­      der Schülerin oder dem Schüler bzw. der oder dem Auszu­
naus auch die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft      bildenden zu reflektieren, ob und wie der Klassenkontext
 – nicht nur mit Blick auf den sozialen Status, sondern      oder allgemein der schulische Hintergrund Aspirationen
auch auf die ethnische Herkunft. Diese Zusammensetzung       beeinflusst haben. Hierdurch kann sicherlich in einigen
steht in komplexem Wechselspiel mit den Aspirationen         Fällen ein tieferes Verständnis für das Zustandekommen
der Jugendlichen, da sie je nach individuellem Migrations­   von Berufswünschen erreicht und somit auch die Beratung
hintergrund auch unterschiedlich verarbeitet wird. Die       wirksamer werden.
                                                                                      s

Unterschiede zwischen einheimischen Jugendlichen und
solchen mit Migrationshintergrund können dadurch ab­
geschwächt (so im Fall der Jugendlichen mit türkischem
Migrationshintergrund) oder auch verstärkt (so bei aus
                                                             Literatur
der ehemaligen Sowjetunion stammenden Jugendlichen)
werden.                                                      Blossfeld, H.-P.; Roßbach, H.-G.; J. von Maurice, J. (Hrsg.): Education
                                                             as a Lifelong Process. The German National Educational Panel Study
In der Berufsorientierung und Berufsberatung kann es
                                                             (NEPS). Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (2011) Special Issue 14
mithin wichtig sein, auf den Klassen- und Schulkontext
                                                             Ganzeboom, H. B. G.; Degraaf, P. M.; Treiman, D. J.: A Standard
der Jugendlichen zu achten: Hier finden sich (günstige
                                                             International Socioeconomic Index of Occupational Status. In: Social
oder ungünstige) Vorbilder, hier wird möglicherweise         Science Research 21 (1992) 1, S. 1–56
unbewusster Druck ausgeübt, hier wird gelernt, was »an­
                                                             Kao, G.; Tienda, M.: Educational Aspirations of Minority Youth. In:
gemessen« ist und was nicht. Dies gilt es auch zu berück­    American Journal of Education 106 (1998) 3, S. 349–384
sichtigen, wenn die Berufswahl thematisch wird – sei es in
                                                             Wicht, A.: Occupational Aspirations and Ethnic School Segregation: Social
der formellen Berufsorientierung, sei es in »alltäglichen«
                                                             Contagion Effects Among Native German and Immigrant Youths. In:
Gesprächen mit Lehrkräften der allgemeinbildenden oder       Journal of Ethnic and Migration Studies 42 (2016) 11, S. 1825–1845
beruflichen Schulen. In Gruppensituationen könnte ver­
                                                             Wicht, A.; Ludwig-Mayerhofer, W.: The Impact of Neighborhoods and
sucht werden, die Klasse nicht nur als Forum, sondern        Schools on Young People’s Occupational Aspirations. In: Journal of
auch als Interaktions- und Beeinflussungszusammenhang        Vocational Behavior 85 (2014) 3, S. 298–308
14   THEMENSCHWERPUNKT                                                                                    BWP 4/2017

     Berufswünsche und Einflüsse auf die Berufswahl
     von Jugendlichen
     Ergebnisse aus einem Modellprojekt im Polytechnischen Zentrum Schkopau
     (Sachsen-Anhalt)

                                                   Nach wie vor existieren bei Jugendlichen typische geschlechterspezifische
                   H OLLE GRÜ NERT
                   PD Dr., Projektleiterin im      Vorstellungen über ihre berufliche Zukunft. Dies gilt auch für die Schüler/-in­
                   Zentrum für Sozialforschung
                   Halle e.V. an der Universität   nen, die an einem Modellprojekt im Polytechnischen Zentrum (PTZ) Schkopau
                   Halle-Wittenberg
                                                   teilnehmen. Neben Einflüssen auf ihre Berufswünsche, die vom Gruppen­
                                                   verhalten und vom Elternhaus ausgehen, tragen auch die Erfahrungen mit
                   SU SANNE KAU F MANN             eigener praktischer Arbeit zur Auseinandersetzung mit der Welt der Berufe
                   Wiss. Mitarbeiterin im
                   Zentrum für Sozialforschung     bei. Die im Beitrag vorgestellten Ergebnisse zeigen, dass sie jedoch kaum zu
                   Halle e.V. an der Universität
                   Halle-Wittenberg                grundsätzlich neuen Orientierungen führen, so zum Beispiel zu einer stärke­
                                                   ren Hinwendung von Mädchen zu technischen Berufen.

     Geschlechtersegregation bei der Berufswahl                        Empirische Basis der Untersuchung

     Obgleich der Frauenanteil in männlich dominierten Be­             Die zumeist 14- bzw. 15-jährigen Schüler/-innen im Pro­
     rufen in den letzten Jahren leicht angestiegen ist (vgl.          jekt (vgl. Infokasten) wurden einmal pro Schuljahr gegen
     Lohmüller/Mentges/Ulrich 2016), ist die Geschlech­                Ende ihres praktischen Unterrichts schriftlich (anonym)
     tersegregation in Ausbildung und Beruf nach wie vor sehr          zu ihren Berufswünschen, ihren Eindrücken vom PTZ und
     ausgeprägt (vgl. z. B. Faulstich-Wieland 2016). Jun­              ihren Zukunftsvorstellungen befragt. Dem Beitrag liegen
     ge Männer münden nach ihrer Schulzeit öfter als junge             die Antworten von 250 Schüler/-innen aus dem Schuljahr
     Frauen in das duale Ausbildungssystem ein, weil hier ge­          2015/2016 zugrunde (106 Mädchen, 142 Jungen, 2 Befrag­
     werblich-technische Berufe von großer Bedeutung sind,
     während junge Frauen häufiger den Weg ins Schulberufs­
     system hin zu Dienstleistungs- und Gesundheitsberufen
     einschlagen (vgl. Beicht/Walden 2014).
     Dies lässt sich zum Teil dadurch erklären, dass Jugendliche
     das Erlernen eines Berufs vor allem als Mittel zur Festigung
     ihrer sozialen und geschlechtlichen Identität begreifen
     und dass Berufswahlen, die für das eigene Geschlecht be­
     sonders typisch sind, mehr Anerkennung im sozialen Um­
     feld finden als andere (vgl. Ulrich 2016). Darüber hinaus
     deuten einige Befunde darauf hin, dass Berufswünsche
     und der Weg in den Beruf auch davon beeinflusst werden,
     wie der Verselbstständigungsprozess gegenüber dem El­
     ternhaus verläuft. Bei jungen Frauen setzen die Verselbst­
     ständigungsschritte häufig früher ein und sind »enger ge­
     taktet« als bei jungen Männern (vgl. Berngruber 2016;
     Berngruber/Gaupp in diesem Heft). Dies zeigt sich u. a.
     an unterschiedlicher Mobilitätsbereitschaft.
BWP 4/2017                                                                           THEMENSCHWERPUNKT                        15

te ohne Angabe des Geschlechts; 144 Befragte aus 8. Klas­    in 112 verschiedenen Berufen breit gefächert. Die belieb­
sen, 106 aus 9. Klassen). Außerdem werden Befunde aus        testen Berufe sind Erzieher/-in, Polizist/-in, Kfz-Mecha­
leitfadengestützten Interviews mit Lehrkräften, dem Be­      troniker/-in, Chemikant/-in sowie Gesundheits- und Kran­
treuungspersonal im PTZ und anderen Expert/-innen ge­        kenpfleger/-in (vgl. Abb. 1).
nutzt.                                                       Bei den Mädchen stehen weiblich dominierte Erziehungs-
                                                             und Gesundheitsberufe eindeutig im Vordergrund. Einige
Berufswünsche von Mädchen und Jungen                         erläutern ihren Wunsch: »Ich würde gerne im Kindergar­
                                                             ten arbeiten … Hauptsache, ich kann Zeit mit den vielen
In den untersuchten Klassenstufen werden Fragen der Be­      Kindern verbringen«; »Mit dem erweiterten Realschulab­
rufswahl zunehmend wichtig für die Jugendlichen. Haben       schluss ein Fachabi machen und in den Beruf Kranken­
in den 8. Klassen erst 41 Prozent der Schüler/-innen ei­     schwester gehen und kranken Menschen helfen«. Aber
nen konkreten Berufswunsch, so sind es in den 9. Klassen     auch ein Junge betont: »Ich würde gerne in einem Kinder­
51 Prozent, während der Anteil jener mit ungefähren Vor­     garten arbeiten, denn die Arbeit vor allem mit Kleinkin­
stellungen von 44 auf 36 Prozent sinkt und auch der Anteil   dern macht mir viel Spaß.« Ansonsten dominieren bei den
derjenigen, die noch nicht wissen, was sie einmal machen     Jungen männertypische Produktionsberufe, wie Kfz-Me­
möchten, leicht zurückgeht (von 15 % auf 13 %). Während      chatroniker, Mechatroniker, Elektroniker und andere. Nur
insgesamt anteilig mehr Jungen als Mädchen entweder ei­      ein Mädchen erklärt: »Ich stelle mir vor, in einer Autowerk­
nen festen oder gar keinen Berufswunsch äußern, geben
Schülerinnen häufiger (mit 46 % gegenüber 35 %) unge­        1 Die Schüler/-innen verwenden zum Teil noch ältere Berufsbezeichnun­
fähre – in der Regel mehrere – Berufswünsche an.             gen (Bürokauffrau statt Kauffrau für Büromanagement) oder ältere und
Das Spektrum der Berufswünsche ist mit 299 Nennungen         neue Bezeichnungen synonym (KFZ-Mechaniker und KFZ-Mechatroniker).
16   THEMENSCHWERPUNKT                                                                                BWP 4/2017

     statt zu arbeiten und vielleicht sogar dort mein eigenes       Die Mädchen sind ein wenig neugieriger auf andere Um­
     Auto zu reparieren.«                                           gebungen. So weist das Interesse an einem regionalen (bis
     Für den Beruf des Polizisten/der Polizistin interessieren      einschließlich Leipzig) gegenüber einem überregionalen
     sich beide Geschlechter. Unterschiede zeigen sich in der       Arbeitsort bei Jungen ein Verhältnis von 5:1, bei Mädchen
     Begründung der Wahl. Vor allem Mädchen nennen hier             von rd. 3:1 auf. Die Differenz der Geschlechter hinsicht­
     zum Teil berufsübergreifende Motive wie: »mit Menschen         lich der antizipierten Mobilitätsbereitschaft deckt sich mit
     arbeiten«, »mit Tieren arbeiten (Hundestaffel)«. Jungen        den Angaben bei Berngruber (2016) bzw. Berngruber/
     sehen darin einen »Beruf mit viel Verantwortung«. Sie in­      Gaupp (in diesem Heft) zur tatsächlichen Mobilität junger
     teressieren sich mitunter auch für eine Ausbildung und/        Menschen.
     oder Tätigkeit bei der Bundeswehr: »Polizist … oder etwas      Einen hohen Stellenwert unter den Zukunftsvorstellungen
     bei der Bundeswehr«. Die differenten Angaben der Schü­         haben vor allem für Mädchen die Sozialbeziehungen in der
     ler/-innen zum Tätigkeitsfeld von Polizistinnen und Poli­      Arbeit: nette Kolleginnen und Kollegen, nette Vorgesetzte,
     zisten spiegeln deutlich die geschlechtertypischen Vorstel­    gutes Arbeitsklima. Ebenso möchten sie häufiger Spaß an
     lungen wider.                                                  der Arbeit haben. Doch auch das Einkommen (es soll für
     Die überwiegende Mehrzahl der Jugendlichen möchte              eine eigene Wohnung und/oder eine spätere Familie rei­
     nicht den Beruf ihrer Eltern ergreifen, was angesichts der     chen) sowie generell Überlegungen zur Lebensplanung
     Veränderungen in der modernen Arbeitswelt nicht über­          und zur Familie sind den Mädchen im Befragungsalter
     rascht. Bei den Mädchen ist diese Orientierung noch aus­       wichtiger als den Jungen. Die Jungen wiederum äußern
     geprägter als bei den Jungen: Nur ein Mädchen und              sich etwas häufiger zu Fragen der Beschäftigungssicher­
     21 Jungen (15 %) wollen ausdrücklich einen elterlichen         heit (»Dass ich mein ganzes Leben lang Tischler bin!«) und
     Beruf wählen. Knapp ein Viertel der Mädchen und 35 Pro­        der Karriere (»Dass ich mich so weit wie möglich hoch­
     zent der Jungen können sich eine solche Perspektive vor­       arbeiten möchte.«). Vor allem letztere Ergebnisse zeugen
     stellen. Dabei orientieren sich die Jungen stärker am Vater,   von Ansätzen überkommener Rollenbilder bei den Jugend­
     die Mädchen an der Mutter: So wollen gut dreieinhalbmal        lichen. Alles in allem sind die Übereinstimmungen und
     so viele Jungen (bestimmt oder eventuell) den väterlichen      Ähnlichkeiten der Zukunftsvorstellungen zwischen den
     Beruf ergreifen wie den mütterlichen, während gut drei­        Geschlechtern jedoch sehr viel größer als die Unterschiede.
     mal so viele Mädchen den mütterlichen wie den väterli­
     chen Beruf in Erwägung ziehen.                                 Praxiserfahrungen

     Zukunftsvorstellungen                                          Differierende Rollenbilder und unterschiedliche Präferen­
                                                                    zen bei der Berufswahl werden durch den Unterricht im
     Während sich die Jugendlichen mehrheitlich zurückhal­          PTZ nicht grundsätzlich verändert, auch wenn beide Ge­
     tend äußern, wenn es um die Wahl des elterlichen Berufs        schlechter den Eindrücken offen und interessiert gegen­
     geht, sind ihre Zukunftsvorstellungen recht stark von          überstehen. Nach eigener Aussage sind die meisten Schü­
     häuslichen Alltagserfahrungen geprägt. 92 Prozent der          ler/-innen gern im PTZ. Unter den Gründen dafür nimmt
     Mädchen und 84 Prozent der Jungen haben sich stich­            der hohe Praxisanteil einen wichtigen Platz ein. Ein praxis­
     punktartig dazu geäußert, wie sie sich ihre berufliche (und    affiner Junge sagt: »Wir haben vor vier Wochen Steckdo­
     allgemeine) Zukunft nach der Ausbildung vorstellen. Die        sen auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt.
     insgesamt ausführlicheren Antworten der Mädchen weisen         Das könnte ich jetzt sofort. Ich weiß aber nicht mehr, was
     auf eine etwas umfangreichere Reflexion hin. Ein Großteil      wir gestern in Mathe gemacht haben.« (Arbeit und Leben
     der vielfältigen Überlegungen konnte analytisch folgenden      2016, S. 2). Der Einschätzung »Das PTZ ist eine gute Sa­
     Kategorien zugeordnet werden (vgl. Abb. 2):                    che« stimmen neun von zehn Jungen und acht von zehn
     Besonders oft äußern sich die Schüler/-innen zu den Ar­        Mädchen zu.
     beitszeiten. Dabei überwiegen die Wünsche nach festen          Dass die Zustimmung bei den Mädchen nicht ganz so hoch
     Arbeitszeiten (nicht selten unter Angabe von Anfangs-          ausfällt wie bei den Jungen, hängt mit den angebotenen
     und/oder Schlusszeiten bzw. täglichen Arbeitsstunden,          Berufsfeldern zusammen. Zur Auswahl stehen Bautechnik,
     mit Wünschen wie »keine Nachtarbeit«, »keine Wochen­           Elektrotechnik, Farbtechnik, Holztechnik, Garten- und
     endarbeit«) gegenüber flexibler Zeitgestaltung. Mädchen        Landschaftsbau, Lager/Logistik, Metalltechnik sowie Ver­
     sind etwas offener für flexible Arbeitszeiten als Jungen.      kauf. In Gesprächen mit den Schülerinnen und Schülern
     Dagegen verbinden die Jungen ihre Zukunftsvorstellungen        konnten die Projektmitarbeiter/-innen feststellen, dass vor
     stärker als Mädchen mit dem Arbeitsort. Die meisten von ih­    allem in der Klassenstufe 8 das gewählte Berufsfeld eng an
     nen möchten – jedenfalls im Alter von etwa 14 oder 15 Jah­     schulische Interessen und Freizeitaktivitäten gekoppelt ist.
     ren – gern in der Nähe ihres jetzigen Wohnorts bleiben.        So spielt der Wunsch nach kreativem Arbeiten und Zeich­
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