Erwachsenwerden - mehr als nur der Übergang
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Erwachsenwerden – mehr als nur der Übergang s von Schule in Beruf Gesundheitsbelastungen und -risiken s bei Jugendlichen Einstellungen Jugendlicher und junger s Erwachsener zu Europa
2 INHALT BWP 4/2017 EDITORIAL WEITERE THEMEN 3 Ein neues Ausbildungsjahr mit großen Heraus 40 Integration junger Flüchtlinge in Ausbildung forderungen und Beruf F R I E D R I CH H U BER T E SSE R Das hessische Landesprogramm »Wirtschaft integriert« BERUFSBILDUNG IN ZAHLEN GUDRUN REI N HA RT 4 Geflüchtete auf dem Weg in Ausbildung – 42 Integration Geflüchteter in den Arbeitsmarkt Welche Unterstützung wünschen sie sich? Welche Unterstützungsangebote kennen und J U L I A G E I , STE PH ANIE M ATTH ES nutzen Unternehmen? S A RA H P I EREN KEMP ER, S VEN JA JA MBO THEMENSCHWERPUNKT 44 Dualisierte Ausbildungsprogramme auf den 6 Erwachsenwerden – mehr als nur der Übergang Philippinen von der Schule in den Beruf MI C HA EL S C HWA RZ, FELI X WEN ZELMA N N , A N N E B E R NGR U BER , NOR A GAU PP MA RI C RI S V. C A P I S TRA N O 10 Berufliche Aspirationen von Jugendlichen mit 48 Gleichwertigkeit der Berufsbildung im DQR – und ohne Migrationshintergrund Durchbruch oder Mogelpackung? A L E X A N D R A W ICHT, M ATTH IAS SIEM BAB, HERMA N N S C HMI DT, MA N FRED KREMER W O L F G A N G LU D W IG- M AYER H OFE R 50 Inklusion in der Lehrerausbildung 14 Berufswünsche und Einflüsse auf die Berufswahl Zugänge und Ansätze am Beispiel der Gesundheits- von Jugendlichen berufe H O L L E GR ÜNE R T, SU SANNE K AUFM ANN URS ULA BYLI N S KI 19 Sind Jugendliche mit starker Marktposition BERUFE anspruchsvoller bei der Betriebswahl? V E R E N A E B E R HAR D , JOACHIM GE R D ULR ICH 53 Novellierung der kaufmännischen Luft verkehrsberufe 24 Ausbildung in den IT-Berufen – A N KE KOC K Bewertung aus Sicht der Auszubildenden STE P H A N I E CONEIN, H ENR IK SCHW AR Z HAUPTAUSSCHUSS 26 Gesundheitsbelastungen und -risiken 55 Bericht der Sitzung 2/2017 in Bonn bei Jugendlichen THOMA S VOLLMER M A N F R E D B ETZ, SY LVIA BR AND REZENSIONEN 30 Die Einstellungen Jugendlicher und junger Erwachsener zu Europa und zur EU 57 Identifikation von Wirkungen der Beratung MONIQUE LANDBERG REI N HOLD WEI ß 34 Sprache lernen und netzwerken 58 Akademisierung der Berufsbildung Lukas Brandl, dual Studierender und Kosmopolit, A N GELA FOGOLI N über den Gewinn von Auslandspraktika 59 KURZ UND AKTUELL 36 Neue Kulturen kennenlernen, Freundschaften knüpfen und fürs Leben lernen 66 Autorinnen und Autoren Lena Langguth über ihr Erasmus+-Praktikum Impressum in England Diese BWP-Ausgabe als E-Paper: 38 Literaturauswahl zum Themenschwerpunkt www.bibb.de/bwp-4-2017 Diese Netzpublikation wurde bei der Deutschen Nationalbibliothek angemeldet und archiviert. URN: urn:nbn:de:0035-bwp-17400-3
BWP 4/2017 EDITORIAL 3 Ein neues Ausbildungsjahr mit großen Herausforderungen FR IE DR IC H H UB E R T E S S E R Prof. Dr., Präsident des Bundes instituts für Berufsbildung Liebe Leserinnen und Leser, zum Ausbildungsstart sollte abgeschlossen sein, was in Ausbildungsberufen in Deutschland oder schlicht bei der Forschung und Politikberatung immer mehr ins Blickfeld Bewältigung der Alltagsorganisation – endet nicht mit dem gerät: ein strukturierter Berufsorientierungsprozess. Die Beginn einer Ausbildung. Hier ist auch ausbildungsbeglei ser Prozess ist als erfolgreich anzusehen, wenn junge Men tend individuelle Unterstützung nötig, wie Ergebnisse der schen in der Lage sind, eine ihren Fähigkeiten und Talen BA-/BIBB-Migrationsstudie verdeutlichen. Um dies zu ten entsprechende Berufswahl zu treffen. Denn wir wissen: gewährleisten, sind neben persönlichem Engagement vor Wer eine Entscheidung trifft, die möglichst gut zu den ei allem Rahmenbedingungen gefragt, die eine Förderung genen Vorstellungen und Fähigkeiten passt, ist zufriedener im Regelsystem ermöglichen. Förderprogramme und Ini im Beruf. Doch nicht allen Jugendlichen gelingt es, in ih tiativen auf Bundes- und Länderebene stimmen hier zuver rem Wunschberuf eine Ausbildung zu beginnen. sichtlich! Passungsprobleme bleiben eine Herausforderung Unterstützungsstrukturen für Betriebe stärken Obwohl sich die Gesamtsituation auf dem Ausbildungs Integrationsangebote können jedoch nur dann ihre Wir markt auch dank des vielfältigen Engagements von Wirt kung entfalten, wenn sie den Verantwortlichen in den schaft und Politik in den letzten zehn Jahren verbessert hat, Betrieben bekannt sind und von ihnen genutzt werden. sind viele junge Erwachsene ohne formale Qualifikation. Hier scheint mir noch weitere Informations- und Aufklä Bundesweit sind es immer noch ca. zwei Millionen junge rungsarbeit erforderlich zu sein. An die Akteure in den Re Menschen unter 34 Jahren! Über 80.000 junge Menschen gionen gerichtet: Der Aufbau einer zukunftsorientierten blieben 2016 bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz Unterstützungsstruktur für die Betriebe ist mit besonderer erfolglos. Wir tun also gut daran, vor allem Zugänge in Priorität voranzutreiben. Dabei geht es etwa um anforde die Berufsausbildung aus Sicht der Jugendlichen im Blick rungsgerechte Angebote, z. B. von Kammern, Kreishand zu behalten. Dabei sollten wir auf bewährte Praxis setzen. werkerschaften und Innungen, die den Betrieben für die Einstiegsqualifizierung und Assistierte Ausbildung sind Ausbildungsanbahnung wie auch für die Ausbildungs nur zwei Instrumente, die es auch in Zukunft mit Nach durchführung in den Regionen zur Verfügung stehen. Zu druck zu fördern und zu nutzen gilt. sammen mit modernen Technologie- und Bildungszentren sowie smarten Berufsschulen können die Ausbildungs Junge Geflüchtete auf dem Weg in Ausbildung regionen damit deutlich an Schlagkraft gewinnen. unterstützen Bleibt mir zum Schluss, allen Akteuren der Berufsbildung ein gutes Händchen beim Meistern der anstehenden He Der Übergangsbereich ist nicht zuletzt durch die Einmün rausforderungen zu wünschen, damit der Einstieg ins Be dung junger Flüchtlinge wieder stark gewachsen. Viele rufsleben allen jungen Menschen, die sich für eine Berufs von ihnen nutzen bspw. das Berufsvorbereitungsjahr zum ausbildung entschieden haben, gelingt! Spracherwerb und zum Erwerb beruflicher Grundkennt nisse. Alle Akteure in Praxis und Politik haben mittlerweile ver standen, dass der Übergang in Ausbildung bei jungen Flüchtlingen viel Zeit und Ressourcen erfordert. Ihr Un terstützungsbedarf – sei es beim Erlernen der deutschen Sprache, bei der Orientierung zu Bildungsgängen und
4 BERUFSBILDUNG IN ZAHLEN BWP 4/2017 Geflüchtete auf dem Weg in Ausbildung – Welche Unterstützung wünschen sie sich? JUL I A GEI suchten die allgemeinbildende Schule. Befragten aufgrund ihrer Registrierung Mitarbeiterin im Arbeitsbereich »Berufs bildungsangebot und -nachfrage/ Etwa jeder/jedem Fünften gelang der als Bewerber/-innen offiziell als »aus Bildungsbeteiligung« im BIBB Weg in das deutsche Bildungssystem bildungsreif« gelten und somit auch bislang nicht: Zehn Prozent der Befrag über ausreichende Deutschkenntnisse S T EP HA N I E MA T TH ES Wiss. Mitarbeiterin im Arbeitsbereich ten gaben an, zum Befragungszeitpunkt verfügen müssen, äußerte fast jede/-r »Berufsbildungsangebot und -nachfrage/ zu arbeiten bzw. zu jobben, weitere elf Zweite den Wunsch nach mehr Unter Bildungsbeteiligung« im BIBB Prozent waren arbeitslos. stützung. Auch von den Geflüchteten, die erfolgreich in eine vollqualifizie Unterstützungsbedarf von rende Ausbildung oder ein Studium Geflüchteten eingemündet waren, wünschten sich Die Integration Geflüchteter in Ausbil dies immerhin 44 Prozent. dung zählt aktuell zu den zentralen Wo hätten die befragten Geflüchte Signifikante Unterschiede zwischen je gesellschaftspolitischen Aufgaben in ten mehr Hilfe benötigt? Welche Un nen, die erfolgreich in eine vollqualifi Deutschland. Doch wie gut gelingt dies terstützung wünschen sich vor allem zierende Ausbildung oder ein Studium bislang? In der BA/BIBB-Migrations jene Geflüchteten, denen bislang kein eingemündet sind, und jenen, denen studie 2016 konnten rund 1.600 Aus erfolgreicher Übergang in eine Ausbil ein solcher Übergang noch nicht ge bildungsstellenbewerber/-innen mit dung gelungen ist? Um diesen Fragen lungen ist, zeigen sich in Bezug auf Fluchthintergrund zu ihrer aktuellen nachzugehen, wurden den Befragten den Zugang zu Informationen und Situation und ihren Einschätzungen verschiedene Items vorgelegt, die sich die Kontaktaufnahme mit Betrieben. befragt werden. Deutlich wird, welche in Vorgesprächen mit Berufsberate Jeweils rund ein Drittel der bislang Probleme Geflüchtete auf ihrem Weg rinnen und -beratern und Geflüchte erfolglosen Bewerber/-innen gab an, in Ausbildung sehen und wo sie sich ten als relevant erwiesen hatten. Die dass ein besserer Überblick über die Unterstützung wünschen. Befragten wurden gebeten, alle auf sie verschiedenen Bildungswege und zutreffenden Unterstützungsbedarfe Ausbildungsberufe, Einblicke in den Verbleibe von Personen mit anzukreuzen und ggfs. weitere Aspekte Alltag der Berufsausbildung sowie Fluchthintergrund offen anzugeben. mehr Hilfe bei den ersten Kontakten Nahezu alle Befragten (91%) gaben un zu Ausbildungsbetrieben nötig gewesen Von den befragten Bewerberinnen und abhängig von ihrem Verbleib an, dass wäre. Mehr Hilfe beim Schreiben von Bewerbern, die aus einem der nicht eu sie mehr Hilfe benötigt hätten. Der drin Bewerbungen wünschen sich 40 Pro ropäischen Asylzugangsländer nach gendste Unterstützungsbedarf besteht zent der bislang nicht in vollqualifi Deutschland geflüchtet waren, gab rund ihren Angaben zufolge beim Erlernen zierende Ausbildung oder Studium ein Drittel an, sich zum Befragungs der deutschen Sprache. Wenngleich die eingemündeten Bewerber/-innen. Der zeitpunkt in einer vollqualifizierenden Ausbildung oder in einem Studium zu befinden (duale Ausbildung: 30 %, vollzeitschulische Ausbildung: 2 %, Studium: 1 %). Fast ein Viertel (23 %) der Befragten absolvierte Ende 2016/ Anfang 2017 eine teilqualifizierende Maßnahme (Einstiegsqualifizierung: 8 %, Praktikum: 3 %, sonstige Über gangsmaßnahme wie z.B. Berufsvorbe reitungsjahr: 12 %). Weitere 16 Prozent befanden sich in einem Deutsch- bzw. Integrationskurs und vier Prozent be
BWP 4/2017 BERUFSBILDUNG IN ZAHLEN 5 Anteil der erfolgreich eingemündeten Gebrauch. Ihre Angaben deuten darauf Bildungssystem. Für die berufliche Bewerber/-innen, die dies für relevant hin, dass die Ausbildungsplatzsuche Orientierung und die Kontaktaufnahme hielten, fiel deutlich geringer aus, lag nicht immer die dringlichste Sorge ist, zu Betrieben stellen bewährte Regel aber dennoch zwischen 19 Prozent und sondern zunächst großer Unterstüt instrumente eine wichtige Grundlage 32 Prozent (vgl. Abb.). zungsbedarf bei der Alltagsorganisa dar, müssen aber an die spezifischen Unabhängig von ihrem Erfolg bei der tion und Integration in Deutschland Bedarfe dieser Zielgruppe angepasst Ausbildungsplatzsuche wünschte sich besteht. So äußern auffällig viele den werden. Eine kontinuierliche Sprach rund ein Viertel der Geflüchteten zu Wunsch nach mehr Hilfe beim Finden förderung ist hierbei von besonderer dem mehr schulische Vorbereitung von Sprachkursen, bei der Wohnungs- Bedeutung (vgl. Reinhart in diesem und einen Überblick über finanzielle und Kinderbetreuungssuche, der Kor Heft). Hilfen. Aufschlussreich ist die Rück respondenz mit Behörden sowie dem Die vorgestellten Auswertungen ver meldung von rund einem Drittel der Asylverfahren generell. deutlichen zudem, dass »Integration« Befragten, die mehr Hilfe bei Behörden Es erscheint daher wichtig, junge Ge mit der Aufnahme einer Ausbildung bzw. dem Umgang mit diesen benötigt flüchtete frühzeitig und individuell nicht abgeschlossen ist. Auch jene hätten. Ihre offenen Antworten geben passend zu begleiten, um die Voraus Geflüchteten, denen ein Übergang in hier konkretere Einblicke. setzungen zu schaffen, sich aktiv auf eine Ausbildung gelungen ist, äußern Ausbildungsplatzsuche begeben zu weiterhin großen Unterstützungsbedarf. Hoher Unterstützungsbedarf bei können. Insbesondere für Personen, die Bewährte Instrumente wie die Assistier der Alltagsorganisation sich noch nicht so lange in Deutschland te Ausbildung oder ausbildungsbeglei aufhalten, bedarf es der Hilfe sowohl tende Hilfen sollten daher verstärkt ge Von der Möglichkeit, weitere Unter in Bezug auf alltagspraktische Anliegen nutzt werden, weil sie eine individuelle stützungsbedarfe offen anzugeben, (z. B. Wohnungssuche) als auch in Be Unterstützung der jungen Menschen machten insgesamt rund 140 Personen zug auf die Orientierung im deutschen und der Betriebe ermöglichen. s
6 THEMENSCHWERPUNKT BWP 4/2017 Erwachsenwerden – mehr als nur der Übergang von der Schule in den Beruf ANNE BERNGRU BER Nicht nur Qualifizierungsschritte und Entscheidungen über die Berufswahl Dr., wiss. Mitarbeiterin in der kennzeichnen für junge Menschen den Übergang ins Erwachsensein – auch Fachgruppe Lebenslagen und Lebensführung Jugendlicher Schritte wie beispielsweise das selbstständige Wohnen außerhalb des Eltern am Deutschen Jugendinstitut München hauses, erste Liebesbeziehungen oder das Zusammenziehen mit dem Partner/ der Partnerin. Erwachsenwerden ist damit mehr als nur der Schritt in die Fotos: David Ausserhofer / DJI NORA GAU PP Dr., Leiterin der Fachgruppe finanzielle Selbstständigkeit. Der Beitrag nimmt verschiedene Verselbststän Lebenslagen und Lebensfüh rung Jugendlicher am digungsschritte in den Blick und untersucht auf Grundlage des DJI-Surveys Deutschen Jugendinstitut München AID:A (»Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten«) Zeitpunkte und Fakto ren, die diese Schritte beeinflussen. Verselbstständigung als Kernherausforderung des Jugend- und jungen Erwachsenenalters Ein Argument, das für ein verzögertes Erwachsenwerden sprechen könnte, ist der allgemeine Trend zum Erwerb hö Der 15. Kinder- und Jugendbericht (BMFSFJ 2017, S. 49) herer Bildungszertifikate. Denn der Anstieg der Abschluss beschreibt die Jugendphase mit dem Dreiklang Qualifi quoten von jungen Menschen mit Abitur führt dazu, dass zierung, Selbstpositionierung, Verselbstständigung. Das ein immer größerer Anteil junger Menschen mehr Lebens heißt, Erwachsenwerden charakterisiert sich nicht allein zeit in Bildungseinrichtungen verbringt (Stichwort: »Scho durch den Erwerb von Bildungszertifikaten, die Ausbil larisierung der Jugendphase«, vgl. Fraij/Maschke/Ste dungsbeteiligung und den Einstieg in den Arbeitsmarkt cher 2015). Insbesondere schulische Übergänge in den (Qualifizierung). Es ist nach diesem Verständnis zusätz tertiären Bildungsbereich (Fachschulen, Berufsakademien, lich gekennzeichnet durch die Herstellung einer Balance Hochschulen, Universitäten) sind in Deutschland stark von zwischen subjektiver Freiheit und sozialer Zugehörigkeit formalen Bildungszertifikaten abhängig und damit auch (Selbstpositionierung) sowie verschiedenen Verselbststän nicht losgelöst von den zeitlichen Rahmenbedingungen digungsprozessen und einer damit einhergehenden stär der Sekundarschulen. Zudem sind Entwicklungen festzu keren Verantwortungsübernahme (Verselbstständigung). stellen, dass der Eintritt in die berufliche Ausbildung zeit Die Wege ins Erwachsenenleben von Jugendlichen umfas lich immer näher an das Alter des Abiturs heranrückt. Das sen damit viel mehr als Übergänge von Schule in Ausbil Durchschnittsalter der Ausbildungsanfänger/-innen lag im dung und Beruf. Jahr 2015 bei 19,4 Jahren (vgl. BIBB 2017, S. 180). Oft wird gefragt, ob sich das Erwachsenwerden zeitlich Diese institutionell vorgegebenen Übergänge stellen die verändert hat. Werden junge Menschen immer später er Voraussetzung für einen beruflichen Einstieg in den Ar wachsen? Einerseits wird diskutiert, dass sich Verselbst beitsmarkt dar und schaffen damit gleichzeitig die Mög ständigungsschritte zeitlich stärker voneinander entkop lichkeit zur finanziellen Unabhängigkeit von den Eltern. peln, weiter ausdifferenzieren und verzögern. In diesem Daneben sind auch Verselbstständigungsschritte wie der Zusammenhang ist von »De-Standardisierungsprozessen« Auszug aus dem Elternhaus und das partnerschaftliche (vgl. Brückner/Mayer 2005) und »Jo-Jo-Biografien« Zusammenwohnen abhängig von der finanziellen Situa (vgl. Biggart/Walther 2006) die Rede. Auf der anderen tion der jungen Erwachsenen. Seite spricht Lüders (2007) von einer »Verdichtung der Eine gegenteilige Entwicklung ließe sich durch neuere Jugendphase«. Diese These nimmt an, dass Verselbststän bildungspolitische Entwicklungen wie die Verkürzung digungsprozesse zunehmend stringenter und zeitlich en der Schulzeit durch die zwischenzeitliche Einführung der ger verlaufen und diese eher zu einer Beschleunigung der achtjährigen Gymnasialzeit (G8) sowie die Bologna-Re Jugendphase führen. form vermuten. Denn diese sind mit dem Ziel eingeführt
BWP 4/2017 THEMENSCHWERPUNKT 7 worden, dass junge Menschen dem Arbeitsmarkt früher zur Zusammenziehen mit einem Partner oder einer Partnerin Verfügung stehen. Mittlerweile sind viele Bundesländer je zur Verfügung. Für die Analysen werden die retrospektiven doch wieder zu G9 zurückgekehrt oder bieten die Auswahl Angaben zu ersten Übergängen im Lebenslauf von jungen zwischen acht- und neunjährigem Gymnasium an. Erwachsenen des DJI-Survey AID:A II verwendet (vgl. Info Ein Vergleich von Schulabsolventinnen und -absolventen kasten). für die Jahre 2007 und 2012 weist darauf hin, dass die verkürzte Schulzeit zu einem früheren Schulabschluss Zeitpunkte erster Verselbstständigungsschritte von Gymnasiastinnen und Gymnasiasten geführt hat (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, S. 94). Insgesamt zeigen sich unterschiedliche Entwicklungen mit Was den Übergang vom Gymnasium in Ausbildung oder Blick auf die einzelnen Verselbstständigungsschritte, diffe Studium betrifft, so können Böwing-Schmalenbrock/ renziert nach der schulischen Bildung (vgl. Abb., S. 8) und Lex (2015) anhand eines Vergleichs zweier Kohorten Geschlecht. zeigen, dass die verkürzte Gymnasialzeit bislang nicht zu einem schnelleren Übergang in Ausbildung oder Studium Unterschiede nach schulischem Bildungsabschluss geführt hat, da junge Menschen die gewonnene Zeit statt dessen zur beruflichen (z. B. Praktika, Jobben) oder allge Der Beginn einer Ausbildung findet mit höherer Bildung meinen Orientierung (z. B. Auslandsaufenthalt, Freiwilli tendenziell später statt (max. Hauptschulabschluss: 18 Jah ges Soziales/Ökologisches Jahr) nutzen (ebd., S. 54). re; Mittlere Reife: 17 Jahre; Fachhochschulreife: 19 Jahre; Der Beitrag geht der Frage nach, wie sich junge Erwachsene Abitur: 20 Jahre). Ein klares Bild zeigt sich beim Einstieg verschiedener Bildungsgruppen in Zeitpunkt, Reihenfolge in die Erwerbstätigkeit. Dieser wird mit höherer Bildung sowie zeitlichem Abstand zwischen Übergängen voneinan zunehmend später vollzogen, was damit auch im Schnitt der unterscheiden oder sogar beeinflussen. Hierzu werden zu einer Verzögerung der finanziellen Selbstständigkeit erste Übergänge im Lebenslauf, die sozial, räumlich sowie von höher Qualifizierten (Abitur: 25 Jahre) im Vergleich ökonomisch die Unabhängigkeit vom Elternhaus markie zu den niedrigeren Bildungsgruppen (max. Hauptschulab ren, betrachtet. schluss: 20 Jahre; Mittlere Reife: 21 Jahre; Fachhochschul reife: 22 Jahre) führt. Datengrundlage und methodisches Vorgehen Beim Auszug aus dem Elternhaus hingegen zeigt sich das umgekehrte Bild. Die Analysen verdeutlichen, dass junge Als ökonomische Markierungspunkte werden dabei die Zeit Erwachsene mit Abitur hier früher selbstständig werden punkte des Beginns der ersten Ausbildung bzw. des ersten (21 Jahre) als niedrigere Bildungsgruppen, die im Schnitt Studiums sowie der Beginn der ersten Erwerbstätigkeit he mit Mitte 20 das Elternhaus verlassen (max. Hauptschul rangezogen. Als räumlicher Übergang wird der erste Aus abschluss: 25 Jahre; Mittlere Reife und Fachhochschulrei zug aus dem Elternhaus betrachtet. Für die Untersuchung fe: 24 Jahre). sozialer Übergänge stehen die erste feste Partnerschaft mit Der Zeitpunkt des Durchlaufens sozialer Verselbstständi einer Dauer von mindestens einem Jahr sowie das erste gungsschritte wie der Beginn der ersten festen Partner schaft von mindestens einem Jahr (max. Hauptschulab schluss: 19 Jahre; Mittlere Reife und Fachhochschulreife: 18 Jahre; Abitur: 19 Jahre) sowie das Zusammenziehen mit einem Partner oder einer Partnerin (max. Hauptschulab schluss: 27 Jahre; Mittlere Reife: 26 Jahre; Fachhochschul reife: 27 Jahre; Abitur: 28 Jahre) sind vergleichsweise bildungsunabhängig. Hier unterscheiden sich die verschie denen Bildungsgruppen nicht so stark voneinander. Die Ergebnisse der AID:A-Studie machen zudem deutlich, dass der Auszug aus dem Elternhaus in den niedrigeren Bildungsgruppen erst nach einem Erwerbseinstieg und somit nach der finanziellen Selbstständigkeit stattfindet. Je niedriger der Schulabschluss der jungen Erwachsenen, umso näher liegen Auszug und Zusammenziehen mit dem Partner bzw. der Partnerin beisammen. Dies weist darauf hin, dass junge Menschen mit niedrigerer Bildung häufig dann ausziehen, wenn sie mit einem Partner oder einer Partnerin einen gemeinsamen Haushalt gründen.
8 THEMENSCHWERPUNKT BWP 4/2017 Wie sich hingegen bei den jungen Erwachsenen mit Abi Unterschiede nach Geschlecht tur zeigt, erfolgt die räumliche Selbstständigkeit noch vor dem Eintritt ins Erwerbsleben und damit vor der finanziel Mit Blick auf geschlechtsspezifische Unterschiede weisen len Unabhängigkeit. Der Zeitpunkt des Auszugs und der die Ergebnisse von Berngruber (2016) darauf hin, dass Beginn eines Studiums oder einer Ausbildung liegen bei junge Frauen und Männer ein bildungsspezifisch vergleich Abiturientinnen und Abiturienten mit Anfang zwanzig eng bares Muster in der Reihenfolge der Schritte aufweisen. beieinander. Dies weist darauf hin, dass ein Verlassen des Der Beginn einer ersten Ausbildung bzw. eines ersten Stu elterlichen Haushalts bei ihnen häufig mit dem Beginn ei diums und die Einmündung in die Erwerbstätigkeit erfolgt nes Studiums zusammenfällt. Viele Studierende sind wäh für junge Frauen und Männer weitestgehend gleichzeitig. rend des Studiums noch auf die finanzielle Unterstützung Nichtsdestotrotz unterscheiden sich junge Frauen und der Eltern angewiesen, auch wenn staatliche Förderinstru Männer hinsichtlich räumlicher und sozialer Verselbst mentarien (z. B. BAföG, Stipendien) sowie Nebenjobs eine ständigungsschritte: Frauen verlassen das Elternhaus frü gewisse finanzielle Selbstständigkeit ermöglichen. Daher her, gehen früher eine feste Partnerschaft ein und ziehen ist zu vermuten, dass es die Einkommenssituation der El auch früher mit einem Partner bzw. einer Partnerin zusam tern auch erlauben muss, zum Studium auszuziehen. men als Männer. Die »engere Taktung« von Verselbststän Die beiden sozialen Verselbstständigungsschritte liegen digungsschritten bei jungen Frauen weist darauf hin, dass über alle Bildungsgruppen hinweg zeitlich am weitesten das Erwachsenwerden für diese insgesamt zeitlich »dich auseinander. Der zeitliche Abstand zwischen einer ersten ter« erfolgt, wohingegen junge Männer die verschiedenen festen Partnerschaft und dem Zusammenziehen mit einem Übergänge unabhängiger voneinander zu durchlaufen Partner bzw. einer Partnerin liegt bei durchschnittlich acht scheinen. bis neun Jahren und erstreckt sich damit vom Ende des zweiten Lebensjahrzehnts bis ungefähr zum Ende des drit ten Lebensjahrzehnts.
BWP 4/2017 THEMENSCHWERPUNKT 9 Die Rahmenbedingungen müssen stimmen, stellen. Der 15. Kinder- und Jugendbericht (BMFSFJ 2017, damit Verselbstständigung gelingen kann S. 69) formuliert, »dass Gesellschaft und Politik, aber auch die Institutionen des Aufwachsens ›Jugend ermöglichen‹ Auch wenn der Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenal müssen«. Hier sind vor allem Jugend-, Bildungs- und Ar ter stark durch die in der Schule verbrachte Zeit sowie die beitsmarktpolitik mit ihren Arbeitsfeldern und die Akteure anschließende Positionierung auf dem Ausbildungs- und aus der Praxis gefordert. Aufgabe von Jugendpolitik kann Arbeitsmarkt geprägt ist, vollziehen junge Menschen in dabei sein, Jugendlichen Räume und Zeiten zu ermögli dieser Lebensphase vielfältige Verselbstständigungsschrit chen, um ihr »jugendlich sein« leben zu können. Dies kann te. Wie die Analysen zeigen, hängen die Zeitpunkte, zu insbesondere Freiräume, Moratoriumszeiten, Zeiten des denen diese Schritte durchlaufen werden, vom Bildungs Ausprobierens und der Orientierung beinhalten. Als Bei hintergrund der jungen Menschen ab. Auch sind einige ge spiel sind hier Angebote der offenen Jugendarbeit oder schlechtsspezifische Unterschiede zu beobachten. Möglichkeiten des ehrenamtlichen Engagements zu nen Insgesamt lässt sich festhalten, dass sich mit steigender nen. Im Kontext bildungspolitischer Strategien kann eine Bildung die finanzielle Selbstständigkeit durch spätere Er stärkere Durchlässigkeit zwischen Bildungsinstitutionen werbstätigkeit verzögert. Umgekehrt verhält es sich beim und Bildungsgängen eine Strategie darstellen, die Passung Verlassen des Elternhauses. Hier führt die Aufnahme eines von Rhythmen im Lebenslauf der Jugendlichen und jungen Studiums nach dem Abitur eher zu einer Beschleunigung Erwachsenen mit den Rhythmen von Bildungsverläufen des Auszugsverhaltens als bei jungen Erwachsenen mit zu unterstützen. Schüler/-innen, Auszubildende und Stu niedrigerer Bildung, die eine Ausbildung beginnen und dierende sind nicht nur Bildungsteilnehmer/-innen, son bei denen die finanzielle Selbstständigkeit häufig Voraus dern daneben einfach junge Menschen mit altersgemäßen setzung für das selbstständige Wohnen ist. Das Eingehen Wünschen und Bedürfnissen. Aufgabe von Arbeitsmarkt einer festen Partnerschaft und die Gründung eines ge politik für die Altersgruppe und Lebenssituation junger meinsamen Haushalts sind hingegen relativ bildungsun Erwachsener kann sein, in dieser Zeit, die oftmals durch abhängig. Während sich eine Homogenisierung des Zeit Befristungen, Teilzeitarbeit und insgesamt unsichere Ar punkts von Übergängen in Ausbildung und Beruf zwischen beitsverhältnisse geprägt ist, durch Instrumente der finan jungen Männern und Frauen zeigt, finden räumliche und ziellen Absicherung zu einer besseren Planungssicherheit soziale Verselbstständigungsschritte bei jungen Männern für die vielfältigen Verselbstständigungsschritte junger Er später statt als bei jungen Frauen. Demnach muss betont wachsener beizutragen. Institutionen des Arbeitsmarktes werden, dass sich Wege ins Erwachsenenalter vielfältig wie Gewerkschaften, Kammern oder Arbeitgeberverbände und individueller gestalten. sind dazu aufgerufen, Risiken unsicherer Berufseinstiegs Damit Verselbstständigung gelingen kann, ist die Gesell verläufe abzumildern. s schaft gefordert, geeignete Rahmenbedingungen bereitzu- Literatur Blossfeld, H.-P.; Golsch, K.; Rohwer, G.: Event History Analysis with Stata. Mahwah 2007 Autorengruppe Bildungsberichterstattung: Bildung in Deutschland 2014. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur Bildung Böwing-Schmalenbrock, M.; Lex, T.: Geht heute wirklich alles schnel von Menschen mit Behinderungen. Bielefeld 2014 ler? Übergänge von der Schule in Ausbildung und Studium im Kohorten- vergleich. In: Walper, S.; Bien, W.; Rauschenbach, T. (Hrsg.): Aufwach Berngruber, A.: Verdichtet oder entgrenzt? Schritte in die Selbststän sen in Deutschland heute. Erste Befunde aus dem DJI-Survey AID:A 2015. digkeit von Frauen und Männern im jungen Erwachsenenalter. In: München 2015, S. 51–54 Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 11 (2016) 2, S. 179–192 Brückner, H.; Mayer, K. U.: De-Standardization of the Life Course: What BIBB: Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2017. Informationen und it Might Mean? And if it Means Anything, Whether it Actually Took Place? Analysen zur Entwicklung der beruflichen Bildung. Bonn 2017 – In: Macmillan, R. (Hrsg.): The Structure of the Life Course: Standardized? URL: www.bibb.de/datenreport/de/aktuell.php (Stand: 15.05.2017) Individualized? Differentiated? (Advances in Life Course Research 9). Amsterdam 2005, S. 27–53 Bien, W.; Pötter, U.; Quellenberg, H.: Methodische Grundlagen von AID:A II. Stichprobe und Fallzahlen. In: Walper, S.; Bien, W.; Rauschen Fraij, A.; Maschke, S.; Stecher, L.: Die Scholarisierung der Jugendphase – bach, T. (Hrsg.): Aufwachsen in Deutschland heute. Erste Befunde aus ein Zeitvergleich. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 10 (2015) 2, dem DJI-Survey AID:A 2015. München 2015, S. 63–68 S. 167–182 BMFSFJ: 15. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation Lüders, C.: Entgrenzt, individualisiert, verdichtet. Überlegungen zum junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Strukturwandel des Aufwachsens. In: Sozialpädagogisches Institut im Deutschland. Berlin 2017 SOS-Kinderdorf e.V. (Hrsg.): SOS-Dialog 2007. Jugendliche zwischen Aufbruch und Anpassung. München 2007, S. 4–10 Biggart, A.; Walther, A.: Coping with Yo-Yo-Transitions: Young Adults’ Struggle for Support, between Family and State in Comparative Perspec tive. In: Leccardi, C.; Ruspini, E. (Hrsg.): A New Youth? Young People, Generations and Family Life. Hampshire 2006, S. 41-62
10 THEMENSCHWERPUNKT BWP 4/2017 Berufliche Aspirationen von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund Bildungs- und Berufsaspirationen von Einheimischen und von Jugendlichen ALEX ANDRA WICHT mit Migrationshintergrund unterscheiden sich deutlich. Wie aber lassen sich Dr., wiss. Mitarbeiterin im Fach Soziologie an der diese Unterschiede erklären? Während etablierte Erklärungsansätze auf Indi Universität Siegen viduen und ihre Familien abstellen, wird im Beitrag anhand von Daten des Nationalen Bildungspanels aufgezeigt, dass darüber hinaus auch die Schul MATTHIAS SIEMBAB form und die Schulkultur bzw. die Zusammensetzung der Schulklasse eine Wiss. Mitarbeiter im Fach Soziologie an der Universität wichtige Rolle spielen. Siegen WOLF GANG LU DWIG-MAY ERHOF ER Prof. Dr., Professor für Soziologie und Empirische Sozialforschung an der Uni versität Siegen Aspirationen beim Übergang in Ausbildung mit Migrationshintergrund verantwortlich ist: Gemäß der und Beruf Informationsdefizithypothese wird angenommen, dass die aus dem Ausland zugezogenen Eltern das deutsche Bil Berufliche Aspirationen haben gerade in einem stark beruf dungs- und Berufssystem zu wenig verstehen und ihren lich orientierten Ausbildungs- und Arbeitsmarkt wie dem Kindern daher »übertriebene« Aspirationen vermitteln. deutschen eine erhebliche Bedeutung: Sie geben Ziele und Solche Informationsdefizite sollten mit der Dauer des Auf Orientierung vor, bestimmen also, welche Berufe Jugend enthalts der Familien in Deutschland abnehmen. Eine al lichen erstrebenswert bzw. zugänglich erscheinen. Aspira ternative Hypothese geht von wahrgenommenen »blocked tionen steuern damit zu einem beträchtlichen Teil das Ver opportunities« im Zielland aus: Menschen mit Migrations halten der Bewerber/-innen auf dem Ausbildungsmarkt. hintergrund, die glauben, mit größeren Hürden oder gar Dadurch können sich auch Ungleichheiten reproduzieren: Diskriminierung konfrontiert zu sein, kompensieren diese Wer sich nur einen wenig angesehenen Beruf zutraut, hat durch höhere Aspirationen. geringere Chancen auf sozialen Aufstieg. Neben der Familie dürften aber auch andere Kontexte von Besonderes Interesse gilt schon seit geraumer Zeit den Bedeutung sein. Am wichtigsten ist hier die weiterführen Aspirationen von Personen mit Migrationshintergrund. de Schule, gerade im hochgradig stratifizierten Schulsys In vielen Ländern zeigt sich, dass diese im Vergleich zur tem Deutschlands, in dem Jugendliche schon recht früh auf einheimischen Bevölkerung höhere Bildungs- und Berufs unterschiedliche Bildungswege verteilt werden. Aber auch aspirationen aufweisen (vgl. Kao/Tienda 1998; Wicht/ innerhalb des gleichen Schultyps können sich Schulen Ludwig-Mayerhofer 2014). Woher aber rühren diese oder Schulklassen hinsichtlich ihres »Ethos« oder »Schul Aspirationen? klimas« unterscheiden. Es bilden sich sozial vorgefertigte Mentalitäten im Sinne vorherrschender Wertorientierun Wie kann man unterschiedliche Aspirationen gen heraus, die die beruflichen Aspirationen Jugendlicher erklären? beeinflussen. Die ethnische Zusammensetzung der Schü lerschaft könnte ebenfalls eine Rolle spielen. Beispielswei Die Herkunftsfamilien, etwa ihr sozialer Status oder ihr se könnten sich Jugendliche mit Migrationshintergrund in kulturelles Kapital, üben einen sehr wichtigen Einfluss auf Schulen, in denen sie viel auf ihresgleichen treffen, eher die Aspirationen von Jugendlichen aus. Es wird vermutet, von den deutschen Jugendlichen abkapseln, was mögliche dass die Herkunftsfamilie auch für die Unterschiede in den Informationsdefizite aufrechterhält oder sogar verstärkt. Aspirationen von einheimischen Jugendlichen und solchen Allerdings könnten Schulen mit einem hohen Migran
BWP 4/2017 THEMENSCHWERPUNKT 11 tenanteil auch einen Schutz vor Diskriminierung durch stigmatisiert wurde. Eine weitere Gruppe bilden Jugendli einheimische Jugendliche bieten. che aus anderen Herkunftsländern, die aufgrund zu gerin Im Fall von Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind ger Fallzahlen nicht als eigenständige Gruppen betrachtet jedoch nicht nur die Erfahrungen im Zielland bedeutsam, werden können. sondern auch die jeweiligen Migrationsgeschichten. Aus Die folgenden Analysen basieren auf den Daten des Natio diesem Grund betrachten wir Migrantinnen und Migran nalen Bildungspanels (zur Datengrundlage und Methode ten nicht hinsichtlich ihres Generationenstatus, sondern vgl. Infokasten). mit Blick auf ihr Herkunftsland. In unserem Beitrag be schränken wir uns auf einen Vergleich zwischen einheimi Berufsaspirationen variieren je nach Schulform schen Jugendlichen und solchen, die aus der Türkei bzw. und -milieu der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland migriert sind. Diese beiden Migrantengruppen sind die in Deutsch In Abbildung 1 (S. 12) ist die deskriptive Verteilung der rea land quantitativ bedeutsamsten und unterscheiden sich listischen Berufsaspirationen der Jugendlichen für Haupt- zudem hinsichtlich ihrer Migrationsgeschichte: Tür und Realschüler/-innen differenziert nach Herkunftsgrup kischstämmige Jugendliche bzw. ihre Familien sind vor pe dargestellt. Die Höhe der Aspirationen unterscheidet nehmlich als Arbeitsmigrantinnen und -migranten nach sich grundsätzlich je nach Schulform. Früheren Analysen Deutschland gekommen, um ein besseres Leben als in ihrer zufolge gilt dies auch, wenn man die soziale Herkunft (ein ursprünglichen Heimat zu führen. Hingegen zeichnet sich schließlich des Migrationshintergrunds), die individuellen die Migrationsgeschichte Jugendlicher aus der ehemaligen schulischen Leistungen und auch das Schulklima, insge Sowjetunion, darunter vor allem (Spät-)Aussiedler/-innen, samt also die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft, durch mehrfache Diskriminierungserfahrungen aus. Be berücksichtigt (vgl. Wicht/Ludwig-Mayerhofer 2014), reits in ihrem Herkunftsland bildeten sie eine ethnische sodass wir im Folgenden bei der vereinfachten Darstel Minderheit, die als »Deutsche« oder gar als »Nazis« und lung der Ergebnisse bleiben. Wir betrachten ausschließlich schließlich in Deutschland beispielsweise als »Russen« Schulen unterhalb des Gymnasiums, also Haupt- und Real schule, da diese beiden Schulformen sich hinsichtlich des erreichbaren Qualifikationsniveaus am ähnlichsten sind. Jugendliche, die die Realschule besuchen, weisen im Durchschnitt höhere Aspirationen auf und scheinen auch eine größere Bandbreite an beruflichen Optionen in Be tracht zu ziehen als Hauptschüler/-innen. Mit unter schiedlichen Schulformen verbinden sich offensichtlich öffentliche Labels, derer sich Schüler/-innen bewusst sind. Überdies weisen Jugendliche mit Migrationshin tergrund tendenziell höhere berufliche Aspirationen auf als Deutsche. Dieser Unterschied zeigt sich umso deut licher, je niedriger die Schulform ist. Für die Gruppe der türkischstämmigen Jugendlichen kann hier von einem Mechanismus der Überkompensation ausgegangen wer den. Berücksichtigt man die Migrationsgeschichte dieser Herkunftsgruppe, ist anzunehmen, dass sie gerade dann, wenn sie sich auf niedrigen Schulformen befinden, nach höheren sozialen Positionen streben. Für Jugendliche aus der ehemaligen Sowjetunion ist das Bild weniger eindeu tig: Während sie auf der Hauptschule leicht höhere Aspi rationen im Vergleich zu Deutschen aufweisen, sind ihre Aspirationen auf der Realschule niedriger als die der Ein heimischen. Für die Erklärung der Unterschiede in den Aspirationen von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund ist jedoch nicht allein die Schulform bedeutsam, sondern darüber hinaus auch das soziokulturelle Milieu in Schu len. Das zeigen Ergebnisse zum Einfluss der ethnischen Zusammensetzung der Schülerschaft auf die Aspirationen
12 THEMENSCHWERPUNKT BWP 4/2017 Jugendlicher unterschiedlicher Herkunftsgruppen (vgl. Milieu durch Migrantinnen und Migranten geprägt ist, ha Wicht 2016). Abbildung 2 zeigt die Höhe der realistischen ben aus dieser Perspektive eine »schützende« Funktion für Aspirationen der vier Herkunftsgruppen in Abhängigkeit Migrantinnen und Migranten in Deutschland. Die Abbil vom Anteil Jugendlicher mit Migrationshintergrund in dung zeigt überdies einen weiteren interessanten Befund: der Schule. Während mit steigendem Anteil an Migran Mit steigendem Anteil an Migrantinnen und Migranten an tinnen und Migranten in der Schule die Aspirationen tür einer Schule nehmen auch die Aspirationen der einheimi kischstämmiger Jugendlicher sinken, steigen sie bei allen schen Jugendlichen zu. Hier werden Prozesse der sozialen anderen Herkunftsgruppen. Dieses Bild kann nicht über Ansteckung sichtbar, wonach sich einheimische Jugend die Informationsdefizithypothese erklärt werden, der zu liche durch gesellschaftliche Minoritäten zu höheren Be folge sich mit zunehmendem Anteil an Migrantinnen und rufsaspirationen »mitreißen« lassen. Weitere (hier nicht Migranten innerhalb einer Schule die Aspirationen al dargestellte) Analysen zeigen, dass es sich für deutsche ler Herkunftsgruppen in ähnlicher Weise von denen der Jugendliche um einen Effekt des normativen Schulklimas Deutschen unterscheiden müssten. Vielmehr kann zur Er hinsichtlich der Berufswahl handelt (vgl. Wicht 2016). klärung des Musters die »blocked opportunities«-Theorie herangezogen werden, derzufolge unterschiedliche Her Schulkontext in Berufsorientierung und kunftsgruppen auf unterschiedliche Weise mit subjektiv -beratung berücksichtigen wahrgenommener Diskriminierung umgehen. In Schulen mit einem hohen Anteil an Migrantinnen und Migranten Unsere Forschungen zeigen, dass bereits der Typ der be werden solche Diskriminierungserfahrungen seltener sein, suchten Schule einen prägenden Einfluss auf die beruf weshalb türkischstämmige Jugendliche keine Notwen lichen Aspirationen von Jugendlichen hat – auch dann, digkeit sehen, Einheimische hinsichtlich der beruflichen wenn man ihre soziale Herkunft und ihre schulischen Leis Bildung zu »überholen«. Jugendliche mit Wurzeln in der tungen berücksichtigt. Schulen sind also wichtige »Platz ehemaligen Sowjetunion, darunter vornehmlich (Spät-) anweiser«, indem sie Jugendlichen Vorstellungen davon Aussiedler/-innen, deren Migrationsgeschichte häufig be vermitteln, was sie im Leben erreichen können. Das gilt reits durch Diskriminierungserfahrungen geprägt ist, nei freilich nur bei Betrachtung der großen Masse der Daten gen hingegen zu einer eher »entmutigten« Haltung, wenn werte; einzelne Schüler/-innen weichen in ihren Aspira sie erneut feindliche Erfahrungen durch Einheimische tionen deutlich nach unten oder nach oben ab. Im Regel machen. Mit steigendem Migrationsanteil in der Schule fall sind aber Aspirationen nicht nur Ausdruck individuel sollten ihre Aspirationen also zunehmen. Schulen, deren ler bzw. in der Herkunftsfamilie erworbener Präferenzen,
BWP 4/2017 THEMENSCHWERPUNKT 13 sondern spiegeln Lernprozesse wider, die in sozialen Kon wahrzunehmen und zu thematisieren. Aber auch im bera texten gemacht werden; hier lernen Jugendliche, sich im tenden Einzelgespräch scheint es nicht angemessen, aus gesellschaftlichen Gefüge zu verorten, wodurch soziale schließlich auf die individuellen Jugendlichen zu fokus Ungleichheiten verfestigt werden. sieren; auch hier könnte es sinnvoll sein, gemeinsam mit Zu diesen Kontexten gehört über den bloßen Schultyp hi der Schülerin oder dem Schüler bzw. der oder dem Auszu naus auch die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft bildenden zu reflektieren, ob und wie der Klassenkontext – nicht nur mit Blick auf den sozialen Status, sondern oder allgemein der schulische Hintergrund Aspirationen auch auf die ethnische Herkunft. Diese Zusammensetzung beeinflusst haben. Hierdurch kann sicherlich in einigen steht in komplexem Wechselspiel mit den Aspirationen Fällen ein tieferes Verständnis für das Zustandekommen der Jugendlichen, da sie je nach individuellem Migrations von Berufswünschen erreicht und somit auch die Beratung hintergrund auch unterschiedlich verarbeitet wird. Die wirksamer werden. s Unterschiede zwischen einheimischen Jugendlichen und solchen mit Migrationshintergrund können dadurch ab geschwächt (so im Fall der Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund) oder auch verstärkt (so bei aus Literatur der ehemaligen Sowjetunion stammenden Jugendlichen) werden. Blossfeld, H.-P.; Roßbach, H.-G.; J. von Maurice, J. (Hrsg.): Education as a Lifelong Process. The German National Educational Panel Study In der Berufsorientierung und Berufsberatung kann es (NEPS). Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (2011) Special Issue 14 mithin wichtig sein, auf den Klassen- und Schulkontext Ganzeboom, H. B. G.; Degraaf, P. M.; Treiman, D. J.: A Standard der Jugendlichen zu achten: Hier finden sich (günstige International Socioeconomic Index of Occupational Status. In: Social oder ungünstige) Vorbilder, hier wird möglicherweise Science Research 21 (1992) 1, S. 1–56 unbewusster Druck ausgeübt, hier wird gelernt, was »an Kao, G.; Tienda, M.: Educational Aspirations of Minority Youth. In: gemessen« ist und was nicht. Dies gilt es auch zu berück American Journal of Education 106 (1998) 3, S. 349–384 sichtigen, wenn die Berufswahl thematisch wird – sei es in Wicht, A.: Occupational Aspirations and Ethnic School Segregation: Social der formellen Berufsorientierung, sei es in »alltäglichen« Contagion Effects Among Native German and Immigrant Youths. In: Gesprächen mit Lehrkräften der allgemeinbildenden oder Journal of Ethnic and Migration Studies 42 (2016) 11, S. 1825–1845 beruflichen Schulen. In Gruppensituationen könnte ver Wicht, A.; Ludwig-Mayerhofer, W.: The Impact of Neighborhoods and sucht werden, die Klasse nicht nur als Forum, sondern Schools on Young People’s Occupational Aspirations. In: Journal of auch als Interaktions- und Beeinflussungszusammenhang Vocational Behavior 85 (2014) 3, S. 298–308
14 THEMENSCHWERPUNKT BWP 4/2017 Berufswünsche und Einflüsse auf die Berufswahl von Jugendlichen Ergebnisse aus einem Modellprojekt im Polytechnischen Zentrum Schkopau (Sachsen-Anhalt) Nach wie vor existieren bei Jugendlichen typische geschlechterspezifische H OLLE GRÜ NERT PD Dr., Projektleiterin im Vorstellungen über ihre berufliche Zukunft. Dies gilt auch für die Schüler/-in Zentrum für Sozialforschung Halle e.V. an der Universität nen, die an einem Modellprojekt im Polytechnischen Zentrum (PTZ) Schkopau Halle-Wittenberg teilnehmen. Neben Einflüssen auf ihre Berufswünsche, die vom Gruppen verhalten und vom Elternhaus ausgehen, tragen auch die Erfahrungen mit SU SANNE KAU F MANN eigener praktischer Arbeit zur Auseinandersetzung mit der Welt der Berufe Wiss. Mitarbeiterin im Zentrum für Sozialforschung bei. Die im Beitrag vorgestellten Ergebnisse zeigen, dass sie jedoch kaum zu Halle e.V. an der Universität Halle-Wittenberg grundsätzlich neuen Orientierungen führen, so zum Beispiel zu einer stärke ren Hinwendung von Mädchen zu technischen Berufen. Geschlechtersegregation bei der Berufswahl Empirische Basis der Untersuchung Obgleich der Frauenanteil in männlich dominierten Be Die zumeist 14- bzw. 15-jährigen Schüler/-innen im Pro rufen in den letzten Jahren leicht angestiegen ist (vgl. jekt (vgl. Infokasten) wurden einmal pro Schuljahr gegen Lohmüller/Mentges/Ulrich 2016), ist die Geschlech Ende ihres praktischen Unterrichts schriftlich (anonym) tersegregation in Ausbildung und Beruf nach wie vor sehr zu ihren Berufswünschen, ihren Eindrücken vom PTZ und ausgeprägt (vgl. z. B. Faulstich-Wieland 2016). Jun ihren Zukunftsvorstellungen befragt. Dem Beitrag liegen ge Männer münden nach ihrer Schulzeit öfter als junge die Antworten von 250 Schüler/-innen aus dem Schuljahr Frauen in das duale Ausbildungssystem ein, weil hier ge 2015/2016 zugrunde (106 Mädchen, 142 Jungen, 2 Befrag werblich-technische Berufe von großer Bedeutung sind, während junge Frauen häufiger den Weg ins Schulberufs system hin zu Dienstleistungs- und Gesundheitsberufen einschlagen (vgl. Beicht/Walden 2014). Dies lässt sich zum Teil dadurch erklären, dass Jugendliche das Erlernen eines Berufs vor allem als Mittel zur Festigung ihrer sozialen und geschlechtlichen Identität begreifen und dass Berufswahlen, die für das eigene Geschlecht be sonders typisch sind, mehr Anerkennung im sozialen Um feld finden als andere (vgl. Ulrich 2016). Darüber hinaus deuten einige Befunde darauf hin, dass Berufswünsche und der Weg in den Beruf auch davon beeinflusst werden, wie der Verselbstständigungsprozess gegenüber dem El ternhaus verläuft. Bei jungen Frauen setzen die Verselbst ständigungsschritte häufig früher ein und sind »enger ge taktet« als bei jungen Männern (vgl. Berngruber 2016; Berngruber/Gaupp in diesem Heft). Dies zeigt sich u. a. an unterschiedlicher Mobilitätsbereitschaft.
BWP 4/2017 THEMENSCHWERPUNKT 15 te ohne Angabe des Geschlechts; 144 Befragte aus 8. Klas in 112 verschiedenen Berufen breit gefächert. Die belieb sen, 106 aus 9. Klassen). Außerdem werden Befunde aus testen Berufe sind Erzieher/-in, Polizist/-in, Kfz-Mecha leitfadengestützten Interviews mit Lehrkräften, dem Be troniker/-in, Chemikant/-in sowie Gesundheits- und Kran treuungspersonal im PTZ und anderen Expert/-innen ge kenpfleger/-in (vgl. Abb. 1). nutzt. Bei den Mädchen stehen weiblich dominierte Erziehungs- und Gesundheitsberufe eindeutig im Vordergrund. Einige Berufswünsche von Mädchen und Jungen erläutern ihren Wunsch: »Ich würde gerne im Kindergar ten arbeiten … Hauptsache, ich kann Zeit mit den vielen In den untersuchten Klassenstufen werden Fragen der Be Kindern verbringen«; »Mit dem erweiterten Realschulab rufswahl zunehmend wichtig für die Jugendlichen. Haben schluss ein Fachabi machen und in den Beruf Kranken in den 8. Klassen erst 41 Prozent der Schüler/-innen ei schwester gehen und kranken Menschen helfen«. Aber nen konkreten Berufswunsch, so sind es in den 9. Klassen auch ein Junge betont: »Ich würde gerne in einem Kinder 51 Prozent, während der Anteil jener mit ungefähren Vor garten arbeiten, denn die Arbeit vor allem mit Kleinkin stellungen von 44 auf 36 Prozent sinkt und auch der Anteil dern macht mir viel Spaß.« Ansonsten dominieren bei den derjenigen, die noch nicht wissen, was sie einmal machen Jungen männertypische Produktionsberufe, wie Kfz-Me möchten, leicht zurückgeht (von 15 % auf 13 %). Während chatroniker, Mechatroniker, Elektroniker und andere. Nur insgesamt anteilig mehr Jungen als Mädchen entweder ei ein Mädchen erklärt: »Ich stelle mir vor, in einer Autowerk nen festen oder gar keinen Berufswunsch äußern, geben Schülerinnen häufiger (mit 46 % gegenüber 35 %) unge 1 Die Schüler/-innen verwenden zum Teil noch ältere Berufsbezeichnun fähre – in der Regel mehrere – Berufswünsche an. gen (Bürokauffrau statt Kauffrau für Büromanagement) oder ältere und Das Spektrum der Berufswünsche ist mit 299 Nennungen neue Bezeichnungen synonym (KFZ-Mechaniker und KFZ-Mechatroniker).
16 THEMENSCHWERPUNKT BWP 4/2017 statt zu arbeiten und vielleicht sogar dort mein eigenes Die Mädchen sind ein wenig neugieriger auf andere Um Auto zu reparieren.« gebungen. So weist das Interesse an einem regionalen (bis Für den Beruf des Polizisten/der Polizistin interessieren einschließlich Leipzig) gegenüber einem überregionalen sich beide Geschlechter. Unterschiede zeigen sich in der Arbeitsort bei Jungen ein Verhältnis von 5:1, bei Mädchen Begründung der Wahl. Vor allem Mädchen nennen hier von rd. 3:1 auf. Die Differenz der Geschlechter hinsicht zum Teil berufsübergreifende Motive wie: »mit Menschen lich der antizipierten Mobilitätsbereitschaft deckt sich mit arbeiten«, »mit Tieren arbeiten (Hundestaffel)«. Jungen den Angaben bei Berngruber (2016) bzw. Berngruber/ sehen darin einen »Beruf mit viel Verantwortung«. Sie in Gaupp (in diesem Heft) zur tatsächlichen Mobilität junger teressieren sich mitunter auch für eine Ausbildung und/ Menschen. oder Tätigkeit bei der Bundeswehr: »Polizist … oder etwas Einen hohen Stellenwert unter den Zukunftsvorstellungen bei der Bundeswehr«. Die differenten Angaben der Schü haben vor allem für Mädchen die Sozialbeziehungen in der ler/-innen zum Tätigkeitsfeld von Polizistinnen und Poli Arbeit: nette Kolleginnen und Kollegen, nette Vorgesetzte, zisten spiegeln deutlich die geschlechtertypischen Vorstel gutes Arbeitsklima. Ebenso möchten sie häufiger Spaß an lungen wider. der Arbeit haben. Doch auch das Einkommen (es soll für Die überwiegende Mehrzahl der Jugendlichen möchte eine eigene Wohnung und/oder eine spätere Familie rei nicht den Beruf ihrer Eltern ergreifen, was angesichts der chen) sowie generell Überlegungen zur Lebensplanung Veränderungen in der modernen Arbeitswelt nicht über und zur Familie sind den Mädchen im Befragungsalter rascht. Bei den Mädchen ist diese Orientierung noch aus wichtiger als den Jungen. Die Jungen wiederum äußern geprägter als bei den Jungen: Nur ein Mädchen und sich etwas häufiger zu Fragen der Beschäftigungssicher 21 Jungen (15 %) wollen ausdrücklich einen elterlichen heit (»Dass ich mein ganzes Leben lang Tischler bin!«) und Beruf wählen. Knapp ein Viertel der Mädchen und 35 Pro der Karriere (»Dass ich mich so weit wie möglich hoch zent der Jungen können sich eine solche Perspektive vor arbeiten möchte.«). Vor allem letztere Ergebnisse zeugen stellen. Dabei orientieren sich die Jungen stärker am Vater, von Ansätzen überkommener Rollenbilder bei den Jugend die Mädchen an der Mutter: So wollen gut dreieinhalbmal lichen. Alles in allem sind die Übereinstimmungen und so viele Jungen (bestimmt oder eventuell) den väterlichen Ähnlichkeiten der Zukunftsvorstellungen zwischen den Beruf ergreifen wie den mütterlichen, während gut drei Geschlechtern jedoch sehr viel größer als die Unterschiede. mal so viele Mädchen den mütterlichen wie den väterli chen Beruf in Erwägung ziehen. Praxiserfahrungen Zukunftsvorstellungen Differierende Rollenbilder und unterschiedliche Präferen zen bei der Berufswahl werden durch den Unterricht im Während sich die Jugendlichen mehrheitlich zurückhal PTZ nicht grundsätzlich verändert, auch wenn beide Ge tend äußern, wenn es um die Wahl des elterlichen Berufs schlechter den Eindrücken offen und interessiert gegen geht, sind ihre Zukunftsvorstellungen recht stark von überstehen. Nach eigener Aussage sind die meisten Schü häuslichen Alltagserfahrungen geprägt. 92 Prozent der ler/-innen gern im PTZ. Unter den Gründen dafür nimmt Mädchen und 84 Prozent der Jungen haben sich stich der hohe Praxisanteil einen wichtigen Platz ein. Ein praxis punktartig dazu geäußert, wie sie sich ihre berufliche (und affiner Junge sagt: »Wir haben vor vier Wochen Steckdo allgemeine) Zukunft nach der Ausbildung vorstellen. Die sen auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt. insgesamt ausführlicheren Antworten der Mädchen weisen Das könnte ich jetzt sofort. Ich weiß aber nicht mehr, was auf eine etwas umfangreichere Reflexion hin. Ein Großteil wir gestern in Mathe gemacht haben.« (Arbeit und Leben der vielfältigen Überlegungen konnte analytisch folgenden 2016, S. 2). Der Einschätzung »Das PTZ ist eine gute Sa Kategorien zugeordnet werden (vgl. Abb. 2): che« stimmen neun von zehn Jungen und acht von zehn Besonders oft äußern sich die Schüler/-innen zu den Ar Mädchen zu. beitszeiten. Dabei überwiegen die Wünsche nach festen Dass die Zustimmung bei den Mädchen nicht ganz so hoch Arbeitszeiten (nicht selten unter Angabe von Anfangs- ausfällt wie bei den Jungen, hängt mit den angebotenen und/oder Schlusszeiten bzw. täglichen Arbeitsstunden, Berufsfeldern zusammen. Zur Auswahl stehen Bautechnik, mit Wünschen wie »keine Nachtarbeit«, »keine Wochen Elektrotechnik, Farbtechnik, Holztechnik, Garten- und endarbeit«) gegenüber flexibler Zeitgestaltung. Mädchen Landschaftsbau, Lager/Logistik, Metalltechnik sowie Ver sind etwas offener für flexible Arbeitszeiten als Jungen. kauf. In Gesprächen mit den Schülerinnen und Schülern Dagegen verbinden die Jungen ihre Zukunftsvorstellungen konnten die Projektmitarbeiter/-innen feststellen, dass vor stärker als Mädchen mit dem Arbeitsort. Die meisten von ih allem in der Klassenstufe 8 das gewählte Berufsfeld eng an nen möchten – jedenfalls im Alter von etwa 14 oder 15 Jah schulische Interessen und Freizeitaktivitäten gekoppelt ist. ren – gern in der Nähe ihres jetzigen Wohnorts bleiben. So spielt der Wunsch nach kreativem Arbeiten und Zeich
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