DEUTSCHE EINHEIT 25 JAHRE - BIBB

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DEUTSCHE EINHEIT 25 JAHRE - BIBB
ZEITSCHRIFT
 DES BUNDESINSTITUTS

                                                        5
 FÜR BERUFSBILDUNG
 FRANZ STEINER VERLAG
 44. JAHRGANG – 2015
 H 20155

           jahre               25
deutsche einheit
   Berufsbildung Ost und West – gemeinsame
                   Wurzeln,
           Berufsbildung      verschiedene
                         Ost und             Wege
                                 West – gemeinsame
                 s

                          Wurzeln, verschiedene Wege

Berufsausbildung   Ost unter
       Berufsausbildung       neuen
                        Ost unter     Vorzeichen
                                  neuen Vorzeichen
            s

                             Zeitzeugen erinnern sich
                           s

                        Zeitzeugen   erinnern sich
DEUTSCHE EINHEIT 25 JAHRE - BIBB
2   INHALT                                                                                                                 BWP 5/2015

         EDITORIAL                                                              25    Berufsausbildung Ost unter neuen Vorzeichen
                                                                                      HOLLE GRÜNERT

     3   Impulse aus dem Blick zurück
         R E I N H O L D W E Iß                                                 30    Ausbilderqualifizierung Ost
                                                                                      GÜN TER A LBREC HT, REN A TE BEHREN DT,
                                                                                      WOLFGA N G MÜLLER-TA MKE
         BERUFSBILDUNG IN ZAHLEN

     4   Übernahme nach der Ausbildung in ost-                                  34    Mit Berufsfachgruppen den Branchendialog
         und westdeutschen Betrieben                                                  fördern
         SA B I N E M OH R                                                            RA I N ER BRÖTZ, A N ETTE JA C OB, THOMA S HA GEN H O FER

         THEMENSCHWERPUNKT                                                      38    Netzwerk Mechatronik
                                                                                      P ETER A LBREC HT, HA N S WEI ßMA N N

     8   Sind wir ein Volk? Einstellungsmuster und
         Erwartungshaltungen in Ost- und Westdeutsch-                           40    Bildungsdienstleister in sich wandelnden
         land seit dem Einigungsjahr                                                  Strukturen
         E V E R H A R D H OLTM ANN, TOBIAS JAECK                                     KLA US FRA N KE, C HRI S TI A N E KÖHLMA N N -EC KEL

    13   Berufsbildung von der deutschen Teilung                                46    Internationale Lehrkräfteausbildung in der DDR –
         bis zur Einheit – gemeinsame Wurzeln,                                        Rückblick für die Gegenwart
         verschiedene Wege                                                            P HI LI P P P HA N LA S S I G
         V O L K M A R H ER KNE R

                                                                                50    Literaturauswahl zum Themenschwerpunkt
    20   Tertiarisierung der Berufsausbildung
         STE P H A N K R OLL                                                          BERUFE

                                                                                52    Schulische Ausbildungsgänge – eine unter-
                                                                                      schätzte Größe in der Berufsbildung
                                                                                      MA RI A ZÖLLER

                                                                                      QUALIFIKATIONSRAHMEN

                                                                                55    Der österreichische Qualifikationsrahmen:
                                                                                      Umsetzungsstand, Ziele und Erwartungen
                                                                                      THOMA S MA YR, S A BI N E TRI TS C HER-A RC HA N

                                                                                      REZENSIONEN

                                                                                59    Duales Studium
                                                                                      LUKA S GRA F

                                                                                60    KURZ UND AKTUELL

                                                                                66    Autorinnen und Autoren
                                                                                      Impressum

                                                                                      Diese BWP-Ausgabe im Internet:
                                                                                      www.bibb.de/bwp-5-2015

                                                                                      Weiteres Archivmaterial zum Themenschwerpunkt:
                                                                                      www.bibb.de/bwp-5-2015-Archiv

                         Diese Netzpublikation wurde bei der Deutschen Nationalbibliothek angemeldet und archiviert. URN: urn:nbn:de:0035-bwp-15500-8
DEUTSCHE EINHEIT 25 JAHRE - BIBB
BWP 5/2015                                                                                              EDITORIAL             3

Impulse aus dem Blick zurück

                                                                                               RE I NHOLD WE I ß
                                                                                               Prof. Dr., Ständiger Vertreter des
                                                                                               Präsidenten des Bundesinstituts für
                                                                                               Berufsbildung und Forschungsdirektor

Liebe Leserinnen und Leser,

ein Vierteljahrhundert ist seit der Wiedervereinigung ver-        zeitigen Vertragslösungen). Der wohl größte Unterschied
gangen. Die Anfangsjahre waren schmerzvoll für Men-               besteht jedoch im Rückgang der Schulabgängerzahlen, der
schen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben und sich             im Osten früher und gravierender eingesetzt hat als bis-
beruflich gänzlich neu orientieren mussten. Auch für die          lang im Westen. Zudem hat es viele Schulabgänger/-innen
Berufsbildung Ost brachte die deutsche Einheit einen Neu-         nach der Wende von Ost nach West gezogen; ein Trend, der
anfang. Es galten von nun an neue gesetzliche Rahmenbe-           – wenn auch auf deutlich niedrigerem Niveau – heute noch
dingungen, neue Ausbildungsberufe waren umzusetzen                anhält. Durch ihren Wegzug verschärft sich indessen die
und funktionsfähige Kammerstrukturen aufzubauen. Es               wirtschaftliche Lage vor Ort. Entsprechend ist die Zahl der
galt überbetriebliche Ausbildungsstätten zu schaffen bzw.         unbesetzten Ausbildungsplätze mittlerweile im Osten rela-
die bestehenden Einrichtungen zu modernisieren. Und es            tiv höher als im Westen, die Zahl der unvermittelten Be-
mussten mit öffentlichen Mitteln alternative Ausbildungs-         werber entsprechend geringer. Der Mangel an qualifizier-
möglichkeiten für junge Menschen geschaffen werden, die           tem Fachkräftenachwuchs erweist sich inzwischen als eine
aufgrund des Wegbrechens industrieller Strukturen droh-           gravierende Bremse für die wirtschaftliche Entwicklung.
ten, ohne Ausbildung zu bleiben. Dieser anfangs von vie-          Infolge des demografischen Rückgangs werden die in den
len kritisch beurteilte Weg hat sich letztlich doch als richtig   Neunzigerjahren aufgebauten Kapazitäten schon seit Jah-
erwiesen.                                                         ren immer weniger ausgelastet. Dies stellt insbesondere
                                                                  die Träger überbetrieblicher Bildungsstätten, die ihre Ein-
Eine Angleichung zwischen Ost und West ist                        richtungen mit öffentlichen Mitteln aufgebaut und moder-
sichtbar                                                          nisiert haben, vor große Herausforderungen.

Viel ist seither geschehen. Der Angleichungsprozess zwi-          Vergebene Reformchancen reflektieren
schen Ost und West hat große Fortschritte gemacht: Pro-
duktivität, Einkommen und Beschäftigung haben sich                Von den Vorzeigeprodukten in der Berufsbildung der einst-
angeglichen, ebenso die Arbeitslosenquoten. In der Ausbil-        maligen DDR ist wenig bis gar nichts übrig geblieben. Die
dungsmarktlage gibt es kaum noch Unterschiede zwischen            Berufsausbildung mit Abitur konnte unter den neuen Be-
Ost und West. Die Angebots-Nachfrage-Relation lag 2014            dingungen nicht überleben. Ebenso hätte es gelohnt, die
nur noch 0,4 Prozentpunkte auseinander. Inzwischen                Tradition der Ingenieurpädagogik oder von Berufsfach-
stehen einige Wachstumsregionen im Osten besser da als            kommissionen weiterzuführen. Sie sind im Bemühen, rasch
manche strukturschwachen Regionen im Westen. Die üb-              einheitliche Rahmenbedingungen herzustellen, möglicher-
lichen Ost-West-Differenzierungen sollten deshalb einer           weise vorschnell über Bord gekippt worden. So scheint es
differenzierten, stärker regional gegliederten Betrachtung        mit einem Abstand von gut zwei Jahrzehnten durchaus
weichen: etwa zwischen großstädtischen und kleinstädti-           sinnvoll zu fragen, welche Impulse aus dem Blick zurück
schen/ländlichen Regionen oder Wachstums- und struktur-           für künftige Innovationen gewonnen werden können.
schwachen Regionen.

Einige Unterschiede sind geblieben – neue
Herausforderungen entstanden

Natürlich gibt es nach wie vor Unterschiede zwischen Ost
und West in wichtigen Strukturdaten der Berufsbildung
(so z. B. bei den Ausbildungsvergütungen oder den vor-
DEUTSCHE EINHEIT 25 JAHRE - BIBB
4   BERUFSBILDUNG IN ZAHLEN                                                                                BWP 5/2015

    Übernahme nach der Ausbildung in ost- und
    westdeutschen Betrieben
    S A BI N E MO HR
    Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin im
    BIBB-Qualifizierungspanel

    Angesichts rückläufiger Ausbildungs-
    absolventenzahlen wird im Beitrag
    das Übernahmegeschehen in ost- und
    westdeutschen Ausbildungsbetrieben
    näher beleuchtet. Wenngleich sich die
    Übernahmechancen für Auszubildende
    insgesamt verbessert haben, zeigen
    sich im Ost-West-Vergleich deutliche
    Unterschiede, wenn nach zentralen Be-
    triebsmerkmalen unterschieden wird.         ßen. Im Fokus steht dabei die Frage, wie   Eine weitere Differenzierung nach ver-
                                                sich das Übernahmeverhalten zwischen       schiedenen Betriebsmerkmalen zeigt:
    Situation an der zweiten Schwelle           Betrieben unterschiedlicher Kammer-        Je kleiner ein Betrieb ist, desto eher
                                                zugehörigkeit und Größenklassen im         übernimmt er seine Auszubildenden
    Infolge rückläufiger Auszubildenden-        Ost-West-Vergleich unterscheidet.          in ein unbefristetes Beschäftigungs-
     bestände und einer sinkenden Anzahl                                                   verhältnis. Dies ist im Westen mit
    von ausbildungsaktiven Betrieben (vgl.      Betriebliches Übernahme-                   48 Prozent deutlich ausgeprägter als
    Troltsch 2015) hat auch die Anzahl          verhalten in West und Ost                  im Osten (42 %). Gleichzeitig kommen
     der Ausbildungsabsolventinnen und                                                     kleinere gegenüber größeren Betrieben
    -absolventen in den letzten Jahren stark    Wie die Abbildung verdeutlicht, wurden     auf höhere Anteile an Auszubildenden,
     abgenommen (vgl. Dorau 2015). Be-          in westdeutschen Ausbildungsbetrie-        die den Betrieb auf eigenen Wunsch
     sonders deutlich ist der Rückgang im       ben mehr als zwei Drittel (68 %) aller     verlassen. Ostdeutsche Ausbildungsbe-
     Osten Deutschlands erkennbar. Parallel     Absolventinnen und Absolventen in          triebe betrifft dies stärker als westdeut-
     dazu ist die Übernahmequote, also der      eine befristete oder unbefristete An-      sche (42 % im Osten, 34 % im Westen).
    Anteil der Auszubildenden, die nach ih-     schlussbeschäftigung übernommen.           Mit zunehmender Betriebsgröße nimmt
     rem Abschluss vom Ausbildungsbetrieb       Im Vergleich dazu fiel dieser Anteil in    auch der Anteil der Übernahmen in
    übernommen wurden, auf 67 Prozent           ostdeutschen Betrieben mit 66 Prozent      befristete Beschäftigungsverhältnisse
     angestiegen – wobei auch hier ein star-    nur unwesentlich geringer aus. Unter-      auf bis zu 43 Prozent* und der Anteil
     ker Anstieg bei ostdeutschen Betrieben     schiede zwischen den beiden Bundes-        betriebsbedingter Nichtübernahmen
    zu verzeichnen ist (vgl. Dummert/           gebieten gibt es jedoch hinsichtlich       auf bis zu 21 Prozent zu. Letzteres ist vor
    Frei/Leber 2014).                           der Art der Übernahme: Im Westen           allem in Ostdeutschland zu erkennen,
    Die generelle Übernahmequote bildet         erhielt mit 41 Prozent ein größerer        wo jede/-r fünfte Absolvent/-in von
     die Situation allerdings nur unzurei-      Anteil der Auszubildenden einen un-        dieser betrieblichen Entscheidung be-
     chend ab. Zum einen bleibt unklar, ob      befristeten Arbeitsvertrag als im Osten    troffen ist. Dieses Übernahmeverhalten
    Absolventinnen und Absolventen in           (34 %). Ferner werden in ostdeutschen      größerer Betriebe in Ostdeutschland,
     befristete oder unbefristete Arbeitsver-   Betrieben mit 14 Prozent häufiger Ab-      von dem zwei Drittel der jeweiligen
     hältnisse übernommen werden. Zum           solventinnen und Absolventen aus be-       Absolventinnen und Absolventen be-
     anderen fehlen Informationen, ob im        triebsbedingten Gründen nicht über-        troffen sind, könnte mit der weiterhin
    Fall nicht erfolgter Übernahmen die         nommen. Schließlich entscheidet sich       unterschiedlichen wirtschaftlichen
     Entscheidung auf Wunsch der Auszu-         in beiden Bundesgebieten etwa jede/-r      Lage und Arbeitsmarktsituation in
     bildenden oder der Betriebe erfolgt.       fünfte Auszubildende (22 % im Westen;      Ost und West zusammenhängen, da in
     Der Beitrag versucht, diese Informa-       20 % im Osten) dafür, den Ausbildungs-
    tionslücke anhand aktueller Daten des       betrieb nach Abschluss der Ausbildung      * Dabei spielen auch weitere Faktoren, z.B.
     BIBB-Qualifizierungspanels zu schlie-      zu verlassen.                              tarifrechtliche Vereinbarungen, eine Rolle.
DEUTSCHE EINHEIT 25 JAHRE - BIBB
BWP 5/2015                                                                    BERUFSBILDUNG IN ZAHLEN                           5

Abbildung
Anteile übernommener und nicht übernommener Ausbildungsabsolventinnen und -absolventen
im Jahr 2013 nach Betriebsmerkmalen in Ost- und Westdeutschland (in %)

dieser Betriebsgruppe auch der Anteil      betrieben überdurchschnittlich viele        den Ausbildungsbetrieb auf eigenen
befristeter Übernahmen mit 43 Prozent      Auszubildende nach ihrem Abschluss          Wunsch verlassen. Betroffen davon sind
sehr hoch liegt.                           betriebsbedingt nicht übernommen.           vor allem kleinere Betriebe sowie Hand-
Auch wenn Handwerksbetriebe im             Dies betrifft jede/-n achte/-n Absolven-    werksbetriebe. Anscheinend bieten sich
Osten wie im Westen im Vergleich zu        tin bzw. Absolventen, in westdeutschen      diesen jungen Menschen attraktivere
Betrieben mit Mitgliedschaft in der        Betrieben beträgt der Anteil lediglich      Alternativen. Für Betriebe, die hier das
Industrie- und Handelskammer (IHK)         11 Prozent.                                 Nachsehen haben, könnte das bedeuten,
insgesamt deutlich geringere Übernah-                                                  dass sich ihre Ausbildungsbeteiligung
mequoten aufweisen, so erfolgt die         Fazit                                       nicht im gewünschten Maße auszahlt
Übernahme doch eher in unbefristete                                                    und dass dies ein Grund für die seit Jah-
Beschäftigungsverhältnisse, wie sich       Angesichts steigender Übernahme-            ren rückläufige Ausbildungsbeteiligung
dies bei der Auswertung nach Betriebs-     quoten haben sich die Chancen für           in Deutschland ist.
                                                                                                               s

größenklassen schon angedeutet hat.        Auszubildende auf eine Anschlussbe-
Dieses betriebliche Übernahmeverhal-       schäftigung im Ausbildungsbetrieb in
ten scheint mit 49 Prozent unbefristet     den letzten Jahren deutschlandweit,
übernommenen Absolventinnen und            besonders aber in den Betrieben in Ost-     Literatur
Absolventen insbesondere in westdeut-      deutschland verbessert. Mit Blick auf
                                                                                       Dorau, R.: Übergang von Ausbildung in
schen Handwerksbetrieben Praxis zu         die Art der Übernahme bleibt allerdings     Beschäftigung. In: BIBB (Hrsg.): Datenreport
sein. Gleichzeitig verlassen aber Absol-   zu konstatieren, dass westdeutsche Be-      zum Berufsbildungsbericht 2015. Bielefeld
                                                                                       2015, S. 291–293
ventinnen und Absolventen eher ihren       triebe zwei von fünf, ostdeutsche Be-
                                                                                       Dummert, S.; Frei, M.; Leber, U.: Betriebe
ausbildenden Handwerksbetrieb, als         triebe dagegen nur jede/-n dritte/-n
                                                                                       und Bewerber finden schwerer zusammen,
dies Auszubildende aus dem IHK-Be-         ihrer Absolventinnen und Absolven-          dafür sind Übernahmen häufiger denn je.
reich machen. Dies gilt mit 30 Prozent     ten in unbefristete Arbeitsverhältnisse     IAB-Kurzbericht 20/2014. Nürnberg 2014

wiederum vor allem für ostdeutsche         übernehmen. Darüber hinaus fällt der        Troltsch, K.: Betriebliche Ausbildungsbeteili-
                                                                                       gung. In: BIBB (Hrsg.): Datenreport zum
Handwerksbetriebe. Darüber hinaus          vergleichsweise hohe Anteil an Absol-       Berufsbildungsbericht 2015. Bielefeld 2015,
werden in ostdeutschen Handwerks-          ventinnen und Absolventen auf, die          S. 217–221
DEUTSCHE EINHEIT 25 JAHRE - BIBB
6   THEMENSCHWERPUNKT                                                                                BWP 5/2015

25
                        Zeitzeugen erinnern sich

                        Das Zusammenwachsen zweier deutscher
                        Berufsbildungssysteme in turbulenten Zeiten

    BWP Mit der deutschen Vereinigung wuchsen auch zwei
    deutsche Berufsbildungssysteme zusammen. Als Gene-
    ralsekretär des BIBB waren Sie, Herr Professor Schmidt,
    zusammen mit Verantwortlichen des Zentralinstituts für
    Berufsbildung (ZIB) gefordert, diesen Prozess mitzugestal-
    ten. Was waren damals vordringliche Anliegen?
    Schmidt Der Mauerfall läutete eine unvergessliche Zeit
    ein. Wir erlebten im BIBB von heute auf morgen eine
    grundlegende Änderung unserer eigenen Rolle. War unser
    Betätigungsfeld zwanzig Jahre lang Hunderte Kilometer
    von unserem Standort Berlin entfernt in der Bundesrepu-       BWP Gab es bereits vor der Wende einen Austausch zwi-
    blik, so befanden wir uns nun mitten in einem neuen Wir-      schen ZIB und BIBB?
    kungsfeld. Wir wurden für die Bundesregierung und ab          Schmidt Seit Anfang der 80er-Jahre hatten wir vom BIBB
    Mai 1990 für die Regierung der DDR ebenso wie für per-        aus jährlich Einladungen an das ZIB und alle Berufsbil-
    sönliche Anliegen der DDR-Bürger in Fragen von Aus- und       dungsinstitute des Ostblocks versandt. Einzig aus Polen
    Weiterbildung eine zentrale Anlaufstelle. Die Begeisterung    erhielten wir Antwort. Der Direktor des Warschauer Insti-
    über das unerwartete Ereignis gab uns enorme Energien,        tuts, Tadeusz Nowacki, besuchte uns ab 1984 regelmäßig
    allen neuen Aufgaben gerecht zu werden.                       in Berlin. Vom ZIB kam wie von den anderen Instituten
    Die Zusammenarbeit mit dem ZIB begann am 4. Januar            keine Antwort. Nach dem Kulturabkommen zwischen der
    1990. Mein Stellvertreter, Professor Helmut Pütz, und ich     Bundesrepublik und der DDR 1986 nahm das ZIB eine Ein-
    verabredeten mit der Leitung des ZIB zahlreiche gemein-       ladung an. Direktor Wolfgang Rudolph und drei Kollegen
    same Projekte. Dazu zählte unter anderem die Einführung       trafen sich im Herbst mit uns für drei Tage auf »neutralem
    einer kaufmännischen Ausbildung für marktwirtschaft-          Boden« der Handwerkskammer Aachen. Thema war unter
    lich geführte Unternehmen in der DDR. Man hatte eine          anderem die Neuordnung der Metallberufe, die gleichzei-
    teilweise exzellente technische Ausbildung, aber es fehlte    tig in der DDR und bei uns stattfand. Im Übrigen waren
    systembedingt zum Beispiel die Ausbildung für Industrie-,     die Kollegen vom ZIB über unsere Arbeit weit besser infor-
    Handels-, Bank- und Versicherungskaufleute. Wir ent-          miert als wir über ihre.
    wickelten Vorschläge, um die von Schließung bedrohten         Im Jahr 1987 richtete die DDR den ersten Berufsbildungs-
    großbetrieblichen Ausbildungseinrichtungen für überbe-        kongress der UNESCO aus, auf dem ZIB- und BIBB-Mitar-
    triebliche Ausbildung zu retten. Da Zuschnitt, Inhalte und    beiter einander trafen und diskutierten. Im Jahr 1988 tra-
    Ausbildungsdauer der Berufe unterschiedlich waren, ver-       fen wir gleich dreimal mit Kollegen des ZIB zusammen: bei
    glichen und entwickelten wir Pläne zur Vereinheitlichung.     einem Besuch des DDR-Staatssekretärs für Berufsbildung
    In den ersten Monaten 1990 gingen wir noch von einer Zu-      im Bildungsministerium in Bonn, bei einem Symposium
    sammenarbeit beider Institute in einer Konföderation bei-     in Bydgoszcz/Polen, wo ich erstmals an einer Konferenz
    der deutscher Staaten aus. Nach den Volkskammerwahlen         der Institute aller Staaten des Rats für gegenseitige Wirt-
    im Mai ging es nur noch um eine erträgliche Gestaltung        schaftshilfe teilnahm, und auf Einladung von Professor
    der zunächst chaotischen Zustände, die der Beschluss der      Anweiler, Universität Bochum, zu Fachgesprächen über
    Volkskammer zur Übernahme unseres Berufsbildungsge-           Fragen der Berufsbildungsforschung.
    setzes zur Folge hatte. Am Ende des Jahres wurde das ZIB      Als die Mauer fiel, waren die Institute einander nicht fremd.
    aufgelöst. Wir konnten 30 Kolleginnen und Kollegen ins
    BIBB übernehmen, leider gestand uns der Finanzminister        BWP Noch vor dem Einigungsvertrag verabschiedete die
    keine weiteren Stellen zu. Dieser Zuwachs an Sachkennt-       Volkskammer im Juli 1990 die gesetzlichen Grundlagen
    nis stellte sich für uns als großer Glücksfall heraus. Ohne   des dualen Systems der Bundesrepublik durch Übernahme
    das hohe Engagement und die speziellen Kenntnisse dieser      des BBiG und eines Berufsschulgesetzes. Warum diese gro-
    Mitarbeiter hätten wir die zahlreichen Anpassungsproble-      ße Eile und wie beeinflusste dies die Dynamik des Trans-
    me nicht annähernd so meistern können, wie es geschah.        formationsprozesses?
DEUTSCHE EINHEIT 25 JAHRE - BIBB
BWP 5/2015                                                                       THEMENSCHWERPUNKT                     7

Schmidt Vor der Verabschiedung war ich mit anderen            Formen dualer Ausbildung (»Youth Training Scheme«) im
Sachverständigen zu einer Anhörung in der Volkskammer.        UK einzuführen. Enttäuschend war für unsere britischen
Ich plädierte für ein schrittweises Vorgehen über mehre-      Freunde wie für viele andere Besucher, dass es offenbar für
re Jahre, da bei sofortiger Inkraftsetzung alle Beteiligten   zwei verwandte duale Systeme mit großen Schwierigkei-
das Gesetz ständig hätten übertreten müssen; es fehlten       ten verbunden war, zusammenzuwachsen.
die Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße Umset-            Mit den USA mündete die Zusammenarbeit in den Folge-
zung. Da stand ein Abgeordneter auf und antwortete:           jahren in eine intensive Beratung, als Präsident Clintons
»Herr Schmidt, Sie haben ja recht. Aber sagen Sie das mal     Arbeitsminister Robert Reich 1993 die gesetzlichen Grund-
den jungen Leuten in meinem Wahlkreis. Die wollen den         lagen für die Entwicklung betriebsgestützter Ausbildung
westdeutschen Facharbeiterbrief, und zwar sofort, weil sie    (»school-to-work-opportunities-act«) schuf.
sonst ihre Beschäftigungschancen gefährdet sehen.« Die        Politisches Aufsehen erregte im Jahr 1990 der Besuch des
chaotische Einführung des Systems, die in den Folgejahren     stellvertretenden Bildungsministers der Sowjetunion, Pro-
viele Jugendliche veranlasste, zur Ausbildung nach West-      fessor Smirnov, im Europäischen Berufsbildungszentrum
deutschland zu gehen, ist Geschichte.                         CEDEFOP. Smirnov, der nach dem Ende der UdSSR die
Manche Chance der Systemoptimierung wurde damals              Leitung des Berufsbildungsinstituts in Moskau übernahm,
durch unterschiedliche Interessen der westdeutschen Ak-       besuchte uns – inoffiziell, wie er betonte – im BIBB. Auch er
teure und in der Hast der Entscheidungen vertan. Man          interessierte sich vornehmlich für die Fragen des System-
hätte die Transformationsprobleme durch ein schulisches       transfers der dualen Ausbildung, vor allem für die Moder-
Berufsgrundbildungsjahr abmildern können, um vor allem        nisierung der Ausbildungsordnungen.
den zahlreichen in Gründung befindlichen Kleinbetrieben
die Mühen der Grundlagenvermittlung abzunehmen, die
sie von einer Ausbildung abhielten. Doch das lehnten die
westdeutschen Arbeitgeber und die Bundesregierung aus
bildungspolitischen Gründen ab. Auch die durchaus attrak-
tive Besonderheit »Facharbeiter mit Abitur« wurde – noch
bevor die notwendigen Änderungen in der Durchführung
diskutiert werden konnten – Opfer westdeutscher Interes-
sen. Die Arbeitgeber sahen eine Gefährdung des Prüfungs-
privilegs der Kammern, die Kultusminister die Gefahr einer
Integration beruflicher und allgemeiner Bildung und eine      BWP Wenn Sie heute auf diese bewegte Zeit zurückblicken:
Gefährdung ihres Prüfungsprivilegs für das Abitur. Auch       Lässt sich ein Fazit ziehen? Wo wurde trotz sich überschla-
die Berufsfachkommissionen der DDR wären aus unserer          gender Ereignisse klug gehandelt, wo weniger?
Sicht sehr vorteilhaft gewesen. Aber auch sie passten nicht   Schmidt Mangels Vergleichsmöglichkeiten lässt sich über
in die westdeutschen Vorstellungen.                           die Chancen des Erfolgs von Alternativen nur spekulieren.
                                                              Niemand hätte damals vermutet, dass 25 Jahre später noch
BWP Als BIBB-Generalsekretär hatten Sie viele Kontakte        die zurzeit existierenden Unterschiede zwischen Ost- und
ins europäische und außereuropäische Ausland. Wie wur-        Westdeutschland bestehen. Was die berufliche Bildung
den die Entwicklungen in Deutschland dort aufgenom-           angeht, so bin ich nach wie vor stolz auf den beachtlichen
men?                                                          Beitrag, den die Kolleginnen und Kollegen der beiden
Schmidt Das BIBB erlebte damals einen Besucheransturm         deutschen Berufsbildungsinstitute konkret für die damals
von Berufsbildungsfachleuten aus aller Welt, die sozu-        in der Ausbildung befindlichen Jugendlichen und zum Zu-
sagen eine Systemangleichung im Eilschritt beobachten         sammenwachsen der Systeme erbracht haben. Ich bewun-
wollten. Ein amerikanischer Kollege, Val Rust aus Seattle,    dere die enorme Anpassungsleistung der Berufsschulen
stellte nach mehrwöchiger Rundreise durch die DDR fest:       und der zahlreichen freien Einrichtungen in den neuen
»You are really going to anschluss East Germany«. Ich hielt   Ländern, die viel abgefedert haben, was in der betriebli-
beispielhaft den Volkskammerbeschluss zum Berufsbil-          chen Ausbildung einfach nicht zu leisten war, und die er-
dungsgesetz dagegen, konnte ihn aber nicht überzeugen.        staunliche Aufbauleistung der Kammern, die als struktu-
Wir pflegten in jener Zeit ständigen Austausch mit den be-    relles Rückgrat des dualen Systems in kürzester Zeit eine
freundeten Instituten in den USA, dem UK, Frankreich und      Registrierungs-, Aufsichts- und Prüfungsinfrastruktur ge-
Italien. Vor allem jene Länder, die das duale System gern     schaffen haben, ohne die alle betrieblichen Mühen vergeb-
auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten übernommen hätten,         lich gewesen wären.
waren häufig zu Gast. Seit Anfang der 80er-Jahre hatte das                                   (Interview: Christiane Jäger)
BIBB bereits britische Ministerien bei dem Versuch beraten,
DEUTSCHE EINHEIT 25 JAHRE - BIBB
8   THEMENSCHWERPUNKT                                                                                     BWP 5/2015

    Sind wir ein Volk?
    Einstellungsmuster und Erwartungshaltungen in Ost- und
    Westdeutschland seit dem Einigungsjahr

                                                   Das Suchen nach Sicherheit kennzeichnet ein Grundbedürfnis, das in Ost-
                  EV ERH ARD HOLTMANN              deutschland in der Phase des Systemumbruchs und der anschließenden öko-
                  Prof. Dr., Forschungsdirektor
                  am Zentrum für Sozialfor-        nomischen Transformationskrise vorherrschte. Sicherheitsstreben war und ist
                  schung Halle e.V.
                                                   jedoch auch in Westdeutschland traditionell weit verbreitet. Damit war der
                                                   Boden bereitet für ein gesamtdeutsch anerkanntes soziales Kulturmuster, in
                  TOBIAS JAECK                     welchem die Traditionslinien des autoritären Wohlfahrtsstaats der DDR und
                  Wiss. Mitarbeiter am Zentrum
                  für Sozialforschung Halle e.V.   des demokratischen Sozialstaats der Bundesrepublik zusammengeführt wur-
                                                   den. Der Beitrag zeigt beispielhaft, wie sich im Laufe von 25 Jahren in Ost und
                                                   West bestehende Einstellungen einander angenähert haben.

    Aufbruch, Umbruch und Unsicherheit –
    Erfahrungslagen im Systemwechsel                                   es in Ostdeutschland 18 Prozent respektive 39 Prozent«
                                                                       (Krause u. a. 2012, S. 230).
    Euphorie und Aufbruchstimmung waren unmittelbar vor                Insofern überrascht es nicht, dass damals erfahrene ele-
    und ebenso zum Zeitpunkt des Vollzugs der deutschen Ein-           mentare Unsicherheit für viele Ostdeutsche bis heute nach-
    heit allgegenwärtig. In Ostdeutschland waren jedoch emo-           wirkt. Die Suche nach Sicherheit genießt in Ostdeutsch-
    tionaler Überschwang und hohe Erwartungen unterlegt                land nach wie vor hohe Priorität. Werden Ostdeutsche
    mit verbreiteter Unsicherheit darüber, wie sich nach dem           hypothetisch vor die Alternative gestellt, sich entweder für
    Zusammenbruch der DDR die Lebens- und Arbeitsbedin-                »Freiheit« oder für »Sicherheit« zu entscheiden, fällt die
    gungen im Osten der Republik entwickeln würden.                    Wahl eindeutig aus. In Sachsen-Anhalt zum Beispiel hat
    Die ökonomisch-soziale Transformationskrise, die sich              »Sicherheit« vor »Freiheit« in Umfragen messbar seit 2007
    ab etwa 1991 in den neuen Bundesländern voll entfalte-             ziemlich konstant für zwei Drittel der Bevölkerung oder
    te, ließ innerhalb der ostdeutschen Arbeitsgesellschaft die        mehr Vorrang (vgl. Holtmann/Jaeck/Völkl 2014, S. 66 ff.).
    Unsicherheit weiter anwachsen. Zwar konnten die mate-
    riell einschneidenden Folgen für das Gros der Menschen             Bedürfnis nach Sicherheit – keine exklusiv ost-
    durch staatliche Sozialleistungen und sozialpolitische             deutsche Eigenheit
    Maßnahmen weitgehend kompensiert werden, doch Millio-
    nen Ostdeutsche fanden sich in den frühen 1990er-Jahren            Schon die ersten gesamtdeutschen Bevölkerungsumfra-
    unversehens in einer Position von materiellen und/oder im-         gen sprechen eine deutliche Sprache. Im März 1990 ga-
    materiellen Einigungsverlierern wieder.                            ben annähernd 90 Prozent der Ostdeutschen an, ihnen sei
    Kennzeichnend hierfür waren in der beruflichen bzw. be-            der Leitwert »nach Sicherheit streben« wichtig bzw. sehr
    rufsnahen Sphäre Arbeitslosigkeit oder atypische Beschäf-          wichtig. In Westdeutschland waren es gut 80 Prozent (vgl.
    tigung, erzwungene Berufs- oder Betriebswechsel, abkni-            Holtmann u. a. 2015, S. 103).
    ckende Karrierepfade und fachliche Dequalifizierung. So            Diese Daten liefern eine doppelte Erkenntnis: Zum ei-
    entwickelten sich beispielsweise in Ostdeutschland die             nen war in den Monaten des Systemwechsels das Suchen
    »Überlebensraten« neuer oder bestehender Beschäfti-                nach Sicherheit in Ostdeutschland stark ausgeprägt. Zum
    gungsverhältnisse kurzlebiger als im Westen. »Während              anderen ist ein generalisiertes Sicherheitsbedürfnis kein
    in Westdeutschland nach vier Jahren noch 22 Prozent der            ostdeutsches Alleinstellungsmerkmal, sondern ebenso in
    1993 neu begonnenen und 53 Prozent der 1993 bereits be-            Westdeutschland stabil verankert.
    stehenden Beschäftigungsverhältnisse existierten, waren
DEUTSCHE EINHEIT 25 JAHRE - BIBB
BWP 5/2015                                                                  THEMENSCHWERPUNKT                     9

Tabelle 1
Gewünschte sozialstaatliche Intervention anhand ausgewählter Merkmale 1990 bis 1996
(Angaben in Prozent)

Gewünschte Reichweite sozialstaatlicher
Intervention im Ost-West-Vergleich                            Als erhaltenswerte Errungenschaften der DDR wurden im
                                                              Frühjahr 1990 dann auch am häufigsten deren Kinderein-
Dennoch gibt es aus vergleichender Sicht in diesem Punkt      richtungen (41 %), allgemeine soziale Leistungen (26 %)
zwischen Ost und West substanzielle Unterschiede. In          und Hortbetreuung/Schulspeisung (20 %) genannt (ebd.,
Ostdeutschland gingen die Erwartungen nach sozialpo-          S. 107). Politisch vorrangig zu lösen waren nach Meinung
litischer Abfederung von Lebensrisiken über die in der        der Befragten insbesondere die Beseitigung der Umwelt-
Bundesrepublik gewachsenen Systeme sozialer Sicherung         schäden, die Sanierung der Wirtschaft, eine leistungs-
erheblich hinaus. Umfragen zufolge war in den damals          gerechte Entlohnung und höhere Renten, die Sicherung
neuen Bundesländern eine Grundüberzeugung, welche             sozialer Leistungen der DDR sowie Verbesserungen im Ge-
dem Staat die Verantwortung nicht nur für die Vorsorge für    sundheitswesen (ebd., S. 108).
Alter und Krankheit sowie für die Sicherung des Einkom-       Die Einschmelzung dieser ostdeutschen Versorgungsmen-
mens in Risikolagen, sondern auch für gleiche Einkommen,      talität in ein gesamtdeutsches Kulturmuster stieß im Westteil
Vollbeschäftigung und gesetzliche Kontrolle von Löhnen        der Bundesrepublik nicht auf grundsätzliche Widerstände.
und Gehältern zuweist, im Vergleich zum westdeutschen         Im Gegenteil: Die oben dargestellten Daten zeigen, dass
Erwartungsniveau außerordentlich weit verbreitet. Im          auch in Westdeutschland seit jeher ein grundsätzlicher
Grundmuster blieb diese Ost-West-Differenz, wenngleich        gesellschaftlicher Konsens dahingehend herrschte, dass
abgeschwächt, bis heute erhalten (vgl. Holtmann u. a.         es zur Absicherung bestimmter Lebensrisiken und zum
2015, S. 179).                                                Ausgleich sozialer Härten und Mangellagen einer gewis-
                                                              sen staatlichen Intervention bedarf. Sozialpolitische Be-
»Erhaltenswerte Errungenschaften« der DDR                     dürfnisse und Erwartungen, die sich im autoritären Wohl-
                                                              fahrtsstaat der DDR verfestigt hatten, fanden 1990 deshalb
Wie obige Einstellungsdaten dokumentieren, hat im Osten       großenteils übergangslos Anschluss an das demokratische
Deutschlands diese ausgeprägte staatsinterventionistische     und marktwirtschaftlich basierte Sozialstaatsmodell der
Grunderwartung zwar schon im Laufe der ersten Hälfte          Bundesrepublik.
der 1990er-Jahre leicht abgenommen, doch hat sich dieser
Anspruch nicht erst als eine unmittelbare Reaktion auf die    Die Bundesrepublik aus der Sicht der DDR-Bürger
Transformationskrise seit etwa 1991 neu aufgebaut. Eine       vor 1990
weit gespannte Staatshilfe wurde vielmehr schon im Eini-
gungsjahr 1990 in Ostdeutschland deshalb wie selbstver-       Wie stark in Ostdeutschland schon zu DDR-Zeiten die
ständlich reklamiert, weil die Bürger der DDR die staatlich   Grunderwartung sozialer Sicherung verinnerlicht war,
gelenkte und garantierte Vollversorgung im Bereich der        veranschaulichen die Befunde jener damals geheimen
Daseinsgrundbedürfnisse seit Jahrzehnten gewohnt waren        (und nach 1990 in der Sozialforschung bemerkenswert
(vgl. Holtmann u. a. 2015, S. 67 ff.).                        lange unbeachtet gebliebenen) Stellvertreterumfragen,
DEUTSCHE EINHEIT 25 JAHRE - BIBB
10   THEMENSCHWERPUNKT                                                                              BWP 5/2015

     Abbildung 1
     Systemvergleich: Bundesrepublik – DDR aus Sicht der
     DDR-Bevölkerung (Stellvertreterbefragungen, 1978 bis 1988)

                                                                  len Sicherheit sowie weiterer Indikatoren der DDR stets
                                                                  deutlich überlegen (vgl. Holtmann u. a. 2015, S. 89–96).
                                                                  Doch wurden die Verhältnisse in der Bundesrepublik, wie
                                                                  im 1988er-Bericht von Infratest angemerkt wurde, »kei-
                                                                  neswegs positiv überzeichnet« (ebd., S. 92). Im Fortgang
                                                                  der 1980er-Jahre schwächte sich demnach der Eindruck
                                                                  ab, in Westdeutschland seien die Einkommen gerechter
                                                                  verteilt als in der DDR (vgl. Abb. 1). Dass in jenen Jahren
                                                                  in Westdeutschland die Arbeitslosigkeit zunahm, wurde in
                                                                  der ostdeutschen Bevölkerung sehr wohl registriert. Ein
                                                                  Indiz dafür war die in demselben Jahresbericht erwähnte
                                                                  Beobachtung, dass eine breite Mehrheit von 82 Prozent die
                                                                  Sicherheit der Arbeitsplätze eher in der DDR für garantiert
                                                                  hielt (ebd., S. 92).

                                                                  Eigeninitiative oder Arbeitsplatzgarantie:
                                                                  Auswege aus beruflicher Unsicherheit?
     welche die Infratest-Kommunikationsforschung zwischen
     1968 und 1989 für das Bonner gesamtdeutsche Ministe-         Als im Mai/Juni 1990 Infratest das methodische Instru-
     rium kontinuierlich durchgeführt hatte (vgl. Kasten). Dem    ment der stellvertretenden Umfragen erstmals gegen eine
     subjektiven Systemvergleich zufolge, den DDR-Bürger sei-     repräsentative Bevölkerungsumfrage austauschte, erwies
     nerzeit vornahmen, war die Bundesrepublik hinsichtlich       sich: Auf der Prioritätenliste der DDR-Bürger standen »vor
     der allgemeinen Lebensbedingungen, der wirtschaftli-         allem wirtschafts- und sozialpolitische Themen mit Be-
     chen Lage, bezüglich der Chancengleichheit und sozia-        zug zur eigenen Lebenssituation« (Holtmann u. a. 2015,
BWP 5/2015                                                                     THEMENSCHWERPUNKT                   11

Tabelle 2
Berufliche Erwartungen der DDR-Bevölkerung im Sommer 1990 für die nächsten ein bis zwei Jahre
nach der WWSU* (Angaben in Prozent)

S. 107). Andererseits war das ostdeutsche Lebensideal            ihrem Landesteil mit 31 Prozent leicht häufiger positiv als
nicht ausschließlich konsumtiv und fremdbestimmt. Im-            dies westdeutsche Landsleute mit Blick auf Ostdeutschland
merhin bejahten im Einigungsjahr 1990 etwa ebenso                tun (27 %). Auch die künftige wirtschaftliche Entwicklung
viele Ost- wie Westdeutsche, dass »jeder seines Glückes          Ostdeutschlands wird dortselbst zuversichtlicher gesehen
Schmied« sei: Der Aussage, dass das, was man im Leben            (von 41 % gut bzw. sehr gut) als aus westdeutschem Ab-
erreiche, in erster Linie von den eigenen Leistungen und         stand (36 % gut bis sehr gut). Die eigene wirtschaftliche
weniger von äußeren Faktoren abhänge, stimmten im                Lage wird von großen Mehrheiten der Bevölkerung in West
März 1990 Ostdeutsche mit rund 70 Prozent kaum weniger           (71 %) und Ost (65 %) als gut bis sehr gut eingeschätzt.
häufig zu als Westdeutsche (73 %). Neben das Bekenntnis          Schließlich sind fast gleich viele Ostdeutsche (57 %) wie
zu Eigeninitiative und leistungsgestufter Entlohnung trat        Westdeutsche (60 %) der Überzeugung, dass sie gemessen
jedoch der Wunsch, den beruflichen Status quo halten zu          an den Lebensverhältnissen anderer, die in Deutschland
können. Zwischen Mai und August 1990 konnte sich kons-           leben, »ihren gerechten Anteil« erhalten (sämtliche Daten
tant überhaupt nur jeder zehnte Ostdeutsche einen Wech-          aus Infratest 2014).
sel in berufliche Selbstständigkeit vorstellen (vgl. Infratest   Die Einstellungsdaten lassen darauf schließen, dass die
Kommunikationsforschung 1990). Mehr als 40 Prozent               allgemeine Grundstimmung in Ostdeutschland, anders als
befürchteten bereits, den Arbeitsplatz zu verlieren (Tab. 2).    noch unmittelbar vor der deutschen Einigung und in den
                                                                 frühen 1990er-Jahren, heutzutage deutlich weniger von
Angenäherte sozialstaatliche Erwartungsmuster                    subjektiv empfundener Unsicherheit geprägt wird. Erhär-
                                                                 tet wird dieser Befund stabilisierter Seelenlagen auch da-
Betrachtet man die persönliche Lebenszufriedenheit der           durch, dass sich die ost- und westdeutschen Erwartungs-
gesamtdeutschen Bevölkerung zum heutigen Zeitpunkt,              muster wohlfahrtsstaatlicher Intervention mittlerweile
hat sie ein hohes Niveau erreicht. Im Herbst 2014 bekunde-       erkennbar einander angenähert haben, auch wenn noch
ten 83 Prozent der Westdeutschen und mit 76 Prozent nicht        immer deutlich mehr Ostdeutsche für staatliche Lohn- und
viel weniger Ostdeutsche, »alles in allem mit ihrem Leben«       Preiskontrolle sowie eine staatliche Gewährleistung glei-
zufrieden zu sein. Dabei fallen die Unterschiede nach Alter      cher Einkommen eintreten. Nicht nur plädieren nur um
und Schulabschluss gering aus. Die aktuelle wirtschaftli-        wenige Prozentpunkte differierende, übergroße Mehrhei-
che Lage Ostdeutschlands wird naturgemäß weniger vor-            ten in beiden Teilen des Landes dafür, dass die Sicherstel-
teilhaft eingeschätzt als diejenige Westdeutschlands: Den        lung der Gesundheitsversorgung bei Krankheit, die Ein-
Stand der ostdeutschen Wirtschaft stufen 27 Prozent aller        kommenssicherung im Notfall, die Sicherung der Rente
Befragten als gut bzw. sehr gut ein; im Vergleich dazu wird      sowie einer angemessenen Unterstützung bei Arbeitslosig-
die westdeutsche Wirtschaft von 63 Prozent positiv beno-         keit in die Verantwortung des Staates fallen. Vielmehr ha-
tet. Dabei äußern Ostdeutsche sich über die Ökonomie in          ben sich Ost- und Westdeutsche seit 1990 auch in puncto
12   THEMENSCHWERPUNKT                                                                                        BWP 5/2015

     Abbildung 2
     Staatsverantwortung nach Einschätzung der Bevölkerung in West- und Ostdeutschland 2014
     (Nennungen »Ja, sollte eher in der Verantwortung des Staates liegen«, Angaben in Prozent)

     Staatsverantwortung für Vollbeschäftigung, Gleichheit der      Literatur
     Einkommen und Lohn- und Preiskontrollen einander ange-         Holtmann, E. u. a.: Deutschland 2014. 25 Jahre Friedliche Revolution
     nähert (vgl. Abb. 2).                                          und Deutsche Einheit. Ergebnisse eines Forschungsprojekts. Abschluss-
                                                                    bericht. Berlin 2015
     Diese Konvergenz der Einstellungen im geeinten Deutsch-
     land lässt sich auch bei explizit politischen Indikatoren      Holtmann, E.; Jaeck, T.; Völkl, K.: Sachsen-Anhalt-Monitor 2014.
                                                                    Festigung der Demokratie. Halle 2014
     nachweisen, wie z. B. der Zustimmung zur Idee der Demo-
     kratie oder der Zufriedenheit mit der Demokratie, wie sie      Holtmann, E.; Köhler, A.: Wiedervereinigung vor dem Mauerfall.
                                                                    Einstellungen der Bevölkerung der DDR im Spiegel geheimer westlicher
     in Deutschland real existiert (vgl. ausführlich Holtmann       Meinungsumfragen. Frankfurt / New York 2015
     u. a. 2015). Hierzu hat der in den vergangenen zweieinhalb     Infratest: Deutschland 2014. 25 Jahre friedliche Revolution und
     Jahrzehnten erreichte Stand wirtschaftlicher und gesell-       Deutsche Einheit. Repräsentative Bevölkerungsumfrage 15. September
                                                                    bis 10. Oktober 2014. Tabellenband Deutschland Gesamt. Berlin 2014
     schaftlicher Konsolidierung gewiss wesentlich beigetra-
     gen. In Ostdeutschland dominiert Unsicherheit ersichtlich      Infratest Kommunikationsforschung: Deutschlandpolitik und
                                                                    innerdeutsche Situation. Einstellungen und Verhaltensweisen von
     nicht mehr als ein akutes kollektives Zeitgefühl. Doch wirkt   DDR-Bewohnern und DDR-Besuchern (I. und II. Welle). Zusammenfas-
     die in den 1990er-Jahren gemachte Erfahrung existenziel-       sender Bericht, Band 4. Dezember 1988
     ler Berufs- und Lebenskrisen im Langzeitgedächtnis vieler      Infratest Kommunikationsforschung: Die DDR nach der Wirtschafts-,
     bis heute nach und birgt ein latentes Risiko des Rückfalls     Währungs- und Sozialunion. Eine repräsentative Befragung der DDR-
                                                                    Bevölkerung ab 18 Jahren. München 1990
     in überwunden geglaubte Unsicherheit. Diese Disposition
                                                                    Krause, A. u. a.: Generalisierung von Unsicherheit? Transformationen
     macht, wie der zeitweilige Zulauf zu »Pegida« zeigt, anfäl-
                                                                    des ost-westdeutschen Arbeitsmarktes. In: Best, H.; Holtmann, E.
     lig dafür, zur Abwehr und Bewältigung diffuser Ängste ein      (Hrsg.): Aufbruch der entsicherten Gesellschaft. Deutschland nach der
     Protestverhalten zu aktivieren.                                Wiedervereinigung. Frankfurt / New York 2012, S. 222–235
                                    s

                                                                    Roller, E.: Staatsbezug und Individualismus: Dimensionen des sozial-
                                                                    kulturellen Wertewandels. In: Ellwein, T.; Holtmann, E. (Hrsg.):
                                                                    50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Opladen / Wiesbaden 1999,
                                                                    S. 229–246
BWP 5/2015                                                                                  THEMENSCHWERPUNKT                       13

Berufsbildung von der deutschen Teilung bis zur Einheit –
gemeinsame Wurzeln, verschiedene Wege

                                                Auch wenn die Berufsbildung in der DDR nach den grundlegenden Prinzipien
                                                des Staates – Parteilichkeit, Planwirtschaft, Zentralismus usw. – funktionierte,
                                                so war sie doch in wesentlichen Punkten mit der in der Bundesrepublik kom-
                                                patibel. Wie sonst ließe sich der scheinbar geräuschlose Übergang ab 1990

V O L K M A R HERK N ER
                                                von einem »sozialistischen Berufsbildungssystem« in das bundesrepublika-
Prof. Dr., Professor für Berufspädagogik am
                                                nische erklären? Nach einem historischen Abriss des Berufsbildungssystems
Berufsbildungsinstitut Arbeit und Technik der
Europa-Universität Flensburg                    der DDR und einem Vergleich mit jenem der BRD wird im Beitrag verdeutlicht,
                                                dass noch immer viel Potenzial für Berufsbildungsforschung und -politik
                                                besteht, das dazu auffordert, sich mit diesem Teil deutscher Berufsbildungs-
                                                geschichte zu befassen.

Von gemeinsamen Wurzeln zur Teilung                                 bei null an, hatte diese doch »auch im Bereich der Berufs-
                                                                    bildung eine materielle und geistige Verwüstung hinterlas-
Als im Mai 1945 der Zweite Weltkrieg in Europa mit der              sen, die katastrophal war« (ebd.). So lesen sich derartige
Niederlage Nazideutschlands endete, dachte angesichts               Beschreibungen, als sei damals mit allem völlig neu begon-
der Probleme des Alltags zunächst niemand darüber nach,             nen worden. Hinweise auf anknüpfungswerte Vorarbeiten
wie berufliche Bildung nun zu gestalten sei. Doch alsbald           finden sich in DDR-Quellen allenfalls indirekt.
gewannen Fragen des Neuaufbaus des Bildungs- und des                Wichtige Bestimmungen für die SBZ enthielt die Verord-
Wirtschaftssystems und damit auch der beruflichen Bil-              nung über die Ausbildung von Industriearbeitern in den
dung an Bedeutung. Zwar wurde in den vier Besatzungszo-             Berufsschulen vom 3. November 1947. Sie kamen einem
nen hierbei nicht abgestimmt verfahren, doch konnte bei             Berufsbildungsgesetz bereits sehr nahe.1 Diese Verordnung
der Wiederaufnahme beruflicher Bildungsaktivitäten an               war von der Wertschätzung gegenüber der Jugend geprägt.
die gleichen Traditionen angeknüpft werden. Vor allem die           In der Zielformulierung hieß es, dass »die Jugend im Geiste
Ausrichtung an geordneten Lehr- und Anlernberufen sowie             wahrer Demokratie, der Freundschaft der Völker und des
die kombinierte Ausbildung in Betrieben und Berufsschu-             Humanismus zu erziehen« sei. Elemente einer staatlichen
len waren – ob in Ost oder West – den zunächst nur regio-           Lenkung des Berufsnachwuchses waren hier schon enthal-
nal wirkenden Akteuren gemein. So griff man selbst in               ten. So konnten Betriebe und Verwaltungen verpflichtet
der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) auf die Eckpfei-              werden, »eine bestimmte Zahl von Jugendlichen einzu-
ler deutscher Berufsbildungsordnung zurück, die sich vor            stellen oder andere Leistungen für die Berufsausbildung
allem seit etwa 1900 im Deutschen Reich ausgebildet hat-            zu erbringen« (§ 2 Abs. 2). In den westlichen Besatzungs-
ten. Eine mögliche Alternative, mit allem neu zu beginnen           zonen hatten hingegen die Selbstverwaltungsorgane der
und ein Berufsbildungssystem nach Vorbild der jeweiligen            Wirtschaft – zunächst nur regional, ab 1947 auch über neu
Besatzungszone aufzubauen, wurde auch in der SBZ nicht              geschaffene Arbeitsstellen für den kaufmännischen und
verfolgt (vgl. für den kaufmännischen Bereich: Hücker               den gewerblich-technischen Bereich – die Regulierung der
1992, S. 36, S. 40). Stattdessen wurden wie in den westli-          beruflichen Bildung übernommen. Somit könnte man mei-
chen Besatzungszonen die gemeinsamen Wurzeln genutzt,               nen, dass im Westen an alte Zuständigkeiten angeknüpft
wenn auch die ideologische Ausrichtung eine völlig ande-            wurde, während in der SBZ und der späteren DDR durch
re wurde. Gustav Grüner (1975, S. 208) sprach später                die Aufsicht von öffentlicher Verwaltung bzw. Staat neue
auch von der DDR als einem »Land mit preußisch-deut-                Wege gegangen wurden. Allerdings hatte es ab 1933 im
scher berufspädagogischer Tradition«. Hingegen setzte in            Deutschen Reich durch die starke Symbiose von Wirtschaft
DDR-Darstellungen die »Entwicklung einer antifaschis-               und Staat bereits eine erhebliche staatliche Einflussnah-
tisch-demokratischen Berufsbildung« (Redaktionskolle-
gium 1987, S. 316) am Ende der faschistischen Diktatur              1   Hierbei lohnt durchaus ein Vergleich mit dem heute geltenden BBiG.
14   THEMENSCHWERPUNKT                                                                                                    BWP 5/2015

     me gegeben, wenn auch die Zuständigkeit formal bei den                    rund fünf Prozent eines Jahrgangs3 die Berufsausbildung
     Selbstverwaltungsorganen der Wirtschaft lag.                              mit Abitur (BmA) als zweite Möglichkeit neben der Er-
                                                                               weiterten Oberschule (EOS) offeriert, um zum Abitur zu
     Berufsbildung während der Teilung –                                       gelangen. Die BmA gilt bis heute als das berufsbildungspo-
     Einige Schlaglichter zu Entwicklungen in der DDR                          litisch erfolgreichste Projekt der DDR, mit dem die Über-
                                                                               windung des Gegensatzes zwischen allgemeiner und be-
     Während sich in der Bundesrepublik der 1950er-Jahre die                   ruflicher Bildung angegangen wurde. Weniger bekannt ist,
     Selbstverwaltung der Wirtschaft restaurierte, über alle                   dass ein komplementäres Vorhaben – »Abitur mit Beruf«
     Belange der beruflichen Bildung entschied und den Staat                   für Schüler/-innen der EOS – relativ schnell wieder aufge-
     lediglich in Fragen der Beschulung von Lehrlingen betei-                  geben wurde (vgl. z. B. Hücker 1992, S. 23).
     ligte, wurden in der DDR in jener Zeit die Grundlagen der                 Während in der BRD in den 1960er- und 70er-Jahren die
     neuen Ordnung geschaffen. Es ging zunächst darum, einen                   Debatten über Bildungsreformen und -gerechtigkeit hoch-
     entsprechenden Staats- und Machtapparat zu installieren,                  schlugen, hatten in der DDR formal alle Bürger/-innen
     der für die Planung und Steuerung der beruflichen Bildung                 das gleiche Recht auf (berufliche) Bildung. Unterschiede
     zuständig war. Dass dieser Prozess nicht gradlinig verlief,               im Zugang, etwa zwischen Mädchen und Jungen, wurden
     wird z. B. an der wechselnden ministeriellen Zuständigkeit                abgebaut.4 In der Praxis zeigten sich aber Bevorzugungen
     deutlich. So gab es in den 1950er-Jahren kurzzeitig sogar                 und Benachteiligungen aufgrund parteilicher bzw. gesell-
     ein Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung. Für die                  schaftlicher Präferenzen (Mitgliedschaft in SED, FDJ etc.).
     Aufbauphase war zudem die Rekrutierung des Ausbil-                        Die »gewöhnliche« zweijährige Berufsausbildung nach Ab-
     dungspersonals sehr wichtig, musste doch durch dieses                     schluss der zehnten Klasse absolvierten etwa 75 Prozent
     und die SED-Nachwuchskaderschmiede Freie Deutsche                         eines Jahrgangs. Für »besondere« Berufsausbildungsgän-
     Jugend (FDJ) die neue, sozialistische Ideologie transpor-                 ge blieb der Besuch von Fachschulen und Instituten der
     tiert werden.                                                             Lehrerbildung (vgl. Grüner 1975, S. 28). Sehr wenige
     In den 1960er- und 70er-Jahren kann von einer Etablie-                    Jugendliche, die nicht den Abschluss der achten Klasse der
     rung der DDR-Berufsbildung gesprochen werden. Wich-                       POS schafften, absolvierten nur eine »Teilausbildung« (vgl.
     tigstes Ereignis stellt die Verabschiedung des Bildungsge-                ebd., S. 31).
     setzes vom 25. Februar1965 dar, in dem die Berufsbildung                  Ab 1967/68 wurde versucht, mit dem Konstrukt der
     ein eigenes Kapitel erhielt. Ein eigenständiges DDR-Be-                   Grundberufe einer zu frühen Spezialisierung vorzubeugen.
     rufsbildungsgesetz hat es nicht gegeben. Doch durch diese                 Ähnliche Diskussionen gab es ab Anfang der 1970er-Jahre
     Einordnung war klargestellt, dass Berufsbildung als Form                  im Kontext der beruflichen Grundbildung und der Stufen-
     der Bildung zu verstehen und das Ministerium für Volksbil-                ausbildung auch in der BRD.
     dung zuständig war. Zugleich stellte das Gesetz die Basis                 Die Facharbeiterberufe wurden in einer »Systematik« er-
     für das »einheitliche sozialistische Bildungssystem« dar, in              fasst und »planmäßig« entwickelt. Dazu wurden Ausbil-
     das die Berufsbildung integriert war (vgl. Abb.). Hierbei                 dungsunterlagen als Ordnungsmittel herausgegeben, an
     spielten Berufsorientierung und -beratung, speziell durch                 deren Erarbeitung Berufsfachkommissionen beteiligt wa-
     die allgemeinbildende Polytechnische Oberschule (POS),                    ren. Diese setzten sich aus Vertreterinnen und Vertretern
     eine zentrale Rolle.                                                      der Ministerien, der Industrie, der Gewerkschaft, der FDJ
     Die Verfassung der DDR vom 9. April 1968, die sogenann-                   sowie aus erfahrenen Lehr- und Ausbildungskräften zu-
     te »sozialistische Verfassung«, beeinflusste die Berufsbil-               sammen, die für den jeweiligen Beruf ausgewiesen wa-
     dungspolitik. Darin hieß es: »Alle Jugendlichen haben das                 ren. Insgesamt sank – ähnlich wie in der BRD – die Zahl
     Recht und die Pflicht, einen Beruf zu erlernen.« (Art. 25                 der Facharbeiterberufe vor allem zwischen 1949 und 1970
     Abs. 4)2 Die politische Intention war, die Zahl der Un- und               erheblich.
     Angelernten zu minimieren. Anlernberufe wurden – wie
     mit dem Berufsbildungsgesetz von 1969 wenig später auch
     in der BRD – abgeschafft. Lernschwächere erhielten nach
                                                                               3 Rudolph (1990 a, S. 6) spricht von 11.000 Schulabgängerinnen und
     der achten Klasse die Möglichkeit, in längerer Lehrzeit ei-
                                                                               Schulabgängern jährlich und für 1987 von »etwa 6 Prozent aller Auf-
     nen gesonderten Facharbeiterberuf zu erlernen. Für leis-                  nahmen in die Berufsausbildung«.
     tungsstärkere Jugendliche wurde hingegen ab 1960 für                      4 Generell war die Emanzipation von Frauen in der DDR-Gesellschaft ein

                                                                               wichtiger Baustein der Sozialpolitik. So war die Berufstätigkeit der Frau
                                                                               – im Gegensatz zur Situation in der BRD – der Normalfall. Dementspre-
                                                                               chend wurde auch die berufliche Aus- und Weiterbildung von Frauen als
     2 Zu Diskussionen und Änderungen dieses Verfassungsartikels kam es erst   Normalität angesehen. Mädchen wurden u. a. durch polytechnischen
     in der »Wendezeit« ab 1990. Das Recht, einen Beruf zu erlernen, war       Unterricht in der POS auch für technische Berufe und Studiengänge
     indes bereits im Bildungsgesetz von 1965 enthalten (§ 32 Abs. 1).         sensibilisiert.
BWP 5/2015                                                                                       THEMENSCHWERPUNKT                           15

Abbildung
Einheitliches sozialistisches Bildungssystem der DDR: Bildungswege

In der Spätphase der DDR sollten von der beruflichen                      richt sowie eine Berufspraxis, die in Unterweisungen oder
Bildung verstärkt neue technologische Entwicklungen                       Einsätzen unmittelbar in der Produktion erfolgte. Als Lern-
aufgegriffen werden. Mit einer »technischen Grundlagen-                   orte dienten Betriebsberufsschulen als »grundlegender
bildung« sollte – neben eigens hierfür geeigneten Fachar-                 Typ der Einrichtungen der Berufsausbildung« (Rudolph
beiterberufen – die nachwachsende Generation befähigt                     1990 a, S. 4), Betriebsschulen sowie – für Lehrlinge kleine-
werden, den »wissenschaftlich-technischen Fortschritt«                    rer Betriebe bzw. in Splitterberufen – Kommunale Berufs-
zu meistern. Allerdings war die DDR-Berufsbildung in-                     schulen für Berufstheorie und -praxis, aber auch die be-
zwischen auch ideologisch verhärtet. Ziel berufspädagogi-                 trieblichen Einsatzorte selbst. Das Lehrlingswohnheim galt
scher Bemühungen war die »allseits entwickelte sozialis-                  als weiterer Lernort, da auch hier erzieherisch-ideologisch
tische Persönlichkeit«. Zur (fachlichen wie allgemeinen)                  gewirkt werden konnte.
Bildung gehörte daher stets die (sozialistische) Erziehung.
Auch waren für männliche Jugendliche die »Vormilitäri-                    Ende der Teilung – Vom Vergehen der
sche Ausbildung« und für weibliche Jugendliche die Sani-                  DDR-Berufsbildung
tätsausbildung obligatorischer Bestandteil der Lehre.
Auf gesellschaftlicher Ebene war die staatliche Planung                   In der End- und Auflösungsphase der DDR wurde zunächst
und Lenkung der Berufsbildung das wichtigste Merkmal.                     versucht, das bestehende System zu entideologisieren und
Sie ging vom Ministerrat der DDR aus, dem das Staats-                     zu reformieren. Zwar gab es im Winter 1989/90 Gespräche
sekretariat für Berufsbildung und diesem wiederum das                     über eine (gleichberechtigte) Zusammenarbeit zwischen
Zentralinstitut für Berufsbildung (ZIB)5 zuarbeitete. Auf                 dem BIBB und dem ZIB6 sowie einen Austausch zwischen
Ebene der Bezirke und Kreise waren die Räte der Bezirke                   Berufsbildungsforschern. Auch einige westdeutsche Po-
bzw. Kreise zuständig.                                                    litiker/-innen äußerten sich – die ideologische Erziehung
Umgesetzt wurde die Berufsausbildung durch allgemein-                     der Jugendlichen ausnehmend – durchaus lobend über
bildenden, berufstheoretischen und -praktischen Unter-                    das DDR-Berufsbildungssystem, sodass der Eindruck ent-

5 Das ZIB existierte unter verschiedenen Namen seit 1950. Damit hatte     6 Siehe hierzu z. B. das in der ZIB-Zeitschrift »Forschung zur Berufsbil-

die außeruniversitäre staatlich-institutionalisierte Berufsbildungsfor-   dung« (24. Jg., 1990, Heft 2, S. 89 f.) veröffentlichte gemeinsame Proto-
schung der DDR gegenüber der BRD einen Vorsprung von 20 Jahren. Das       koll vom 4. Januar 1990 sowie den Bericht von Valentin Gramlich in
Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung, später Bundesinstitut für     der gleichen Ausgabe (S. 90) über den Besuch einer Delegation des ZIB
Berufsbildung, wurde erst 1970 gegründet.                                 am 2. Februar 1990 am BIBB.
16   THEMENSCHWERPUNKT                                                                                           BWP 5/2015

     stehen konnte, zumindest einige Elemente hätten Chancen                   DDR-Jugendlicher bewegte sich ebenso wie ein Betrieb
     auf eine Zukunft gehabt (vgl. Hölterhoff 2014, S. 73 f.).                 nicht auf einem völlig freien Markt des Aussuchens. Der
     Der letzte Direktor des ZIB, Wolfgang Rudolph, nannte                     Staat griff in das Geschehen lenkend ein. Dazu wurde
     explizit die                                                              durch den zuständigen Rat des Kreises ein zentrales Ver-
     • Berufsfachkommissionen,                                                 zeichnis herausgegeben, in dem alle verfügbaren Lehrstel-
     • Betriebsberufsschulen,                                                  len aufgelistet waren. Vor allem Kombinatsbetriebe konn-
     • engere Verzahnung zwischen theoretischer und prakti-                    ten aufgefordert werden, Lehrstellen über den Eigenbedarf
        scher Berufsausbildung und                                             hinaus bereitzuhalten. Mit welchem Betrieb der Jugendli-
     • Berufsausbildung mit Abitur (vgl. Rudolph 1990 b,                       che einig wurde, war hingegen nicht vorgeschrieben.
        S. 193).                                                               Gleichwohl haben sich – unabhängig von unterschiedlichen
                                                                               ideologischen Ausrichtungen – Ähnlichkeiten im Verlauf
     Doch der Zug der Einheit rollte über solche Worte mit ei-                 der rund 40-jährigen Teilung erhalten oder parallel ent-
     nem hohen Tempo hinweg. Noch vor dem Beitritt der fünf                    wickelt. So sah Hegelheimer schon 1972 (S. 20) »in den
     neuen Bundesländer zur BRD am 3. Oktober 1990 über-                       allgemeinen Zielvorstellungen auch starke Übereinstim-
     nahm die noch bestehende DDR am 12. Juli 1990 die                         mungen«, die er in den Zielen Berufsqualifikation, lebens-
     Handwerksordnung und am 19. Juli 1990 das bundesdeut-                     langes Lernen und Flexibilität bzw. Disponibilität konkre-
     sche Berufsbildungsgesetz. Schnell waren auch die positi-                 tisierte. Gemein war beiden Staaten die im internationalen
     ven Überbleibsel der DDR-Berufsbildung beseitigt. Ende                    Vergleich hohe Wertschätzung, die der nicht-akademischen
     1990 wurde schließlich das ZIB aufgelöst; ein Teil der Be-                beruflichen Bildung – traditionell – entgegengebracht wird.
     schäftigten wurde in das BIBB integriert.                                 Letztlich haben insbesondere die Ausrichtung am Berufs-
     Die letztlich wohl wichtigsten Umstellungen im Sommer                     konzept und damit die Festschreibung der wesentlichen
     1990 waren der nunmehr überwiegend privatwirtschaft-                      Ausbildungsfaktoren in Ordnungsmitteln sowie die Dua-
     lich orientierte Ausbildungsstellenmarkt, andere Kompe-                   lität von berufspraktischem und -theoretischem Lernen
     tenzstrukturen im berufsschulischen Bereich sowie Än-                     dafür gesorgt, dass der bundesrepublikanische Rahmen
     derungen in den Prüfungshoheiten, wobei in den neuen                      – ungeachtet einiger Detailbesonderheiten – 1990 relativ
     Ländern zuständige Stellen erst eingerichtet werden muss-                 geräuschlos über die Berufsbildung in den »neuen« Bun-
     ten. Besonders durch die überwiegend durch Kombinats-,                    desländern gestülpt werden konnte.
     d. h. Großbetriebe geprägte Ausbildung in der DDR hatte
     der ökonomische Zusammenbruch im sich auflösenden                         Trennung in der Einheit? Lernpotenziale auch
     Wirtschaftssystem gravierende Folgen für den nun »ei-                     nach 25 Jahren
     gentlich« freien Ausbildungsstellenmarkt (vgl. Troltsch/
     Walden/Zopf 2009, S. 3; Grünert in diesem Heft). So                       Auch 25 Jahre nach dem Ende der DDR bestehen zwischen
     konnte im Osten ein duales System nur mit erheblichen                     den »alten« und »neuen« Bundesländern deutliche Unter-
     Subventionen aufgebaut werden. Hingegen bereitete z. B.                   schiede. Im Datenreport zum Berufsbildungsbericht wer-
     der Übergang von DDR-Facharbeiter- zu BRD-Ausbil-                         den daher immer noch Zahlen für West- und Ostdeutsch-
     dungsberufen kaum Probleme.                                               land getrennt ausgewiesen. Zuweilen wird behauptet, im
                                                                               Osten sei das duale System angesichts wirtschaftlicher
     Versuch eines Vergleichs der Berufsbildungs-                              Probleme und staatlicher Subventionen nie wirklich ange-
     systeme Ost und West 7                                                    kommen (vgl. z. B. Troltsch/Walden/Zopf 2009, S. 7,
                                                                               S. 12 f.). Hingegen kann man dort oft bessere Bedingungen
     Bei einem Vergleich der beiden Systeme zeigen sich viele                  für eine Lernortkooperation vorfinden, u. a. weil Ausbil-
     Ähnlichkeiten, allerdings – neben unterschiedlichen Ter-                  dungsbetrieb und berufsbildende Schule zuweilen einst in
     mini – auch Differenzen (vgl. Tab.).                                      einem Kombinat vereint waren. Auch hat sich in den neuen
     Oft wird gefragt, ob die DDR ein duales Modell hatte, weil                Bundesländern eine spezielle Landschaft überbetrieblicher
     die Ausbildung in Theorie und Praxis vorwiegend in den                    Bildungsstätten entwickelt (vgl. exemplarisch Franke/
     Betriebsberufsschulen stattfand. Zum dualen System der                    Köhlmann-Eckel in diesem Heft).
     BRD fehlten zudem die Kompetenzteilung zwischen Be-                       Ungeachtet dessen können drei Elemente aus der DDR-Be-
     trieb (Bund) und Schule (Land) sowie die grundsätzlich                    rufsbildung hervorgehoben werden, die – zuweilen unter
     bestehende Freiheit zwischen den Vertragsparteien. Ein                    neuen Namen – derzeit eine Renaissance erleben:
                                                                               • Das in der Verfassung der DDR festgeschriebene Recht
     7 Systemvergleiche zwischen der Berufs(aus)bildung der DDR und der BRD
                                                                                  auf Ausbildung lebt durch die Allianz für Aus- und Wei-
     hat es – im Übrigen von beiden Seiten – bereits gegeben, als es die DDR      terbildung in ähnlicher Form als »Ausbildungsgarantie«
     noch gab (vgl. z. B.: Hegelheimer 1972).                                     wieder auf.
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