DEUTSCHE EINHEIT 25 JAHRE - BIBB
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ZEITSCHRIFT DES BUNDESINSTITUTS 5 FÜR BERUFSBILDUNG FRANZ STEINER VERLAG 44. JAHRGANG – 2015 H 20155 jahre 25 deutsche einheit Berufsbildung Ost und West – gemeinsame Wurzeln, Berufsbildung verschiedene Ost und Wege West – gemeinsame s Wurzeln, verschiedene Wege Berufsausbildung Ost unter Berufsausbildung neuen Ost unter Vorzeichen neuen Vorzeichen s Zeitzeugen erinnern sich s Zeitzeugen erinnern sich
2 INHALT BWP 5/2015 EDITORIAL 25 Berufsausbildung Ost unter neuen Vorzeichen HOLLE GRÜNERT 3 Impulse aus dem Blick zurück R E I N H O L D W E Iß 30 Ausbilderqualifizierung Ost GÜN TER A LBREC HT, REN A TE BEHREN DT, WOLFGA N G MÜLLER-TA MKE BERUFSBILDUNG IN ZAHLEN 4 Übernahme nach der Ausbildung in ost- 34 Mit Berufsfachgruppen den Branchendialog und westdeutschen Betrieben fördern SA B I N E M OH R RA I N ER BRÖTZ, A N ETTE JA C OB, THOMA S HA GEN H O FER THEMENSCHWERPUNKT 38 Netzwerk Mechatronik P ETER A LBREC HT, HA N S WEI ßMA N N 8 Sind wir ein Volk? Einstellungsmuster und Erwartungshaltungen in Ost- und Westdeutsch- 40 Bildungsdienstleister in sich wandelnden land seit dem Einigungsjahr Strukturen E V E R H A R D H OLTM ANN, TOBIAS JAECK KLA US FRA N KE, C HRI S TI A N E KÖHLMA N N -EC KEL 13 Berufsbildung von der deutschen Teilung 46 Internationale Lehrkräfteausbildung in der DDR – bis zur Einheit – gemeinsame Wurzeln, Rückblick für die Gegenwart verschiedene Wege P HI LI P P P HA N LA S S I G V O L K M A R H ER KNE R 50 Literaturauswahl zum Themenschwerpunkt 20 Tertiarisierung der Berufsausbildung STE P H A N K R OLL BERUFE 52 Schulische Ausbildungsgänge – eine unter- schätzte Größe in der Berufsbildung MA RI A ZÖLLER QUALIFIKATIONSRAHMEN 55 Der österreichische Qualifikationsrahmen: Umsetzungsstand, Ziele und Erwartungen THOMA S MA YR, S A BI N E TRI TS C HER-A RC HA N REZENSIONEN 59 Duales Studium LUKA S GRA F 60 KURZ UND AKTUELL 66 Autorinnen und Autoren Impressum Diese BWP-Ausgabe im Internet: www.bibb.de/bwp-5-2015 Weiteres Archivmaterial zum Themenschwerpunkt: www.bibb.de/bwp-5-2015-Archiv Diese Netzpublikation wurde bei der Deutschen Nationalbibliothek angemeldet und archiviert. URN: urn:nbn:de:0035-bwp-15500-8
BWP 5/2015 EDITORIAL 3 Impulse aus dem Blick zurück RE I NHOLD WE I ß Prof. Dr., Ständiger Vertreter des Präsidenten des Bundesinstituts für Berufsbildung und Forschungsdirektor Liebe Leserinnen und Leser, ein Vierteljahrhundert ist seit der Wiedervereinigung ver- zeitigen Vertragslösungen). Der wohl größte Unterschied gangen. Die Anfangsjahre waren schmerzvoll für Men- besteht jedoch im Rückgang der Schulabgängerzahlen, der schen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben und sich im Osten früher und gravierender eingesetzt hat als bis- beruflich gänzlich neu orientieren mussten. Auch für die lang im Westen. Zudem hat es viele Schulabgänger/-innen Berufsbildung Ost brachte die deutsche Einheit einen Neu- nach der Wende von Ost nach West gezogen; ein Trend, der anfang. Es galten von nun an neue gesetzliche Rahmenbe- – wenn auch auf deutlich niedrigerem Niveau – heute noch dingungen, neue Ausbildungsberufe waren umzusetzen anhält. Durch ihren Wegzug verschärft sich indessen die und funktionsfähige Kammerstrukturen aufzubauen. Es wirtschaftliche Lage vor Ort. Entsprechend ist die Zahl der galt überbetriebliche Ausbildungsstätten zu schaffen bzw. unbesetzten Ausbildungsplätze mittlerweile im Osten rela- die bestehenden Einrichtungen zu modernisieren. Und es tiv höher als im Westen, die Zahl der unvermittelten Be- mussten mit öffentlichen Mitteln alternative Ausbildungs- werber entsprechend geringer. Der Mangel an qualifizier- möglichkeiten für junge Menschen geschaffen werden, die tem Fachkräftenachwuchs erweist sich inzwischen als eine aufgrund des Wegbrechens industrieller Strukturen droh- gravierende Bremse für die wirtschaftliche Entwicklung. ten, ohne Ausbildung zu bleiben. Dieser anfangs von vie- Infolge des demografischen Rückgangs werden die in den len kritisch beurteilte Weg hat sich letztlich doch als richtig Neunzigerjahren aufgebauten Kapazitäten schon seit Jah- erwiesen. ren immer weniger ausgelastet. Dies stellt insbesondere die Träger überbetrieblicher Bildungsstätten, die ihre Ein- Eine Angleichung zwischen Ost und West ist richtungen mit öffentlichen Mitteln aufgebaut und moder- sichtbar nisiert haben, vor große Herausforderungen. Viel ist seither geschehen. Der Angleichungsprozess zwi- Vergebene Reformchancen reflektieren schen Ost und West hat große Fortschritte gemacht: Pro- duktivität, Einkommen und Beschäftigung haben sich Von den Vorzeigeprodukten in der Berufsbildung der einst- angeglichen, ebenso die Arbeitslosenquoten. In der Ausbil- maligen DDR ist wenig bis gar nichts übrig geblieben. Die dungsmarktlage gibt es kaum noch Unterschiede zwischen Berufsausbildung mit Abitur konnte unter den neuen Be- Ost und West. Die Angebots-Nachfrage-Relation lag 2014 dingungen nicht überleben. Ebenso hätte es gelohnt, die nur noch 0,4 Prozentpunkte auseinander. Inzwischen Tradition der Ingenieurpädagogik oder von Berufsfach- stehen einige Wachstumsregionen im Osten besser da als kommissionen weiterzuführen. Sie sind im Bemühen, rasch manche strukturschwachen Regionen im Westen. Die üb- einheitliche Rahmenbedingungen herzustellen, möglicher- lichen Ost-West-Differenzierungen sollten deshalb einer weise vorschnell über Bord gekippt worden. So scheint es differenzierten, stärker regional gegliederten Betrachtung mit einem Abstand von gut zwei Jahrzehnten durchaus weichen: etwa zwischen großstädtischen und kleinstädti- sinnvoll zu fragen, welche Impulse aus dem Blick zurück schen/ländlichen Regionen oder Wachstums- und struktur- für künftige Innovationen gewonnen werden können. schwachen Regionen. Einige Unterschiede sind geblieben – neue Herausforderungen entstanden Natürlich gibt es nach wie vor Unterschiede zwischen Ost und West in wichtigen Strukturdaten der Berufsbildung (so z. B. bei den Ausbildungsvergütungen oder den vor-
4 BERUFSBILDUNG IN ZAHLEN BWP 5/2015 Übernahme nach der Ausbildung in ost- und westdeutschen Betrieben S A BI N E MO HR Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin im BIBB-Qualifizierungspanel Angesichts rückläufiger Ausbildungs- absolventenzahlen wird im Beitrag das Übernahmegeschehen in ost- und westdeutschen Ausbildungsbetrieben näher beleuchtet. Wenngleich sich die Übernahmechancen für Auszubildende insgesamt verbessert haben, zeigen sich im Ost-West-Vergleich deutliche Unterschiede, wenn nach zentralen Be- triebsmerkmalen unterschieden wird. ßen. Im Fokus steht dabei die Frage, wie Eine weitere Differenzierung nach ver- sich das Übernahmeverhalten zwischen schiedenen Betriebsmerkmalen zeigt: Situation an der zweiten Schwelle Betrieben unterschiedlicher Kammer- Je kleiner ein Betrieb ist, desto eher zugehörigkeit und Größenklassen im übernimmt er seine Auszubildenden Infolge rückläufiger Auszubildenden- Ost-West-Vergleich unterscheidet. in ein unbefristetes Beschäftigungs- bestände und einer sinkenden Anzahl verhältnis. Dies ist im Westen mit von ausbildungsaktiven Betrieben (vgl. Betriebliches Übernahme- 48 Prozent deutlich ausgeprägter als Troltsch 2015) hat auch die Anzahl verhalten in West und Ost im Osten (42 %). Gleichzeitig kommen der Ausbildungsabsolventinnen und kleinere gegenüber größeren Betrieben -absolventen in den letzten Jahren stark Wie die Abbildung verdeutlicht, wurden auf höhere Anteile an Auszubildenden, abgenommen (vgl. Dorau 2015). Be- in westdeutschen Ausbildungsbetrie- die den Betrieb auf eigenen Wunsch sonders deutlich ist der Rückgang im ben mehr als zwei Drittel (68 %) aller verlassen. Ostdeutsche Ausbildungsbe- Osten Deutschlands erkennbar. Parallel Absolventinnen und Absolventen in triebe betrifft dies stärker als westdeut- dazu ist die Übernahmequote, also der eine befristete oder unbefristete An- sche (42 % im Osten, 34 % im Westen). Anteil der Auszubildenden, die nach ih- schlussbeschäftigung übernommen. Mit zunehmender Betriebsgröße nimmt rem Abschluss vom Ausbildungsbetrieb Im Vergleich dazu fiel dieser Anteil in auch der Anteil der Übernahmen in übernommen wurden, auf 67 Prozent ostdeutschen Betrieben mit 66 Prozent befristete Beschäftigungsverhältnisse angestiegen – wobei auch hier ein star- nur unwesentlich geringer aus. Unter- auf bis zu 43 Prozent* und der Anteil ker Anstieg bei ostdeutschen Betrieben schiede zwischen den beiden Bundes- betriebsbedingter Nichtübernahmen zu verzeichnen ist (vgl. Dummert/ gebieten gibt es jedoch hinsichtlich auf bis zu 21 Prozent zu. Letzteres ist vor Frei/Leber 2014). der Art der Übernahme: Im Westen allem in Ostdeutschland zu erkennen, Die generelle Übernahmequote bildet erhielt mit 41 Prozent ein größerer wo jede/-r fünfte Absolvent/-in von die Situation allerdings nur unzurei- Anteil der Auszubildenden einen un- dieser betrieblichen Entscheidung be- chend ab. Zum einen bleibt unklar, ob befristeten Arbeitsvertrag als im Osten troffen ist. Dieses Übernahmeverhalten Absolventinnen und Absolventen in (34 %). Ferner werden in ostdeutschen größerer Betriebe in Ostdeutschland, befristete oder unbefristete Arbeitsver- Betrieben mit 14 Prozent häufiger Ab- von dem zwei Drittel der jeweiligen hältnisse übernommen werden. Zum solventinnen und Absolventen aus be- Absolventinnen und Absolventen be- anderen fehlen Informationen, ob im triebsbedingten Gründen nicht über- troffen sind, könnte mit der weiterhin Fall nicht erfolgter Übernahmen die nommen. Schließlich entscheidet sich unterschiedlichen wirtschaftlichen Entscheidung auf Wunsch der Auszu- in beiden Bundesgebieten etwa jede/-r Lage und Arbeitsmarktsituation in bildenden oder der Betriebe erfolgt. fünfte Auszubildende (22 % im Westen; Ost und West zusammenhängen, da in Der Beitrag versucht, diese Informa- 20 % im Osten) dafür, den Ausbildungs- tionslücke anhand aktueller Daten des betrieb nach Abschluss der Ausbildung * Dabei spielen auch weitere Faktoren, z.B. BIBB-Qualifizierungspanels zu schlie- zu verlassen. tarifrechtliche Vereinbarungen, eine Rolle.
BWP 5/2015 BERUFSBILDUNG IN ZAHLEN 5 Abbildung Anteile übernommener und nicht übernommener Ausbildungsabsolventinnen und -absolventen im Jahr 2013 nach Betriebsmerkmalen in Ost- und Westdeutschland (in %) dieser Betriebsgruppe auch der Anteil betrieben überdurchschnittlich viele den Ausbildungsbetrieb auf eigenen befristeter Übernahmen mit 43 Prozent Auszubildende nach ihrem Abschluss Wunsch verlassen. Betroffen davon sind sehr hoch liegt. betriebsbedingt nicht übernommen. vor allem kleinere Betriebe sowie Hand- Auch wenn Handwerksbetriebe im Dies betrifft jede/-n achte/-n Absolven- werksbetriebe. Anscheinend bieten sich Osten wie im Westen im Vergleich zu tin bzw. Absolventen, in westdeutschen diesen jungen Menschen attraktivere Betrieben mit Mitgliedschaft in der Betrieben beträgt der Anteil lediglich Alternativen. Für Betriebe, die hier das Industrie- und Handelskammer (IHK) 11 Prozent. Nachsehen haben, könnte das bedeuten, insgesamt deutlich geringere Übernah- dass sich ihre Ausbildungsbeteiligung mequoten aufweisen, so erfolgt die Fazit nicht im gewünschten Maße auszahlt Übernahme doch eher in unbefristete und dass dies ein Grund für die seit Jah- Beschäftigungsverhältnisse, wie sich Angesichts steigender Übernahme- ren rückläufige Ausbildungsbeteiligung dies bei der Auswertung nach Betriebs- quoten haben sich die Chancen für in Deutschland ist. s größenklassen schon angedeutet hat. Auszubildende auf eine Anschlussbe- Dieses betriebliche Übernahmeverhal- schäftigung im Ausbildungsbetrieb in ten scheint mit 49 Prozent unbefristet den letzten Jahren deutschlandweit, übernommenen Absolventinnen und besonders aber in den Betrieben in Ost- Literatur Absolventen insbesondere in westdeut- deutschland verbessert. Mit Blick auf Dorau, R.: Übergang von Ausbildung in schen Handwerksbetrieben Praxis zu die Art der Übernahme bleibt allerdings Beschäftigung. In: BIBB (Hrsg.): Datenreport sein. Gleichzeitig verlassen aber Absol- zu konstatieren, dass westdeutsche Be- zum Berufsbildungsbericht 2015. Bielefeld 2015, S. 291–293 ventinnen und Absolventen eher ihren triebe zwei von fünf, ostdeutsche Be- Dummert, S.; Frei, M.; Leber, U.: Betriebe ausbildenden Handwerksbetrieb, als triebe dagegen nur jede/-n dritte/-n und Bewerber finden schwerer zusammen, dies Auszubildende aus dem IHK-Be- ihrer Absolventinnen und Absolven- dafür sind Übernahmen häufiger denn je. reich machen. Dies gilt mit 30 Prozent ten in unbefristete Arbeitsverhältnisse IAB-Kurzbericht 20/2014. Nürnberg 2014 wiederum vor allem für ostdeutsche übernehmen. Darüber hinaus fällt der Troltsch, K.: Betriebliche Ausbildungsbeteili- gung. In: BIBB (Hrsg.): Datenreport zum Handwerksbetriebe. Darüber hinaus vergleichsweise hohe Anteil an Absol- Berufsbildungsbericht 2015. Bielefeld 2015, werden in ostdeutschen Handwerks- ventinnen und Absolventen auf, die S. 217–221
6 THEMENSCHWERPUNKT BWP 5/2015 25 Zeitzeugen erinnern sich Das Zusammenwachsen zweier deutscher Berufsbildungssysteme in turbulenten Zeiten BWP Mit der deutschen Vereinigung wuchsen auch zwei deutsche Berufsbildungssysteme zusammen. Als Gene- ralsekretär des BIBB waren Sie, Herr Professor Schmidt, zusammen mit Verantwortlichen des Zentralinstituts für Berufsbildung (ZIB) gefordert, diesen Prozess mitzugestal- ten. Was waren damals vordringliche Anliegen? Schmidt Der Mauerfall läutete eine unvergessliche Zeit ein. Wir erlebten im BIBB von heute auf morgen eine grundlegende Änderung unserer eigenen Rolle. War unser Betätigungsfeld zwanzig Jahre lang Hunderte Kilometer von unserem Standort Berlin entfernt in der Bundesrepu- BWP Gab es bereits vor der Wende einen Austausch zwi- blik, so befanden wir uns nun mitten in einem neuen Wir- schen ZIB und BIBB? kungsfeld. Wir wurden für die Bundesregierung und ab Schmidt Seit Anfang der 80er-Jahre hatten wir vom BIBB Mai 1990 für die Regierung der DDR ebenso wie für per- aus jährlich Einladungen an das ZIB und alle Berufsbil- sönliche Anliegen der DDR-Bürger in Fragen von Aus- und dungsinstitute des Ostblocks versandt. Einzig aus Polen Weiterbildung eine zentrale Anlaufstelle. Die Begeisterung erhielten wir Antwort. Der Direktor des Warschauer Insti- über das unerwartete Ereignis gab uns enorme Energien, tuts, Tadeusz Nowacki, besuchte uns ab 1984 regelmäßig allen neuen Aufgaben gerecht zu werden. in Berlin. Vom ZIB kam wie von den anderen Instituten Die Zusammenarbeit mit dem ZIB begann am 4. Januar keine Antwort. Nach dem Kulturabkommen zwischen der 1990. Mein Stellvertreter, Professor Helmut Pütz, und ich Bundesrepublik und der DDR 1986 nahm das ZIB eine Ein- verabredeten mit der Leitung des ZIB zahlreiche gemein- ladung an. Direktor Wolfgang Rudolph und drei Kollegen same Projekte. Dazu zählte unter anderem die Einführung trafen sich im Herbst mit uns für drei Tage auf »neutralem einer kaufmännischen Ausbildung für marktwirtschaft- Boden« der Handwerkskammer Aachen. Thema war unter lich geführte Unternehmen in der DDR. Man hatte eine anderem die Neuordnung der Metallberufe, die gleichzei- teilweise exzellente technische Ausbildung, aber es fehlte tig in der DDR und bei uns stattfand. Im Übrigen waren systembedingt zum Beispiel die Ausbildung für Industrie-, die Kollegen vom ZIB über unsere Arbeit weit besser infor- Handels-, Bank- und Versicherungskaufleute. Wir ent- miert als wir über ihre. wickelten Vorschläge, um die von Schließung bedrohten Im Jahr 1987 richtete die DDR den ersten Berufsbildungs- großbetrieblichen Ausbildungseinrichtungen für überbe- kongress der UNESCO aus, auf dem ZIB- und BIBB-Mitar- triebliche Ausbildung zu retten. Da Zuschnitt, Inhalte und beiter einander trafen und diskutierten. Im Jahr 1988 tra- Ausbildungsdauer der Berufe unterschiedlich waren, ver- fen wir gleich dreimal mit Kollegen des ZIB zusammen: bei glichen und entwickelten wir Pläne zur Vereinheitlichung. einem Besuch des DDR-Staatssekretärs für Berufsbildung In den ersten Monaten 1990 gingen wir noch von einer Zu- im Bildungsministerium in Bonn, bei einem Symposium sammenarbeit beider Institute in einer Konföderation bei- in Bydgoszcz/Polen, wo ich erstmals an einer Konferenz der deutscher Staaten aus. Nach den Volkskammerwahlen der Institute aller Staaten des Rats für gegenseitige Wirt- im Mai ging es nur noch um eine erträgliche Gestaltung schaftshilfe teilnahm, und auf Einladung von Professor der zunächst chaotischen Zustände, die der Beschluss der Anweiler, Universität Bochum, zu Fachgesprächen über Volkskammer zur Übernahme unseres Berufsbildungsge- Fragen der Berufsbildungsforschung. setzes zur Folge hatte. Am Ende des Jahres wurde das ZIB Als die Mauer fiel, waren die Institute einander nicht fremd. aufgelöst. Wir konnten 30 Kolleginnen und Kollegen ins BIBB übernehmen, leider gestand uns der Finanzminister BWP Noch vor dem Einigungsvertrag verabschiedete die keine weiteren Stellen zu. Dieser Zuwachs an Sachkennt- Volkskammer im Juli 1990 die gesetzlichen Grundlagen nis stellte sich für uns als großer Glücksfall heraus. Ohne des dualen Systems der Bundesrepublik durch Übernahme das hohe Engagement und die speziellen Kenntnisse dieser des BBiG und eines Berufsschulgesetzes. Warum diese gro- Mitarbeiter hätten wir die zahlreichen Anpassungsproble- ße Eile und wie beeinflusste dies die Dynamik des Trans- me nicht annähernd so meistern können, wie es geschah. formationsprozesses?
BWP 5/2015 THEMENSCHWERPUNKT 7 Schmidt Vor der Verabschiedung war ich mit anderen Formen dualer Ausbildung (»Youth Training Scheme«) im Sachverständigen zu einer Anhörung in der Volkskammer. UK einzuführen. Enttäuschend war für unsere britischen Ich plädierte für ein schrittweises Vorgehen über mehre- Freunde wie für viele andere Besucher, dass es offenbar für re Jahre, da bei sofortiger Inkraftsetzung alle Beteiligten zwei verwandte duale Systeme mit großen Schwierigkei- das Gesetz ständig hätten übertreten müssen; es fehlten ten verbunden war, zusammenzuwachsen. die Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße Umset- Mit den USA mündete die Zusammenarbeit in den Folge- zung. Da stand ein Abgeordneter auf und antwortete: jahren in eine intensive Beratung, als Präsident Clintons »Herr Schmidt, Sie haben ja recht. Aber sagen Sie das mal Arbeitsminister Robert Reich 1993 die gesetzlichen Grund- den jungen Leuten in meinem Wahlkreis. Die wollen den lagen für die Entwicklung betriebsgestützter Ausbildung westdeutschen Facharbeiterbrief, und zwar sofort, weil sie (»school-to-work-opportunities-act«) schuf. sonst ihre Beschäftigungschancen gefährdet sehen.« Die Politisches Aufsehen erregte im Jahr 1990 der Besuch des chaotische Einführung des Systems, die in den Folgejahren stellvertretenden Bildungsministers der Sowjetunion, Pro- viele Jugendliche veranlasste, zur Ausbildung nach West- fessor Smirnov, im Europäischen Berufsbildungszentrum deutschland zu gehen, ist Geschichte. CEDEFOP. Smirnov, der nach dem Ende der UdSSR die Manche Chance der Systemoptimierung wurde damals Leitung des Berufsbildungsinstituts in Moskau übernahm, durch unterschiedliche Interessen der westdeutschen Ak- besuchte uns – inoffiziell, wie er betonte – im BIBB. Auch er teure und in der Hast der Entscheidungen vertan. Man interessierte sich vornehmlich für die Fragen des System- hätte die Transformationsprobleme durch ein schulisches transfers der dualen Ausbildung, vor allem für die Moder- Berufsgrundbildungsjahr abmildern können, um vor allem nisierung der Ausbildungsordnungen. den zahlreichen in Gründung befindlichen Kleinbetrieben die Mühen der Grundlagenvermittlung abzunehmen, die sie von einer Ausbildung abhielten. Doch das lehnten die westdeutschen Arbeitgeber und die Bundesregierung aus bildungspolitischen Gründen ab. Auch die durchaus attrak- tive Besonderheit »Facharbeiter mit Abitur« wurde – noch bevor die notwendigen Änderungen in der Durchführung diskutiert werden konnten – Opfer westdeutscher Interes- sen. Die Arbeitgeber sahen eine Gefährdung des Prüfungs- privilegs der Kammern, die Kultusminister die Gefahr einer Integration beruflicher und allgemeiner Bildung und eine BWP Wenn Sie heute auf diese bewegte Zeit zurückblicken: Gefährdung ihres Prüfungsprivilegs für das Abitur. Auch Lässt sich ein Fazit ziehen? Wo wurde trotz sich überschla- die Berufsfachkommissionen der DDR wären aus unserer gender Ereignisse klug gehandelt, wo weniger? Sicht sehr vorteilhaft gewesen. Aber auch sie passten nicht Schmidt Mangels Vergleichsmöglichkeiten lässt sich über in die westdeutschen Vorstellungen. die Chancen des Erfolgs von Alternativen nur spekulieren. Niemand hätte damals vermutet, dass 25 Jahre später noch BWP Als BIBB-Generalsekretär hatten Sie viele Kontakte die zurzeit existierenden Unterschiede zwischen Ost- und ins europäische und außereuropäische Ausland. Wie wur- Westdeutschland bestehen. Was die berufliche Bildung den die Entwicklungen in Deutschland dort aufgenom- angeht, so bin ich nach wie vor stolz auf den beachtlichen men? Beitrag, den die Kolleginnen und Kollegen der beiden Schmidt Das BIBB erlebte damals einen Besucheransturm deutschen Berufsbildungsinstitute konkret für die damals von Berufsbildungsfachleuten aus aller Welt, die sozu- in der Ausbildung befindlichen Jugendlichen und zum Zu- sagen eine Systemangleichung im Eilschritt beobachten sammenwachsen der Systeme erbracht haben. Ich bewun- wollten. Ein amerikanischer Kollege, Val Rust aus Seattle, dere die enorme Anpassungsleistung der Berufsschulen stellte nach mehrwöchiger Rundreise durch die DDR fest: und der zahlreichen freien Einrichtungen in den neuen »You are really going to anschluss East Germany«. Ich hielt Ländern, die viel abgefedert haben, was in der betriebli- beispielhaft den Volkskammerbeschluss zum Berufsbil- chen Ausbildung einfach nicht zu leisten war, und die er- dungsgesetz dagegen, konnte ihn aber nicht überzeugen. staunliche Aufbauleistung der Kammern, die als struktu- Wir pflegten in jener Zeit ständigen Austausch mit den be- relles Rückgrat des dualen Systems in kürzester Zeit eine freundeten Instituten in den USA, dem UK, Frankreich und Registrierungs-, Aufsichts- und Prüfungsinfrastruktur ge- Italien. Vor allem jene Länder, die das duale System gern schaffen haben, ohne die alle betrieblichen Mühen vergeb- auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten übernommen hätten, lich gewesen wären. waren häufig zu Gast. Seit Anfang der 80er-Jahre hatte das (Interview: Christiane Jäger) BIBB bereits britische Ministerien bei dem Versuch beraten,
8 THEMENSCHWERPUNKT BWP 5/2015 Sind wir ein Volk? Einstellungsmuster und Erwartungshaltungen in Ost- und Westdeutschland seit dem Einigungsjahr Das Suchen nach Sicherheit kennzeichnet ein Grundbedürfnis, das in Ost- EV ERH ARD HOLTMANN deutschland in der Phase des Systemumbruchs und der anschließenden öko- Prof. Dr., Forschungsdirektor am Zentrum für Sozialfor- nomischen Transformationskrise vorherrschte. Sicherheitsstreben war und ist schung Halle e.V. jedoch auch in Westdeutschland traditionell weit verbreitet. Damit war der Boden bereitet für ein gesamtdeutsch anerkanntes soziales Kulturmuster, in TOBIAS JAECK welchem die Traditionslinien des autoritären Wohlfahrtsstaats der DDR und Wiss. Mitarbeiter am Zentrum für Sozialforschung Halle e.V. des demokratischen Sozialstaats der Bundesrepublik zusammengeführt wur- den. Der Beitrag zeigt beispielhaft, wie sich im Laufe von 25 Jahren in Ost und West bestehende Einstellungen einander angenähert haben. Aufbruch, Umbruch und Unsicherheit – Erfahrungslagen im Systemwechsel es in Ostdeutschland 18 Prozent respektive 39 Prozent« (Krause u. a. 2012, S. 230). Euphorie und Aufbruchstimmung waren unmittelbar vor Insofern überrascht es nicht, dass damals erfahrene ele- und ebenso zum Zeitpunkt des Vollzugs der deutschen Ein- mentare Unsicherheit für viele Ostdeutsche bis heute nach- heit allgegenwärtig. In Ostdeutschland waren jedoch emo- wirkt. Die Suche nach Sicherheit genießt in Ostdeutsch- tionaler Überschwang und hohe Erwartungen unterlegt land nach wie vor hohe Priorität. Werden Ostdeutsche mit verbreiteter Unsicherheit darüber, wie sich nach dem hypothetisch vor die Alternative gestellt, sich entweder für Zusammenbruch der DDR die Lebens- und Arbeitsbedin- »Freiheit« oder für »Sicherheit« zu entscheiden, fällt die gungen im Osten der Republik entwickeln würden. Wahl eindeutig aus. In Sachsen-Anhalt zum Beispiel hat Die ökonomisch-soziale Transformationskrise, die sich »Sicherheit« vor »Freiheit« in Umfragen messbar seit 2007 ab etwa 1991 in den neuen Bundesländern voll entfalte- ziemlich konstant für zwei Drittel der Bevölkerung oder te, ließ innerhalb der ostdeutschen Arbeitsgesellschaft die mehr Vorrang (vgl. Holtmann/Jaeck/Völkl 2014, S. 66 ff.). Unsicherheit weiter anwachsen. Zwar konnten die mate- riell einschneidenden Folgen für das Gros der Menschen Bedürfnis nach Sicherheit – keine exklusiv ost- durch staatliche Sozialleistungen und sozialpolitische deutsche Eigenheit Maßnahmen weitgehend kompensiert werden, doch Millio- nen Ostdeutsche fanden sich in den frühen 1990er-Jahren Schon die ersten gesamtdeutschen Bevölkerungsumfra- unversehens in einer Position von materiellen und/oder im- gen sprechen eine deutliche Sprache. Im März 1990 ga- materiellen Einigungsverlierern wieder. ben annähernd 90 Prozent der Ostdeutschen an, ihnen sei Kennzeichnend hierfür waren in der beruflichen bzw. be- der Leitwert »nach Sicherheit streben« wichtig bzw. sehr rufsnahen Sphäre Arbeitslosigkeit oder atypische Beschäf- wichtig. In Westdeutschland waren es gut 80 Prozent (vgl. tigung, erzwungene Berufs- oder Betriebswechsel, abkni- Holtmann u. a. 2015, S. 103). ckende Karrierepfade und fachliche Dequalifizierung. So Diese Daten liefern eine doppelte Erkenntnis: Zum ei- entwickelten sich beispielsweise in Ostdeutschland die nen war in den Monaten des Systemwechsels das Suchen »Überlebensraten« neuer oder bestehender Beschäfti- nach Sicherheit in Ostdeutschland stark ausgeprägt. Zum gungsverhältnisse kurzlebiger als im Westen. »Während anderen ist ein generalisiertes Sicherheitsbedürfnis kein in Westdeutschland nach vier Jahren noch 22 Prozent der ostdeutsches Alleinstellungsmerkmal, sondern ebenso in 1993 neu begonnenen und 53 Prozent der 1993 bereits be- Westdeutschland stabil verankert. stehenden Beschäftigungsverhältnisse existierten, waren
BWP 5/2015 THEMENSCHWERPUNKT 9 Tabelle 1 Gewünschte sozialstaatliche Intervention anhand ausgewählter Merkmale 1990 bis 1996 (Angaben in Prozent) Gewünschte Reichweite sozialstaatlicher Intervention im Ost-West-Vergleich Als erhaltenswerte Errungenschaften der DDR wurden im Frühjahr 1990 dann auch am häufigsten deren Kinderein- Dennoch gibt es aus vergleichender Sicht in diesem Punkt richtungen (41 %), allgemeine soziale Leistungen (26 %) zwischen Ost und West substanzielle Unterschiede. In und Hortbetreuung/Schulspeisung (20 %) genannt (ebd., Ostdeutschland gingen die Erwartungen nach sozialpo- S. 107). Politisch vorrangig zu lösen waren nach Meinung litischer Abfederung von Lebensrisiken über die in der der Befragten insbesondere die Beseitigung der Umwelt- Bundesrepublik gewachsenen Systeme sozialer Sicherung schäden, die Sanierung der Wirtschaft, eine leistungs- erheblich hinaus. Umfragen zufolge war in den damals gerechte Entlohnung und höhere Renten, die Sicherung neuen Bundesländern eine Grundüberzeugung, welche sozialer Leistungen der DDR sowie Verbesserungen im Ge- dem Staat die Verantwortung nicht nur für die Vorsorge für sundheitswesen (ebd., S. 108). Alter und Krankheit sowie für die Sicherung des Einkom- Die Einschmelzung dieser ostdeutschen Versorgungsmen- mens in Risikolagen, sondern auch für gleiche Einkommen, talität in ein gesamtdeutsches Kulturmuster stieß im Westteil Vollbeschäftigung und gesetzliche Kontrolle von Löhnen der Bundesrepublik nicht auf grundsätzliche Widerstände. und Gehältern zuweist, im Vergleich zum westdeutschen Im Gegenteil: Die oben dargestellten Daten zeigen, dass Erwartungsniveau außerordentlich weit verbreitet. Im auch in Westdeutschland seit jeher ein grundsätzlicher Grundmuster blieb diese Ost-West-Differenz, wenngleich gesellschaftlicher Konsens dahingehend herrschte, dass abgeschwächt, bis heute erhalten (vgl. Holtmann u. a. es zur Absicherung bestimmter Lebensrisiken und zum 2015, S. 179). Ausgleich sozialer Härten und Mangellagen einer gewis- sen staatlichen Intervention bedarf. Sozialpolitische Be- »Erhaltenswerte Errungenschaften« der DDR dürfnisse und Erwartungen, die sich im autoritären Wohl- fahrtsstaat der DDR verfestigt hatten, fanden 1990 deshalb Wie obige Einstellungsdaten dokumentieren, hat im Osten großenteils übergangslos Anschluss an das demokratische Deutschlands diese ausgeprägte staatsinterventionistische und marktwirtschaftlich basierte Sozialstaatsmodell der Grunderwartung zwar schon im Laufe der ersten Hälfte Bundesrepublik. der 1990er-Jahre leicht abgenommen, doch hat sich dieser Anspruch nicht erst als eine unmittelbare Reaktion auf die Die Bundesrepublik aus der Sicht der DDR-Bürger Transformationskrise seit etwa 1991 neu aufgebaut. Eine vor 1990 weit gespannte Staatshilfe wurde vielmehr schon im Eini- gungsjahr 1990 in Ostdeutschland deshalb wie selbstver- Wie stark in Ostdeutschland schon zu DDR-Zeiten die ständlich reklamiert, weil die Bürger der DDR die staatlich Grunderwartung sozialer Sicherung verinnerlicht war, gelenkte und garantierte Vollversorgung im Bereich der veranschaulichen die Befunde jener damals geheimen Daseinsgrundbedürfnisse seit Jahrzehnten gewohnt waren (und nach 1990 in der Sozialforschung bemerkenswert (vgl. Holtmann u. a. 2015, S. 67 ff.). lange unbeachtet gebliebenen) Stellvertreterumfragen,
10 THEMENSCHWERPUNKT BWP 5/2015 Abbildung 1 Systemvergleich: Bundesrepublik – DDR aus Sicht der DDR-Bevölkerung (Stellvertreterbefragungen, 1978 bis 1988) len Sicherheit sowie weiterer Indikatoren der DDR stets deutlich überlegen (vgl. Holtmann u. a. 2015, S. 89–96). Doch wurden die Verhältnisse in der Bundesrepublik, wie im 1988er-Bericht von Infratest angemerkt wurde, »kei- neswegs positiv überzeichnet« (ebd., S. 92). Im Fortgang der 1980er-Jahre schwächte sich demnach der Eindruck ab, in Westdeutschland seien die Einkommen gerechter verteilt als in der DDR (vgl. Abb. 1). Dass in jenen Jahren in Westdeutschland die Arbeitslosigkeit zunahm, wurde in der ostdeutschen Bevölkerung sehr wohl registriert. Ein Indiz dafür war die in demselben Jahresbericht erwähnte Beobachtung, dass eine breite Mehrheit von 82 Prozent die Sicherheit der Arbeitsplätze eher in der DDR für garantiert hielt (ebd., S. 92). Eigeninitiative oder Arbeitsplatzgarantie: Auswege aus beruflicher Unsicherheit? welche die Infratest-Kommunikationsforschung zwischen 1968 und 1989 für das Bonner gesamtdeutsche Ministe- Als im Mai/Juni 1990 Infratest das methodische Instru- rium kontinuierlich durchgeführt hatte (vgl. Kasten). Dem ment der stellvertretenden Umfragen erstmals gegen eine subjektiven Systemvergleich zufolge, den DDR-Bürger sei- repräsentative Bevölkerungsumfrage austauschte, erwies nerzeit vornahmen, war die Bundesrepublik hinsichtlich sich: Auf der Prioritätenliste der DDR-Bürger standen »vor der allgemeinen Lebensbedingungen, der wirtschaftli- allem wirtschafts- und sozialpolitische Themen mit Be- chen Lage, bezüglich der Chancengleichheit und sozia- zug zur eigenen Lebenssituation« (Holtmann u. a. 2015,
BWP 5/2015 THEMENSCHWERPUNKT 11 Tabelle 2 Berufliche Erwartungen der DDR-Bevölkerung im Sommer 1990 für die nächsten ein bis zwei Jahre nach der WWSU* (Angaben in Prozent) S. 107). Andererseits war das ostdeutsche Lebensideal ihrem Landesteil mit 31 Prozent leicht häufiger positiv als nicht ausschließlich konsumtiv und fremdbestimmt. Im- dies westdeutsche Landsleute mit Blick auf Ostdeutschland merhin bejahten im Einigungsjahr 1990 etwa ebenso tun (27 %). Auch die künftige wirtschaftliche Entwicklung viele Ost- wie Westdeutsche, dass »jeder seines Glückes Ostdeutschlands wird dortselbst zuversichtlicher gesehen Schmied« sei: Der Aussage, dass das, was man im Leben (von 41 % gut bzw. sehr gut) als aus westdeutschem Ab- erreiche, in erster Linie von den eigenen Leistungen und stand (36 % gut bis sehr gut). Die eigene wirtschaftliche weniger von äußeren Faktoren abhänge, stimmten im Lage wird von großen Mehrheiten der Bevölkerung in West März 1990 Ostdeutsche mit rund 70 Prozent kaum weniger (71 %) und Ost (65 %) als gut bis sehr gut eingeschätzt. häufig zu als Westdeutsche (73 %). Neben das Bekenntnis Schließlich sind fast gleich viele Ostdeutsche (57 %) wie zu Eigeninitiative und leistungsgestufter Entlohnung trat Westdeutsche (60 %) der Überzeugung, dass sie gemessen jedoch der Wunsch, den beruflichen Status quo halten zu an den Lebensverhältnissen anderer, die in Deutschland können. Zwischen Mai und August 1990 konnte sich kons- leben, »ihren gerechten Anteil« erhalten (sämtliche Daten tant überhaupt nur jeder zehnte Ostdeutsche einen Wech- aus Infratest 2014). sel in berufliche Selbstständigkeit vorstellen (vgl. Infratest Die Einstellungsdaten lassen darauf schließen, dass die Kommunikationsforschung 1990). Mehr als 40 Prozent allgemeine Grundstimmung in Ostdeutschland, anders als befürchteten bereits, den Arbeitsplatz zu verlieren (Tab. 2). noch unmittelbar vor der deutschen Einigung und in den frühen 1990er-Jahren, heutzutage deutlich weniger von Angenäherte sozialstaatliche Erwartungsmuster subjektiv empfundener Unsicherheit geprägt wird. Erhär- tet wird dieser Befund stabilisierter Seelenlagen auch da- Betrachtet man die persönliche Lebenszufriedenheit der durch, dass sich die ost- und westdeutschen Erwartungs- gesamtdeutschen Bevölkerung zum heutigen Zeitpunkt, muster wohlfahrtsstaatlicher Intervention mittlerweile hat sie ein hohes Niveau erreicht. Im Herbst 2014 bekunde- erkennbar einander angenähert haben, auch wenn noch ten 83 Prozent der Westdeutschen und mit 76 Prozent nicht immer deutlich mehr Ostdeutsche für staatliche Lohn- und viel weniger Ostdeutsche, »alles in allem mit ihrem Leben« Preiskontrolle sowie eine staatliche Gewährleistung glei- zufrieden zu sein. Dabei fallen die Unterschiede nach Alter cher Einkommen eintreten. Nicht nur plädieren nur um und Schulabschluss gering aus. Die aktuelle wirtschaftli- wenige Prozentpunkte differierende, übergroße Mehrhei- che Lage Ostdeutschlands wird naturgemäß weniger vor- ten in beiden Teilen des Landes dafür, dass die Sicherstel- teilhaft eingeschätzt als diejenige Westdeutschlands: Den lung der Gesundheitsversorgung bei Krankheit, die Ein- Stand der ostdeutschen Wirtschaft stufen 27 Prozent aller kommenssicherung im Notfall, die Sicherung der Rente Befragten als gut bzw. sehr gut ein; im Vergleich dazu wird sowie einer angemessenen Unterstützung bei Arbeitslosig- die westdeutsche Wirtschaft von 63 Prozent positiv beno- keit in die Verantwortung des Staates fallen. Vielmehr ha- tet. Dabei äußern Ostdeutsche sich über die Ökonomie in ben sich Ost- und Westdeutsche seit 1990 auch in puncto
12 THEMENSCHWERPUNKT BWP 5/2015 Abbildung 2 Staatsverantwortung nach Einschätzung der Bevölkerung in West- und Ostdeutschland 2014 (Nennungen »Ja, sollte eher in der Verantwortung des Staates liegen«, Angaben in Prozent) Staatsverantwortung für Vollbeschäftigung, Gleichheit der Literatur Einkommen und Lohn- und Preiskontrollen einander ange- Holtmann, E. u. a.: Deutschland 2014. 25 Jahre Friedliche Revolution nähert (vgl. Abb. 2). und Deutsche Einheit. Ergebnisse eines Forschungsprojekts. Abschluss- bericht. Berlin 2015 Diese Konvergenz der Einstellungen im geeinten Deutsch- land lässt sich auch bei explizit politischen Indikatoren Holtmann, E.; Jaeck, T.; Völkl, K.: Sachsen-Anhalt-Monitor 2014. Festigung der Demokratie. Halle 2014 nachweisen, wie z. B. der Zustimmung zur Idee der Demo- kratie oder der Zufriedenheit mit der Demokratie, wie sie Holtmann, E.; Köhler, A.: Wiedervereinigung vor dem Mauerfall. Einstellungen der Bevölkerung der DDR im Spiegel geheimer westlicher in Deutschland real existiert (vgl. ausführlich Holtmann Meinungsumfragen. Frankfurt / New York 2015 u. a. 2015). Hierzu hat der in den vergangenen zweieinhalb Infratest: Deutschland 2014. 25 Jahre friedliche Revolution und Jahrzehnten erreichte Stand wirtschaftlicher und gesell- Deutsche Einheit. Repräsentative Bevölkerungsumfrage 15. September bis 10. Oktober 2014. Tabellenband Deutschland Gesamt. Berlin 2014 schaftlicher Konsolidierung gewiss wesentlich beigetra- gen. In Ostdeutschland dominiert Unsicherheit ersichtlich Infratest Kommunikationsforschung: Deutschlandpolitik und innerdeutsche Situation. Einstellungen und Verhaltensweisen von nicht mehr als ein akutes kollektives Zeitgefühl. Doch wirkt DDR-Bewohnern und DDR-Besuchern (I. und II. Welle). Zusammenfas- die in den 1990er-Jahren gemachte Erfahrung existenziel- sender Bericht, Band 4. Dezember 1988 ler Berufs- und Lebenskrisen im Langzeitgedächtnis vieler Infratest Kommunikationsforschung: Die DDR nach der Wirtschafts-, bis heute nach und birgt ein latentes Risiko des Rückfalls Währungs- und Sozialunion. Eine repräsentative Befragung der DDR- Bevölkerung ab 18 Jahren. München 1990 in überwunden geglaubte Unsicherheit. Diese Disposition Krause, A. u. a.: Generalisierung von Unsicherheit? Transformationen macht, wie der zeitweilige Zulauf zu »Pegida« zeigt, anfäl- des ost-westdeutschen Arbeitsmarktes. In: Best, H.; Holtmann, E. lig dafür, zur Abwehr und Bewältigung diffuser Ängste ein (Hrsg.): Aufbruch der entsicherten Gesellschaft. Deutschland nach der Protestverhalten zu aktivieren. Wiedervereinigung. Frankfurt / New York 2012, S. 222–235 s Roller, E.: Staatsbezug und Individualismus: Dimensionen des sozial- kulturellen Wertewandels. In: Ellwein, T.; Holtmann, E. (Hrsg.): 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Opladen / Wiesbaden 1999, S. 229–246
BWP 5/2015 THEMENSCHWERPUNKT 13 Berufsbildung von der deutschen Teilung bis zur Einheit – gemeinsame Wurzeln, verschiedene Wege Auch wenn die Berufsbildung in der DDR nach den grundlegenden Prinzipien des Staates – Parteilichkeit, Planwirtschaft, Zentralismus usw. – funktionierte, so war sie doch in wesentlichen Punkten mit der in der Bundesrepublik kom- patibel. Wie sonst ließe sich der scheinbar geräuschlose Übergang ab 1990 V O L K M A R HERK N ER von einem »sozialistischen Berufsbildungssystem« in das bundesrepublika- Prof. Dr., Professor für Berufspädagogik am nische erklären? Nach einem historischen Abriss des Berufsbildungssystems Berufsbildungsinstitut Arbeit und Technik der Europa-Universität Flensburg der DDR und einem Vergleich mit jenem der BRD wird im Beitrag verdeutlicht, dass noch immer viel Potenzial für Berufsbildungsforschung und -politik besteht, das dazu auffordert, sich mit diesem Teil deutscher Berufsbildungs- geschichte zu befassen. Von gemeinsamen Wurzeln zur Teilung bei null an, hatte diese doch »auch im Bereich der Berufs- bildung eine materielle und geistige Verwüstung hinterlas- Als im Mai 1945 der Zweite Weltkrieg in Europa mit der sen, die katastrophal war« (ebd.). So lesen sich derartige Niederlage Nazideutschlands endete, dachte angesichts Beschreibungen, als sei damals mit allem völlig neu begon- der Probleme des Alltags zunächst niemand darüber nach, nen worden. Hinweise auf anknüpfungswerte Vorarbeiten wie berufliche Bildung nun zu gestalten sei. Doch alsbald finden sich in DDR-Quellen allenfalls indirekt. gewannen Fragen des Neuaufbaus des Bildungs- und des Wichtige Bestimmungen für die SBZ enthielt die Verord- Wirtschaftssystems und damit auch der beruflichen Bil- nung über die Ausbildung von Industriearbeitern in den dung an Bedeutung. Zwar wurde in den vier Besatzungszo- Berufsschulen vom 3. November 1947. Sie kamen einem nen hierbei nicht abgestimmt verfahren, doch konnte bei Berufsbildungsgesetz bereits sehr nahe.1 Diese Verordnung der Wiederaufnahme beruflicher Bildungsaktivitäten an war von der Wertschätzung gegenüber der Jugend geprägt. die gleichen Traditionen angeknüpft werden. Vor allem die In der Zielformulierung hieß es, dass »die Jugend im Geiste Ausrichtung an geordneten Lehr- und Anlernberufen sowie wahrer Demokratie, der Freundschaft der Völker und des die kombinierte Ausbildung in Betrieben und Berufsschu- Humanismus zu erziehen« sei. Elemente einer staatlichen len waren – ob in Ost oder West – den zunächst nur regio- Lenkung des Berufsnachwuchses waren hier schon enthal- nal wirkenden Akteuren gemein. So griff man selbst in ten. So konnten Betriebe und Verwaltungen verpflichtet der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) auf die Eckpfei- werden, »eine bestimmte Zahl von Jugendlichen einzu- ler deutscher Berufsbildungsordnung zurück, die sich vor stellen oder andere Leistungen für die Berufsausbildung allem seit etwa 1900 im Deutschen Reich ausgebildet hat- zu erbringen« (§ 2 Abs. 2). In den westlichen Besatzungs- ten. Eine mögliche Alternative, mit allem neu zu beginnen zonen hatten hingegen die Selbstverwaltungsorgane der und ein Berufsbildungssystem nach Vorbild der jeweiligen Wirtschaft – zunächst nur regional, ab 1947 auch über neu Besatzungszone aufzubauen, wurde auch in der SBZ nicht geschaffene Arbeitsstellen für den kaufmännischen und verfolgt (vgl. für den kaufmännischen Bereich: Hücker den gewerblich-technischen Bereich – die Regulierung der 1992, S. 36, S. 40). Stattdessen wurden wie in den westli- beruflichen Bildung übernommen. Somit könnte man mei- chen Besatzungszonen die gemeinsamen Wurzeln genutzt, nen, dass im Westen an alte Zuständigkeiten angeknüpft wenn auch die ideologische Ausrichtung eine völlig ande- wurde, während in der SBZ und der späteren DDR durch re wurde. Gustav Grüner (1975, S. 208) sprach später die Aufsicht von öffentlicher Verwaltung bzw. Staat neue auch von der DDR als einem »Land mit preußisch-deut- Wege gegangen wurden. Allerdings hatte es ab 1933 im scher berufspädagogischer Tradition«. Hingegen setzte in Deutschen Reich durch die starke Symbiose von Wirtschaft DDR-Darstellungen die »Entwicklung einer antifaschis- und Staat bereits eine erhebliche staatliche Einflussnah- tisch-demokratischen Berufsbildung« (Redaktionskolle- gium 1987, S. 316) am Ende der faschistischen Diktatur 1 Hierbei lohnt durchaus ein Vergleich mit dem heute geltenden BBiG.
14 THEMENSCHWERPUNKT BWP 5/2015 me gegeben, wenn auch die Zuständigkeit formal bei den rund fünf Prozent eines Jahrgangs3 die Berufsausbildung Selbstverwaltungsorganen der Wirtschaft lag. mit Abitur (BmA) als zweite Möglichkeit neben der Er- weiterten Oberschule (EOS) offeriert, um zum Abitur zu Berufsbildung während der Teilung – gelangen. Die BmA gilt bis heute als das berufsbildungspo- Einige Schlaglichter zu Entwicklungen in der DDR litisch erfolgreichste Projekt der DDR, mit dem die Über- windung des Gegensatzes zwischen allgemeiner und be- Während sich in der Bundesrepublik der 1950er-Jahre die ruflicher Bildung angegangen wurde. Weniger bekannt ist, Selbstverwaltung der Wirtschaft restaurierte, über alle dass ein komplementäres Vorhaben – »Abitur mit Beruf« Belange der beruflichen Bildung entschied und den Staat für Schüler/-innen der EOS – relativ schnell wieder aufge- lediglich in Fragen der Beschulung von Lehrlingen betei- geben wurde (vgl. z. B. Hücker 1992, S. 23). ligte, wurden in der DDR in jener Zeit die Grundlagen der Während in der BRD in den 1960er- und 70er-Jahren die neuen Ordnung geschaffen. Es ging zunächst darum, einen Debatten über Bildungsreformen und -gerechtigkeit hoch- entsprechenden Staats- und Machtapparat zu installieren, schlugen, hatten in der DDR formal alle Bürger/-innen der für die Planung und Steuerung der beruflichen Bildung das gleiche Recht auf (berufliche) Bildung. Unterschiede zuständig war. Dass dieser Prozess nicht gradlinig verlief, im Zugang, etwa zwischen Mädchen und Jungen, wurden wird z. B. an der wechselnden ministeriellen Zuständigkeit abgebaut.4 In der Praxis zeigten sich aber Bevorzugungen deutlich. So gab es in den 1950er-Jahren kurzzeitig sogar und Benachteiligungen aufgrund parteilicher bzw. gesell- ein Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung. Für die schaftlicher Präferenzen (Mitgliedschaft in SED, FDJ etc.). Aufbauphase war zudem die Rekrutierung des Ausbil- Die »gewöhnliche« zweijährige Berufsausbildung nach Ab- dungspersonals sehr wichtig, musste doch durch dieses schluss der zehnten Klasse absolvierten etwa 75 Prozent und die SED-Nachwuchskaderschmiede Freie Deutsche eines Jahrgangs. Für »besondere« Berufsausbildungsgän- Jugend (FDJ) die neue, sozialistische Ideologie transpor- ge blieb der Besuch von Fachschulen und Instituten der tiert werden. Lehrerbildung (vgl. Grüner 1975, S. 28). Sehr wenige In den 1960er- und 70er-Jahren kann von einer Etablie- Jugendliche, die nicht den Abschluss der achten Klasse der rung der DDR-Berufsbildung gesprochen werden. Wich- POS schafften, absolvierten nur eine »Teilausbildung« (vgl. tigstes Ereignis stellt die Verabschiedung des Bildungsge- ebd., S. 31). setzes vom 25. Februar1965 dar, in dem die Berufsbildung Ab 1967/68 wurde versucht, mit dem Konstrukt der ein eigenes Kapitel erhielt. Ein eigenständiges DDR-Be- Grundberufe einer zu frühen Spezialisierung vorzubeugen. rufsbildungsgesetz hat es nicht gegeben. Doch durch diese Ähnliche Diskussionen gab es ab Anfang der 1970er-Jahre Einordnung war klargestellt, dass Berufsbildung als Form im Kontext der beruflichen Grundbildung und der Stufen- der Bildung zu verstehen und das Ministerium für Volksbil- ausbildung auch in der BRD. dung zuständig war. Zugleich stellte das Gesetz die Basis Die Facharbeiterberufe wurden in einer »Systematik« er- für das »einheitliche sozialistische Bildungssystem« dar, in fasst und »planmäßig« entwickelt. Dazu wurden Ausbil- das die Berufsbildung integriert war (vgl. Abb.). Hierbei dungsunterlagen als Ordnungsmittel herausgegeben, an spielten Berufsorientierung und -beratung, speziell durch deren Erarbeitung Berufsfachkommissionen beteiligt wa- die allgemeinbildende Polytechnische Oberschule (POS), ren. Diese setzten sich aus Vertreterinnen und Vertretern eine zentrale Rolle. der Ministerien, der Industrie, der Gewerkschaft, der FDJ Die Verfassung der DDR vom 9. April 1968, die sogenann- sowie aus erfahrenen Lehr- und Ausbildungskräften zu- te »sozialistische Verfassung«, beeinflusste die Berufsbil- sammen, die für den jeweiligen Beruf ausgewiesen wa- dungspolitik. Darin hieß es: »Alle Jugendlichen haben das ren. Insgesamt sank – ähnlich wie in der BRD – die Zahl Recht und die Pflicht, einen Beruf zu erlernen.« (Art. 25 der Facharbeiterberufe vor allem zwischen 1949 und 1970 Abs. 4)2 Die politische Intention war, die Zahl der Un- und erheblich. Angelernten zu minimieren. Anlernberufe wurden – wie mit dem Berufsbildungsgesetz von 1969 wenig später auch in der BRD – abgeschafft. Lernschwächere erhielten nach 3 Rudolph (1990 a, S. 6) spricht von 11.000 Schulabgängerinnen und der achten Klasse die Möglichkeit, in längerer Lehrzeit ei- Schulabgängern jährlich und für 1987 von »etwa 6 Prozent aller Auf- nen gesonderten Facharbeiterberuf zu erlernen. Für leis- nahmen in die Berufsausbildung«. tungsstärkere Jugendliche wurde hingegen ab 1960 für 4 Generell war die Emanzipation von Frauen in der DDR-Gesellschaft ein wichtiger Baustein der Sozialpolitik. So war die Berufstätigkeit der Frau – im Gegensatz zur Situation in der BRD – der Normalfall. Dementspre- chend wurde auch die berufliche Aus- und Weiterbildung von Frauen als 2 Zu Diskussionen und Änderungen dieses Verfassungsartikels kam es erst Normalität angesehen. Mädchen wurden u. a. durch polytechnischen in der »Wendezeit« ab 1990. Das Recht, einen Beruf zu erlernen, war Unterricht in der POS auch für technische Berufe und Studiengänge indes bereits im Bildungsgesetz von 1965 enthalten (§ 32 Abs. 1). sensibilisiert.
BWP 5/2015 THEMENSCHWERPUNKT 15 Abbildung Einheitliches sozialistisches Bildungssystem der DDR: Bildungswege In der Spätphase der DDR sollten von der beruflichen richt sowie eine Berufspraxis, die in Unterweisungen oder Bildung verstärkt neue technologische Entwicklungen Einsätzen unmittelbar in der Produktion erfolgte. Als Lern- aufgegriffen werden. Mit einer »technischen Grundlagen- orte dienten Betriebsberufsschulen als »grundlegender bildung« sollte – neben eigens hierfür geeigneten Fachar- Typ der Einrichtungen der Berufsausbildung« (Rudolph beiterberufen – die nachwachsende Generation befähigt 1990 a, S. 4), Betriebsschulen sowie – für Lehrlinge kleine- werden, den »wissenschaftlich-technischen Fortschritt« rer Betriebe bzw. in Splitterberufen – Kommunale Berufs- zu meistern. Allerdings war die DDR-Berufsbildung in- schulen für Berufstheorie und -praxis, aber auch die be- zwischen auch ideologisch verhärtet. Ziel berufspädagogi- trieblichen Einsatzorte selbst. Das Lehrlingswohnheim galt scher Bemühungen war die »allseits entwickelte sozialis- als weiterer Lernort, da auch hier erzieherisch-ideologisch tische Persönlichkeit«. Zur (fachlichen wie allgemeinen) gewirkt werden konnte. Bildung gehörte daher stets die (sozialistische) Erziehung. Auch waren für männliche Jugendliche die »Vormilitäri- Ende der Teilung – Vom Vergehen der sche Ausbildung« und für weibliche Jugendliche die Sani- DDR-Berufsbildung tätsausbildung obligatorischer Bestandteil der Lehre. Auf gesellschaftlicher Ebene war die staatliche Planung In der End- und Auflösungsphase der DDR wurde zunächst und Lenkung der Berufsbildung das wichtigste Merkmal. versucht, das bestehende System zu entideologisieren und Sie ging vom Ministerrat der DDR aus, dem das Staats- zu reformieren. Zwar gab es im Winter 1989/90 Gespräche sekretariat für Berufsbildung und diesem wiederum das über eine (gleichberechtigte) Zusammenarbeit zwischen Zentralinstitut für Berufsbildung (ZIB)5 zuarbeitete. Auf dem BIBB und dem ZIB6 sowie einen Austausch zwischen Ebene der Bezirke und Kreise waren die Räte der Bezirke Berufsbildungsforschern. Auch einige westdeutsche Po- bzw. Kreise zuständig. litiker/-innen äußerten sich – die ideologische Erziehung Umgesetzt wurde die Berufsausbildung durch allgemein- der Jugendlichen ausnehmend – durchaus lobend über bildenden, berufstheoretischen und -praktischen Unter- das DDR-Berufsbildungssystem, sodass der Eindruck ent- 5 Das ZIB existierte unter verschiedenen Namen seit 1950. Damit hatte 6 Siehe hierzu z. B. das in der ZIB-Zeitschrift »Forschung zur Berufsbil- die außeruniversitäre staatlich-institutionalisierte Berufsbildungsfor- dung« (24. Jg., 1990, Heft 2, S. 89 f.) veröffentlichte gemeinsame Proto- schung der DDR gegenüber der BRD einen Vorsprung von 20 Jahren. Das koll vom 4. Januar 1990 sowie den Bericht von Valentin Gramlich in Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung, später Bundesinstitut für der gleichen Ausgabe (S. 90) über den Besuch einer Delegation des ZIB Berufsbildung, wurde erst 1970 gegründet. am 2. Februar 1990 am BIBB.
16 THEMENSCHWERPUNKT BWP 5/2015 stehen konnte, zumindest einige Elemente hätten Chancen DDR-Jugendlicher bewegte sich ebenso wie ein Betrieb auf eine Zukunft gehabt (vgl. Hölterhoff 2014, S. 73 f.). nicht auf einem völlig freien Markt des Aussuchens. Der Der letzte Direktor des ZIB, Wolfgang Rudolph, nannte Staat griff in das Geschehen lenkend ein. Dazu wurde explizit die durch den zuständigen Rat des Kreises ein zentrales Ver- • Berufsfachkommissionen, zeichnis herausgegeben, in dem alle verfügbaren Lehrstel- • Betriebsberufsschulen, len aufgelistet waren. Vor allem Kombinatsbetriebe konn- • engere Verzahnung zwischen theoretischer und prakti- ten aufgefordert werden, Lehrstellen über den Eigenbedarf scher Berufsausbildung und hinaus bereitzuhalten. Mit welchem Betrieb der Jugendli- • Berufsausbildung mit Abitur (vgl. Rudolph 1990 b, che einig wurde, war hingegen nicht vorgeschrieben. S. 193). Gleichwohl haben sich – unabhängig von unterschiedlichen ideologischen Ausrichtungen – Ähnlichkeiten im Verlauf Doch der Zug der Einheit rollte über solche Worte mit ei- der rund 40-jährigen Teilung erhalten oder parallel ent- nem hohen Tempo hinweg. Noch vor dem Beitritt der fünf wickelt. So sah Hegelheimer schon 1972 (S. 20) »in den neuen Bundesländer zur BRD am 3. Oktober 1990 über- allgemeinen Zielvorstellungen auch starke Übereinstim- nahm die noch bestehende DDR am 12. Juli 1990 die mungen«, die er in den Zielen Berufsqualifikation, lebens- Handwerksordnung und am 19. Juli 1990 das bundesdeut- langes Lernen und Flexibilität bzw. Disponibilität konkre- sche Berufsbildungsgesetz. Schnell waren auch die positi- tisierte. Gemein war beiden Staaten die im internationalen ven Überbleibsel der DDR-Berufsbildung beseitigt. Ende Vergleich hohe Wertschätzung, die der nicht-akademischen 1990 wurde schließlich das ZIB aufgelöst; ein Teil der Be- beruflichen Bildung – traditionell – entgegengebracht wird. schäftigten wurde in das BIBB integriert. Letztlich haben insbesondere die Ausrichtung am Berufs- Die letztlich wohl wichtigsten Umstellungen im Sommer konzept und damit die Festschreibung der wesentlichen 1990 waren der nunmehr überwiegend privatwirtschaft- Ausbildungsfaktoren in Ordnungsmitteln sowie die Dua- lich orientierte Ausbildungsstellenmarkt, andere Kompe- lität von berufspraktischem und -theoretischem Lernen tenzstrukturen im berufsschulischen Bereich sowie Än- dafür gesorgt, dass der bundesrepublikanische Rahmen derungen in den Prüfungshoheiten, wobei in den neuen – ungeachtet einiger Detailbesonderheiten – 1990 relativ Ländern zuständige Stellen erst eingerichtet werden muss- geräuschlos über die Berufsbildung in den »neuen« Bun- ten. Besonders durch die überwiegend durch Kombinats-, desländern gestülpt werden konnte. d. h. Großbetriebe geprägte Ausbildung in der DDR hatte der ökonomische Zusammenbruch im sich auflösenden Trennung in der Einheit? Lernpotenziale auch Wirtschaftssystem gravierende Folgen für den nun »ei- nach 25 Jahren gentlich« freien Ausbildungsstellenmarkt (vgl. Troltsch/ Walden/Zopf 2009, S. 3; Grünert in diesem Heft). So Auch 25 Jahre nach dem Ende der DDR bestehen zwischen konnte im Osten ein duales System nur mit erheblichen den »alten« und »neuen« Bundesländern deutliche Unter- Subventionen aufgebaut werden. Hingegen bereitete z. B. schiede. Im Datenreport zum Berufsbildungsbericht wer- der Übergang von DDR-Facharbeiter- zu BRD-Ausbil- den daher immer noch Zahlen für West- und Ostdeutsch- dungsberufen kaum Probleme. land getrennt ausgewiesen. Zuweilen wird behauptet, im Osten sei das duale System angesichts wirtschaftlicher Versuch eines Vergleichs der Berufsbildungs- Probleme und staatlicher Subventionen nie wirklich ange- systeme Ost und West 7 kommen (vgl. z. B. Troltsch/Walden/Zopf 2009, S. 7, S. 12 f.). Hingegen kann man dort oft bessere Bedingungen Bei einem Vergleich der beiden Systeme zeigen sich viele für eine Lernortkooperation vorfinden, u. a. weil Ausbil- Ähnlichkeiten, allerdings – neben unterschiedlichen Ter- dungsbetrieb und berufsbildende Schule zuweilen einst in mini – auch Differenzen (vgl. Tab.). einem Kombinat vereint waren. Auch hat sich in den neuen Oft wird gefragt, ob die DDR ein duales Modell hatte, weil Bundesländern eine spezielle Landschaft überbetrieblicher die Ausbildung in Theorie und Praxis vorwiegend in den Bildungsstätten entwickelt (vgl. exemplarisch Franke/ Betriebsberufsschulen stattfand. Zum dualen System der Köhlmann-Eckel in diesem Heft). BRD fehlten zudem die Kompetenzteilung zwischen Be- Ungeachtet dessen können drei Elemente aus der DDR-Be- trieb (Bund) und Schule (Land) sowie die grundsätzlich rufsbildung hervorgehoben werden, die – zuweilen unter bestehende Freiheit zwischen den Vertragsparteien. Ein neuen Namen – derzeit eine Renaissance erleben: • Das in der Verfassung der DDR festgeschriebene Recht 7 Systemvergleiche zwischen der Berufs(aus)bildung der DDR und der BRD auf Ausbildung lebt durch die Allianz für Aus- und Wei- hat es – im Übrigen von beiden Seiten – bereits gegeben, als es die DDR terbildung in ähnlicher Form als »Ausbildungsgarantie« noch gab (vgl. z. B.: Hegelheimer 1972). wieder auf.
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