KOMMUNALER ZUKUNFTSBERICHT 2020 - Der Österreichische ...
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INHALTS- VERZEICHNIS Auf die Gemeinden Alfred Riedl ist immer Verlass 03 Sind die Gemeinderechtssysteme Walter Leiss krisentauglich? 09 Gegen das Virus, Michael Fleischhacker gegen die Welt 15 Der „Kommunale Zukunftsbericht“ ist eine Publikation des Nach Corona: Österreichischen Gemeindebundes, die jährlich erscheint. Daniel Dettling Die Zukunft von Stadt und Land 21 Er ist ein offener publizistischer Thinktank, in dem Menschen aus Corona vielen unterschiedlichen Bereichen über Zukunftsfragen für Matthias Horx und die Kommunalpolitik 29 Gemeinden nachdenken. Kontroversielle Meinungen und Beiträge sind dabei erwünscht, nicht jeder Beitrag entspricht der Meinung Thomas Hofer Die kommunale Fieberkurve oder Position des Österreichischen Gemeindebundes. Paul Unterhuber Umfrage unter Bürgermeister*innen 37 Dieser Bericht hat eine Auflage von rund 3.500 Stück in gedruckter Bürgermeister*innen Form und ergeht so an zahlreiche Meinungsträger*innen und Sonja Ottenbacher als Sündenböcke?! 51 Meinungsbildner*innen in unserem Land. Die digitale Zukunft Gerald Swarat der Dörfer 57 Aktive Kommunikation mit den Bürgern – Heidi Glück Mühsal oder Chance? 71 Die Sorge der Jugend Hans von Storch über den Klimawandel ist berechtigt 79 Die Reifeprüfung: Andreas Tröscher Die Flüchtlingskrise 2015 87 Kinderbürgermeisterin Wenn Kinder Kinderbürgermeister die Welt regieren würden … 92 Titelbild: Dieter Franke reichte dieses Foto von Bad Goisern am Hallstätter See im Rahmen des Fotowettbewerbs des Der Österreichische Gemeindebund 98 Österreichischen Gemeindebundes 2019 ein. Was unsere Gemeinden leisten 106 Impressum, Bild- und Quellennachweis 108 3
Bürgermeister Mag. Alfred Riedl Präsident des Österreichischen Gemeindebundes AUF DIE GEMEINDEN IST IMMER VERLASS Das Jahr 2020 wird in die Ge- meinden haben sich gleich zu munen vor Herausforderungen, schichte eingehen als Jahr der Beginn der Krise in Österreich die wir auch in den besten Kri- Krisen und großen Herausforde- Bürger zusammengetan, um senplänen nicht vorher planen rungen. Nach dem Ausbruch der ihren – meist älteren – Mitmen- konnten. Wir waren – wie auch Coronavirus-Pandemie haben schen zu helfen und Einkäufe zu davor und danach – die ers- alle Staaten der Welt mit der organisieren, um Ansteckungs- te Anlaufstelle für alle Sorgen größten Gesundheits- und Wirt- risiken zu vermeiden. Die Men- und Fragen der Bürger. Gerade schaftskrise seit Jahrzehnten zu schen sind in der Krise näher in den Gemeinden, die unter kämpfen. Auch Österreich wurde zusammengerückt, obwohl sie Quarantäne standen, waren die von der Krise hart getrof- fen, wiewohl ein Vergleich mit anderen Staaten zeigt, »In der Krise hat sich gezeigt: Die Gemeinden, die kleinen dass wir die Virusbekämp- Einheiten, sind besonders in Krisenzeiten ein Garant der fung doch besser ge- Stabilität, des Zusammenhalts und des Miteinanders.« schafft haben als andere. Hart getroffen haben uns auch Abstand gehalten haben. Eine Gemeindeämter zentrale Kom- die wirtschaftlichen Folgen. Hun- neue Welle der Solidarität hat munikationsdrehscheiben. Wir derttausende Arbeitslose und sich in unseren Gemeinden haben dafür gesorgt, dass die Menschen in Kurzarbeit, Rück- breitgemacht. Die Frage ist, ob Verordnungen und Empfehlun- gang des Bruttoinlandsprodukts, diese Solidarität, dieser Zusam- gen der Bundesregierung über Mehrkosten im Gesundheitssys- menhalt weiter anhält und wir Plakate und Flugblätter bis in tem und vieles mehr: Wir alle als Gesellschaft dadurch weiter die Häuser gelangten. Wir ha- müssen unsere Gürtel enger wachsen können? ben uns mit unseren Mitarbei- schnallen! terinnen und Mitarbeitern um Herausforderungen in der Krise die Infrastruktur für den tägli- In der Krise hat sich aber auch chen Bedar f, vom Trinkwasser eines klar und deutlich gezeigt: Als Bürgermeister waren wir in bis hin zur Kinderbetreuung, Ertl/Niederösterreich Die Gemeinden, die kleinen der Hochphase der Corona-Kri- gekümmert. Unsere Mitbürge- Einwohner: 1.260 Einheiten, sind besonders in se gefordert wie noch nie zuvor. rinnen und Mitbürger haben Bürgermeister: Josef Forster Krisenzeiten ein Garant der Sta- Mit dem Lockdown, mit dem von in der Krise gespürt, dass auf bilität, des Zusammenhalts und oben verordneten Zuhauseblei- uns Gemeinden, auf uns Bür- des Miteinanders. In vielen Ge- ben, standen wir in den Kom- germeister immer Verlass ist. 4 5
AUF DIE GEMEINDEN IST IMMER VERLASS Als Bestätigung unserer er folg- Euro für die Gemeinden voraus. Chance für Veränderung sungsfähig unsere Gesellschaft um für die kommenden Heraus- außerhalb der Ballungszentren reichen Arbeit stieg auch das Der Bund hat mit dem größten ist. Mit dem Lockdown fand auch forderungen gerüstet zu sein?und urbanen Räume keine Chan- Vertrauen der Menschen in die kommunalen Hilfspaket in Höhe So wie der Zusammenhalt der ein Sinneswandel statt. Es ist Wir brauchen vor allem das, ce, den Anschluss an die Welt Bürgermeisterinnen und Bürger- von einer Milliarde Euro rasche Menschen in der Krise weiter zu finden. Hätte man meister deutlich an. Hilfe für kommunale Investitio- gewachsen ist, so hat sich auch vor Jahrzehnten Kanal- gezeigt, dass die Krise eine »Die Digitalisierung ist die Chance des Jahrhunderts für all und Wasserleitungen Chance für eine Veränderung unsere Gemeinden und die Menschen in unserem Land. Wer genauso lang und breit »Unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger haben gebracht hat. Wer noch im Jän- die Datenautobahn in die Zukunft nicht nutzen kann, wird diskutiert wie heute in der Krise gespürt, dass auf uns Gemeinden, ner 2020 behauptet hätte, wir am Abstellgleis der Vergangenheit enden.« den Glasfaserausbau, auf uns Bürgermeister, immer Verlass ist.« würden innerhalb weniger Mona- wäre der ländliche te eine rasche Verbreitung von Raum schon vor Jahr- Finanzielle Folgen nen geliefert. Auch die meisten Home office, Home Schooling heute kein Widerspruch mehr, was wir im Österreichischen Ge- zehnten zugrunde gegangen. Wir Bundesländer haben nachgezo- und anderen digitalen Möglich- am Land zu leben und auch dort meindebund seit Jahren fordern wissen, Glasfaser- und 5G-Aus- Die Gemeinden waren aber gen und verschiedene Pakete keiten erleben, der wäre wohl zu arbeiten. Wochenlanges Ho- und was uns von der Politik im- bau gehen beim Ausbau der di- nicht nur organisatorisch gefor- geschnürt, um die Liquidität der als abgehobener Technik-Nerd meoffice in Branchen, die bisher mer wieder versprochen wurde: gitalen Zukunft Hand in Hand. dert, sondern auch finanziell. Gemeinden zu sichern. Klar ist, bezeichnet worden, der keine Ah- auf Präsenz und verpflichtende einen raschen und flächende- Die neue Mobilfunktechnologie Durch den Wirtschaftseinbruch dass die Wirtschaftskrise kein nung von der Realität hat. Aber Bürozeiten gesetzt haben, ha- ckenden Glasfaserausbau in al- ist eine notwendige Weiterent- und den Rückgang der Steue- allein österreichisches Problem die Krise hat uns allen gezeigt, ben für ein radikales Umdenken len Regionen unseres Landes. wicklung, die es nicht nur in den reinnahmen des Bundes san- ist und es schwer abzuschätzen wie rasch sich unsere Arbeits- gesorgt, das man ohne Krise nie Spätestens im Jahr 2020 muss Städten und urbanen Räumen ken auch in weiterer Folge die ist, wie sich die wirtschaftliche welt, unser Bildungssystem und so rasch herbeiführen hätte kön- jedem Kritiker klar sein, dass geben darf. In der Digitalisie- Ertragsanteile aller österrei- nen. Genau dieser chischen Gemeinden. Die stei- Wandel der Arbeits- »Die Stadt braucht das Land! Der urbane Raum braucht die Er- gende Arbeitslosigkeit und die »Mit dem Lockdown fand auch ein Sinneswan- welt ist eine Chance Kurzarbeit, die ein wesentliches del statt. Es ist heute kein Widerspruch mehr, für den ländlichen fahrungen der lokalen Einheiten, des Lebens im Dorf, wenn es arbeitsmarktpolitisches Instru- am Land zu leben und auch dort zu arbeiten.« Raum. um Umwelt, Klimaschutz, Wirtschaft und Gesellschaft geht.« ment durch die Krise war, san- ken auch in vielen Gemeinden Situation in den nächsten Jah- unsere Verwaltung anpassen Digitalisierung ist Jahrhundert- eine schnelle Internetverbindung rungsfrage dürfen wir uns in den die Kommunalsteuereinnahmen. ren entwickelt. Umso mehr müs- können. Mal abgesehen von den chance (Glasfaser) ein wesentliches Gemeinden nicht von Zukunfts- Alles zusammengerechnet, sa- sen alle Gebietskörperschaften Problemen, die manche Schü- Element der Daseinsvorsorge, verweigerern unter Druck setzen gen Wirtschaftsforscher einen in unserem Land – Bund, Län- lerinnen und Schüler mit der Was braucht unser Land, was wie Wasser, Strom und Kanal, lassen. Die Digitalisierung ist Coronavirus-bedingten Verlust der und Gemeinden – an einem Umstellung auf Home Schooling brauchen unsere Gemeinden ist. Ohne den digitalen Zugang die Chance des Jahrhunderts von 1,4 bis zu 2 Milliarden Strang ziehen. hatten, zeigte sich, wie anpas- und die Bürgerinnen und Bürger, haben die Täler und Ortschaften für all unsere Gemeinden und 6 7
AUF DIE GEMEINDEN IST IMMER VERLASS die Menschen in unserem Land. ken und den Blick von Grund- hat den weltweiten Tourismus Jede Region, jede Stadt und je- der Gesellschaft. Dort fühlen sie Wer die Daten autobahn in die stückssuchenden auch – unter und die traditionellen Destina- des Dorf muss sich spätestens sich auch nicht mehr persönlich Zukunft nicht nutzen kann, wird anderem aus den bereits oben tionen schwer getroffen. Auch jetzt die Frage stellen, was sie für das Zusammenleben, für am Abstellgleis der Vergangen- genannten Gründen – über die in Österreich haben viele Regi- einzigartig macht. Ob histori- ihre persönliche Lebensumwelt heit enden. zentrumsnahen Regionen hinaus onen – und dabei vor allem die sche Wurzeln, die Landschaft, verantwortlich. Das bedeutet: in entlegenere Gebiete führen. Städte – mit schweren Einbußen Brauchtum, Kultur, Kunst oder Die Stadt braucht das Land! Der Trend zur Regionalisierung Überall brauchen die Menschen zu kämpfen. Der Sommer 2020 die Menschen: Touristisches urbane Raum braucht die Erfah- aber eine funktionierende Nah- hat aber jedenfalls auch für eine Potenzial hat jede Gemeinde in rungen der lokalen Einheiten, Eine weitere wesentliche Erfah- versorgung, wobei hier das neue stärkere Inlandsnachfrage ge- unserem Land. des Lebens im Dorf, wenn es rung der letzten Monate ist für Bewusstsein für regionale Pro- sorgt. Die Sommerfrische wird um Umwelt, Klimaschutz, Wirt- uns die Stärkung des Lokalen, duktion eine zusätzliche Chance auch für jüngere Generationen Renaissance des Landlebens schaft und Gesellschaft geht. der Region. In der Phase des bringen kann. Bleibt zu hoffen, an Reisenden immer interessan- Die Überzeugung der Menschen Lockdowns zeigten Bei allen Herausforderungen am Land, dass sie gemeinsam Alfred Riedl sich die Schwächen zeigt sich eines klar und deut- für ihre Gemeinde sorgen, dass der Städte und die »Die kommunale Einheit, wo Menschen direkt mitentschei- lich: Die Gemeinde, das Zentrum man sich gemeinsam um das ist Präsident des Österreichi- Stärken des ländlichen den durchs Mitarbeiten im Gemeinderat oder als Ehrenamt- unseres Lebensmittelpunktes, Erbe der Vorfahren kümmert, es schen Gemeindebundes und Raums. Das Land wur- liche bei zahlreichen Vereinen, wird in Zukunft noch wichti- gewinnt immer weiter an Bedeu- weiterentwickelt und für die Zu- seit 30 Jahren Bürgermeister de innerhalb weniger tung. Die kommunale Einheit, wo kunft stark macht, und dass sich seiner Heimatgemeinde Gra- ger werden, als uns heute bewusst ist.« Wochen stärker als je Menschen direkt mitentscheiden die Menschen selbst verantwort- fenwörth in Niederösterreich. zuvor zum Sehnsuchts- durchs Mitarbeiten im Gemein- lich fühlen, sich für die Nachbar- ort der Österreicherinnen und dass dieser Trend auch weiter ter. Die Krise der letzten Monate derat oder als Ehrenamtliche schaft, für ihr Dorf und für ihre Österreicher. Die Menschen ha- anhält. Zahlreiche Projekte und und die Neuausrichtung des Tou- bei zahlreichen Vereinen, wird in Gemeinde engagieren – dieses ben am eigenen Leib erfahren, Initiativen aus den Gemeinden rismus bedingen auch ein Um- Zukunft noch wichtiger werden, Wissen, diese Bereitschaft und wie herausfordernd Wohnen, zur Stärkung der regionalen Wert- denken beziehungsweise Neu- als uns heute bewusst ist. Die diese Eigenverantwortung brau- Arbeiten und Leben in der Stadt schöpfung und Nahversorgung denken in vielen traditionellen Menschen brauchen gerade in chen die großen Städte! in einer Phase allgemeiner Aus- sind bereits wichtige Signale. Ausflugsregionen. Ob Sommer-, Krisenzeiten den Zusammenhalt gangsbeschränkungen ist. Nicht Winter-, Ausflugs- oder Städ- und den Rückhalt, sei es in der Wenn uns die Krise des Jahres zuletzt verstärkte auch die starke Touristische Potenziale nutzen tetourismus – neue Konzepte Familie oder in der nächstgrö- 2020 eines lehrt, dann, dass Verbreitung des Homeoffice den sind gefragt, die auch wiederum ßeren Einheit: der Gemeinde. auf den sozialen Zusammenhalt, Wunsch, aufs Land zu ziehen. Der Tourismus ist in unserem Chancen für Regionen bringen, In den großen Städten verlieren die Solidarität der Menschen Diese Entwicklung wird sich in Land ein wesentlicher Wirt- die bisher noch nicht so stark die Menschen seit Jahren immer und das selbstbewusste und ei- der nächsten Zeit weiter verstär- schaftsfaktor. Das Coronavirus im Fokus der Urlauber standen. mehr den Kontakt zur Nachbar- genverantwortliche Handeln der 8 schaft, zum Grätzl und zum Rest Gemeinden immer Verlass ist. 9
Dr. Walter Leiss Generalsekretär des Österreichischen Gemeindebundes SIND DIE GEMEINDERECHTS- SYSTEME KRISENTAUGLICH? Mit dem durch den Coronavirus in Österreich seit dem Zweiten unvorbereitet getroffen. Die Un- bedingten Shutdown Mitte März Weltkrieg nicht gegeben. Öster- sicherheit in den Gemeinden in Österreich waren auch die reich ist zwar durchaus ein ka- war dementsprechend groß: österreichischen Gemeinden in tastrophenerprobtes Land, wenn Doch die Bürgermeister haben ihrer Handlungsfähigkeit stark man etwa an die Hochwasser- sich – wie in jeder Krise – als eingeschränkt. Gemeinderats- katastrophe im Jahr 2012, die Krisenmanager vor Ort bewiesen sitzungen wurden ausgesetzt, Lawinenkatastrophe in Galtür und sich rasch, flexibel und un- Budgetbeschlüsse verschoben, 1999 oder andere derartige bürokratisch damit befasst, wie Bauverhandlungen konnten nicht Ereignisse denkt. Dennoch ist das Leben und die Handlungsfä- durchgeführt werden. Zwar kann eine Situation wie die der Co- higkeit der Gemeinde in so einer der Bürgermeister in Notsituati- rona-Pandemie nicht mit jenen Krisensituation gewährleistet onen einzelne unaufschiebbare Katastrophenfällen vergleich- werden kann. Maßnahmen setzen, die gesetzlichen Regelungen dafür sind in den Gemein- »Die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister haben sich deordnungen allerdings für in der Corona-Krise in erster Linie als erste Ansprech- Krisensituationen nicht wirk- partner für die Bürger, aber auch als Krisenmanager und lich tauglich. Das hat die Ju- Koordinatoren vor Ort gemeinsam mit den Rettungsorga- risten in den Ländern, aber nisationen, Feuerwehren und Hilfsdiensten bewiesen.« auch in den Landesverbän- den des Gemeindebundes vor die Frage gestellt: Wie kri- bar. Für Hochwassersituationen Aber die Kompetenzen der Bür- sentauglich sind eigentlich unse- oder Lawinenkatastrophen gibt germeisterinnen und Bürger- re Gemeinderechtssysteme? es Maßnahmenpläne in den meister im Rahmen ihrer Not- Gemeinden – die Bürgermeister kompetenz mit Notverordnungen Corona-Pandemie hat auch sind hier als Krisenmanager ge- sind beschränkt und die Einbin- Österreichs Gemeinden unvor- fragt und wissen aus jahrelanger dung der anderen Organe einer Hallstatt/Oberösterreich bereitet erwischt Erfahrung und zahlreichen Vor- Gemeinde nur eingeschränkt Einwohner: 754 fällen, was zu tun ist. Die Coro- möglich. Dazu kommt, dass die Bürgermeister: Alexander Scheutz Dazu muss vorausgeschickt na-Krise war aber mit derartigen Corona-Pandemie die Gemein- werden: Eine Krisen-Situation Katastrophen nicht vergleichbar den in einer Zeit erwischt hat, wie die Corona-Pandemie hat es und hat auch die Gemeinden wo – wie jedes Jahr im Frühjahr 11
SIND DIE GEMEINDERECHTS- SYSTEME KRISENTAUGLICH? – wichtige Beschlüsse, wie etwa gefragt: Wollte man Sitzungen Sitzungen einhalten, erforderli- gung der Krise gleich ist. Vor meindeordnungen, welche die toren vor Ort gemeinsam mit der Rechnungsabschluss, in persönlich abhalten, konnten che Entscheidungen treffen und der Corona-Krise gab es, bis auf Sitzungstätigkeit ermöglichen, den Rettungsorganisationen, den Gemeinderäten zu fassen diese nur mit Abstandsregeln Handlungsfähigkeit gewährleis- Hessen, in allen Bundesländern aber Grundsätze wie den der Öf- Feuer wehren und Hilfsdiensten gewesen wären, die allerdings und teilweise auch mit Mund- ten konnten. In vielen Gemein- ein Eilentscheidungsrecht an- fentlichkeit einschränken, sind bewiesen. aufgrund der Corona-Krise nicht Nasen-Schutz durchgeführt den fehlten dazu allerdings die stelle der Gemeindevertretung restriktiv anzuwenden. Die Krise stattfinden konnten. Um die werden. Viele Gemeinden sind technischen Voraussetzungen. in den Kommunalver fassungen. ist jedoch insgesamt eine Chan- Eine Herausforderung in der Handlungsfähigkeit der In den meisten Bundesländern ce, die Digitalisierungsmöglich- täglichen Arbeit stellte die Flut Gemeinden wieder her- ist dieses Recht dem Bürger- keiten im kommunalen Willens- an Informationen rund um die zustellen, mussten eine »Die Kompetenzen der Bürgermeister und Bürgermeiste- Corona-Krise von Sei- Reihe an Landes- und rinnen im Rahmen ihrer Notkompetenz mit Notverordnun- ten des Bundes einer- Bundesgesetzen geän- gen sind beschränkt und die Einbindungen der anderen »Aus Gemeinde- und Bürgermeistersicht stellt sich die Fra- seits, aber auch die dert werden – ja, sogar ge: Was ist in so einer Krisensituation wichtiger, der Schutz Fragen in der Hand- die Bundesverfassung Organe einer Gemeinde nur eingeschränkt möglich.« der Bürger und der Gesundheit, oder der Schutz der Daten?« habung und konkre- bedurfte einer Adaptie- ten Umsetzung der rung –, um neue Beschlussmög- dabei mit ihren Strukturen an Der Blick zu unseren deutschen Verordnungen vor Ort lichkeiten zu schaffen. Nun sind, Kapazitätsgrenzen gestoßen. Nachbarn zeigt ein ähnliches meister vorbehalten, lediglich bildungsprozess zu nutzen und in den Gemeinden andererseits zumindest befristet bis zum Jah- Da waren Flexibilität und Erfin- Bild in Niedersachsen und Nord- neue Formen der Beteiligung dar. Dazu kommt, dass es un- resende, Videokonferenzen und dergeist gefragt: Weil in vielen rhein-Westfalen ist dieses (zu- und Durchführung von Sitzungen terschiedliche Informationen Umlaufbeschlüsse für Gemein- Gemeindeämtern keine den Das Coronavirus stellte die nächst) einem Ausschuss über- zu ermöglichen.1 Diese Rege- von der Bundesebene, den Län- derat und Gemeindevorstand Covid-19-Maßnahmen entspre- Entscheidungsprozesse in den tragen worden. lungen könnten Vorbild für eine dern, aber auch den Bezirksver- möglich. In einzelnen Bundes- chenden Räumlichkeiten zur Räten der Gemeinden vor neue dauerhafte Implementierung in waltungsebenen gab, die nicht ländern war etwa das Recht der Wahrung der Sicherheitsabstän- Herausforderungen. Die Bundes- Kommunale Handlungsfähigkeit unser Rechtssystem sein. unbedingt die Rechts- und Kom- Umlaufbeschlüsse bisher etwa de vorhanden waren, mussten länder haben auf die Herausfor- in Krisenzeiten auch in Deutsch- munikationssicherheit in den nur für den Gemeindevorstand Gemeinden mit ihren Sitzungen derung unterschiedlich reagiert. land gewährleistet Herausforderungen der Bürger- Gemeinden verbessert haben. vorgesehen. auf Turnsäle, Veranstaltungshal- Verfahren im Umlaufbeschluss, meister in der Corona-Krise Im Gegenteil: Die Verunsiche- len oder sogar ins Freie auswei- Verschiebung der Befugnisse Die Regelungen aus den unter- rung war groß, der Unmut darü- Flexibilität und „neue Norma- chen. auf einen Ausschuss oder aber schiedlichen Bundesländern Die Bürgermeisterinnen und ber teilweise auch. lität“ auch in den Gemeinden besondere Verhaltensregeln. zeigen, dass die kommunale Bürgermeister haben sich in gefragt Auch Videokonferenzen und Handlungsfähigkeit auch in Kri- der Corona-Krise in erster Li- Besonders herausfordernd war Umlaufbeschlüsse haben sich Dem Föderalismus ist es eigen, senzeiten gewährleistet war nie als erste Ansprechpartner die Situation im Umgang mit den Flexibilität und „neue Normali- da und dort bewährt, damit dass die Antworten unterschied- und ist. Änderungen der Kom- für die Bürger, aber auch als Daten von Covid-19-erkrankten tät“ war auch in den Gemeinden Gemeinden ihre planmäßigen lich, aber das Ziel der Bewälti- munalverfassungen und Ge- Krisen manager und Koordina- Menschen in einer Gemeinde: 13
SIND DIE GEMEINDERECHTS- SYSTEME KRISENTAUGLICH? Anfangs lautete die Informati- jedoch bis zum Schluss gefehlt. stehen und wo Bestimmungen antwortlich vorzubereiten. Denn beitet werden, wie künftig Infor- on, der Bürgermeister darf die Begründet wurde dies mit dem des Datenschutzes einzuhalten wir wissen nicht, wann diese mationen an die Bürgermeister Namen der Covid-Erkrankten in Datenschutz. Wobei sich natür- sind. Krise tatsächlich endet, ob es herangetragen werden: woher seiner Gemeinde nicht erfahren. lich aus Gemeinde- und Bürger- eine zweite Welle gibt und wann sie kommen, wie sicher diese In- meistersicht die Frage stellt: Welche Lehren kann man aus und ob uns eine andere Krise formationen sind und wie diese Manche Bezirksverwaltungsbe- Was ist in so einer Krisensituati- der Corona-Krise ziehen? erreicht. Wir leben in unsiche- dann auch an die Bevölkerung hörden, die in gutem Einverneh- on wichtiger, der Schutz der Bür- ren Zeiten, wo unterschiedliche weitergegeben werden. Denn men mit ihren Gemeinden stan- ger und der Gesundheit oder der In erster Linie wird es erforder- Krisenszenarien prognostiziert die Bürgermeister vor Ort sind den, handhabten die Situation Schutz der Daten? lich sein, dass dem Krisenma- werden. Immer wieder wird ein diejenigen, die die Bürger infor- auch praxisorientierter. Nach nagement ganz allgemein eine möglicher Blackout-Fall von Ex- mieren, kontaktieren und für Si- einer Gesetzesänderung durften Wir wissen, dass es ein heikler größere Bedeutung beigemes- perten in den kommenden fünf cherheit vor Ort sorgen. Bürgermeister die Anzahl der Bereich ist zwischen Gesund- sen wird, einerseits auf der Be- Jahren vorausgesagt, auch ato- Erkrankten erfahren. Eine Ver- heitsschutz und Datenschutz. hördenseite, andererseits aber mare Unfälle sind nicht ausge- Die österreichische Regierungs- Walter Leiss pflichtung zur Übermittlung der Es wäre jedoch dringend an auch bei den Bürgerinnen und schlossen – natürlich ist zu hof- spitze hat als eine Lehre aus Daten bestand allerdings nicht. der Zeit, gerade in herausfor- Bürgern. Denn es hat sich sehr fen, dass derartige Situationen der Corona-Krise angekündigt, ist seit 2011 Generalsekretär rasch gezeigt, dass nie eintreffen werden. Dennoch bessere rechtliche Rahmenbe- des Österreichischen Gemein- die Bevölkerung auf gilt es, sich darauf entsprechend dingungen zu schaffen, um das debundes. »In erster Linie wird es erforderlich sein, dass dem Krisen- derartige Situationen vorzubereiten. Zusammenspiel zwischen Bund, management ganz allgemein eine größere Bedeutung beige- in keiner Weise vorbe- Ländern und Gemeinden auch messen wird, einerseits auf der Behördenseite, andererseits reitet ist. Wir erinnern Zusätzlich ist es notwendig, die in Krisenzeiten gut zu gewähr- aber auch bei den Bürgerinnen und Bürgern.« uns noch alle an die Gemeinderechtssysteme krisen- leisten. Es braucht Klarheit und ersten Meldungen und fit zu machen, damit die Organe Rechtssicherheit. Und diese Vor- Tage des Shutdowns, der Gemeinden handlungsfähig haben sollten wir ernst nehmen Eine personenbezogene Informa- dernden Zeiten wie der Coro- wo es plötzlich zu Hamster- und sind und auch bleiben. Vor al- und rasch umsetzen tion über Covid-erkrankte Men- na-Pandemie, die Gesundheit Panikkäufen gekommen ist, lem sollten dabei keine Sonder- schen in einer Gemeinde, die für vor den Datenschutz zu stellen wo jeder versucht hat, das letz- oder Übergangsregeln, sondern die Bürgermeister und die Bür- und praxistaugliche Lösungen zu te Klopapier zu ergattern. Hier durchaus konkrete Vorschriften germeisterinnen vor Ort notwen- schaffen. Noch dazu, wenn der braucht es mehr Aufklärung beschlossen werden, wie Ge- Fußnote: dig gewesen wäre, nicht zuletzt Bürgermeister als Behörde auch und Bewusstseinsbildung in meinden in Krisensituationen 1) Marc Elxnat: Referatsleiter Recht und zur Koordinierung bei Hilfsdiens- aus anderen Bereichen Infos der Bevölkerung, generell mehr uneingeschränkt handlungsfä- Verfassung, Sicherheit, Dienstrecht, Ver- ten oder in der Zusammenar- und Daten von Bürgern erhält, Vorsorge zu treffen und sich hig sein können. Aber auch die waltungsmodernisierung und Bürokratie- beit mit dem Hausarzt etc. hat die unter strengem Datenschutz auf Krisenfälle auch eigenver- Informationspolitik sollte überar- abbau 14 15
Michael Fleischhacker Journalist GEGEN DAS VIRUS, GEGEN DIE WELT Die Renaissance der Heimatge- Der Begriff wurde in der ersten Latifundien zurück, Studenten fühle hat vor allem mit einem Hälfte des zwanzigsten Jahrhun- wohnten wieder bei Muttern, Phänomen zu tun: Entfremdung derts so gründlich ramponiert, man schickte die Gefährdeten durch Beschleunigung auf allen dass er sich davon nie wieder aufs Land, wie im Krieg die un- Ebenen. Dass diese Renaissan- wirklich erholt hat. Heimat ist terernährten Kinder. Die Stadt ce durch die Corona-Pandemie gleich Blut und Boden ist gleich als Knotenpunkt des Globalisie- begünstigt wurde, ist nur folge- Holocaust, so ungefähr geht die rungsgeschehens war zum Kno- richtig. Gleichung. Das beinhaltet so gut tenpunkt des Infektionsgesche- wie jede Form von kultureller Äu- hens geworden, die Heimat auf Belasteter Heimatbegriff ßerung, sei es Kleidung, Musik dem Land, der Ort, von dem man oder Architektur. stammt, versprach Abstand von Ob in der Mode oder in der Mu- der Welt und Sicherheit vor dem sik oder in der Architektur: Viele Heimat ist tödlich, heißt es oft, Virus. der großen Erfolgsgeschichten denn Heimat unterscheidet zwi- der vergangenen Jahre ver- schen uns und den anderen, Heimat alt und neu danken sich dem Rückgriff auf und am Ende dieser Unterschei- Traditionelles, Volkstümliches, dung kann perspektivisch nur Heimatbezogene Lockerungs- Heimeliges, Heimatliches. Das die Vernichtung der anderen ste- übungen gibt es schon länger. Erfolgsrezept ist ein sehr unpo- hen, wozu hätten wir sonst die Wir verzeichnen immer mehr litischer Zugang zum Vergan- genen, Überkommenen und Tradierten, der weder nach »Die Renaissance der Heimatgefühle hat vor allem mit Brüchen fragt noch nach Am- einem Phänomen zu tun: Entfremdung durch Beschleu- bivalenzen. Die Nachfrage nigung auf allen Ebenen.« nach leicht verdaulicher Kost der überlieferten Art steigt. Unterscheidung gemacht. Wäh- Versuche, den Heimatbegriff zu rend der Pandemie wurde das rehabilitieren, ihn, wie zum Bei- Neusiedl am See/Burgenland Zugleich muss, wer zu laut und intellektuelle Anti-Heimat-Regi- spiel die Verantwortlichen für die Einwohner: 8.585 zu politisch „Heimat“ sagt, noch me ein wenig gelockert: Künst- Bundespräsidentschafts-Wahl- Bürgermeisterin: Elisabeth Böhm immer damit rechnen, dass er ler und Hochschullehrer zogen kampagne von Alexander Van einer genaueren Gesinnungs- sich ins Homeoffice oder zum der Bellen sagten, „nicht den überprüfung unterzogen wird. Tele-Learning auf ihre ländlichen Rechten zu überlassen“. Die 16 17
GEGEN DAS VIRUS, GEGEN DIE WELT Stichwahl zwischen Van der Bel- meierlichen Reflexe, die sich romans in der ersten Hälfte bers „Herrenjahre“ –, sondern mungen aufeinanderprallen. Zu- kation“, die über Jahrhunderte len und dem FPÖ-Kandidaten während der ersten Hälfte des des 20. Jahrhunder ts zum po- bei allen wichtigen österreichi- nächst die Brutalität eines eng stabilen Geschlechterverhältnis- Norbert Hofer wurde so auch zu Jahres 2020 als pragmatische litischen Instrument, das in schen Nachkriegsautoren, die geführten, ideologisierten und se gerieten in Bewegung, wissen- einem Kräftemessen zwischen Reaktion auf eine pandemische Österreich mit seinem autori- beiden Nobelpreisträger Elfriede schwer bewaffneten Heimatbe- schaftliche Erkenntnisse stellten einem „alten“ und dem „neuen“ Bedrohung rationalisieren las- tären Ständestaat eher eine Jelinek und Peter Handke einge- griffs, dann die gnadenlose De- auf allen Gebieten den etablier- Heimatbegriff umfunktioniert: sen, nur Wiederholungen des- katholische Färbung annahm schlossen. konstruktion seiner Verlogenheit ten Konsens von Weltverständ- Hier der rückwärtsgewandte, sen, was sich vor 100 Jahren ab- – Karl-Heinrich Waggerl steht durch die nächste Generation. nis in Frage. an die Blut-und-Boden-Ideologie gespielt hat, als die Spanische wie kein anderer für diese Hei- Mit dem Abstand einer Generati- Geht man historisch siebzig Jah- gemahnende, ab- und ausgren- Grippe den Untergang der ersten matfarbe –, während man im on, während der sich der Er folg re zurück an die Ursprünge des Verbunden mit der Technisierung zende Heimatbegriff; dort der großen Globalisierung gegen neuheidnischen Deutschland der österreichischen Heimat- Genres und 70 Jahre nach vor in der industriellen Produktion, der früh auf Blut und Boden schriftsteller über das Kriegs- die unmittelbare Gegenwart, so damit verbundenen Schaffung setzte. ende hinaus fortsetze, wurde sieht man deutlich mehr Paralle- großer Infrastrukturen und der »Der Begriff Heimat wurde in der ersten Hälfte des also der Gegenangriff gestartet, len als Widersprüche. damit einhergehenden Urbani- zwanzigsten Jahrhunderts so gründlich ramponiert, Die österreichische Nach- aus dem Heimatparadies wurde sierung führten die tiefgreifen- dass er sich davon nie wieder wirklich erholt hat.« kriegsliteratur ist dann ab die Heimathölle, es sind sehr Die Geburt der Beschleunigung den Veränderungen der gesell- den 60er-Jahren über wei- eindrückliche und sehr autobio- schaftlichen Wirklichkeit zu einer modern-offene, auf Ökologie und Ende des Ersten Weltkrieges be- te Strecken eine Anti-Heimat-Li- grafisch gefärbte Bücher, die zei- Um die letzte Jahrhundertwende ebenso tiefen Verunsicherung Multikulturalität abzielende. schleunigte? teratur. Die Glorifizierung des gen wollen „wie es wirklich war“, waren die europäischen Gesell- bei denen, die nicht Teil dieses ländlichen Idylls als Gegenbild zu nämlich brutal bis aufs Blut, und schaften mit Beschleunigungs- „Fortschritts“ waren. Es entwi- Haben diese Lockerungsübun- Heimat im Spiegel der Literatur den kalten Schrecken der Techni- zwar sprichwörtlich. Das ländli- phänomenen konfrontiert, die ckelte sich eine intellektuelle gen damit zu tun, dass die letz- sierung und der damit verbunde- che Idyll der abgeschiedenen sie bis dahin bei allen graduellen und politische Gegenbewegung, ten Zeitzeugen aussterben und Wie in vielen anderen Fällen nen Urbanisierung, die den Kern Höfe bot mit seinen hermeti- Fortschritten, die es in Wissen- die Verunsicherung und Skepsis damit die Ära des Nationalsozia auch lassen sich Konjunktur der Heimatliteratur ausmachte, schen Sozialsystemen, in denen schaft, Technologie und Kom- bewirtschaftete, das Technische lismus langsam in Vergessen- und Gebrauch von Begriffen wurde in ihr Gegenteil verkehrt. eklatante Machtasymmetrien munikation gegeben hatte, nicht als Feind des Menschlichen heit gerät, deren ideologische besonders gut an der literari- Nun stand der Terror der länd- herrschten, geradezu Idealbe- kannten. Mit den ersten Automo- brandmarkte, den Unterschied Grundlage ein verschärfter Hei- schen Entwicklung ablesen. lichen Enge im Mittelpunkt der dingungen für Missbrauch aller bilen und ihren Elektromotoren zwischen dem „gesunden“ Land- matbegriff gewesen ist? Oder Entstanden in der zweiten Hälf- literarischen Aufarbeitung, nicht Art. erreichten Mensch und Maschine menschen und dem „kranken“ reichen die Wurzeln der wie- te des 19. Jahrhunder ts als nur in ihren Schlüsselwerken – nie gekannte Geschwindigkeiten, Städter hervorkehrte und davor dererwachten Heimatbedürfnis- Antwor t auf das, was wir histo- Hans Leberts „Die Wolfshaut“, Nimmt man die Mitte des die Fertigstellung des Telegra- warnte, dass die allgemeine Be- se historisch weiter zurück und risch die „erste Globalisierung“ Franz Innerhofers Trilogie „Schö- 20. Jahrhunderts als Angelpunkt fenkabels am Boden des atlanti- schleunigung zum Verlust des individuell tiefer hinab? Sind nennen könnten, entwickelte ne Tage“, „Schattseite“, „Die der Heimat-Geschichte, so sieht schen Ozeans erlaubte erstmals menschlichen Maßes führen möglicherweise all die bieder- sich das Genre des Heimat- großen Wörter“, Gernot Wolfgru- man dort die extremen Ausfor- so etwas wie „Echtzeitkommuni- würde. 18 19
GEGEN DAS VIRUS, GEGEN DIE WELT Wiederholung der Geschichte? die wir gerade erleben. Und dann „Resonanz – eine Soziologie der töten kann, ist zum Symbol für gen die man sich zur Wehr setzen kam die Spanische Grippe und Weltbeziehung“ eine fast roman- die dunkle Seite der Globalisie- muss mit allen Mitteln. Es sind die Phänomene, die Phi- erledigte den Rest. Uns Heutige tische Note. rung geworden. Das heimatliche lipp Blom in seinem beeindru- hat Covid-19 kalt erwischt. Haus hingegen, in dem man auf- Dafür spricht, dass wir Men- ckenden Buch „Der taumelnde Sehnsuchtsort Heimat gewachsen ist, in dem noch der schen aus Fehlern in der Regel Kontinent“ beschreibt. Wer es Dem Soziologen Hartmut Rosa Geist einer anderen Welt weht, nicht klug, sondern kaputt wer- liest, kann kaum anders, als die ist es vielleicht als erstem ge- Die Sehnsucht nach Heimat, so wird zur Schutz- und Trutzburg den. Dafür spricht auch, dass einzelnen Themen, die Blom je- lungen, die Heimatbedürfnisse könnte man das interpretieren, gegen das Virus und gegen die die selbstgewählte Enge, in weils einem der Jahre zwischen des spätmodernen Menschen in ist die Kehrseite der Beschleuni- Welt. die sich Menschen aus der zu 1900 und 1914 zuordnet, auf Begriffe zu fassen, die mit dem gung der Weltverhältnisse. Seit weiten Welt zurückziehen, fast die Gegenwart zu Beginn des Repertoire der ideologisch mit die räumlichen und zeitlichen Heimat geht gegen die Welt. Ge- notwendig bedrückende Züge 21. Jahrhunderts gen eine Welt, die immer mehr annimmt und dass man nie ab- umzulegen und Menschen zu groß, zu schnell und sehen kann, auf welche Weise Michael Fleischhacker dabei mehr oder »Die Stadt als Knotenpunkt des Globalisierungsgeschehens zu laut wird, vor der sie sich gern sich dieser Druck entladen wird, weniger verblüfft war zum Knotenpunkt des Infektionsgeschehens geworden, die verstecken möchten an einem nicht für sich selbst und nicht für Journalistische Stationen: f e s t z u s t e l l e n , Heimat auf dem Land, der Ort, von dem man stammt, versprach Platz, der ihnen vertraut ist, den andere. Kleine Zeitung, Der Standard, dass man es mit sie gestalten und mit Menschen Die Presse, NZZ Österreich, Abstand von der Welt und Sicherheit vor dem Virus.« einer Art Wieder- teilen können, für die sie sich Dagegen spricht bis dato nur, Addendum. Seit 2014 Mode- holung der Ge- entschieden haben oder auch dass es immerhin einigen Men- rator von „Talk im Hangar 7“ schichte zu tun hat: die Zunahme Namen wie Adorno, Horkheimer Distanzen auf null zusammen- nicht. So war es auch nach der schen zu gelingen scheint, auf ServusTV. psychischer Störungen aufgrund und Habermas doch eher links geschrumpft sind und jeder von letzten Jahrhundertwende, und zwischen Welt und Heimat zu von Überforderungssyndromen, verorteten Frankfurter Schule uns potenziell immer überall ist, vielleicht kommt daher die Angst pendeln, praktisch und meta- die Faszination für und die Angst kompatibel sind: In dem Groß sehnen sich viele und immer vieler Kritiker, dass auch diese phorisch. Dagegen spricht seit vor dem sprunghaften Anstieg essay „Beschleunigung und mehr nach einem Ort, an dem Phase der Heimathinwendung so 2020 auch, dass es ein neues möglicher Geschwindigkeiten in Entfremdung“ legt er eine sehr sich das ausblenden lässt, an katastrophal enden könnte wie Bewusstsein dafür gibt, dass die Transport und Kommunikation. präzise Analyse des zeitgenössi- dem die Welt nicht groß und ihr Vorbild. Dass die neue Begeis- dichte, schnelle Welt da draußen Es war die erste Globalisierung schen Unbehagens mit der Ge- schnell, sondern überschaubar terung für das Traditionelle und tödliche Gefahren mit sich brin- und sie war unter mehreren As- schwindigkeit vor. Die am Ende und langsam ist. Das Virus, das das Ländliche, die alten Werte gen kann, vor denen man sich in pekten, nicht zuletzt dem der des Buches angedeuteten Lö- sich innerhalb kurzer Zeit über und die schönen Sachen sich der Überschaubarkeit – und ja: umfassenden Bewegungsfrei- sungsvorschläge klingen etwas die ganze Welt ausbreiten, sich zu einem Wir-Gefühl verdichten auch in der Überwachbarkeit – heit für das Individuum, umfas- wolkig und bekommen in dem exponentiell vermehren und könnte, das alle, die nicht dazu- des Kleinräumigen in Sicherheit sender und „perfekter“ als die, umfangreichen Nachfolgewerk Hunderttausende, ja Millionen, gehören, zu Feinden macht, ge- bringen kann. 20 21
Dr. Daniel Dettling Zukunftsforscher NACH CORONA: DIE ZUKUNFT VON STADT UND LAND Die globale Pandemie namens pulismus fort. Besonders erfolg- sene Restaurants, Fitnessstu- Corona beendet die Phase der reich war dieser vor allem in den dios, Kinos und Clubs – das hyperschnellen Globalisierung. ländlichen Regionen. Leben in den Metropolen war Die bisherige globale Vernetzung auf einmal gefährlich öde. Ins- hat uns anfälliger für Krisen ge- Der britische Entwicklungsöko- besondere Megacitys wie New macht. Nach der Krise spricht nom und Bestseller autor Paul York, Singapur und London wa- einiges für eine neue Epoche: Collier sieht in seinem 2019 ren mit der Corona-Welle schnell Die Ära der nachhaltigen Gloka- erschienenen Buch „Sozialer Ka- überfordert. Auf dem Dorf oder lisierung als Antwort auf eine pitalismus“ die wachsende Kluft in der Kleinstadt ist das sozia- steigende Nachfrage nach Hei- zwischen größeren Städten und le Abstandhalten leichter als in mat und Nachbarschaft. entlegener Provinz als die zen- der Großstadt. Nachbarschafts- trale soziale Herausforderung. hilfen, die sich in den großen Die Spaltung zwischen Städten Überall in den westlichen Indus- Städten erst digital und per Te- und ländlichen Regionen triestaaten hängten städtische lefon bilden müssen, sind auf Ballungsräume den ländlichen dem Land Alltag. Landluft macht Österreichs Kraft liegt in seiner Raum ab. Während sich die gro- virenfreier. Die Corona-Krise ist Dezentralität. Drei Viertel der ßen Städte als Gewinner der Glo- daher auch Treiber einer neuen Österreicherinnen und Öster- balisierung sahen, fühlten sich Stadtflucht – zumal immer mehr reicher leben in den ländlichen die Einwohner in den ländlichen Regionen schon vor der Krise Regionen. Auch die Mehrheit der Regionen oft als die Verlierer des auf einen lokalen Versorgungs- Unternehmen ist nicht in den gro- wirtschaftlichen Wandels. Bis patriotismus setzten. ßen Städten und Ballungsgebie- Covid-19 kam. Seitdem hat sich ten zuhause. Eine neue Spaltung auch das Verhältnis von Stadt Vor Corona galt folgendes Ge- fordert die westlichen Demokra- und Land radikal verändert. setz im Verhältnis zwischen tien und den Zusammenhalt ihrer Stadt und Land: Während Städ- Gesellschaften heraus: ländliche Die Krise der großen Städte te wie Wien, Graz, Innsbruck, Regionen gegen Städte. Was in Linz und Salzburg wachsen, Imsterberg/Tirol den USA vor drei Jahren mit der Die Corona-Pandemie wurde des- schrumpft die ländliche Bevöl- Einwohner: 801 Wahl von Donald Trump und dem halb auch zur Krise der großen kerung. Abwanderung, Alterung Bürgermeister: Alois Thurner Brexit in Großbritannien begann, Städte und Ballungsgebiete, die und das Gefühl des Abgehängt- setzte sich in Europa mit dem anfälliger und nervöser sind als seins wurden mit dem Land, Wiedererstarken des Rechtspo- der ländliche Raum. Geschlos- Fortschritt und Innovation mit 22 23
NACH CORONA: DIE ZUKUNFT VON Regionstypen in Österreich STADT UND LAND „Städtische“ vs. „ländliche“ Regionen nach EU/OECD der Stadt in Verbindung ge- 1. Aus Globalisierung wird ländlichen Raum entstehen. Das bracht. Der technologische Fort- Glokalisierung neue Leitbild heißt „ökosoziale schritt – Digitalisierung und Au- Der Megatrend der Globalisie- Marktwirtschaft“. tomatisierung – kann die Kluft rung führt entgegen vielen frü- zwischen boomenden Städten heren Prognosen nicht zu einem Regionale Produktion ist gut für und Regionen und schrumpfen- universellen, überall gleich gel- die Umwelt und schafft vor Ort Überwiegend ländlich den und abgehängten Gegenden tenden Lebenswandel. Globale sichere Arbeitsplätze. Die gro- beschleunigen, er kann sie aber und regionale Identitäten bilden ßen Herausforderungen wie der Intermediär auch reduzieren. keinen Widerspruch, sie bedin- Klimawandel, Mobilität und der Quelle: EUROSTAT, OECD; tw. modifiziert, 2018. Grafik: Lukas Kaspar gen vielmehr einander. Zukunfts- gesellschaftliche Zusammenhalt Überwiegend städtisch Die Corona-Pandemie hat ge- forscher sprechen vom Trend zur können nur vor Ort in den Kom- zeigt: Wenn sich alles auf die „Glokalisierung“ – Globalität und munen gelöst werden. Es geht großen Städte konzentriert, bre- Lokalität verbinden sich zu ei- um Investitionen in Busse, Bah- chen diese irgendwann zusam- nem neuen Dritten. Nach der Kri- nen, Schienen und Radwege und men. In den dezentralen Struk- se wird das lokal und kommunal neue Formen der Mobilität, der turen, die das Land ausmachen, Überschaubare wieder gefragt Landwirtschaft und des Touris- liegt in Zukunft eine enorme sein. Viele Österreicher haben mus. Bio-Dörfer ziehen gestress- Chance, die großen Städte zu während der Corona-Zeit die hei- te Städter und ihre Familien an. entlasten. Zum Gewinner der mische Landwirtschaft wieder Verbraucher und Konsumenten Entwicklung wird die progressive schätzen gelernt. „Kauf lokal, fragen zunehmend nach Quali- Provinz, die beide Welten verbin- das geht auch digital“, hieß eine tät, Herkunft und Art der Produk- det: die urbane, weltoffene und Kampagne der Wirtschaftsminis- tion. die lokale, verbundene Welt. In terin Margarete Schramböck. den Kommunen löst sich der Es geht um eine Strategie der Stadt-Land-Gegensatz auf. In diesem Wandel liegt eine „Globalisierung plus Regionali- enorme Chance für die Kommu- sierung“ etwa durch Ansiedlung Die Corona-Krise wird zum Be- nen. Wo die Grenzen zwischen von systemkritischen Produkti- schleuniger der Megatrends Urbanität und Regionalität durch onsstätten auf dem Land. So Globalisierung, Digitalisierung eine intelligente Politik der In- entstehen auch in struktur- und Demografie und des mit ih- vestitionen und Infrastruktur ver- schwachen Regionen zuneh- nen verbundenen mentalen und schwimmen, können neue Chan- mend global erfolgreiche Unter- sozialen Wandels. cen und Perspektiven für den nehmen. In ihrem Gebiet sind 24 25
0% bis 10% -10% bis 0% 20% Wels 2. Aus Digitalisierung wird Breitband und leistungsfähiges, 10% bis 20% Wien und Vernetzung schnelles Internet auch in den Die Gewinner nach Corona sind Linz/Umland, Umland Vielen ländlichen Regionen man- Randregionen zur Norm werden. künftig jene Regionen, Kleinstäd- >20% Wels gelt es an einer schnellen Inter- te und Dörfer, die den Wandel of- 0% bis 10% 10% bis 20% netverbindung. Homeoffice und 3. Aus Demografie wird fensiv angehen und optimistisch Salzburg Unterricht daheim waren in der Gesundheitsschutz für alle gestalten. Lebensqualität, Bil- -10% bis 0% und Umland Corona-Zeit für viele auf dem Corona hat uns allen den Ge- dung und bürgerschaftliches En- Quelle: ÖROK-Regionalprognosen, 2014. Grafik: Lukas Kaspar 0% bis 10%
+10,1 % Dornbirn +12,7 % +9,5 % Wien-Umgebung Innsbruck (Stadt) +8,0 % Eisenstadt (Stadt) +13,7 % Wiener Neustadt (Stadt) -16,6 % Bruck-Mürzzuschlag -15,8 % NACH CORONA: Leoben -18,3 % Spittal an der Drau -16,5 % +11,0 % Graz (Stadt) -17,6 % DIE ZUKUNFT VON Murtal Hermagor -15,7 % Tamsweg -22,5 % -17,3 % Entwicklung der erwerbsfähigen Bevölkerung Murau Wolfsberg -17,8 % St. Veit an der Glan STADT UND LAND 2014 bis 2030, nach politischen Bezirken vor Ort am Land zu bleiben bzw. Die Corona-Krise kann zu einer wieder zurückzukehren. Einer Aufwertung des Landes führen. deutschen Umfrage zufolge wol- Der ländliche Raum ist mehr als len nur 16 Prozent (das ist nur Landwirtschaft und „Restraum“. jeder Sechste) in einer Groß- Er ist auch Wirtschafts-, Kultur- +7,0 % +7,0 % stadt leben. Die überwiegende und Industrieraum. Und damit +8,4 % Mödling Korneuburg Linz (Stadt) Mehrheit bevorzugt die Klein- Zukunftsraum für gesellschaftli- und Mittelstadt oder das Dorf. chen Zusammenhalt. Sie sehen die kommunale und -15,7 % Zwettl +12,6 % kollektive Vernetzung und Soli- Die Kluft zwischen Stadt und Schwechat darität als den entscheidenden Land wird sich zunehmend auf- Standortvorteil. lösen. Die Frage ist nicht mehr +10,1 % „Stadt oder Land“, sondern Le- Dr. Daniel Dettling Dornbirn +12,7 % +9,5 % Die Bundesregierung aus ÖVP bensqualität plus Innovations- Quelle: WIFO, 2018. Grafik: Lukas Kaspar Wien-Umgebung Innsbruck (Stadt) und Grünen hat die Herausfor- fähigkeit. Das Land wird wieder ist Zukunftsforscher, gefragter -16,6 % +8,0 % derung schon vor Ausbruch der als gleichwertiger Lebensraum Keynoter und berät Instituti- Bruck- Mürzzuschlag Eisenstadt (Stadt) Pandemie erkannt. Die Förde- wahrgenommen. Stadt und Land onen und Unternehmen. Er -15,8 % Leoben rung des ländlichen Raums wird ergänzen sich und brauchen sich leitet das von ihm gegründe- +13,7 % -16,5 % Wiener Neustadt (Stadt) in fast jedem Kapitel erwähnt. wechselseitig. Nach der Krise te Institut für Zukunftspolitik -22,5 % Murtal -15,7 % Tamsweg Murau Weiterentwickeln will die tür- werden die Gemeinden Öster- (www.zukunftspolitik.de). -18,3 % kis-grüne Bundesregierung den reichs glokaler, bürgernäher und -17,8 % Spittal an der Drau -17,3 % St. Veit Wolfsberg an der Glan „Masterplan ländlicher Raum“ partizipativer. Die Kommunen -17,6 % mit seinen Bestandteilen schnel- und ihre Bürgermeister werden Hermagor les Internet, öffentlicher Verkehr, zu den entscheidenden Akteuren +11,0 % ärztliche Versorgung und Ehren- für die Zeit nach Corona. Graz (Stadt) amt. Allen vier Punkten kommt dabei eine gleichgeordnete Be- deutung zu und daher müssen alle vier in ein Gesamtkonzept eingebettet werden. 28 29
Matthias Horx Zukunftsforscher CORONA UND DIE KOMMUNALPOLITIK Was bedeutet die Corona-Krise tischen“ Rahmen beziehen. Die Kommunikationssysteme, die für die Kommunalpolitik? Um langfristigen Auswirkungen der zunehmend von Spaltungen und diese Frage zu klären, müssen Corona-Krise sind viel vielschich- Polarisierungen befallen wurden wir zunächst einmal eine Eta- tiger. Und TIEFER. – was zum Aufstieg des Populis- ge höher gehen: Was bedeutet mus führte. die Corona-Krise für die Gesell- Eine Tiefenkrise schaft? Wie verändert das Er- Die Corona-Krise jedoch be- scheinen einer globalen Pande- Jede Krise entwickelt eine eige- rührt das Alltagsleben, aber mie die Politik, die Wirtschaft, ne „Story“, eine Narration, die auch Selbstverständnis aller die Wertesysteme, die großen die menschliche Kultur verän- Menschen. Sie ist das, was Trends und Megatrends? dert – die Sitten und Gebräuche, man eine Tiefenkrise nennt. die Wertesysteme und Denkwei- Eine Krise, die alle Aspekte des Vordergründig lässt sich hier sen. menschlichen Lebens zur Dispo- Banales feststellen: Die Ge- sition stellt: Wirtschaft, Politik, sundheitsversorgung bekommt Die Finanzkrise 2009 berührte Institutionen, Alltag, Wissen- eine neue Bedeutung. Hygiene- das Leben der Menschen wenig, schaft. Selbst-Erleben. Eine sol- vorstellungen werden „immer führte aber zu einem Misstrauen che Krise ist eine Bewährungs- wichtiger“. Sicherheit, als Wert und Technik, »Die Corona-Krise wird nicht dazu führen, dass Städter nimmt an Bedeutung zu. Aber diese Erkenntnis massenhaft aufs Land flüchten. Aber das Stichwort der führt nicht viel weiter als Zukunft lautet: Ent-Massung.« in die Frage, ob das ört- liche Krankenhaus nicht doch gegenüber großen Institutionen, probe, die die gesellschaftlichen aufrechterhalten werden könnte. die nicht hielten, was sie ver- Systeme testet, Schwachstellen Und wie man Impf- und Vorsor- sprachen. Die „Flüchtlingskrise“ bloßlegt, aber auch Kräfte aus geprogramme verbessert. Oder war eigentlich keine echte Kri- dem gesellschaftlichen Inneren Sigleß/Burgenland den Besucherverkehr in Ämtern se – die europäischen Staaten freisetzt. Einwohner: 1.161 besser steuert. Oder Auflagen konnten die Welle an Kriegs- Bürgermeister: Josef Kutrovatz für Volksfeste durchsetzt. Das flüchtlingen durchaus bewälti- Auf eine paradoxe und erstaun- sind jedoch Fragen, die sich gen –, sondern eher eine Krise liche Weise hat „Corona“ zu eher auf einen kurzfristigen „tak- des politischen Systems und der politischen Vertrauensgewinnen 30 31
CORONA UND DIE KOMMUNALPOLITIK geführt, zu Konsensbildungenfristig verändert. In einer solchen unseren gesellschaftlichen Fort- Zum Wesen der großen Trends, vität, die uns das Internet und Corona-Krise beschleunigt nun Krise gibt es kein zurück ins Alte, zwischen Institutionen, Staat schrittsbegriff, der durch Mega- der Megatrends, die über Jahr- die Total-Medialisierung unserer diesen Prozess der Synthetisie- auch wenn das zunächst plau- und Bürgern. Jedenfalls in je- trends wie Individualisierung, zehnte unsere Lebenswelt und Lebenswelt brachte, entstand rung, was sich an drei Entwick- sibel erscheint: So schnell wie nen europäischen Ländern, die Urbanisierung, Konnektivität, unsere Kultursysteme regelrecht schon seit Jahren ein Unbeha- lungen exemplarisch verdeutli- schnell und entschlossen re-möglich wollen wir zur „Norma- Mobilität und beschleunigte Glo- umpflügen, gehört es, dass sich gen, das man auch im Hang zur chen lässt: lität“ zurückkehren. balisierung gekennzeichnet war. aus jedem großen Trend irgend- „Re-Analogisierung“ wahrneh- Doch die neue Norma- wann ein massiver Gegentrend men kann, die mit dem Ökologi- 1. Glokalisierung: »Das Dorf wandert in die Stadt lität wird eine ANDERE Alle diese Megatrends sind seit entwickelt. Eine Sehnsucht oder schen verbunden ist. Menschen Aus dem Globalen und dem und die Stadt ins Dorf – und bei- Normalität sein. vielen Jahren in eine strukturelle ein Widerstand, der resistente halten es eben nicht besonders Lokalen entsteht eine neue des erfindet sich dabei neu.« Krise geraten. Durch ihre mäch- Formen annehmen kann. gut aus, wenn sich die ganze Komplexität, die das eine nicht Das heißt nicht, dass tige Linearität kam es zu Verwer- Welt in Pixel und Datenströme gegen das andere ausspielt, alles radikal anders fungen, zu Exzessen, die sich So entwickelt sich gegen den Sie- auflöst. Die Sehnsucht nach sondern beides neu konfiguriert. agierten und dadurch den Virus wird. Aber die Karten werden zunehmend als Struktur- und Pla- geslauf der Totalglobalisierung dem Handwerklichen, Ländli- Die Corona-Krise hat die natio- zurückdrängen konnten (in an- neu gemischt. Wir wachen in ei- nungskrisen bemerkbar mach- schon lange eine Retro-Sehn- chen, Organischen, Natürlichen, nalen Grenzen wieder sichtbarer deren Ländern, siehe z. B. USA ner veränderten Welt auf, in der ten. Besonders im Alpenraum sucht nach Heimat, Verwurze- lässt sich hier einordnen. gemacht, sie hat die Fragilität und Brasilien, führt die Infektion manche Dinge sich geklärt ha- ließen sich zum Beispiel touris- lung, Verankerung. Die nationa- globaler Wertschöpfungsketten, zu einem Aufbrechen der gesell- ben. Wie im persönlichen Leben tische Exzesse ausmachen, die listischen Bewegungen lassen Aus dieser Dialektik von Trend die „Just-in-Time“-Produktion, schaftlichen Fliehkräfte). In der führen durchlebte Krisen immer sich auf die exzessive Globalisie- sich auch als Reflex gegen die und Gegentrend entwickeln sichtbar gemacht. In den nächs- Krise haben die kooperativen auch zu Klärungen und Entschei- rung und Individualisierung bezo- Allgegenwart globaler Märkte sich einerseits Konflikte, ande- ten Jahren werden sich die glo- Gesellschaften Europas erlebt, dungen. gen. So steht die „Chinastadt“ lesen. Gegen die Urba- was Bürgergesellschaft eben Hallstatt für die Extremisierung nisierung, deren Dyna- AUCH heißt: ein Einstehen für- Trend – Gegentrend – Zukunfts- eines globalen Tourismus und mik besonders in den »Die Corona-Krise könnte indirekt zu einer Stärkung der einander, eine Solidarität, die synthese Ischgl für die Exzessivität eines letzten zwei Jahrzehn- lokalen „Governance“ führen, jene Vertrauensbindung auch einmal Opfer oder Fährnis- Party-Hedonismus, der zuneh- ten die Gleichgewich- verstärken, die gerade in „schweren Zeiten“ so ungeheuer se bedeuten kann. Ein Füreinan- Grundsätzlich beschleunigen mend in Konflikt mit Natur- und te zwischen Land und wichtig ist.« der, das durch reaktionsfähige Tiefenkrisen Trends, die bereits Ethikgrenzen gerät. Stadt, Metropole und Institutionen moderiert und ver- sichtbar waren, aber in latenten Peripherien verschoben stärkt werden kann. Zuständen verharrten. Das gilt Beide Extreme wurden in dieser hat, entwickelte sich eine neue, rerseits aber entstehen neue balen Waren- und Logistikströme für die Corona-Krise in besonde- Krise sozusagen „ausgelesen“, manchmal naive Naturromantik, Hybridformen, in denen die Pa- umformen. Mehr lokale oder Das Wesen solcher Tiefenkrisen rem Maße: Sie nimmt gewisser- sichtbar gemacht – und in ihrer der insbesondere eingefleisch- radoxien auf neue Ebene zusam- auch kontinentale Produktion ist, dass sie die Codes, in denen maßen den Korken aus der Fla- ungebrochenen Dynamik been- te Großstädter gerne folgten. mengeführt werden. Das ist der – zum Beispiel Medikamen- eine Gesellschaft „tickt“, lang- sche. Dies betrifft insbesondere det. Und gegen die totale Konnekti- eigentliche Zukunftsprozess. Die te. Mehr Lieferketten aus dem 32 33
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