Pfarrblatt - Der Mensch in Gottes Garten - Dompfarre St. Stephan

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Pfarrblatt - Der Mensch in Gottes Garten - Dompfarre St. Stephan
77. Jahrgang · Nr. 1 · Ostern 2022

   Pfarrblatt

   Der Mensch in
   Gottes Garten
Schwerpunkt        Vom Wachsen, Gedeihen und Aufblühen
Dompfarre          Für den Frieden in der Ukraine · Pfarrgemeinderat · Gratulationen · Aus dem Archiv
Spirituelles       Mein Lieblingsgebet · Hl. Fiacrius · Johann-Nepomuk-Kapelle am Naschmarkt
Lesestoff          Und schaut der Steffl ­lächelnd auf uns nieder …
Pfarrblatt - Der Mensch in Gottes Garten - Dompfarre St. Stephan
Inhalt                                        Editorial
◼ Editorial                            2
◼ Wort des Dompfarrers
◼ Mehr als ein Garten am Anfang
                                       3
                                       4
                                            Es wächst
◼ Der verschlossene Garten             5                                                     Zeit – oder mit den Worten einer alten Gärt-
◼ Vor dem Garten                       6                                                     nerweisheit gesagt: „Geduldig wartend,
◼ Nichts ist, wie es war               8                                                     überdauert das Unkraut des Menschen
◼ »Sie meinte, es sei der Gärtner.«    9                                                     nichtiges Tun.“ Ich jäte dennoch. Immer
◼ #MeToo – in einem Garten                                                                   wieder. Und reiße den ständig überhand-
  von Babylon                         10                                                     nehmenden Efeu im Bewusstsein aus: er
◼ Der Stephansdom als                                                                        wird vermutlich noch immer da wachsen,
  Paradiesgarten                      12                                                     auch wenn es mich nicht mehr gibt.
◼ Was wächst am Dach des
  Stephansdoms?                       14                                                     Ein Garten erinnert
◼ Zuhause im Garten Gottes            15                                                     an den Gärtner
◼ Seht die Lilien!                    16                                                     Im Garten wird für mich Gottes Nähe be-
◼ Gärten in der Osterzeit             17                                                     sonders spürbar. Auf den ersten Seiten
                                                                                             der Bibel wird von einem großen Park des
◼ Die wachsende grüne
  Leidenschaft                        18    Ich bin leider keine große Gärtnerin und der     Glücks und der Freude, einem Ort der inni-
                                            Garten, der unser Haus umgibt, ist nicht groß.   gen Gemeinschaft von Gott und Mensch
◼ Eine Stadt blüht auf                19
                                            Aber er ist für mich ein wunderbarer Ort, um     erzählt. Auch die wichtigsten Momente
◼ Wiener Stadtlandwirtschaft:
                                            zur Ruhe und ins Nachdenken zu kommen.           im Leben Jesu, die Entscheidung zur Hin-
  Das Gute wächst so nah              20
                                                                                             gabe seines Lebens und seine Auferste-
◼ Für eine Generation,
  die weiß, was sie isst!             21    Ein Garten lehrt Dankbarkeit                     hung finden in einem Garten statt.
                                            Ich staune immer wieder von Neuem über                Die Heilige Schrift ist reich an Garten-
◼ Die heilende Kraft von Gärten       22
                                            das, was alles im Garten wächst – ganz           geschichten und spricht in vielen Gleich-
◼ Gemeinsam wachsen                   23
                                            ohne mein Zutun. Natürlich, ich kann um-         nissen von Gott, dem geduldigen Gärtner,
◼ Der Urwald Rothwald – Ein Zeit­           graben, düngen, gießen, aber ob eine Saat        der die menschliche Seele, den Garten,
  zeuge längst vergangener Tage       24
                                            keimt oder ein Setzling wirklich gedeiht,        zum Aufblühen bringen und mit großem
◼ Wenn Sterne
                                            liegt letztlich nicht in meiner Hand. Es ist     Ertrag segnen möchte. Davon erzählt die-
  ein letztes Mal erblühen            25
                                            ein Geschenk, das mich dankbar macht.            ses Pfarrblatt und spannt inhaltlich einen
◼ Was mich wachsen
                                                                                             Bogen bis zu den Gärten der Gegenwart. Es
  und aufblühen lässt …               26
                                            Ein Garten hilft loslassen lernen                ist eine Einladung, sich dankbar an allem
◼ Für den Frieden in der Ukraine      29
                                            Wie weh tut es einem Gärtner, wenn er            zu freuen, was gedeiht und wächst: Man
◼ So viele Begabungen                 30    sich lange Zeit mit viel Liebe und Geduld        muss dazu nicht unbedingt einen eigenen
◼ Mitarbeiterausflug                  30    um eine Pflanze bemüht und sie geht am           Garten besitzen. Es wachsen die Küchen-
◼ Pfarrgemeinderat                    31    Ende trotzdem ein? Ich mache immer wie-          kräuter auf der Fensterbank, die Frühlings-
◼ Blitzlichter aus St. Stephan        32    der die Erfahrung, dass nach dem Abster-         blumen in den Parks, das Gemüse auf den
◼ Lieblingsgebet                      34    ben eines Buschs z. B. die Nachbars­pflanze,     Feldern und uralte Bäume in unberührter
◼ Heilige im Dom: Hl. Fiacrius        35    die stets im Schatten stand und bisher           Natur. Selbst die Sterne im All wachsen,
◼ Wegzeichen des Glaubens:                  nicht ausreichend Platz zur Entfaltung hat-      sterben und lassen neues Leben entste-
  die Naschmarktkapelle               36    te, plötzlich zu gedeihen und aufzublühen        hen. Der tröstende und heilsame Blick
◼ Steffl                              37    beginnt. Oder ein anderes Pflänzchen geht        auf die Natur sowie der Glaube an Tod
◼ Die Liebe feiern                    38    unerwartet von selbst auf. Manchmal in-          und Auferstehung Jesu schenken gerade
                                            vestieren wir viel Zeit und Kraft in eine be-    in diesen Tagen Hoffnung. – „Wer wagt es,
◼ In Memoriam Pfarrer
  Georg Stockert                      39    stimmte Sache, deren Verwirklichung aber         sich den donnernden Zügen entgegenzu-
◼ Aus dem Archiv                      40    einfach nicht möglich ist. Wie gut täten wir     stellen? Die kleinen Blumen zwischen den
                                            dann daran, das Scheitern anzuerkennen,          Eisenbahnschwellen,“ schrieb einst Erich
◼ Karwoche und Ostern im Dom          42
                                            loszulassen und den Blick auf das richten,       Kästner. Lassen wir uns nicht von dem
◼ Karwoche und Ostern im
                                            was dadurch neu entstehen kann?                  aktuell übermäßigen Leid überrollen, son-
  Pfarrgebiet von St. Stephan         43
                                                                                             dern an den Herausforderungen wachsen!
◼ Termine                             44
                                            Ein Garten macht demütig
◼ Ausstellung: Wir leben doch!        47
                                                                                                                                             Martin Staudinger

                                            Es wächst. Ja, es wächst auch viel Uner-
◼ Zum Nachdenken                      48    wünschtes. Die Freude über ein ordentlich
◼ Impressum                           48    ausgejätetes Kräuterbeet währt nur kurze         Herzlich, Ihre Birgit Staudinger

2 Pfarrblatt Dompfarre St. Stephan · Ostern 2022
Pfarrblatt - Der Mensch in Gottes Garten - Dompfarre St. Stephan
Wort des Dompfarrers

                          Liebe Freunde!
                          Ich bin in der privilegierten Lage einen      die Knospen wahrnehmen kann. Und
                          Großteil meiner Arbeit der Gestaltung         es dort und da sprießt und sprosst. Die
                          von Festen zu widmen. Ich habe Feste sehr     dunkle Jahreszeit ist vorüber, die wär-
                          gerne und lege mich mit Engagement in         mende Sonne lockt die Kräfte der Natur
                          die möglichst persönliche und berührende      aus allen Geschöpfen und lässt sie neu
                          Ausgestaltung von Taufen, Erstkommu-          aufleben. Selbst am Stephansplatz im
                          nionen, Firmungen, Hochzeiten und Seg-        kleinen Gartenbeet auf der Dachterrasse
                          nungen aller Art.                             grüßen mich die Schneeglöckchen und
                                                                        die knospenden Sträucher. Wir haben
                          Vertrauen haben                               den Winter überstanden, jetzt heißt es
                          Aber auch die anderen Seiten des Lebens       tief durchatmen.
                          entgehen nicht meiner Aufmerksamkeit:             Wiewohl ich keinen grünen Daumen
                          Krankheit, Leid, Not, Sterben und Tod.        zu haben scheine, erfreut mich jede Or-
                          Erfülltes langes Leben loslassen und die      chidee am Fensterbrett. Jede liebevolle
                          Erfahrung machen, dass neues Leben            Blumendekoration ist eine helle Freude,        willkommen sind die Freudenboten, die
                          kommt. Seit drei Jahrzehnten gehe und         jeder Blumenstrauß, den ich verschenke,        eine Botschaft des Friedens bringen in die
                          gestalte ich in der Fastenzeit jeden Frei-    ist mir selbst die größere Freude, wenn        Gewalt dieser Tage.
                          tag den Kreuzweg und schließlich den          er als ein Zeichen der liebenden Anerken-          Mit den besten Segenswünschen
                          Karfreitag, in Gedanken und Gebeten           nung verstanden wird.                          für einen Weg der Auferstehung und
                          vertrauensvoll auf Ostern wartend. Auch           Aber noch mehr freut mich, wenn            des Friedens grüßt Sie in und aus und
                          versuche ich Menschen in Trauersituatio-      wir durch unsere Gebete, Worte und Ta-         rund um St. Stephan ihr dankbarer und
                          nen so zu begleiten, dass sie den oft so      ten Notleidende aufatmen lassen, ihnen         fürbittender
                          schmerzlichen Abschied zulassen, Neuem        Hilfe erbitten und gewähren.
                          erwartungsvoll entgegenschauen und da-
                          durch wachsen können, um jeweils Schritt      Zeichen des Friedens setzen
                          für Schritt in die Zukunft zu gehen.          Wir können Zeichen setzen, damit Kriegs-
                              Dabei darf ich auf einen Gott vertrau-    flüchtlingen geholfen wird, dass sie Un-       Toni Faber
                          en, der mich auch in dunkelster Nacht         terstützung auf verschiedenstem Wege
                          nicht allein lässt, auch wenn ich ihn nicht   erfahren durch Hilfsmittel, Lebensmit-
                          spüren kann. Einen Gott, der mir die Ge-      tel und kurzfristigen Aufenthalts- und
                          wissheit verleiht, ich bin nicht allein. Er   Wohnraum. Auch wenn es vielleicht                Reaktionen
                          geht mit mir.                                 länger dauert und niemand weiß, wann             Wenn Sie uns etwas mitteilen wol­
                                                                        der Wahnsinn des Krieges und all seine           len, zögern Sie nicht. Schreiben
                          Sich an der Schöpfung freuen                  schrecklichen Folgen ein Ende haben.             Sie an: Dompfarre St. Stephan,
                          Wie schön, wenn ich jetzt im Frühling         Jetzt sind wir als christliche Hoffnungs-        „Pfarrblatt“, Stephansplatz 3,
                          auf dem Weg durch den Wald bewusst            und Auferstehungsboten gefragt. Wie              A-1010 Wien, oder per E-Mail:
                                                                                                                         dompfarre-st.stephan@edw.or.at

                                                                                                                         Gender-Hinweis
                                                                                                                         Wir bitten Autoren und Leser um
                                                                                                                         Verständnis, dass wir aus Gründen
                                                                                                                         der besseren Lesbarkeit und der Un­
                                                                                                                         versehrtheit der Sprache allgemeine
                                                                                                                         Bezeichnungen wie zum Beispiel
                                                                                                                         „Christ“, „Schüler“ etc. sowie das
                                                                                        Titelseite: © Astrid Friedl,     ebenfalls grammatikalisch maskuli­
Dompfarrer: Suzy Stöckl

                                                                                        „Baum des Lebens“                ne Wort „Mensch“ als inklusiv (also
                                                                                        (Ausschnitt), 2022,              geschlechtsneutral) verstehen und
                                                                                        83 × 58 cm, Öl auf               verwenden. Die Redaktion.
                                                                                        bedrucktem Stoff.

                                                                                                                Pfarrblatt Dompfarre St. Stephan · Ostern 2022 3
Pfarrblatt - Der Mensch in Gottes Garten - Dompfarre St. Stephan
Der Mensch in Gottes Garten

  Mehr als ein Garten am Anfang
  Der Beginn der Bibel mit den beiden Schöpfungserzählungen                                 noch ganz abgesehen von den zwei wei-
  ist vielen Menschen vertraut. Sie bilden die Grundlagen für                               teren, mit Namen erwähnten Bäumen.
  den jüdischen und den christlichen Glauben und sie sind die                               Hierin drückt sich ebenfalls die Großzü-
  geistigen Wurzeln für unsere westlichen Kulturen. Sie zeigen                              gigkeit Gottes aus, der die Menschen mit
  so eine bleibende Botschaft und fortwährende Ausstrahlung.                                einer unendlichen Vielfalt von für Geist
  Dennoch werden sie selten in ihrer Tiefe wirklich erkannt, und                            und Körper Erfreulichem beschenkt.
  viele ihrer Aspekte entgehen der Aufmerksamkeit. Gedanken
  über Gottes Wonne-Park-Projekt. Von Georg Fischer SJ.                                     Die Benutzungsregeln
                                                                                            Dieser „Wonne“-Park (= traditionell „Gar-
  Die bildhafte Redeweise beider Schöp-            da normalerweise an einen Gemüse- oder   ten Eden“) ist einerseits ein Ort des Ver­
  fungserzählungen spricht nicht so sehr           Blumengarten. Doch die Fortsetzung in    weilens: Gen 2,15 beschreibt, so wörtlich,
  über die Vergangenheit oder die natur-           Vers 9 spricht von „allen Bäumen“, die   dass Gott den Menschen darin „ruhen“
  wissenschaftliche Entstehung des Uni-            Gott darin sprießen
  versums, der Welt, des sie Erfüllenden und       lässt, und hat als ver-
  des Menschengeschlechts, sondern darü-           mutlichen Hintergrund
  ber, wie dies alles von Gott her zu sehen ist.   königliche Parkanlagen.
  Es handelt sich um eine Doppel-Darstel-          Sie waren ein Zeichen
  lung, die Grund und Sinn unseres Lebens          des Luxus, des Über-
  aufschließen will. Zugleich laden Genesis 1      flusses und vermittelten
  und 2 ein, gerade auch durch die zwischen        auch mit ihrer Schönheit
  ihnen bestehenden Spannungen, die Welt           und grünen Pracht, ge-
  und uns nicht nur aus einem Blickwinkel zu       rade in der meist dürren
  sehen, sondern mehreren Perspektiven zu          Umgebung des Alten
  betrachten und so ein angemesseneres             Orients, den Eindruck
  Bild davon zu gewinnen.                          von Leben in Fülle.
                                                       Auch der göttliche
  Eine Einladung zur Freude                        Park wirkt anziehend.
  Was traditionell als „Eden“ wiederge-            Diese Bäume in ihm sind
  geben wird, hat im Hebräischen eine              prachtvoll anzusehen
  symbolische Bedeutung. Das Wort ‘edän            und ihre Früchte köst-
  besagt „Wonne, Lust, Freude“ und steht           lich zu genießen (Vers 9),
  so für eine Erfahrung intensiven Glücks.
  Sara gebraucht diesen Ausdruck, als sie
  in ihrem Alter die Botschaft hört, dass sie
  noch ein Kind bekommen wird (Gen 18,12).
      In Genesis 2 bezieht sich das Wort
  auf einen Ort. In Vers 8 legt Gott dort
  eine Pflanzung an, und in Vers 10 geht
  von dort ein Strom aus. Beides deutet
  auf reichliches Leben hin und zeigt so an,
  wie herrlich der Bereich ist, den Gott für                Adam und Eva
  die Menschen bereitet hat. Name und                       müssen Gottes
  Charakteristika des so bezeichneten Ge-                  riesigen Garten
  bietes stimmen also überein und lassen                   der Wonne und
  erkennen, dass Gottes Absicht für uns ein                      des Glücks
  Leben in Freude ist.                                            verlassen
                                                              (Darstellung
                                                                                                                                         Domarchiv St. Stephan

  Kein „Garten“, sondern ein Park!                                 auf dem
  Die übliche Übersetzung des hebräischen                     Krippenaltar
  gan in Gen 2,8 und an den späteren Stel-                 von Josef Troyer
  len lautet „Garten“ (in Eden). Wir denken                       im Dom).

4 Pfarrblatt Dompfarre St. Stephan · Ostern 2022
Pfarrblatt - Der Mensch in Gottes Garten - Dompfarre St. Stephan
lässt. Anderseits teilt er eine Aufgabe zu,
                                                        „ihn zu bearbeiten und zu bewahren/be-
                                                        hüten“, d. h. für ihn zu sorgen und ihn zu
                                                        pflegen. So kommt keine Langeweile auf,
                                                        sondern es entsteht Beziehung, Freude
                                                        über Wachsen und Gelingen. Die verbrei-
                                                        tete Vorstellung vom Nichtstun im „Para-

                                                                                                       Der verschlossene Garten
                                                        dies“ – dieser Ausdruck kommt in Gen 1–2
                                                        gar nicht vor, er stammt vom persischen
                                                        pardes und bezeichnet in Neh 2,8 einen
                                                        königlichen Forst – ist nicht biblisch.        Der Garten ist auch ein wichtiges
                                                            Gott gibt noch zwei Anweisungen            Motiv im „Hohelied“, einer                    Diakon Michael
                                                        zum Gebrauch seiner wunderbaren Park-          besonderen literarischen                            Langer ist
                                                        anlage. Die erste, in Gen 2,16, gibt in äu­    Kostbarkeit im Alten Testament.                  Univ.-Prof. in
                                                        ßerster Freizügigkeit die Erträge aller Bäu-   Es handelt sich dabei um eine               Regensburg u. an
                                                        me zum Genießen frei. Diese allgemeine         Sammlung von Liedern zu einem                  der KPH Wien/
                                                        Erlaubnis wird im folgenden Vers 17 durch      Thema, das sich oft schwer in                 Krems. Er leitet
                                                        ein einziges Verbot ein klein wenig einge-     Worte fassen lässt: die Liebe. Der              den Lehrgang
                                                        schränkt. Beide zusammen bilden unser          Text spricht daher in zahlreichen           „Religion – Kultur
                                                        Leben ab: Wir haben riesige Räume der          Bildern, eines davon ist der                  – Spiritualität“.
                                                        Freiheit, zugleich aber müssen wir Gren-       „verschlossene Garten“. Michael
                                                        zen respektieren.                              Langer über eine Liebeserzählung            Trauer und Schmerz, Geborgenheit und
                                                            Die wörtliche Übersetzung des ver-         mit verschiedenen                           Verlassenheit. Eine Liebeserzählung mit
                                                        botenen „Baumes des Erkennens von Gut          Deutungsmöglichkeiten.                      knisternder Erotik, gemalt in den Bildern
                                                        und Böse“ ist fehlleitend. Was Gott damit                                                  überschäumender Natur. Die Schauplätze
                                                        untersagt, zeigt der folgende Zusammen-           „Ein verschlossener Garten ist meine     der Handlung sind die Stadt Jerusalem,
                                                        hang: Gott möchte nicht, dass der Mensch          Schwester Braut, ein verschlosse-        die Weinberge in der Gegend und schließ-
                                                        eigenmächtig entscheidet, was gut bzw.            ner Born, ein versiegelter Quell. An     lich der „hortus conclusus“ (lateinisch) –
                                                        schlecht ist, noch dazu gegen seine explizi­      deinen Wasserrinnen – ein Granat-        der „verschlossene Garten“.
                                                        te Anordnung. Genau das aber macht das            apfelhain mit köstlichen Früchten,            Die Deutung dieser Texte hat viele
                                                        erste Menschenpaar in Gen 3,6.                    Hennadolden samt Nardenblüten,           Facetten und Zugänge. Einige Exegeten
                                                                                                          Narde, Krokus, Gewürzrohr und Zimt,      neigen zu einer wörtlichen Interpretation:
                                                        Ein bleibend gültiges Angebot                     alle Weihrauchbäume, Myrrhe und          „Wie schön bist du und wie reizend, Liebe,
                                                        Das Verhalten von Eva und Adam bedeutet           Aloe, allerbester Balsam. Die Quelle     Tochter aller Wonnen! Wie eine Palme ist
                                                        einen herben Rückschlag für Gottes groß-          des Gartens bist du, ein Brunnen         dein Wuchs; deine Brüste sind wie Trau-
                                                        artiges Projekt des Wonne-Parks schon             lebendigen Wassers … Mein Ge-            ben. Ich sage: Ersteigen will ich die Palme,
                                                        gleich am Anfang. Zugleich lässt er erken-        liebter komme in seinen Garten           ich greife nach ihren Rispen.“ (Hld 7, 7-9)
                                                        nen, wer wie weiter darin verweilen darf:         und esse von seinen köstlichen           Unschwer lassen sich die erotischen und
                                                        Auf Gott hören und seinen Anweisungen             Früchten!“ (Hohelied 4, 12-16)           sexuellen Konnotationen erkennen. Sie
                                                        folgen ist die „Spielregel“, die allen, auch                                               verweisen auf einen leibhaften, zärtlichen
                                                        uns, den Zugang zu diesem Park und das         Mit diesen wundervollen Versen be-          und lebensbejahenden Glauben, zu dem
                                                        Verweilen in ihm immer öffnet.                 schreiben im Hohelied die Liebenden         der „verschlossene Garten“ im Hohelied
                                                                                                       ihre Sehnsucht und ihr Verlangen. Das       Mut machen will – über alle geschicht-
                                                                                                       Hohelied der Liebe ist ein Text von über-   lichen und gegenwärtigen Engführun-
                                                                                                       bordender Sinnlichkeit, dem sich auch       gen hinweg.
                                                                                                       nicht entziehen kann, wer ansonsten eher         Diese wörtliche Auslegung ist nicht
Fischer G: Christian Bargehr | Langer: Pavel Miklusak

                                                           P. Georg Fischer                            ein gebrochenes Verhältnis zur Lyrik hat.   unumstritten. Der Wiener Alttestament-
                                                              ist Jesuit und                           Seine große Bedeutung hat der Text aber     ler Ludger Schwienhorst-Schönberger hat
                                                              Professor am                             erst durch die Kanonisierung in der Bibel   dazu Wegweisendes erarbeitet. Schon ab
                                                         Institut für Bibel­                           erfahren, durch den Geltungsanspruch        dem zweiten Jahrhundert deutet das Ju-
                                                           wissen­schaften                             einer Offenbarungswahrheit, auf die der     dentum das Hohelied als Allegorie der
                                                           und Historische                             Text selber gar keinen Anspruch erhebt.     Liebe zwischen Jahwe und Israel. In der
                                                              Theologie der                            Ein menschliches Liebeslied in der Bibel,   christlichen Mystik des Mittelalters wer-
                                                            Uni Innsbruck.                             eine Erzählung von Sehnsucht und Glück,     den die Texte hingegen als Ausdruck ▶

                                                                                                                                            Pfarrblatt Dompfarre St. Stephan · Ostern 2022 5
Pfarrblatt - Der Mensch in Gottes Garten - Dompfarre St. Stephan
Der Mensch in Gottes Garten
  ▶ der Liebe Christi zur Kirche sowie          zes“ führen diese Bilder weiter. „Es ist ein
  zwischen Christus und Maria gelesen.          Ros’ entsprungen aus einer Wurzel zart“,
  Letzterer entspringt die in der bilden-       heißt es in einem Weihnachtslied. Wer
  den Kunst verbreitete Darstellung des         selber in seinem Garten Rosen pflegt,
  „Paradiesgärtlein“, der mit dem „Hortus       weiß welche Freude und welches Glück

                                                                                               Vor dem
  conclusus“ weithin identisch ist. Es lohnt    es auslöst, wenn im Frühjahr aus dem tro-
  sich, mit der Suchmaschine des Rechners       ckenen Holz die ersten Blätter sprießen bis
  im Internet die vielen wunderschönen          schließlich im Sommer die wunderschö-

                                                                                               Garten
  Bilder aus der christlichen Ikonographie      nen Blüten in allen möglichen Farben und
  anzusehen.                                    Formen herauskommen.

  Maria im Paradiesgärtlein                     Sehnsucht nach dem                             Die letzten entscheidenden
  Grundmotiv ist Maria mit dem Kind in          verlorenen Paradies                            Stunden vor seinem Tod verbringt
  einem eingezäunten Garten. Dieser ist         Der verschlossene Garten ist ein Ausdruck      Jesus in einem Garten. Während
  Raum des Schutzes und ein Ort der Freude      der Sehnsucht nach dem verlorenen Para-        die Evangelisten Markus,
  und Besinnung. Gelegentlich finden wir        dies. Davon zeugen nicht zuletzt die heute     Matthäus und Lukas die Angst
  im Garten auch ein Einhorn als Symbol         noch existierenden „Horti conclusi“, wie       und Einsamkeit Jesu in den
  für Christus. Maria ist meist umgeben         wir sie gelegentlich in Kreuzgängen, Kir-      Vordergrund stellen, wird im
  von musizierenden Engeln und Heiligen         chen, Klöstern, profanen Orten oder auch       Johannesevangelium der Garten
  und zahlreichen Pflanzen: Granatäpfel,        vereinzelt in Orientteppichen finden.          zu einem Ort der Freiheit, den die
  Akelei, Maiglöckchen, Iris u. a. Natürlich        Für viele Menschen ist ihr Garten –        Soldaten nicht betreten dürfen.
  auch Lilien als Symbol der Reinheit und       selbst wenn er noch so klein ist – der Ver-    Jesus ist nicht ein machtloses
  der Hingabe an Gott.                          such ein Paradies auf Erden zu schaffen.       Opfer, sondern er trifft bis zuletzt
      Wichtigste Blume im Paradiesgärt-         Ein zweckfreier Ort als Quelle der Schön-      die Entscheidung über sein Leben.
  lein aber ist die Rose als Strauch oder als   heit, der Inspiration und Ästhetik. Ein Ort,   Eine Betrachtung der biblischen
  Baum. Als „rosa mystica“, als „geheimnis-     wo wir „religio“ als Verbundenheit mit der     Texte von Wilhelm Bruners
  volle Rose“ wird Maria in der Lauretani-      Natur und dem Sein als Ganzes erfahren
  schen Litanei angerufen. Die „Rose ohne       können: Wir dürfen uns beschenken las-         Der Garten im „Tal der Entscheidung“
  Dornen“ oder die „Königin des Rosenkran-      sen und staunen.                               bleibt unberührt. Die Knechte der Macht
                                                                                               dürfen ihn nicht betreten. Mit seinem
                                                                                               Testament der Liebe und Nähe und einem
                                                                                               Gebet hat Jesus die Abschieds-Mahlfeier
                                                                                               beendet (Johannes 14-17). Danach geht er
                                                                                               „mit seinen Jüngern hinaus jenseits des
                                                                                               Winterbachs Kidron, wo ein Garten war.
                                                                                               In ihn hinein ging er mit seinen Jüngern“
                                                                                               (Joh 18,1).

                                                                                                                                                Das Paradiesgärtlein: Frankfurt am Main, Dauerleihgabe des Historischen Museums Frankfurt am Main
                                                                                                   Wichtige biblische Bezüge werden in
                                                                                               Erinnerung gerufen. Am Himmel leuch-
                                                                                               tet der erste Frühlingsvollmond. Das Ki-
                                                                                               drontal liegt im Licht. Der obere Teil des
                                                                                               Kidron-Tales am Fuß des Ölbergs wird Tal
                                                                                               Joshafat genannt (= „Ja’ richtet“; vgl. Joel
                                                                                               4; Sacharja 14). Nach prophetischer Über-
                                                                                               zeugung wird Gott einmal in diesem Tal
                                                                                               gegen alle Völker ringsum Krieg führen,
                                                                                               die gegen Israel, „mein Volk“, in den Krieg
                                                                                               gezogen sind. Ein Gerichtsort also, „denn
                                                                                               der Tag des Herrn ist nahe“! (vgl. Joel 4,14).
                                                                                                   „Jenseits des Winterbaches Kidron …“
  „Das Paradiesgärtlein“ von einem oberrheinischen Meister (um 1410/20)                        – das erinnert an eine Fluchtgeschichte:
  im Städel Museum in Frankfurt zeigt Maria und das Christuskind im                            David flieht vor seinem Sohn Abschalom,
  Paradies umgeben von Heiligen. 24 Pflanzen- und 12 Vogelarten sind präzise                   der ihn entmachten will. Er flieht über den
  identifizierbar, auch das Verhalten der Tiere ist kenntnisreich dargestellt.                 Kidronbach, steigt den Ölberg hinauf und

6 Pfarrblatt Dompfarre St. Stephan · Ostern 2022
Pfarrblatt - Der Mensch in Gottes Garten - Dompfarre St. Stephan
Jesus betet im Garten von Getsemani, während seine Lieblingsjünger
                                                                                                               schlafen. Gotische Darstellung in der Bartholomäuskapelle des Doms.

                                                                                               will die Steppe erreichen, wo er in Sicher-
                                                                                               heit ist (vgl. 2 Samuel 15,13-15.30; 16,14).
                                                                                               Auch Jesus geht diesen alten Fluchtweg
                                                                                               aus Jerusalem hinaus zum Ölberg. Of-
                                                                                               fenbar zögert er noch, sich den jüdischen
                                                                                               Behörden zu stellen. Doch dann unter-
                                                                                               bricht er den Gang, anders als David, und
                                                                                               betritt einen Garten, den freilich auch Ju-                rede des gesuchten
                                                                                               das kennt, „weil Jesus dort oft mit seinen                   vor dem garten
                                                                                               Jüngern zusammengekommen war“ (Joh
                                                                                               18,2). Bei der anschließenden Gefangen-                 wenn ihr mich sucht
                                                                                               nahme kommt Jesus den Knechten der                         sagt der ICH BIN
                                                                                               Macht zuvor. Er lässt sie den Garten nicht           lasst meine freunde gehen
                                                                                               betreten. Die Truppe, die ihn abholen will,
                                                                                               ist ausgestattet wie beim Gang zu einem              denn sie wissen noch nicht
                                                                                               Würdenträger – mit Fackeln, Laternen                        wer sie sind
                                                                                               und Waffen.                                         sie müssen sich noch finden

                                                                                               Vom „verfluchten“ Zustand                                       w. bruners
                                                                                               zu einem Ort der Freiheit
                                                                                               Die Last der Erkenntnis, die der Mensch
                                                                                               sich im ersten Garten der Bibel aneignet,
                                                                                               schleppt der Mensch von Anfang an durch
                                                                                               seine Geschichte. Sie ist zu groß für ihn.
                                                                                               Das Evangelium transformiert diesen „ver-
                                                                                               fluchten“ Zustand: Der Garten wird zum
                                                                                               Ort lebendiger Beziehungen. Der Ostergar-
                                                                                               ten wird schon vorbereitet. In ihm trifft die
                                                                                               Frau, Maria von Magdala, den Auferstan-          als freie Menschen gehen dürfen. Vermie-     der Passion „Opfer“. Er bleibt Handelnder:
                                                                                               denen. Im ersten Paradies musste Gott            den sind bei Jesus alle Zeichen von Angst    „Seht, der Mensch!“ (Joh 19, 5).
                                                                                               den Menschen suchen: Adam, wo bist du?           und Ohn-Macht. Völlig anders bei Markus,         Judas, der Jesus an die Sklaven der
                                                                                               (Genesis 3,9) Jetzt, vor dem Garten, suchen      Matthäus und Lukas, die Jesus in seiner      Macht ausgeliefert hat, ist in seinem
                                                                                               die Religions-Mächte Jesus (Wen sucht            Gebrochenheit, Einsamkeit und Angst          Ende eine dramatische Parallele zur Da-
                                                                                               ihr? Joh 18,4.7). Doch dieser „zweite Adam“      darstellen. Vielleicht sind die Synoptiker   vidgeschichte: Ahitofel, der mit Abscha-
Ölberg: Franz Josef Rupprecht/kathbild.at | Bruners: Br. Carsten OSA / Augustiner – Würzburg

                                                                                               versteckt sich nicht mehr im Garten. Auch        unserer kriegslauten Zeit näher. Das Jo-     lom gegen David gekämpft, dem er zuvor
                                                                                               muss er den Garten nicht fliehen. Er ver-        hannes-Evangelium beeindruckt dagegen        gedient hatte, erhängte sich, als er sah,
                                                                                               lässt ihn in Freiheit. Und stellt sich den Hä-   mit einem Jesus, der bis ins Sterben Sub-    dass sein Plan nicht aufgegangen war
                                                                                               schern mit göttlicher Identitätsformel: ich      jekt seines Handelns bleibt. Nie ist er in   (vgl. 2 Sam 17,23).
                                                                                               bin es … Dieses Wort hört Mose aus dem                                                            „Die Kohorte, ihr Oberst und die Amts-
                                                                                               Dornbusch. Dreimal lässt der Evangelist                                                       diener der Juden nahmen also Jesus
                                                                                               Jesus so sprechen (vgl. Exodus 3, 14).                                                        fest …“ (Joh 18,12). Die erste Vernehmung
                                                                                                   Im Ohr dieses gewaltige „ich bin“             Wilhelm Bruners                             findet vor Hannas statt, einem von Rom
                                                                                               weichen die Gerichtsdiener mit ihrer „ge-                ist Priester,                        abgesetzten Hohepriester – eine groteske
                                                                                               liehenen“ Identitäten zurück. Sie stürzen            arbeitet in der                          Situation, in der sich zwei Entmachtete
                                                                                               zu Boden. Ohne es zu wollen, machen sie             Exerzitien- und                           gegenüber stehen: der eine durch kaiser-
                                                                                               einen Fußfall, der nur einem Herrscher                   geistlichen                          liche Einmischung, der andere auf dem
                                                                                               zusteht (Joh 18,6). Jesus bestimmt in die-       Begleitung und ist                           Weg zur Vollendung seiner menschlich-
                                                                                               ser Passion das Geschehen. Er bestimmt,          für seine lyrischen                          göttlichen Würde – der gerichtete Richter.
                                                                                               dass die Jünger, die ihn begleitet haben,            Texte bekannt.                           Voll Hoheit.

                                                                                                                                                                                     Pfarrblatt Dompfarre St. Stephan · Ostern 2022 7
Pfarrblatt - Der Mensch in Gottes Garten - Dompfarre St. Stephan
Der Mensch in Gottes Garten
                                            Darstellung auf dem Ober-St.-Veiter Altar im Dom Museum
                                            Wien: Maria Magdalena begegnet dem Auferstandenen mit dem
                                            Spaten in der Hand und erkennt: er ist jener Gärtner, der alles
                                            Dunkel in ihr und die Wüste ihres Lebens zum Blühen bringt.

                                           Nichts ist, wie es war
                                            Im Johannesevangelium wird berichtet, dass an dem Ort der
                                            Kreuzigung ein Garten war, in dem Jesus bestattet wurde. So wie
                                            der Tod eines Menschen alles verändert, so auch die Begegnung
                                            von Maria Magdalena und dem vermeintlichen Gärtner, der sie bei
                                            ihrem Namen ruft. Gedanken von Maria Plankensteiner-Spiegel

                                            Mehrere Male haben wir als Familie             sind nicht mehr logisch verbunden. Etwas
                                            schon liebe Menschen begraben müs-             völlig Unerklärliches ist passiert.
                                            sen. Immer sind wir nach der Beerdigung            Die Männer in den weißen Gewän-

                                                                                                                                        Hans Schäufelein und Mitarbeiter der Dürer-Werkstatt, Ober-St.-Veiter Altar, 1504/05 – 1507. Dom Museum Wien, Leihgabe des Erzbistums Wien. Foto: Deinhardstein, Rastl. | Plankensteiner: Diözese Innsbruck
                                            am Abend noch einmal gemeinsam zum             dern fragen nach dem Grund ihrer Tränen.
                                            Friedhof gegangen, haben Kerzen in den         Endlich, möchte ich sagen, fragt jemand
                                            frischen Grabhügel gesteckt, gleichsam         nach ihren Gefühlen, nimmt sie in ihrer
                                            „Gute Nacht“ gesagt. Es war wie eine           Trauer ernst. Das tut auch der Mann, den
                                            Vergewisserung, dass der Mensch, der           sie für den Gärtner hält. Er nimmt Bezie-
                                            nicht mehr da ist, doch noch einen Platz       hung zu ihr auf und gibt ihr mit seinen
                                            unter uns hat.                                 Fragen den Raum, ihre Not zu formu-
                                                 Maria von Magdalas Reaktion nach          lieren. Er stülpt ihr nichts über, inter-
                                            den schrecklichen Ereignissen von Kreu-        pretiert nicht, sondern fragt. Sie nimmt
                                            zigung und Tod ist mir so nachvollziehbar:     das Angebot an, sie will wissen, wo der
                                            Sie läuft früh am Morgen zum Grab Jesu.        Körper von Jesus ist. Als Frau der Tat hat
                                            Geschockt, verlassen, rastlos, voller Sehn-    sie einen Plan, sie will ihn zurückholen,
                                            sucht zieht es sie hin zu dem Ort, an dem      wieder da haben.
                                            sie ihn zuletzt verlassen musste, weil der
                                            Sabbat begann.                                 Ich habe dich bei deinem
                                                 Und dann ist alles anders als erwartet:   Namen gerufen …
                                            Das Grab ist offen, Jesus ist nicht mehr da.   Dann geschieht dieser eine einzigartige
                                            Einfach weg.                                   Moment, der alles verändert. Jesus spricht
                                                 Nur die Leinenbinden liegen noch am       sie mit ihrem Namen an – und sie erkennt
                                            Boden. Die beiden Jünger, die Maria sofort     ihn, ihren Rabbuni. Was für eine Begeg-
                                            alarmiert, geraten in Bewegung. Die Män-       nung wird da geschildert, wie tief, wie
                                            ner laufen – um die Wette – zum Grab           überraschend! Ich fühle mich auch nach
                                            und sehen, was passiert ist. Wie Petrus
                                            darauf innerlich reagiert, bleibt offen. Vom
                                            „anderen Jünger“ sagt der Evangelist la-
                                            konisch: „Er sah und glaubte.“ Was genau
                                            glaubte er so unvermittelt? Es wird nicht
                                            benannt. Wirklich begriffen haben die bei-
                                            den Männer das Ereignis in dem Moment                       Maria
                                            wohl noch nicht. Ihre Bewegung führt sie          Plankensteiner-
                                            zurück nach Hause.                             Spiegel ist Leiterin
                                                 Da bleibt sie nun, Maria, allein mit       des Bischöflichen
                                            ihren Gefühlen und in ihrer Trauer. Nichts        Schulamtes der
                                            ist so, wie es sein sollte. Davor und Danach   Diözese Innsbruck.

8 Pfarrblatt Dompfarre St. Stephan · Ostern 2022
Pfarrblatt - Der Mensch in Gottes Garten - Dompfarre St. Stephan
Der Auferstandene und
                                                            Maria Magdalena,
                                                    Bild von Oskar Larsen, 1951

                                    mehr als 2000 Jahren berührt von der In-
                                    tensität des Augenblicks.
                                         Ein Name ist nicht nur irgendein Wort,
                                    das der Unterscheidung dient. Eltern den-
                                    ken oft monatelang über einen passenden
                                    Namen für ihr Kind nach und wählen ei-

                                                                                    »Sie meinte, es sei
                                    nen, der Bedeutung und Schutz verheißt.
                                    Beim eigenen Namen gerufen zu werden
                                    verspricht: Du bist gemeint, du als ganzer

                                                                                    der Gärtner.« (Joh 20,15)
                                    Mensch. Die Zusage Gottes an sein Volk
                                    klingt an: „Ich habe dich bei deinem Namen
                                    gerufen, du gehörst mir.“ (Jes. 43,1). Diese
                                    tiefe Beziehung wird spürbar, wenn der          Tod- und Auferstehung, Lebenslust und Lebensfrust, Leben in Fülle mit
                                    „Gärtner“ Maria bei ihrem Namen nennt.          allen Licht- und Schattenseiten: Allen Facetten des Lebens begegnet
                                    Sie antwortet mit dem höchsten Ehren-           man im Garten wie Maria von Magdala, die Jesus und das Leben
                                    titel, den ein Meister im Judentum haben        suchte und ihm im Garten begegnete. Von P. Johannes Pausch OSB
                                    konnte: Rabbuni. Sie weiß, wer da steht,
                                    und sie ahnt, welche unglaubliche Wirk-         „Wenn du Gott (das Leben in Fülle) erfah-      er wie bei Maria von Magdala. Wir wollen
                                    lichkeit da gerade in ihr Leben einbricht.      ren willst, dann musst du in den Garten        uns nicht gerne mit den Ursprüngen des
                                    Sie lässt es zu, dass ihre Erfahrungen völlig   gehen,“ sagte der Mönchsvater Pachomius        Gartens auseinandersetzen. Aber die Erde,
                                    auf den Kopf gestellt werden.                   († 346 n. Chr.) ein paar Jahrhunderte, nach-   in die wir hineingestellt werden, ist nicht
                                         Jesus ist radikal wieder da – und zu-      dem Maria von Magdala Jesus nach seiner        nur am Anfang, sondern immer wieder
                                    gleich radikal anders. Der Wunsch, ihn          Auferstehung im Garten beim leeren Grab        einmal „wüst und leer“. Es erfordert ein
                                    zu „haben“, zu halten, zu spüren, dieser        begegnet ist. Zu allen Zeiten, auch heute,     gehöriges Potenzial an Vertrauen, um zu
                                    Wunsch taugt nicht mehr. Maria muss ihn         ist der Garten ein Ort der Lebenserfahrung.    glauben, dass überall „der Geist Gottes
                                    loslassen, kann ihn nicht mehr berühren         Die Geschichten der Auferstehung und des       über dem Chaos“ schwebt.
                                    wie früher. Nach der dramatischen Erfah-        Lebens gleichen sich immer und spielen             Zu dieser Erfahrung gehört der Mist-
                                    rung des Verlustes, des Scheiterns beginnt      sich oft im Garten ab.                         haufen, der Komposthaufen und die
                                    eine völlig neue Art der Beziehung – und                                                       Trockenheit der Wüste ebenso wie die
                                    Maria ist in ihrer Offenheit eine Kronzeu-      Das Leben beginnt im                           Hoffnung und die Sehnsucht, dass sich
                                    gin dafür. Mit ihr erleben wir, was auf-ste-    Dunkel der Erde                                alles verwandeln kann und das Leben im
                                    hen, auf-er-stehen heißen kann. Mit ihr         Dabei ist es meistens nicht der blühende       Kleinen aufbricht – manchmal mit vielen
Franz Josef Rupprecht/kathbild.at

                                    werden wir bei unserem Namen gerufen.           Heilpflanzengarten, mit dem das Leben          Tränen der Trauer und der Hoffnungslosig-
                                    Sie nimmt uns mit in ihre Bereitschaft, das     beginnt, sondern die Dunkelheit der Erde,      keit. Sie werden dann oft zur Quelle des
                                    völlig Unmögliche zu glauben.                   die Trockenheit der Wüste, die Verzweif-       Lebens, wie der erste Frühjahrsregen auf
                                         Nichts ist mehr, wie es war, alles ist     lung in einem Sumpf oder eben die hoff-        das vertrocknete Erdreich. Einen Garten,
                                    anders, alles ist neu: Jesus lebt.              nungslose Suche und die Tränen der Trau-       ganz gleich wie groß oder klein er ▶

                                                                                                                           Pfarrblatt Dompfarre St. Stephan · Ostern 2022 9
Pfarrblatt - Der Mensch in Gottes Garten - Dompfarre St. Stephan
Der Mensch in Gottes Garten
   ▶ ist, anzulegen oder ihn im Frühjahr
   wieder zu bestellen, ist eine wirkliche
   Auferstehungserfahrung. Zu den schreck-              P. Johannes
   lichsten Wüstenerfahrungen gehören                     Pausch ist
   Krankheit und Tod, vor allem das Sterben        Benediktiner im
   eines geliebten Menschen. In einer sol-       Europakloster Gut
   chen Erfahrung trotzdem auf der Suche          Aich und psycho­
   nach dem Leben zu bleiben, zeigen uns die       thera­peu­tischer
   Geschichten von der Auferstehung Jesu           Leiter des Hilde­
   mit Maria, den Aposteln und den vielen           gard­zentrums.
   Menschen, die bisher auch durch diese
   Erfahrungen zum Leben gefunden haben.         geschenkte Leben miteinander zu teilen.
                                                 Das ist die Botschaft der Auferstehung.
   Unser „Seelengarten“
   Wir brauchen dazu unseren Garten, ganz        Heilpflanzen und „Migranten“
   gleich, wo er sein mag. Wir brauchen dazu     Und dann werden wir schauen und stau-
   aber auch unseren „Seelengarten“, weil        nen, welche Fülle sich in so einem Garten
   dieser wie ein wirklicher Garten die Er-      finden lässt. Wir müssen sehr sorgsam
   fahrung der Fülle des Lebens vermitteln       mit dem umgehen, was dort alles wächst.
   kann. In diesem Garten gibt es den Mist-      Vieles, was wir für Unkraut gehalten ha-
   haufen, die dunkle Erde, das Scheitern        ben, entpuppt sich als segensreiche Heil-
   und den Misserfolg, die Schädlinge und        pflanze, die wir bisher nicht beachtet ha-
   die Schnecken, das Grab genauso wie           ben: vom Gänseblümchen angefangen
   die Hoffnung und Zuversicht, die Freude,      bis zum Löwenzahn. Viele Pflanzen, die
   das Aufblühen und die Erfüllung unserer       wir wie selbstverständlich als „Einhei-
   Sehnsucht.                                    mische“ angesehen haben – wie Salbei,
       Das ist umso leichter, je mehr wir in     Rosmarin und Thymian – sind eigentlich

                                                                                              #MeToo –
   Beziehung treten zu uns selbst und den        „Migranten“, die wir aus anderen Ländern
   Menschen, zur Natur und zur Schöpfung         aufgenommen und integriert haben. Jetzt
   – und natürlich zu Gott. Die Ostererfah-      erfreuen und erhalten sie nicht nur Leib

                                                                                              in einem
   rung endet nicht bei der großen Schau des     und Seele gesund, sondern sind Teil unse-
   auferstandenen Jesus Christus, sondern        res Lebens geworden.
   führt immer hin zur alten und neuen Er-           Manchmal meinen wir, dass wir

                                                                                              Garten von
   fahrung der lebendigen Gemeinde, mit          nur irgendeinen Menschen sehen, den
   dem Auftrag, das Leben zu verkünden und       Gärtner, wie Maria von Magdala. Dabei
   miteinander zu teilen.                        begegnen wir in unserem Lebensgarten

                                                                                              Babylon
       Ein Garten ist nie Selbstzweck oder ein   dem Auferstandenen, der uns sagt: „Geh’
   Ort, an dem ich meine Neurosen kultivie-      zu meinen Schwestern und Brüdern und
   ren kann. Ein Garten ist immer ein Ort, das   sag’ ihnen …“
                                                                                              Dass Machtkonzentration leicht
                                                                                              zu Missbrauch führen kann, ist
                                                                                              nicht neu. Die biblische Erzählung
                                                 Sonnenblumen sind                            von „Susanna im Bade“ hat an
                                                                                                                                            Fotoarchiv Kloster Gut Aich | Schlussstein: Domarchiv St. Stephan

                                                 immer der Sonne                              Aktualität nicht verloren. Aber
                                                 zugewandt – ein                              auch nicht die Botschaft dieses
                                                 schönes Bild für                             Textes: Gott steht auf der Seite
                                                 den Menschen,                                der Opfer. Von Irmtraud Fischer
                                                 der sich stets an
                                                 Gott ausrichtet.                             Gärten sind im Alten Orient eine Beson-
                                                 (Sonnenblume als                             derheit. Meist dem König oder sehr rei-
                                                 Schlussstein über                            chen Leuten vorbehalten und wohlgehü-
                                                 dem Neidhartgrab                             tet hinter Mauern versteckt sind sie in den
                                                 an der Außenseite                            glutheißen Sommern intime Paradiese
                                                 des Doms, 1430)                              mit Schatten spendendem Baumbestand.

10 Pfarrblatt Dompfarre St. Stephan · Ostern 2022
Susanna und die beiden Alten, Darstellung von Rembrandt 1647

                                                                                                                                                                      muss, stürzen auf sie zu und versuchen          sie nun gemeinsam sexuell denunzieren
                                                                                                                                                                      gar nicht erst, sie zu umwerben, sondern        und dreist über sie richten.
                                                                                                                                                                      drohen ihr sofort:                                  Blaming the victim ist bis heute die
                                                                                                                                                                          „Das Gartentor ist verschlossen und         Strategie mächtiger Männer, die umso
                                                                                                                                                                      niemand sieht uns; wir sind voll Begierde       stärker zusammenhalten, desto mehr
                                                                                                                                                                      nach dir: Sei uns zu Willen und gib dich        das Verbrechen sie verbindet. Das Opfer
                                                                                                                                                                      uns hin! Weigerst du dich, dann bezeugen        hat keine Chance, mit seiner Version des
                                                                                                                                                                      wir gegen dich, dass ein junger Mann bei        Tathergangs Glauben zu finden. Susan-
                                                                                                                                                                      dir war und dass du deshalb die Mädchen         na wird nicht nur in aller Öffentlichkeit zu
                                                                                                                                                                      weggeschickt hast.“                             Unrecht angeklagt und damit ihrer Ehre
                                                                                                                                                                                                                      beraubt, sondern auch noch auf Betrei-
                                                                                                                                                                      Rechtslücke im Gerichtsverfahren                ben der beiden Lüstlinge entkleidet und
                                                                                                                                                                      Um die Tragweite dieser Rede ermessen           damit in des Wortes wahrster Bedeutung
                                                                                                                                                                      zu können, muss man wissen, dass es im          bloßgestellt.
                                                                                                                                                                      damaligen Rechtssystem keine Gewalten-
                                                                                                                                                                      teilung gab. Ein Richter konnte gleich-         Gott steht auf der Seite der
                                                                                                                                                                      zeitig Anklage erheben und Zeuge im             Recht- und Machtlosen
                                                                                                                                                                      Prozess sein. Auch wenn durch die Zwei-         Das einzige, was der Frau im Angesicht
                                                                                                                                                                      zeugenregel der Willkür Einhalt geboten         ihrer weinenden Familie übrigbleibt, ist
                                                                                                                                                                      wurde, und man bei falscher Anklage und         das Gebet – und dieses wird erhört. Gott
                                                                                                                                                                      Zeugnis die Strafe zu erwarten hatte, die       schickt den jungen Daniel, der die beiden
                                                                                                                                                                      auf dem angeklagten Delikt stand (vgl.          Falschzeugen, die das Volk zum Justizirr-
                                                                                                                                                                      Deuteronomium 19,15-21), zeigt Daniel 13,       tum zu verleiten versuchten, getrennt ver-
                                                                                                                                                                      dass es bei verbrecherischer Absprache          hört und damit das Verbrechen aufdeckt.
                                                                                                                                                                      auch damals keine Rechtssicherheit gab.         Die Geschichte ist ungewöhnlich scharf
                                                                                                                             Einen solchen verschlossenen Garten      Die Susanna-Erzählung gehört zu jenen           in ihrer Hierarchiekritik: Den Männern an
                                                                                                                         stellt das griechische Danielbuch in der     großartigen Texten, die narrativ eine be-       der Macht fehlt jegliche Moral. Ethisches
                                                                                                                         in unserer Bibel abgedruckten Theodo-        stehende Rechtslücke im Gerichtsverfah-         und beherztes Handeln ist bei jenen zu
                                                                                                                         tionversion als Besitz des Patriarchen       ren aufzeigen und damit neues Rechts-           finden, die von der Leitung der Gemein-
                                                                                                                         Jojakim vor. Er sitzt im Ältestenrat, der    bewusstsein schaffen (vgl. 2 Samuel 11: in      schaft ausgeschlossen sind: bei den Frau-
                                                                                                                         über die Angelegenheiten der Gemeinde        der Stadt sei nach Dtn 22,23-27 keine Ver-      en und bei den Jungen.
                                                                                                                         zu befinden hat und Rechtsprechungs-         gewaltigung möglich; Beispielserzählung
Susanna und die beiden Alten, 1647 © Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie / Christoph Schmidt | Fischer: privat

                                                                                                                         kompetenz besitzt. Offenkundig tagt          zum Begehrensverbot: Nabots Weinberg                      Weiterführende Literatur von der
                                                                                                                         dieses Gremium öfter im Hause Joja-          in 1 Kön 21).                                       Autorin: Liebe, Laster, Lust und Leiden.
                                                                                                                         kims, denn zwei seiner Mitglieder wer-                                                            Sexualität im Alten Testament, Theo­
                                                                                                                         fen dabei ihre begehrlichen Augen auf        Blaming the victim – das Opfer                         logische Interventionen 5, Stuttgart
                                                                                                                         seine Frau Susanna. Als sie einander beim    wird als Täter hingestellt                            2021; Die toratreue Susanna schämt
                                                                                                                         verbotenen Begehren ertappen, halten         In Anbetracht der ausweglosen Situation               sich ihrer Nacktheit nicht. „Susanna
                                                                                                                         sie sich jedoch nicht gegenseitig davon      entscheidet sich Susanna völlig rational              ohne Scham“ im Kontext der abend­
                                                                                                                         ab, sondern schmieden einen Plan, die        für die Ethik der Tora: Sie wird zwar die               ländischen Malerei, in: Die Bibel in
                                                                                                                         Frau ihres Gastgebers in ihrem eigenen       sexuelle Denunziation der beiden als Zeu-                der Kunst/Bible in the Arts 5, 2021.
                                                                                                                         Garten abzupassen und sie gemeinsam          gen auftretenden Richter nicht überleben,
                                                                                                                         zum Beischlaf zu zwingen.                    aber sie fühlt sich in dieser Situation nicht
                                                                                                                             Als Susanna im Garten ein Bad neh-       einer autoritätshörigen Gesellschaft ver-
                                                                                                                         men will und ihre Begleiterinnen nach        pflichtet, sondern allein ihrem Gott, der
                                                                                                                         den entsprechenden Utensilien schickt,       um ihre Unschuld weiß. Als sie um Hilfe
                                                                                                                         ordnet sie explizit die Verriegelung des     zu schreien beginnt, schreien auch die            Irmtraud Fischer
                                                                                                                         Gartentores an. Sie weiß nicht, dass die     ehebrecherischen Ältesten. Aber nicht ihr,       ist Professorin für
                                                                                                                         beiden Männer sie bereits hinter den Bü-     sondern den beiden schenkt man Gehör.              Altes Testament
                                                                                                                         schen beobachten und die Situation so-       Sie bezichtigen die völlig unbescholtene        an der Universität
                                                                                                                         fort ausnutzen. Die Ältesten, die man sich   Frau wie angekündigt des Ehebruchs               Graz und Autorin
                                                                                                                         keineswegs als alte Männer vorstellen        und zerren sie vor das Gericht, vor dem         zahlreicher Bücher.

                                                                                                                                                                                                              Pfarrblatt Dompfarre St. Stephan · Ostern 2022 11
Der Mensch in Gottes Garten

   Der Stephansdom als Paradiesgarten
   Die Größe und Architektur der Domkirche St. Stephan kann auf manch einen Besucher
   überwältigend wirken. Es ist aber auch lohnend, sich in das Kleine, Unscheinbare und Zarte
   zu vertiefen. Die vielen, oft unbemerkten Details, die auch große Symbolkraft haben: die
   Pflanzen des Paradieses, die den Dom zu einem Garten werden lassen. Von Johann Hisch

   Wer den Dom zu St. Stephan von der Ferne                                                  mal zu Statuen-Konsolen auswachsend,
   her sieht, sieht den hochragenden Süd-                                                    um den Heiligen einen richtigen Stand-
   turm und die vielen Fialen (Türmchen)                                                     punkt zu geben. So drückt sich aus, dass
   und Wimperge (Ziergiebel) mit den mar-                                                    schon die Heiligen aus diesem Weinstock
   kanten Krabben. Das Ornamentband un-                                                      entsprungen sind und mit und durch
   ter der Dachtraufe zeigt das fünfzackige                                                  Christus zur Herrlichkeit des Himmels
   Weinlaub in vielfältiger Ausprägung. Das                                                  emporgehoben wurden.
   ist der Hinweis, dass der Dom die Heim-
   stätte des Weinstockes ist, von dem Jesus                                                 Der Weinstock und die Reben
   sagte „Ich bin der Weinstock und ihr seid                                                 An vielen Stellen zeigt der Weinstock sei-
   die Reben“ (Johannesevangelium 15). Aber                                                  ne Frucht an, die zum Wein als Frucht der
   es ist beileibe nicht ein einzelner Wein-                                                 Erde und der menschlichen Arbeit in der
   stock – es ist ein riesiger Weingarten, wie                                               Feier der Eucharistie zum Blut Christi wird
   das Volk Israel im Psalm 80 beschrieben                                                   (Markus 14,22ff). Es ist im Brot und Wein
   wird: Der Weingarten breitet sich bis zum                                                 der Gedanke der Hingabe, der als Wand-
   Ufer des (Mittel-)Meeres aus.                                                             lung des eigenen Selbst für die anderen
        Eine mittelalterliche Legendenversi-                                                 dahinter steht.
   on (Legenda aurea) zur Kreuzauffindung                                                        Dies ist der Inbegriff des Geheimnis-
   schildert den Weinstock als Paradiesbaum       Rose in der Hand des Jesuskindes – Aus­    ses des Lebens, das zum Geheimnis des
   und sieht auf verschlungene Weise ihn als      schnitt aus dem Marienbild Maria Pócs.     Glaubens wird. In diesem Bild des Wein-
   Kreuzesbaum Christi. Die Formen des Ast-                                                  stocks mit den vielen Formen als Krabben,
                                                                                                                                           Weinlaub: Unser Stephansdom | Domarchiv St. Stephan

   kreuzes deuten darauf hin. Man muss nur        ergeben und die Decke und das Dach tra-    Fialen oder Wimperge können sich alle
   einmal genau schauen – oder: Man sieht         gen. Im Deckengewölbe ranken sich die      Gläubigen wiederfinden: Wo stehe ich?
   nur, was man weiß. Und mit diesem Blick        Reben in der Mitte zu einem vielfältigen   Welches Blatt möchte ich sein? Wofür
   ist der Stephansdom ein Paradiesgarten.        Geflecht als Rippengewölbe zusammen.       setze ich mich ein?
        So ist der Eintritt in den Dom schon      Die Pfeiler sind Säulenbündel, wie der
   geprägt von der Erwartung, wie sich der        Weinstock im Hochmittelalter als Stock-    Walderdbeere – Heilpflanze
   Weinstock im Inneren entfaltet. Es sind        kultur gepflegt wurde. Sie erwachsen aus   und Paradiesspeise
   die Pfeiler und die Silenen, die entlang der   dem Boden und werden durch die Kunst       Der Blick wird nun gefangen durch die
   Seitenwände das Gegenüber der Pfeiler          der Winzer zusammen gebunden, manch-       bunten Glasfenster, insbesondere die

12 Pfarrblatt Dompfarre St. Stephan · Ostern 2022
Maßwerke, die noch zu einem Gutteil aus                                                         Die Autoren
                                                                         dem Mittelalter stammen. Es finden sich                                                         Dr. Maria Hildegard Renate Brem OCist, Äbtissin von
                                                                                                                                                                             Mariastern-Gwiggen
                                                                         viele Pflanzen, die in dieser Zeit als Heil-                                                    Dr. Wilhelm Bruners, Priester, Exerzitienbegleiter,
                                                                                                                                                                             Lyriker, Buchautor
                                                                         pflanzen und Paradiespflanzen bekannt                                                           Sigi Czychowski, Leiterin der Pfarrcaritas St. Stephan
                                                                         waren und überall als Symbole einge-                                                            Mag. Christian Domany, Präsident Hilfswerk Inter­
                                                                                                                                                                             national
                                                                         setzt wurden.                                                                                   Mag. Karin Domany, Religionspädagogin in Pens., PGR
                                                                                                                                                                             St. Stephan
                                                                             Am häufigsten zeigt sich die Walderd-                                                       Toni Faber, Dompfarrer von St. Stephan
                                                                         beere – fragaria vesca. Sie war die Form                                                        O. Univ.-Prof. Dr. Georg Fischer SJ, Inst. für Bibel­
                                                                                                                                                                             wissenschaften und Historische Theologie, Kath.-
                                                                         der Erdbeere, wie sie bis in das 16. Jahr-                                                          Theol. Fak. Universität Innsbruck
                                                                                                                                                                         Univ. Prof. Dr. theol. Dr. phil. h.c. Irmtraud Fischer, Institut
                                                                         hundert bekannt war. Die Walderdbeere                                                               für alttestamentliche Bibelwissenschaft, Kath.-
                                                                         hat dreigliedrige Blätter, eine fünfblättrige                                                       Theol. Fak. Universität Graz
                                                                                                                                                                         Ing. Robert Fitzthum, Kammerdirektor Landwirt­
                                                                         Blüte und eine tropfenförmige Frucht. So                                                            schaftskammer Wien
                                                                                                                                                                         Mag. rer.soc.oec. Mag. art Astrid Friedl DGKP, Künst­
                                                                         soll das dreigliedrige Blatt auf die Dreifal-                                                       lerin
                                                                         tigkeit hinweisen und die Fünf-Zahl der                                                         Reinhard H. Gruber MA, Domarchivar von St. Stephan
                                                                                                                                                                         Eva Maria Hartleb, Gärtnerin und Floristin
                                                                         Blütenblätter soll auf die fünf Wundma-                                                         Mag. Dr. Elisabeth Hilscher, Musikwissenschafterin,
                                                                                                                                                                             Mitarbeiterin der Österreichischen Akademie der
                                                                         le Christi deuten. Die Frucht ist eine rote                                                         Wissenschaften
                                                                         Beere, die wie der letzte Blutstropfen aus                                                      HR Dr. Johann Hisch, Initiator und Ehrenpräsident des
                                                                                                                                                                             „Internationalen Bildungsnetzwerkes PILGRIM“
                                                                         der Seitenwunde Christi kommt. Auch                                                             P. Mag. Michael Hüttl OSB, Prior im Stift Altenburg,
                                                                                                                                                                             Pfarrer in Maria Dreieichen, Dechant im Dekanat
                                                                         dachte man im Mittelalter, dass die Erd-                                                            Horn
                                                                         beere die Speise für die kleinen Kinder im                                                      Dr. Egon Kapellari, Bischof von Graz-Seckau em.
                                                                                                                                                                         Univ. Prof. Dr. Franz Kerschbaum, Institut für Astro­
                                                                         Paradies wäre.                                                                                      physik der Universität Wien
                                                                                                                                                                         Daniel Klas, Regionalmanager Ostösterreich von Acker
                                                                             Wegen des Duftes der Blätter kann ein                                                           Österreich gemeinnützige GmbH
                                                                         Tee daraus seelische Krankheiten heilen.                                                        Univ. Prof. DDr. Michael Langer, Professor der Universi­
                                                                                                                                                                             tät Regensburg und der KPH Wien-Krems, Diakon
                                                                         So empfiehlt ein altes Kirchenlied, sich                                                            der Erzdiözese München und Freising
                                                                                                                                                                         Dr. Katharina Lapin, Leiterin des Instituts Waldbio­
                                                                         an Christus als „den Arzt der Seelenwun-                                                            diversität & Naturschutz, Bundesforschungs- und
                                                                         den, der dem Schwachen Stärke gibt“                                                                 Ausbildungszentrum für Wald, Naturgefahren und
                                                                                                                                                                             Landschaft (BFW)
                                                                         zu wenden.                                                                                      DI Dr. Christoph Leditznig, Geschäftsführer der
                                                                                                                                                                             Schutzgebietsverwaltung Wildnisgebiet Dürrens­
                                                                             In diesem Sinn zeigt sich hier eine                                                             tein-Lassingtal
                                                                         Kurzfassung des Glaubensbekenntnisses,                                                          Martin Leutgeb, Schauspieler und Regisseur
                                                                                                                                                                         Ana Lucic BEd, Pädagogin an der pVS Judenplatz
                                                                         wie sie auch in der freien Natur wieder                                                         DI Brigitte Mang, Fachexpertin für historische Gärten
                                                                                                                                                                             und Gartendenkmalpflege
                                                                         gefunden werden kann und als Hilfe zum          Sorge für die Schöpfung                         Marktamt Wien
                                                                         Glauben dienen kann.                            Ich stehe mitten im Dom und spüre, dass         Mag. Dr. Ulrike Mursch-Edlmayr, Präsidentin der
                                                                                                                                                                             Österreichischen Apothekerkammer
                                                                                                                         ich mitten im Paradies stehe. Es ergreift       P. Dr. Johannes Pausch OSB, Europakloster Gut Aich,
                                                                                                                                                                             psychotherapeutischer Leiter des Hildegard­
                                                                         Die Rose                                        mich eine tiefe Sehnsucht, dies ins Heute           zentrums
                                                                         Eine besondere Stellung nimmt die Rose          zu übertragen und für die Schöpfung Sor-        Karl Ploberger, Biogärtner, ORF-Moderator, Buchautor
                                                                                                                                                                         Univ.-Prof. (emer.) Dr. mult. Hilarion G. Petzold,
                                                                         ein. Im Apostelchor ist die Rosenblüte          ge zu tragen. Ein Versprechen, eine Hilfe           Landwirt, Psychologe, Philosoph, Psychotherapeut,
                                                                                                                                                                             Leiter der „Europäischen Akademie für biopsycho­
                                                                         Mittelpunkt des Maßwerkes in Richtung           zum Umsetzen der paradiesischen Vision              soziale Gesundheit, Naturtherapien und Kreativi­
                                                                         nach Osten. Es spiegelt die Fünf-Zahl der       im täglichen Leben.                                 tätsförderung“
                                                                                                                                                                         Mag. Romy Seidl, ORF-Journalistin, Moderatorin
                                                                         Blütenblätter wider, was im Mittelalter als         So spricht es Papst Franziskus in der       Mag. Maria Plankensteiner-Spiegel, MAS, Leiterin des
                                                                                                                                                                             Bischöflichen Schulamtes der Diözese Innsbruck
                                                                         Symbol des Heiligen Geistes verstanden          Enzyklika Laudato Si’ aus: Die Sorge für die    Martina Prela BEd, Pädagogin an der pVS Judenplatz
                                                                         wurde. Es könnte wohl auch der biblische        Schöpfung als das gemeinsame Haus. Eine         Dr. Johanna Schwanberg, Direktorin Dom Museum
                                                                                                                                                                             Wien
                                                                         Dornenbusch gewesen sein, eine Rosacea.         Einladung zu einem verantwortungsvollen         Mag. Birgit Staudinger, Redaktionsleiterin
Weinlaub: Unser Stephansdom | Hisch: Franz Josef Rupprecht/kathbild.at

                                                                                                                                                                         Thomas Stipsits, Kabarettist, Schauspieler, Buchautor
                                                                             Das Bild der Maria beim Maria Pócs-         Leben mit allen Mitgeschöpfen …                 Nikolaus Stockert, Pensionist
                                                                         Altar zeigt in der Hand des kleinen Jesus                                                       Mag. Ernst Wally, Domorganist zu St. Stephan
                                                                                                                                                                         Ing. Rainer Weisgram, Stadtgartendirektor der Stadt
                                                                         eine Blüte: die Rosa Mystica. In der Laure-                                                         Wien
                                                                         tanischen Litanei ein Attribut für Maria,            Johann Hisch,
                                                                         ein Bild für die Kirche aber auch als Sym-           ehem. Dir. des                             Redaktion
                                                                         bol der Liebe Christi zur Kirche.                 Religions­pädag.                              Redaktionsleitung: Mag. Birgit Staudinger
                                                                                                                                                                         Lektorat: Mag. Karin ­Domany, Reinhard H.
                                                                             Die Struktur der Blätter und Blüten         Instituts Wien, ist                                Gruber MA, Mag. Barbara Masin MA,
                                                                                                                                                                            Daniela ­Tollmann
                                                                         haben die Bauleute zum Bau und für die          Initiator u. Ehren­                             Redaktionsteam: Dompfarrer Toni Faber, Diakon
                                                                         Gestaltung der Maßwerke in den Fenstern               präsident des                                  Ing. Erwin Boff, Mag. Karin Domany, Mag. Heinrich
                                                                                                                                                                            ­Foglar-Deinhardstein, ­Reinhard H. Gruber MA,
                                                                         angeregt. So gibt es noch viele Blumen, die      „Inter­natio­nalen                                Anneliese ­Höbart, unter der Mitarbeit von
                                                                                                                                                                             ­Christian Herrlich MA
                                                                         einiges zu erzählen hätten – nämlich zum             Bildungs­netz­
                                                                         Dom als Paradiesgarten.                          werkes PILGRIM“.

                                                                                                                                                                Pfarrblatt Dompfarre St. Stephan · Ostern 2022 13
Der Mensch in Gottes Garten
                                                                                             gefunden. Die meisten aufgenommenen
       Eine Mauerraute                                                                       Gehölzarten sind Pioniergehölze der Gat-
       zwischen den                                                                          tung Populus (Pappel). Am Nord-Ost-Dach
       Dachziegeln …                                                                         des Stephansdoms wurde ein 84 cm hoher
                                                                                             Sommerflieder (Buddleja davidii) in einer
                                                                                             Dachkehle gefunden. Das aus Asien stam-
                                                                                             mende Gehölz, das man eher aus unse-
                                                                                             ren Gärten kennt, war reich verzweigt
                                                                                             und hatte bereits Rispen und Samen
                                                                                             ausgebildet.

                                                                                             Schäden
                                                                                             Zu den durch Wurzelwuchs entstande-
                                                                                             nen Schäden zählen schadhafte oder
                                                                                             gar fehlende Ziegel und Absplitterungen
                                                                                             der Keramik oder Farbe. Die Wurzeln der
                                                                                             Farne werden durch die Kante der Dach-
                                                                                             schindeln vor dem Regenwasserabfluss

  Was wächst am Dach
                                                                                             geschützt. Die Gehölze können sich vor
                                                                                             allem in windgeschützten Bereichen mit
                                                                                             geringeren Strahlungs- und Temperatur-

  des Stephansdoms?
                                                                                             verhältnissen sowie Dachkehlen mit hö-
                                                                                             herer Wasserverfügbarkeit ansiedeln.
                                                                                                 Für die nachhaltige Erhaltung des
   Im Rahmen eines Forschungsprojektes wurde die Vegetation, die                             historischen Domdaches ist es wichtig,
   regelmäßig sehr aufwendig von der steilen Dachfläche der Domkirche                        ein regelmäßiges Monitoring der gesam-
   manuell entfernt werden muss, einmal genauer untersucht. Katharina                        ten Dachfläche durchzuführen und den
   Lapin über Sommerflieder und Pappelbäume in luftigen Höhen                                Bewuchs in einem sehr frühen Entwick-
                                                                                             lungsstadium manuell, ohne den Einsatz
   Die Domkirche St. Stephan zu Wien ist             Die 2570 m² große Dachfläche ist ein    von chemischen Mitteln zu entfernen.
   nicht nur eines der Wahrzeichen Wiens,        untypisches Untersuchungsgebiet, das
   sondern auch ein bedeutender Teil des         durch seine Architektur eine einzigartige                               … und eine
   Weltkulturerbes. Die nachhaltige Erhal-       Forschungsfläche darstellt. Mit seinen                               Silberpappel,
   tung von historischem Kulturgut ist daher     230.000 bunten Dachziegeln stellt das                              die bereits eine
   von lokaler, nationaler und internationaler   Dach eines der auffälligsten Charakte-                           Größe von 135 cm
   Bedeutung. Im Rahmen der letzten Begut-       ristika des gotischen Bauwerks dar. Das                                erlangt hat
   achtung des Zustands der Nordost-Seite        Pflanzenvorkommen konzentriert sich in
   des Stephansdoms (im Jahr 2017) wurde         den Fugen, zwischen und unter den Dach-
   auch die Vegetation untersucht, die sich      schindeln. In den Fugen sammelt sich or-
   spontan in den Fugen etabliert hat. Jene      ganisches und anorganisches Material,
   muss entfernt werden, um das historische      das angeweht und in Folge durch Regen
   Bauwerk vor Wurzelwuchs und Feuchtig-         das Dach hinab gespült wird.
   keit zu schützen.
                                                 14 verschiedene Pflanzenarten
                                                 Im Zuge der Aufnahmen wurden am Nord-
     Katharina Lapin                             Ost-Dach des Stephansdoms 14 Pflanzen-
       ist Leiterin des                          arten aus sieben Familien gefunden. Die
      Instituts Wald­                            häufigste Art ist Asplenium ruta-muraria
         biodiversität                           (Mauerraute), die ausschließlich jene Fu-
      & Naturschutz                              gen zwischen den Dachziegeln besiedelt,
          des Bundes­                            in denen sich angewehtes Sediment an-
          forschungs­                            gesammelt hat. In den ausgewachsenen
                                                                                                                                         Katharina Lapin

         zen­trums für                           Individuen wurden Pferdehaare und Zie-
          Wald (BFW).                            gelsplitter sowie andere Pflanzensamen

14 Pfarrblatt Dompfarre St. Stephan · Ostern 2022
Am Anfang war die Wüste – auch für              Der Kreuzganggarten ist unser ältes-

                                                            Zuhause                                        die Mönche in Europa. Die weiten Gebie-
                                                                                                           te des teilweise fast undurchdringlichen
                                                                                                                                                           ter Garten und befindet sich inmitten der
                                                                                                                                                           Ausgrabungen des mittelalterlichen Klos-

                                                            im Garten
                                                                                                           Nordwaldes waren die Wüste des Abend-           ters im Zentrum der Anlage.
                                                                                                           landes. Rodungen und die Kultivierung               Der Schöpfungsgarten, unmittelbar
                                                                                                           des Landes schufen Lebensraum.                  neben der Kirche gelegen, nimmt zentrale

                                                            Gottes
                                                                                                               In seiner Mönchsregel gibt der heilige      schöpfungstheologische Begriffe in den
                                                                                                           Benedikt ein Rahmenprogramm vor, das            Blick und führt in die reiche Bilderwelt der
                                                                                                           mitten im Chaos einen Kosmos schaffen           Bibel. Diesen Garten haben wir ganz neu
                                                                                                           soll. Ordnung als Befreiung und Ermögli-        gestaltet und versucht, die Heilige Schrift
                                                                                                           chung von Freiheit. So haben Gärten schon       in den Boden des Gartens zu legen.
                                                                                                           aus den Anfängen des Mönchtums in der               Der Prälatengarten empfängt die
                                                                                                           Wüste der Sketis in Ägypten Nonnen und          Besucher nach dem Pfortendurchgang.
                                                                                                           Mönche begleitet. Überall da, wo Men-           In seiner überschaubaren Großartigkeit
                                                                                                           schen sich unter dem Siegel des Kreuzes zu      ist dieser barocke Gartenhof einer der
                                                                                                           Gemeinschaften zusammenbinden, ent-             schönsten Räume unseres Stiftes.
                                                                                                           steht unweigerlich Lebensraum, der sich             Der Johannishofgarten leitet die Gäste
                                                                                                           in die Umgebung der betenden Gemein-            und Besucher vom Parkplatz zu den Klos-
                                                                                                           schaften hinein ereignet. Der Kosmos des        tereingängen. Weiträumig und großzügig,
                                                                                                           Klosters, in dessen Mittelpunkt Christus        maßvoll und geordnet gibt dieser Garten
                                                                                                           als der Lebendige gegenwärtig ist, ordnet       eine Ahnung von dem, was an diesem Ort
                                                                                                           auch die Umgebung dieses Ortes.                 erwartet werden darf.
                                                                                                               So haben sich auch bei uns im Stift             Vom Garten der Stille bis zum Garten
                                                                                                           Altenburg über die Jahrhunderte um das          der Religionen ist der Orientierungspunkt
                                                                                                           Kloster herum diverse Gärten entwickelt.        immer der Turm der Stiftskirche, der das
                                                                                                           In den vergangenen zwanzig Jahren haben         goldene Kreuz der Auferstehung hochhält.
                                                                                                           wir einige dieser Gärten revitalisiert, man-    Dieses Zeichen allein schenkt uns immer
                                                            Gärten und Mönchtum gehören                    che reformiert und einige neu geschaffen.       wieder die Kraft und den Mut, Menschen
                                                            zusammen. Schon von Anfang                                                                     als Gäste aufzunehmen. Im Mittelpunkt
                                                            an. Die zahlreichen Kloster- und               Die Gärten im Stift Altenburg                   unserer Klosteranlage liegt die Stiftskir-
                                                            Stiftsgärten geben Zeugnis                     Vom Garten der Stille, der im Osten der         che. Hier versammelt sich die Klosterge-
                                                            davon. Manche sind im Lauf                     Abtei liegt und besonders den Morgen            meinschaft dreimal am Tag zum gemein-
                                                            der Zeit besonders aufwendig                   erlebbar macht, bis hin zum Garten der          samen Gebet und zur Eucharistiefeier.
                                                            gestaltet worden und auch für                  Religionen, der im Westen angelegt ist,             Wir halten unsere Tore offen – die Tore
                                                            die Menschen außerhalb der                     eröffnet sich ein kleines „Universum“ für       der Gärten, die Tore des Klosters, die Tore
                                                            klösterlichen Gemeinschaft                     unsere Besucher. Wenn sich in den frü-          unserer Herzen.
                                                            geöffnet worden. – Gute                        hen Morgenstunden die Nebel des Wald-               DU, wer immer DU bist, komm, schau
                                                            Orte, um zur Ruhe kommen,                      viertels langsam lichten, kann man den          und bleib ein wenig bei uns!
                                                            zu verweilen und das Herz                      dreifachen Schlag der Turmuhr hören und
                                                            zu öffnen. Ein Beitrag vom                     damit oft nur erahnen, wie nahe die Stifts-
                                                            Prior des Benediktinerstifts                   kirche ist.
                                                            Altenburg P. Michael Hüttl OSB                     Der Apothekergarten im Bereich der
                                                                                                           Altane hält die altbewährten Heilpflanzen
                                                            Am Anfang war die Wüste                        des Mittelalters bereit. Auch dieser Garten
                                                            Die ersten christlichen Mönche waren           liegt östlich der Stiftsanlage und bietet vor
Stift Altenburg/K&T | Hüttl: Stift Altenburg/Emil Jovanov

                                                            Flüchtlinge. Vor der Verfolgung durch die      allem am Tagesbeginn ein aufregendes
                                                            römischen Kaiser flohen jene, die weder        Dufterlebnis.
                                                            die Kraft zum Martyrium noch die Bereit-           Der Regelgarten direkt auf der Alta-          P. Michael Hüttl
                                                            schaft zur Anpassung an die römischen          ne versucht das zentrale Fundament des            OSB ist Prior im
                                                            Forderungen hatten. Als Einsiedler, zuerst     Klosters Altenburg aufzuzeigen: Die Regel          Stift Altenburg,
                                                            auf sich allein gestellt, war es überlebens-   des heiligen Mönchsvaters Benedikt. Die           Pfarrer in Maria
                                                            wichtig, der Wüste Lebensraum abzurin-         Weinstöcke stehen symbolisch für die               Dreieichen und
                                                            gen. Pflanzen und Früchte sicherten das        Mönche. Die Edelstahlkonstruktionen                    Dechant im
                                                            knappe Überleben.                              bieten Halt und Freiraum gleichermaßen.             Dekanat Horn.

                                                                                                                                                   Pfarrblatt Dompfarre St. Stephan · Ostern 2022 15
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