AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Green New Deals

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Green New Deals
72. Jahrgang, 3–4/2022, 17. Januar 2022

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
  Green New Deals
         Klaus Dörre                                Rainer Land
  ALLE REDEN VOM KLIMA                      ENTWICKLUNG STATT
                                               WACHSTUM
       Kiran Klaus Patel
 IMPROVISIEREND DURCH DIE               Johannes Müller-Salo · Rupert Pritzl
    KRISE: DER NEW DEAL                     KLIMASCHUTZ DURCH
                                             INNOVATION UND
       Thomas Döring
                                             MARKTWIRTSCHAFT
  50 JAHRE „GRENZEN DES
       WACHSTUMS“                                 Birgit Mahnkopf
                                       DER GROẞ E (SELBST-)BETRUG
        Susanne Dröge
     DER EUROPÄISCHE
       GREEN DEAL

                  ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                       FÜR POLITISCHE BILDUNG
              Beilage zur Wochenzeitung
Green New Deals
                                  APuZ 3–4/2022
KLAUS DÖRRE                                         RAINER LAND
ALLE REDEN VOM KLIMA                                ENTWICKLUNG STATT WACHSTUM
Die weltweiten CO2-Emissionen sind ungleich         Statt einen Rückbau der Wirtschaft braucht es
verteilt – nicht nur zwischen Industrie- und        eine ökologische Wirtschaftsentwicklung, mit
Entwicklungsländern, sondern auch innerhalb         der durch umweltkompatible Innovationen und
der Industriestaaten. Eine grüne Transformation     nachhaltige Ressourcenbewirtschaftung eine
muss daher auch die innergesellschaftliche          wirkliche sozialökologische Transformation
Ungleichheit angehen, oder sie wird scheitern.      erreichbar ist.
Seite 04–10                                         Seite 31–36

KIRAN KLAUS PATEL                                   JOHANNES MÜLLER-SALO · RUPERT PRITZL
IMPROVISIEREND DURCH DIE KRISE:                     KLIMASCHUTZ DURCH INNOVATION
DER NEW DEAL                                        UND MARKTWIRTSCHAFT
Durch unkonventionelle Maßnahmen und einen          Klimapolitik muss den Forderungen nach
starken Staat gelang es mit dem New Deal, die       Effizienz und Gerechtigkeit genügen. Anstatt
Doppelkrise von Kapitalismus und Demokratie         immer ehrgeizigere Klimaziele auszurufen, täte
in den USA der 1930er Jahre zu bewältigen. Es       die Politik gut daran, die Instrumente und die
überrascht nicht, dass sich Bewegungen und          mit ihnen verbundenen gesellschaftlichen Kosten
Regierungen heute weltweit auf ihn berufen.         zu hinterfragen und offen zu diskutieren.
Seite 11–17                                         Seite 37–41

THOMAS DÖRING                                       BIRGIT MAHNKOPF
50 JAHRE „GRENZEN DES WACHSTUMS“                    DER GRO ẞ E (SELBST-)BETRUG
Der Bericht an den Club of Rome von 1972 ist        Der Green Deal der EU-Kommission führt
ein Meilenstein in der Analyse des unbegrenzten     das wachstumsorientierte Wirtschaftsmodell
Wirtschaftswachstums. Auf ihm fußen heutige         fort – unter fadenscheinigen grünen Vorzeichen.
wachstumskritische Ansätze, aber auch zahlrei-      Für eine wirkliche Transformation müssten
che Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt als       Politik und Gesellschaft die endlichen planetaren
der wichtigsten ökonomischen Kennzahl.              Ressourcen der Marktlogik entziehen.
Seite 18–23                                         Seite 42–46

SUSANNE DRÖGE
DER EUROPÄISCHE GREEN DEAL
Der Green Deal ist die umfassendste und ehr-
geizigste Agenda, die sich die EU je gegeben hat.
Die EU-Kommission verfolgt jedoch nicht bloß
den Klimaschutz als Ziel, sondern will durch den
Deal auch wirtschaftlich und geopolitisch zu den
USA und China aufschließen.
Seite 24–30
EDITORIAL
Jährlich neue Temperaturrekorde, Extremwetter und die weiter schwindende
Artenvielfalt zeigen, dass der menschengemachte Klimawandel voranschreitet.
Dass die Menschheit ihre natürlichen Lebensgrundlagen zerstört, liegt in einer
Wirtschaftsweise begründet, die auf stetem Wachstum auf Grundlage der Ver-
brennung fossiler Rohstoffe fußt. Darauf wies bereits 1972 der Bericht des Club
of Rome zu den „Grenzen des Wachstums“ hin. Er legte damit einen Grund-
stein der Umweltbewegung und stieß neue Wirtschaftskonzepte wie „Green
Growth“ und „De-Growth“ an. Heute ist weitgehend unumstritten, dass es zur
Bewältigung ökologischer und sozialer Verwerfungen eine „sozial-ökologische
Transformation“ braucht.
   Weltweit haben sich Regierungen das ursprünglich aktivistische Konzept
des „Green New Deal“ auf die Fahnen geschrieben, um diese Transformation
voranzutreiben. Sie zielen auf den grundlegenden Umbau von Infrastruktur,
Lieferketten und Produktionstechniken, also auf eine „grüne“ Wirtschaft. Die
EU und die USA etwa wollen bis 2050 klimaneutral werden. Damit ist freilich
die globale Ungleichheit noch gar nicht angesprochen: Für die Länder des Glo-
balen Südens scheinen Wirtschaftswachstum und damit auch höhere Emissionen
unausweichlich zu sein, um Armut und Abhängigkeit zu verringern.
   Der Begriff „Green New Deal“ verweist auf die Politik des US-Präsidenten
Franklin D. Roosevelt in der Großen Depression der 1930er Jahre. Dieser
bewältigte die damalige Krise von Kapitalismus und Demokratie durch den
„New Deal“ aus starkem Staat und dirigistischer Industriepolitik. Wie viel der
Privatsektor zur Lösung der Krise beitragen kann und in welchem Umfang
staatliche Eingriffe nötig sind, sind auch heute die zentralen Fragen, zumal die
Kosten der heutigen Transformation sozial gerecht verteilt werden müssen.

                                                      Robin Siebert

                                                                              03
APuZ 3–4/2022

                      ALLE REDEN VOM KLIMA
            Perspektiven sozial-ökologischer Transformation
                                            Klaus Dörre

„Die Welt steht am Abgrund“ – mit diesen auf-         cher Teilbereich oder ein Funktionsmechanismus
rüttelnden Worten drängte UN-Generalsekretär          ist immer krisenträchtig, also auf Zeit gestört. In
António Guterres am Vorabend der Klimakon-            der Gegenwart häufen sich Krisen, sodass es na-
ferenz in Glasgow 2021 einmal mehr darauf, der        heliegt, die „Unbekanntheit der Zukunft, erfahren
Klimadiplomatie endlich Taten folgen zu lassen.       und bewältigt als Krise“ als „Integrationsform der
Als die Welt wegen der Corona-Pandemie zeit-          nächsten Gesellschaft“02 zu betrachten. Offenbar
weilig still zu stehen schien, sanken die Kohlen-     hat die expansive Dynamik kapitalistischer Ge-
stoffemissionen zwar um etwa fünf Prozent. 2021       sellschaften einen Punkt erreicht, an dem sich die
näherten sie sich aber schon wieder dem Rekord-       Tendenz zu globaler Expansion mit destruktiven
wert von 2019 an. Das Ziel, den globalen Tem-         Gegenkräften konfrontiert sieht. Vor allem die al-
peraturanstieg auf 1,5 Grad seit Beginn der In-       ten kapitalistischen Zentren, aber auch die großen
dustrialisierung zu begrenzen, und selbst das         Schwellenländer befinden sich inmitten einer Kri-
2-Grad-Ziel geraten in Gefahr. Glasgow hat da-        se von historisch neuer Qualität, die ich als öko-
ran wenig geändert. Würden alle vereinbarten          nomisch-ökologische Zangenkrise bezeichne.
Maßnahmen greifen, landeten wir am Ende des                Damit ist gemeint, dass das wichtigste Mit-
Jahrhunderts bei einer Erderhitzung von weit          tel zur Überwindung ökonomischer Stagnation
über 2 Grad. Die Konsequenzen des menschen-           und zur Befriedung gesellschaftlicher Konflikte
gemachten Klimawandels sind allerdings längst         im Kapitalismus, nämlich die Generierung von
spürbar. Während des zurückliegenden halben           Wirtschaftswachstum, unter heutigen Bedingun-
Jahrhunderts hat sich die Zahl der wetter- und        gen ökologisch zunehmend destruktiv und des-
klimabedingten Katastrophen verfünffacht.01           halb auch gesellschaftszerstörend wirkt. Denn
    Diese Entwicklung vor Augen, stellt sich die      heutiges Wirtschaftswachstum basiert auf hohen
Frage nach den Aussichten einer sozial-ökolo-         Emissionen und ressourcenintensiven Produk-
gischen Transformation und damit nach gesell-         tions- und Lebensweisen. Der Zangengriff von
schaftlichen Verhältnissen, die am besten realisie-   Ökonomie und Ökologie markiert Störungen der
ren, was nun auch der Weltklimarat fordert: eine      Gesellschafts-Natur-Beziehungen, die eben keine
globale Nachhaltigkeitsrevolution. Haben wir die      Krise wie jede andere sind. Erfasst werden alle so-
Chance dazu bereits vertan oder gibt es begrün-       zialen Felder und gesellschaftlichen Teilsysteme.
dete Aussichten auf eine erfolgreiche Transforma-     Deshalb favorisiere ich mit der Zangenkrise eine
tion? Dem nachfolgenden Antwortversuch liegt          Bezeichnung, die eine klare Hierarchie der Kri-
die These zugrunde, dass ökologische und sozia-       senursachen benennt. Diese Krise ist historisch
le Nachhaltigkeit sich wechselseitig bedingen, das    einmalig, weil sie mit hoher Wahrscheinlichkeit
eine ohne das andere nicht zu haben ist. Gesell-      den Übergang zu einem neuen Erdzeitalter ein-
schaftliche Akteure können in der Transformati-       leitet: dem Anthropozän.03
on nur erfolgreich sein, wenn sie das Spannungs-           Der Begriff „Anthropozän“ beschreibt, dass
verhältnis zwischen sozialen und ökologischen         die Menschheit zum wichtigsten Faktor bei der
Nachhaltigkeitszielen erfolgreich bearbeiten.         Reproduktion von außermenschlicher Natur ge-
                                                      worden ist. Im Begriff ist eine doppelte Botschaft
                IN DER ZANGENKRISE                    enthalten. Die Menschheit kann ihre Lebens-
                                                      grundlagen zerstören, ist die schlechte Nachricht.
Moderne Gesellschaften prozessieren gewisserma-       Die gute lautet: Wir Menschen haben es selbst in
ßen im Modus der Krise. Irgendein gesellschaftli-     der Hand, nachhaltige Beziehungen zur Natur

04
Green New Deals APuZ

zu schaffen und ihr instrumentelles Verhältnis zu                       gende Ressourcen- und Energieverbrauch können
Naturressourcen und nicht-menschlichen Lebe-                            den Planeten in dramatischer Weise verändern und
wesen zu überwinden. Ob wir die Artenvielfalt                           für Menschen zumindest in Teilen unbewohnbar
erhalten oder die Überhitzung des Planeten stop-                        machen. Der Anstieg des Meeresspiegels bedroht
pen, hängt in erster Linie vom praktischen Tun                          zunächst nur kleinere Inseln und tiefergelegene
der globalen Gesellschaften ab.123                                      Küstenregionen; das macht das Graduelle des Kli-
    Klar ist, dass die Störungen der Gesellschafts-                     mawandels aus. Er wirkt anfangs unsichtbar und
Natur-Beziehungen in der Gegenwart in ers-                              sozialgeografisch differenziert.
ter Linie von kapitalistischen Ökonomien aus-                               Der Hauptgrund für den menschengemachten
gehen. Deshalb halten Sozialwissenschaftler wie                         Klimawandel ist die auf Kohlenstoff basierende
Jason Moore die Bezeichnung „Kapitalozän“ für                           Produktions- und Lebensweise in den frühindus­
angemessener. Der Kapitalismus selbst müsse als                         trialisierten Ländern, deren Ausbreitung im globa-
Ökosystem begriffen werden. Nicht trotz, son-                           len Maßstab nur um den Preis eines ökologischen
dern wegen des hohen Vergesellschaftungsni-                             Desasters möglich ist.06 Dies ist der Grund, wes-
veaus der Arbeit träten die Naturschranken der                          halb Regierungen weltweit einen Green New Deal
Kapitalakkumulation wieder stärker hervor. Zu                           in der einen oder anderen Form anstreben. Noch
konstatieren sei „the breakdown of the strategies                       vor 2050 soll die Wirtschaft der wichtigsten In-
and relations that have sustained capital accu-                         dustriestaaten vollständig dekarbonisiert sein. In-
mulation over the past five centuries“.04 Deshalb                       nerhalb der Europäischen Union existieren inzwi-
handelt es sich um mehr als eine der „großen Kri-                       schen verbindliche, sanktionierbare Zielsetzungen,
sen“ der Kapitalakkumulation, vergleichbar etwa                         die einen Abschied von der Kohleverstromung
mit der großen Depression im 19. Jahrhundert                            und einer auf fossilen Brennstoffen basierenden
oder den Weltwirtschaftskrisen von 1929 bis 1932                        Mobilität verlangen. Dieser Wandel ist in seiner
und 1973/74. „Große Krisen“ der Akkumulation                            Bedeutung und seinen Ausmaßen durchaus mit
führen dazu, dass sich kapitalistische Gesellschaf-                     der ersten industriellen Revolution vergleichbar.
ten in all ihren Teilsystemen „häuten“. Sie wälzen                      Er erfasst alle Branchen und Gesellschaftsbereiche.
das gesamte Ensemble gesellschaftlicher Verhält-                            Im Grunde, so lässt sich resümieren, gibt es
nisse um – dies jedoch nur, um die Kernstruktur                         zwei Pfade, um den menschengemachten Klima-
des Kapitalismus, den Zwang zu fortwährender                            wandel zu begrenzen und die angelagerten ökolo-
Marktexpansion, zu immer neuen Landnahmen                               gischen Gefahren einigermaßen zu kontrollieren.
eines nicht-kapitalistischen Anderen, zu konser-                        Entweder gelingt es, das Wirtschaftswachstum
vieren und auf Dauer zu stellen.05                                      von seinen ökologisch destruktiven Folgen zu
    In der Zangenkrise stößt diese Bewegungs-                           entkoppeln, oder es muss eine Transformation
form auf einem Planeten mit endlichen Ressour-                          stattfinden, die Gesellschaften vom ökonomi-
cen an unüberwindbare Grenzen. Graduelle                                schen Wachstumszwang befreit.
Prozesse wie die Erderhitzung oder auch der stei-
                                                                                 KLIMAGERECHTIGKEIT ALS
                                                                              ZWISCHENSTAATLICHES PROBLEM
01 Vgl. Weltorganisation für Meteorologie, Atlas of Morta-
lity and Economic Losses from Weather, Climate and Water
Extremes (1970–2019), Genf 2021.
                                                                        Gegenwärtig dominieren weltweit Versuche, die
02 Dirk Baecker, 4.0 oder: Die Lücke, die der Rechner lässt,            erste Option einzulösen. Doch gleich, welche po-
Leipzig 2018, S. 94.                                                    litischen Weichenstellungen erfolgen, sie werden
03 Vgl. Paul J. Crutzen, Das Anthropozän, München 2019. In              stets auf das Spannungsverhältnis zwischen sozi-
den Erdwissenschaften ist der Begriff umstritten, und es ist noch
                                                                        alen und ökologischen Nachhaltigkeitszielen sto-
immer möglich, dass er „gänzlich verworfen wird“. Erle C. Ellis,
Anthropozän. Das Zeitalter des Menschen – eine Einführung,
                                                                        ßen. Offenkundig variiert der Ausstoß von Treib-
München 2020, S. 7. Ich nutze ihn dennoch, um das Besondere             hausgasemissionen sowohl mit der jeweiligen
der Zangenkrise zu akzentuieren.                                        Platzierung in der sozialen Geografie von Staaten
04 Jason W. Moore, Capitalism in The Web Of Life, London–               als auch mit der jeweiligen Klassenposition in-
New York 2015, S. 1.
05 Vgl. Klaus Dörre, Risiko Kapitalismus. Landnahme, Zangenkri-
se, Nachhaltigkeitsrevolution, in: ders. et al. (Hrsg.), Große Trans-   06 Vgl. Ulrich Brand/Markus Wissen, Imperiale Lebensweise.
formation? Zur Zukunft moderner Gesellschaften. Sonderband              Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im Globalen Kapitalis-
des Berliner Journals für Soziologie, Wiesbaden 2019, S. 3–34.          mus, München 2017.

                                                                                                                                 05
APuZ 3–4/2022

nerhalb nationaler Gesellschaften. Während das                     testens 2050, China seine Wirtschaft aber erst bis
reichste Zehntel der erwachsenen Weltbevölke-                      2060 emissionsfrei machen will, ist das aus EU-
rung 2015 49 Prozent der klimaschädlichen Emis-                    Perspektive ein unzulässiger Wettbewerbsvorteil,
sionen verursachte, war die untere Hälfte nur für                  für China aber ein gerechter Ausgleich für die ko-
zehn Prozent verantwortlich.07                                     loniale Erblast. Und auch unter den Mitglieds-
    Hinter dieser Asymmetrie verbergen sich zwei                   staaten der EU ist der Ausstoß gemessen an den
eng miteinander verkoppelte Gerechtigkeitspro-                     Haushaltseinkommen höchst ungleich verteilt.
blematiken. Die erste wurzelt in den ungleichen                    Allein die einkommensstärksten zehn Prozent
Anteilen von Ländern an den klimarelevanten                        der Haushalte in Deutschland, Italien, Frankreich
Emissionen. 2015 entfielen 26,3 Prozent der je-                    und Spanien, denen insgesamt etwa 28,8 Millio-
mals ausgestoßenen Treibhausgase auf die USA                       nen Menschen zugerechnet werden können, emit-
und 23,4 Prozent auf Europa. Weit dahinter lagen                   tieren mehr als die gesamte Bevölkerung von 16
China (11,8 Prozent) und Russland (7,4 Prozent).                   ärmeren EU-Mitgliedsstaaten.09
Betrachtet man die derzeitigen Anteile an den                          Daher ist es wenig verwunderlich, dass die
jährlichen globalen Emissionen, stößt China aller-                 Fortschritte beim Klimaschutz auf internationa-
dings mit mehr als 10 Millionen Tonnen längst die                  ler Ebene bisher relativ begrenzt geblieben sind.
größte Menge an Treibhausgasen aus, Indien liegt                   Umso wichtiger wird, dass die Länder der früh-
hinter den USA bereits an dritter Stelle. Rechnet                  industrialisierten Weltregionen bei der so drin-
man indessen nach Emissionen pro Kopf, ergibt                      gend benötigten Nachhaltigkeitsrevolution eine
sich ein anderes Bild. Der Treibhausgasausstoß je                  Vorreiterrolle spielen. Der richtige Hinweis, die
Einwohner ist in den USA dreimal so hoch wie                       Bundesrepublik habe nur einen Anteil von zwei
in China. Indiens Anteil wird von der Bundesre-                    Prozent an den klimaschädlichen Emissionen,
publik um mehr als das Sechsfache übertroffen.                     entlastet daher nicht von den Anforderungen ei-
Auch die absolute Emissionslast pro Kopf variiert                  ner raschen Transformation. Das Gegenteil ist
beträchtlich. Wer in den USA, Luxemburg, Katar                     der Fall: Es sind die Industriestaaten, die zeigen
oder Saudi-Arabien zum reichsten einen Prozent                     müssen, wie ein rascher, nachhaltiger Umbau von
gehört, emittiert mehr als das Zweitausendfache                    Ökonomie und Gesellschaft zu verwirklichen ist.
eines armen Bewohners von Ländern wie Ruan-
da, Honduras oder Tadschikistan.08                                             KLIMAGERECHTIGKEIT ALS
    Aus diesen Ungleichheitsrelationen ergibt sich                            INNERGESELLSCHAFTLICHES
eine Gerechtigkeitsproblematik, die global zwi-                                      PROBLEM
schen Nationalstaaten oder Staatenbünden ausge-
tragen wird. Einerseits ist eine rasche Reduktion                  Alle Versuche, in diese Richtung zu arbeiten, sto-
von klimaschädlichen Emissionen nur möglich,                       ßen auf die Zunahme klassenspezifischer Un-
sofern in den großen Flächenstaaten des Südens,                    gleichheiten innerhalb nationaler Gesellschaf-
allen voran China und Indien, in kürzester Zeit                    ten. Diese Ungleichheiten gewinnen in ihrer
ein radikales Umsteuern stattfindet. Andererseits                  Bedeutung für den Klimaschutz gegenüber den
können sich entwickelnde Staaten zu Recht darauf                   zwischenstaatlichen Ungleichheiten kontinu-
pochen, dass die frühindustrialisierten Länder bei                 ierlich an Relevanz.10 Werden diese Ungleichhei-
der Bekämpfung des Klimawandels vorlegen und                       ten nicht angegangen, können sie als gewaltiger
die Hauptlast der Kosten schultern müssen. Dies                    Bremsklotz für ökologische Nachhaltigkeitsziele
belastet alle Versuche für eine halbwegs planvol-                  wirken.
le Dekarbonisierung der Weltwirtschaft. Emissi-
onen sind zum Gegenstand imperialer Rivalitäten
                                                                   09 Vgl. Confronting Carbon Inequality in the European Union,
und zwischenstaatlicher Auseinandersetzungen                       7. 12. 2020, www.oxfam.org/en/research/confronting-​carbon-​
geworden. Wenn die EU ihre Ökonomien bis spä-                      inequality-​european-​union; Diana Ivanova/Richard Wood, The
                                                                   Unequal Distribution of Household Carbon Footprints in Europe
                                                                   and Its Link to Sustainability, in: Global Sustainability 3/2020,
07 Vgl. Kevin P. Gallagher/Richard Kozul-Wright, A New Multi-      S. 1–12.
lateralism for Shared Prosperity. Geneva Principles for a Global   10 1998 erklärten die Ungleichheiten innerhalb nationaler
Green New Deal, Genf 2019, S. 5.                                   Gesellschaften etwa 30 Prozent der globalen Emissionen; 2013
08 Vgl. World Resources Institute, CAIT Climate Data Explorer      waren es bereits 50 Prozent. Vgl. Luca Chancel/Thomas Piketty,
2021, Washington, D. C. 2021.                                      Carbon and Inequality: From Kyoto To Paris, Paris 2015.

06
Green New Deals APuZ

    In der wachstumskritischen Literatur wird                    Haushalten mit mittleren Einkommen im glei-
häufig darauf hingewiesen, dass die Bevölkerun-                  chen Zeitraum um 13 Prozent abgenommen.13
gen der reichen Staaten überwiegend zu jenem                     In Deutschland verursachten die reichsten zehn
Zehntel der erwachsenen Weltbevölkerung zäh-                     Prozent der Haushalte 26 Prozent der Emissi-
len, das den erwähnt hohen Anteil an der glo-                    onslast, die untere Hälfte war für 29 Prozent der
balen Emissionslast erzeugt. Fatal wäre es je-                   Emissionen verantwortlich. Während das reichs-
doch, würde man die Ungleichheit innerhalb                       te Prozent nichts einsparte, reduzierte die unte-
dieser Bevölkerungen aus den Augen verlieren.                    re Hälfte ihre Emissionen um ein Drittel. Bei den
Die einkommensstärksten zehn Prozent der eu-                     Haushalten mit mittleren Einkommen betrugen
ropäischen Haushalte sind für 27 Prozent der                     die Einsparungen immerhin 12 Prozent.
Emissionen in der EU verantwortlich, während                         Zugespitzt formuliert bedeutet dies, dass die
die untere Hälfte etwa 26 Prozent der klima-                     Produktion von Luxusartikeln für die oberen
schädlichen Gase verursacht. Allein das reichste                 Klassen und deren Konsum zu einer Haupttrieb-
Prozent verzeichnet einen jährlichen Pro-Kopf-                   kraft eines Klimawandels geworden sind, unter
Ausstoß von 55 Tonnen CO2 und liegt damit                        dessen Folgen national wie global vor allem die
um etwa das Siebenfache über dem europäischen                    ärmeren, sozial besonders verwundbaren Bevöl-
Durchschnittswert. Hauptgrund ist das Fliegen.                   kerungsgruppen zu leiden haben. Der oftmals
Beim einkommensstärksten Prozent verursachen                     erzwungene Konsumverzicht in den unteren
Flugreisen mehr als 40 Prozent der Emissionen,                   Klassen bringt den wachsenden Anteil des ein-
weitere 21 Prozent gehen auf das Konto des in-                   kommensstärksten oberen Zehntels der europä-
dividuellen PKW-Verkehrs. Geflogen wird na-                      ischen Bevölkerung im statistischen Mittel zum
hezu ausschließlich vom oberen Dezil der Haus-                   Verschwinden. Nur weil Personen mit „kleinen
halte mit einem jährlichen Nettoeinkommen von                    Geldbörsen“ ihren Gürtel wegen sinkender Ein-
durchschnittlich 40 000 Euro. Um die Klimazie-                   kommen und steigender Preise enger schnallen
le zu erreichen, müsste der Pro-Kopf-Ausstoß                     mussten und müssen, sind die verschwenderi-
an Klimagasen auf durchschnittlich 2,5 Tonnen                    schen Lebensstile der oberen Klassen überhaupt
im Jahr sinken; das reichste Prozent der Haus-                   noch möglich. Deshalb, so kann geschlussfolgert
halte liegt um mehr als das zweiundzwanzigfa-                    werden, ist der Kampf gegen Klimawandel und
che darüber. Das heißt, nahezu alle müssen ihren                 ökologische Zerstörung stets auch einer zuguns-
Lebensstil ändern, aber der Veränderungsdruck                    ten der Armen und Benachteiligten – dies aller-
ist bei den reichsten Haushalten mit Abstand am                  dings nicht in einem Sinne, der soziale Gerechtig-
stärksten.11                                                     keit zu einer Vorbedingung von Nachhaltigkeit
    Zwar wurden EU-weit seit 1990 etwa 25 Pro-                   machen würde, ohne die Wirkung ökologischer
zent der Emissionen eingespart, die Entkopp-                     Destruktivkräfte wirklich ernst zu nehmen. Kli-
lung von Wirtschaftswachstum und Emissionen                      mawandel und Ressourcenverschwendung kann
ist also zumindest regional und zeitlich begrenzt                nur Einhalt geboten werden, sofern im Einklang
durchaus möglich.12 Doch im globalen Maßstab                     mit diesen Zielen egalitäre Verteilungsverhältnis-
sinken die Emissionen viel zu langsam. Zudem                     se gefördert werden, die den ökologischen Um-
sind die Emissionsreduktionen in erster Linie das                bau mittels sozialer Nachhaltigkeit forcieren.
Verdienst einkommensschwächerer Haushalte.
Während die Emissionen des reichsten Prozents                                     AUSWEGE AUS DER
der Haushalte zwischen 1990 und 2015 um fünf                                        ZANGENKRISE
Prozent und die des einkommensstärksten De-
zils um drei Prozent gestiegen sind, haben sie bei               Politiken, die auf nachhaltigen Klimaschutz zie-
der ärmeren Hälfte um 34 Prozent und bei den                     len, können daher an ihren Antworten auf zwei
                                                                 einfache Fragen gemessen werden: Sinken die
                                                                 Treibhausgasemissionen und der weltweite Res-
11 Vgl. Ivanova/Wood (Anm. 9).                                   sourcen- und Energieverbrauch so, dass sie eine
12 Vgl. Klaus Dörre, Europe, Capitalist Landnahme and the
                                                                 Wende zur ökologischen Nachhaltigkeit ein-
Economic-Ecological Double Crisis: Prospects for a Non-Capi-
talist Post-Growth Society, in: Hartmut Rosa/Christoph Henning
                                                                 leiten? Und wird der erzeugte gesellschaftliche
(Hrsg.), The Good Life Beyond Growth. New Perspectives,
London 2018, S. 241–249.                                         13 Vgl. Oxfam (Anm. 9), S. 1, S. 3.

                                                                                                                        07
APuZ 3–4/2022

Reichtum so verteilt, dass möglichst alle und auch              das Problem der Klimagerechtigkeit befriedigend
künftige Generationen partizipieren können?                     zu lösen.
Beim Versuch, diesen Maßstab zu realisieren, las-                   Die Technikoption verbindet Marktmecha-
sen sich gegenwärtig vier strategische Optionen                 nismen mit einem Plädoyer für beschleunigten
unterscheiden. Ich bezeichne sie als die Markt-,                technologischen Wandel. Vorreiter sind Reprä-
die Technik-, die Staats- und die Demokratisie-                 sentanten der New Economy wie Elon Musk
rungsoption.                                                    und Bill Gates. Beide stehen für den Solutionis-
     Die Marktoption setzt darauf, künstlich zu                 mus, sprich: für eine Ideologie, die in unterneh-
verknappen, was einstmals im Überfluss vorhan-                  merischer Kreativität, technischen Innovationen
den war. Das geschieht, indem CO2-Äquivalen-                    und im Primat des Gesetzes von Angebot und
te einen Preis erhalten. Der Emissionshandel, ge-               Nachfrage die Lösung für nahezu jedes Weltpro-
gebenenfalls auch eine CO2-Steuer, werden zum                   blem sieht. Der Staat wird als Protagonist tech-
Hauptinstrument, um den menschengemachten                       nologischen Wandels durchaus gebraucht. Er
Klimawandel zu bekämpfen.14 Ein Problem ist,                    soll Forschung und Entwicklung fördern, kli-
dass diese Instrumente in ihrer Wirksamkeit um-                 mafreundliche Innovationen anregen und ent-
stritten sind. Ist der CO2-Preis zu niedrig, leidet             sprechende Investitionen anstoßen. Doch weist
seine Steuerungsfunktion, ist er hoch, erzeugt das              auch die Technikoption strukturelle Mängel auf.
soziale Gerechtigkeitsprobleme. Da schwer zu                    Geht es nach dem technikbasierten Solutionis-
kontrollieren, öffnet der Emissionshandel die Tür               mus, fahren wir künftig mit dem Elektroauto, es-
zu Kompensationsgeschäften, die keine wirkliche                 sen aus Pflanzen hergestelltes Fleisch, bauen mit
Reduktion der Kohlenstoffemissionen beinhal-                    emissionsfreiem Zement, verarbeiten klimaneu-
ten. Negative Emissionen, also deutlich weniger                 tralen Stahl, lassen die Welt aber im Großen und
Kohlenstoffverbrennung als die natürlichen Sen-                 Ganzen so, wie sie ist. Das ist eine Wette auf die
ken absorbieren, sind mit diesen Instrumenten                   Zukunft, die sich kaum einlösen lässt, weil die
kaum zu erreichen.                                              systemischen Treiber des „Immer mehr und nie
     Das Hauptproblem marktkompatibler In-                      genug“ fortbestehen, allen voran eine auf Wachs-
strumente besteht jedoch darin, dass sie in ih-                 tum, Markt­expansion und privaten Gewinn aus-
ren Auswirkungen sozial blind sind. Selbst wenn                 gerichtete Wirtschaft.
eine CO2-Steuer mit einem Klimageld verbunden                       Auch die Staatsoption lässt Marktmechanis-
ist, werden die kleinen Geldbörsen anteilig stär-               men Raum und setzt auf technologischen Wandel;
ker belastet als die großen. In Deutschland hat                 sie bricht jedoch mit der Vorstellung, der Staat sei
die untere Hälfte der Lohnabhängigen gemessen                   ein schlechter Unternehmer. Vielmehr hänge die
am steigenden Volkseinkommen in den vergange-                   vermeintlich größte Stärke des Kapitalismus, sei-
nen Jahrzehnten kontinuierlich verloren. Steigen                ne Innovationsfähigkeit, von den Interventio-
die Preise für Heizung, Strom, Mobilität, Mie-                  nen und Ressourcen eines steuernden Staates ab.
ten und Nahrungsmittel, wird der frei verfügba-                 Ohne staatliche Unterstützung sei in der Vergan-
re Einkommensanteil immer geringer. Selbst für                  genheit keine der großen Sprung­     innovationen
Durchschnittsverdiener mit einem Reallohn von                   und der dazu nötigen Forschungen überhaupt
monatlich 1578 Euro15 wird das, auch im Falle                   möglich gewesen. Der Staat müsse „zu jeder Zeit
von Doppelverdiener-Haushalten, zu einer er-                    im Konjunkturzyklus die Rolle eines echten Ti-
heblichen finanziellen Belastung. Geringe ge-                   gers spielen“, während die Unternehmen nur die
sellschaftliche Akzeptanz der Maßnahmen oder                    Rolle von „Hauskatzen“ einnähmen, argumen-
gar sozialer Protest sind dann vorprogrammiert.                 tiert die Ökonomin Mariana Mazzucato.16 Trotz
Die Gelbwestenproteste in Frankreich, aber auch                 ihrer realistischen Bewertung der keineswegs im-
Wählerstimmen für rechtsradikale Klimaleugner                   mer sichtbaren Hand des Staates im Innovati-
zeigen, was dann geschehen kann. Marktmecha-                    onsprozess hat auch diese Option ihre Tücken.
nismen allein reichen offenkundig nicht aus, um                 So sind wirtschaftsfreundliche Staatsinterventi-
                                                                onen kaum in der Lage, Strategien zu begegnen,
14 Vgl. exemplarisch Ralf Fücks/Thomas Köhler, Soziale Markt-
wirtschaft ökologisch erneuern, Berlin 2019.                    16 Vgl. Mariana Mazzucato, Das Kapital des Staates. Eine
15 Vgl. Deutscher Gewerkschaftsbund, Verteilungsbericht         andere Geschichte von Innovation und Wachstum, München
2021, Berlin 2021, S. 25.                                       2013, S. 17.

08
Green New Deals APuZ

mit deren Hilfe große Marktakteure das eigene                      anfälligkeit vor allem, dass er nach dem WalMart-
Einkommen zulasten des Einkommens anderer                          Prinzip funktioniert. Was etwa mithilfe von hö-
Marktteilnehmer steigern.17 Hinzu kommt das                        herer Energieeffizienz an Kapital eingespart wird,
 Agieren staatlicher Apparate und Behörden, die                    kann für die Ausdehnung des Geschäfts genutzt
– an politisch gewollte Zurückhaltung gewöhnt –                    werden. Entsprechende Geschäftspraktiken er-
unter akuter industrie- und strukturpolitischer                    zeugen Rebound-Effekte, denn größerer Out-
Fantasielosigkeit leiden. Ein staatlich gelenkter                  put und steigender Konsum stellen die ökologi-
Umbau der Wirtschaft, der sich an Dekarboni-                       schen Erfolge effizienzbasierter Strategien früher
sierungszielen ausrichtet, ist mit schwerfälligen                  oder später wieder infrage. Das vermeintlich grü-
Behörden, die im Routinemodus erstarren, aber                      ne Wachstum bleibt letztendlich so „wenig nach-
kaum zu machen.                                                    haltig wie bisher“.20
     Insgesamt halten alle genannten Optionen,                          Demgegenüber zielen Demokratisierungs-
die sich in ein großes Spektrum möglicher Po-                      strategien darauf, die Ökonomie der Kontrolle
litiken auffächern, an einer Entkopplung von                       und Planung demokratischer Zivilgesellschaft zu
Wirtschaftswachstum und dessen ökologisch de-                      überantworten. Favorisiert werden neue Formen
struktiven Folgen fest. Das führt zu einem ei-                     eines kollektiven Eigentums (Genossenschaften,
gentümlichen Widerspruch. Einerseits muss sich                     Mitarbeitergesellschaften) und eine stärkere Ge-
nahezu alles rasch ändern, nur die Basisregel ka-                  wichtung des Gemeineigentums („Commons“),21
pitalistischer Marktwirtschaften, der Zwang zu                     Ansätze demokratischer Rahmenplanung22 so-
unendlicher Akkumulation und fortwährendem                          wie politische Innovationen etwa in Gestalt von
raschen Wirtschaftswachstum, soll bestehen blei-                    Transformations- und Nachhaltigkeitsräten, die
ben. Aus dem Finanz- wird ein „Naturkapitalis-                      Öffentlichkeit hinsichtlich der Erreichung von
mus“,18 wobei die gleichen systemischen Mecha-                      Nachhaltigkeitszielen herstellen und so kon-
nismen, die die Zangenkrise heraufbeschworen                        tinuierlich Druck auf die Entscheidungsträger
haben, auch zu ihrer Überwindung beitragen                         ­ausüben.23
­sollen.                                                                So unterschiedlich die Ansätze der Demokra-
     Dass dieser „kapitalistische Realismus“19                     tisierung im Detail auch sein mögen, sie alle eint
letztendlich unrealistisch bleibt, wird von diver-                 die Prämisse, wonach eine Wende zur Nachhal-
sen Politikansätzen moniert, die auf eine Befrei-                  tigkeit ohne die grundlegende Veränderung eta-
ung der Gesellschaften von systemischen Akku-                      blierter Produktions- und Lebensweisen nicht zu
mulations- und Wachstumszwängen setzen. Ich                        bewerkstelligen ist. Ließe sich eine ökologische
bezeichne diese oft noch wenig konturierten Stra-                  Qualitätsproduktion realisieren, würde stofflich
tegien als Demokratisierungsoption. Gemein-                        wenig, dafür aber höherwertiger konsumiert. Das
sam ist diesen Ansätzen, dass sie Klimaschutz                      wäre möglich, weil Nachhaltigkeitsziele nicht nur
und ökologische Nachhaltigkeit mit dem Über-                       in die Preisbildung, sondern ebenso in die Pla-
gang zu einem anderen, letztendlich postkapita-                    nungs- und ökonomischen Anreizsysteme inte-
listischen Gesellschaftstyp verbinden. In freilich                 griert wären. Kooperation, Gleichstellung und
sehr unterschiedlicher Weise beziehen sie auch                     die Vermeidung ökologischer Belastungen wür-
die Konfliktachse sozialer Nachhaltigkeit ein. Am                  den ebenso belohnt wie der Aufbau weitgehend
Kapitalismus monieren sie neben dessen Krisen-                     geschlossener Wirtschaftskreisläufe und nachhal-
                                                                   tiger Mobilitätssysteme. Dazu würde eine tech-
                                                                   nologisch mögliche Reorganisation der Arbeits-
17 Das räumt Mariana Mazzucato durchaus ein. Vgl. dies.,           prozesse beitragen, die ermöglichte, was sich
Wie kommt der Wert in die Welt? Von Schöpfern und Abschöp-
fern, Frank­furt/M.–New York 2018, S. 269.
18 Vgl. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Eine spannende Reise zur      20 Tim Jackson, Wohlstand ohne Wachstum, München 2011,
Nachhaltigkeit. Naturkapitalismus und die neue Aufklärung, in:     S. 129.
Benjamin Görgen/Björn Wendt (Hrsg.), Sozialökologische Uto-        21 Vgl. Silke Helfrich, Commons. Für eine Neue Politik jenseits
pien. Diesseits oder jenseits von Wachstum und Kapitalismus?,      von Markt und Staat, Bielefeld 2014.
München 2020, S. 81–95.                                            22 Vgl. Pat Divine, Planning for Freedom, in: Michael Brie/
19 Mark Fisher bezeichnet damit eine Grundhaltung, den             Claus Thomasberger (Hrsg.), Karl Polanyi’s Vision of a Socialist
Untergang der Menschheit eher in Kauf zu nehmen als ein Ende       Transformation, Montréal 2018, S. 209–220.
des Kapitalismus anzustreben. Vgl. Mark Fisher, Kapitalistischer   23 Vgl. Klaus Dörre, Die Utopie des Sozialismus. Kompass für
Realismus ohne Alternative?, Hamburg 2020.                         eine Nachhaltigkeitsrevolution, Berlin 2021, S. 140 ff., S. 165.

                                                                                                                                  09
APuZ 3–4/2022

Thomas Morus bereits für seine Insel Utopia                       lismus und seine Eliten immer wieder auf die Pro-
wünschte: eine kurze Vollzeiterwerbsarbeit für                    be zu stellen. Dazu gehört, genau zu inspizieren,
alle, die große Freiräume für die Ausübung ande-                  was sich hinter den diversen politischen Angebo-
rer Tätigkeiten schafft.24                                        ten eines Green New Deal genau ­verbirgt.
                                                                      In Deutschland, Europa und auch weltweit
                SCHLUSSBEMERKUNG                                  mangelt es nicht an Konzeptionen, die verspre-
                                                                  chen, soziale mit ökologischer Nachhaltigkeit in
Alle Demokratisierungsstrategien zeichnen sich                    Einklang zu bringen. Sie alle beanspruchen, die
durch etwas aus, was dem „kapitalistischen Rea-                   längst im Gange befindliche große gesellschaft-
lismus“ fehlt: den Mut, über scheinbar unverän-                   liche Transformation als Sprungbrett für den
derbare Systemgrenzen hinauszublicken, um die                     Übergang zu besseren, nachhaltigen Gesellschaf-
Zukunft mit utopischem Überschuss und posi-                       ten zu nutzen. Ob dergleichen gelingen kann, ist
tiven Visionen anzugehen. Auch diese Strategien                   ungewiss. Gegenwärtig besitzen autoritäre Ant-
sehen sich indes mit einem strukturellen Wider-                   worten auf die Zangenkrise eine beträchtliche At-
spruch konfrontiert, erfordern sie doch in der ei-                traktivität. Ob sich Gegenentwürfe durchsetzen,
nen oder anderen Weise eine radikale Überwin-                     wird wesentlich davon abhängen, ob es gelingt,
dung bestehender Machtverhältnisse. Weil das,                     Konflikte um die sozial-ökologische Transfor-
wie der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze betont,                  mation innerhalb eines demokratischen Rahmens
schon wegen der Corona-Pandemie und ihrer so-                     und einer halbwegs zivilen Staatengemeinschaft
zialen Folgen derzeit völlig unwahrscheinlich er-                 auszutragen. Auf der Mikro­ebene findet sich bei-
scheint25 und die Zeitfenster für Veränderungen                   des. Wir beobachten die Verselbstständigung von
schrumpfen, kommen auch Demokratisierungs-                        ökologischer und sozialer Konfliktachse in den
strategien nicht umhin, Einfluss auf das derzeit                  Braunkohlerevieren wie der Lausitz samt ent-
dominante Krisenmanagement zu nehmen.267                          sprechenden Lagerbildungen. Wir sehen aber
    Um es klar zu sagen: Keine der skizzierten                    auch, wie Aktive aus Klimabewegungen Solida-
politischen Optionen kann für sich genommen                       ritätskomitees bilden, um die Gewerkschaft bei
den Weg in eine nachhaltige Gesellschaft bahnen.                  der Tarifrunde im Öffentlichen Personennahver-
Es kommt auf die Mischungsverhältnisse an, die                    kehr zu unterstützen, während ver.di diese Aus-
transformative Politiken beinhalten. Bei der Er-                  einandersetzung bewusst als einen Beitrag zum
probung solcher Strategien ist angesichts einer                   Klimaschutz anlegt.27 Immerhin gibt es also zar-
ungewissen Zukunft Experimentierfreudigkeit                       te Pflänzchen für neue Allianzen, die Hoffnung
dringend geboten. Die Journalistin Naomi Klein                    machen können. Mehr und Besseres lässt sich
hat das Grundprinzip radikaler Realpolitik tref-                  zum Stand der sozial-ökologischen Transfor-
fend auf den Punkt gebracht. Einerseits hegt sie                  mation derzeit wohl nicht sagen. Der Zangen-
keinen Zweifel, dass „der Kapitalismus, nicht die                 griff von Ökonomie und Ökologie dürfte daher
‚menschliche Natur‘“ uns „die historische Chan-                   künftig noch an Stärke gewinnen. Damit wird der
ce im Kampf gegen den Klimawandel verbaut“26                      Krisenmodus noch nicht zur normalen „Integra-
haben. Andererseits vermeidet sie abstrakte De-                   tionsform“ einer nächsten Gesellschaft. Nur Kri-
batten über die Unmöglichkeit systemkonformer                     senrobustheit ist zukunftsträchtig. Deshalb wer-
Nachhaltigkeit. Im Sinne eines radikalen Pragma-                  den nicht Märkte, sondern nachhaltige Solidarität
tismus plädiert sie eindringlich dafür, den Kapita-               und Kooperation die wichtigsten Triebkräfte des
                                                                  Neuen sein. Je rascher sich diese Einsicht verbrei-
                                                                  tet, desto größer ist die Chance, dass die kom-
24 Vgl. Thomas Morus, Utopia, Stuttgart 1980 [1516], S. 28 f.
                                                                  mende Gesellschaft eine bessere sein wird.
25 Vgl. Adam Tooze, Welt im Lockdown. Die globale Krise und
ihre Folgen, München 2021, S. 20 f.
26 Naomi Klein, Warum nur ein Green New Deal unseren
Planeten retten kann, Hamburg 2019, S. 273.                       KLAUS DÖRRE
27 Vgl. Julia Kaiser, #Wir fahren zusammen. Die Allianz von       ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschafts-
Fridays for Future und ver.di im Bereich Nahverkehr als Exempel
                                                                  soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität
ökologischer Klassenpolitik, in: Klaus Dörre et al. (Hrsg.),
Abschied von Kohle und Auto? Sozialökologische Transforma-
                                                                  Jena und war geschäftsführender Direktor des
tionskonflikte um Energie und Mobilität, Frank­furt/M. 2020,      DFG-Kollegs „Postwachstumsgesellschaften“.
S. 267–283.                                                       klaus.doerre@uni-​jena.de

10
Green New Deals APuZ

       IMPROVISIEREND DURCH DIE KRISE:
               DER NEW DEAL
                                        Kiran Klaus Patel

Einmal mehr ist der New Deal in aller Munde.         heilungskräfte des Marktes“ zu setzen und dem
Mit vielen Maßnahmen bezieht sich die US-Re-         Staat einen Sparkurs zu verordnen. Im Ergebnis
gierung unter Joe Biden gegenwärtig auf die Re-      verschlechterte sich die Lage dadurch nur noch.
formpolitik seines demokratischen Vorgängers         Wie auch in anderen Teilen der Welt fragten sich
Franklin D. Roosevelt aus den 1930er Jahren.         deswegen viele Menschen in Amerika, ob nicht
Aber auch die EU hat sich einem Green Deal ver-      die radikalen Alternativen am rechten und am lin-
schrieben; darüber hinaus macht dieses Stichwort     ken Rand des politischen Spektrums der Demo-
in Großbritannien, Australien, aber zum Beispiel     kratie überlegen seien – immerhin schienen Ge-
auch in Südkorea die Runde. Offensichtlich ent-      sellschaften wie die So­wjet­union oder bald auch
spricht es dem heutigen Zeitgeist, eine der sym-     das nationalsozialistische Deutschland die Krise
bolkräftigsten politischen Phasen des 20. Jahr-      besser zu meistern. So stellte etwa der amerika-
hunderts als mobilisierende Kraft für Gegenwart      nische Ökonom Stuart Chase in einer Mischung
und Zukunft heraufzubeschwören.                      aus Resignation über die eigene Lage und Bewun-
    Was aber war der New Deal? Im Wesentlichen       derung globaler Trends die Frage: „Warum soll-
verbirgt sich dahinter eine Reihe von wirtschafts-   te man den Russen den ganzen Spaß dabei über-
und sozialpolitischen Reformmaßnahmen im ers-        lassen, die Welt zu verändern?“03 Die Forschung
ten Jahrfünft der Präsidentschaft Roosevelts, der    hat jedes positive Bild von der angeblichen Über-
die USA insgesamt von 1933 bis 1945 regierte. Von    legenheit der Diktaturen längst widerlegt; zeitge-
seinem Amtsantritt bis ungefähr 1937/38 versuch-     nössisch hatte es durchaus Strahlkraft.
te Roosevelt unter dem Stichwort des „New Deal“          Ein Symbol für die Trägheit der politischen
mit seiner Entourage, jene Doppelkrise von Kapi-     Ordnung in Amerika war die verordnete Über-
talismus und Demokratie in den Griff zu bekom-       gangszeit zwischen der Präsidentschaftswahl im
men, welche die USA damals tief erschütterte.01      November 1932 und Roosevelts Amtsantritt im
                                                     März des Folgejahrs: Im Zeitalter der Postkut-
          EIN LAND AM ABGRUND                        sche, aus dem die Regelung stammte, war es sinn-
                                                     voll gewesen, eine mehrmonatige Transitionspha-
Die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise hatte      se bei einem Amtswechsel einzubauen. Dadurch
in den Vereinigten Staaten nicht nur ihren Aus-      erhielt ein künftiger Präsident Zeit, seine Geschäf-
gangspunkt; sie traf das Land auch mit beson-        te zu Hause abzuschließen und in die Hauptstadt
derer Wucht: 1932 war rund ein Viertel aller Er-     überzusiedeln, selbst wenn er aus einem entfernten
werbsfähigen arbeitslos; zwischen 1929 und Ende      Teil des Landes kam. Im Krisenwinter 1932/33, als
1932 verloren die im Dow-Jones-Index geliste-        Eisenbahnen, Autos und ansatzweise sogar Flug-
ten Aktien knapp 90 Prozent ihres Wertes. In den     zeuge längst für ein höheres Lebenstempo gesorgt
Tagen vor Roosevelts Amtsantritt im März 1933        hatten, versinnbildlichte die Bestimmung dagegen
stand außerdem das Bankensystem kurz vor der         nur, wie viel sich schnellstens ändern musste.
Kernschmelze. Viele hielten den Kapitalismus für         Die Krise der bisherigen Ordnung zeigte sich
gescheitert – die wenige Jahre zuvor ausgerufe-      bereits am Wahlabend. Denn als Roosevelt in je-
ne Phase der Prosperität kam den Menschen wie        nem Herbst einen Erdrutschwahlsieg für die De-
eine entfernte Vergangenheit vor.02                  mokraten sicherte, war dies vor allem eines: eine
    Gleichzeitig schien das politische System un-    krachende Absage an den bisherigen Präsiden-
fähig, angemessen auf die Krise zu reagieren.        ten Herbert Hoover von den Republikanern.
Das Hauptrezept bestand darin, auf die „Selbst-      Der demokratische Herausforderer war mit kei-

                                                                                                       11
APuZ 3–4/2022

nem klaren Programm in den Wahlkampf gezo-                       im Mai 1932 hatte er unterstrichen, dass es ihm
gen. Während er sich in jenen Monaten eindeutig                  vor allem um mutige Experimente zur Überwin-
zur Demokratie bekannte, ließ er eindeutige Ant-                 dung der Krise ginge; dass er sich nicht an bis-
worten in Bezug auf die Art, wie er die drängen-                 herige Glaubenssätze halten wolle.06 Trotz gewis-
den ökonomischen Probleme bekämpfen wollte,                      ser Ambivalenzen trat er letztlich für eine aktive
vermissen. Roosevelt widersprach sich sogar ge-                  Rolle des Staates ein, wiewohl die damalige wirt-
legentlich selbst – plädierte er in der einen Rede               schaftspolitische Mehrheitsmeinung diesen An-
für mehr staatliche Eingriffe, warf er in einer an-              satz als kostspielig, ungerecht und krisenver-
deren dem bisherigen Amtsinhaber Hoover vor,                     schärfend kritisierte. Von solchen Orthodoxien
zu viel bundesstaatliche Kontrolle eingeführt zu                 ließ Roosevelt sich nicht allzu sehr beeindrucken;
haben. Der Staat sollte aktiver werden, zugleich                 Pragmatismus und Tempo standen fortan im Vor-
aber sparen. Für den einflussreichen Journalisten                dergrund. In seiner Antrittserklärung sprach er
Walter Lippmann stand fest, dass Roosevelt eine                  davon, dass man nichts als die Furcht selbst zu
„überaus beeinflussbare Person“ sei, „ohne kla-                  fürchten habe,07 und legendär wurden bald jene
res Verständnis der öffentlichen Angelegenheiten                 Sitzungen, in denen er Mitglieder seines Teams
und ohne besonders starke123 Überzeugungen“.04                   mit eigentlich unvereinbaren Positionen so lange
    Selbst der Begriff „New Deal“ war im We-                     tagen ließ, bis sie sich zumindest auf einen For-
sentlichen ein Produkt des Zufalls. In der Rede,                 melkompromiss geeinigt hatten.
mit der Roosevelt im Juli 1932 seine Nominie-                        Angesichts der tiefen Krise konnten die New
rung zum Präsidentschaftskandidaten der Demo-                    Dealer mit diesem Ansatz ein umfangreiches Paket
kraten annahm, versprach er, die Karten für das                  von Reformen in die Welt setzen. Bereits die ers-
amerikanische Volk neu zu mischen – „a new deal                  ten 100 Tage im Amt – seit der Zeit Roosevelts sind
for the American people“.05 Er selbst und sein                   die „first hundred days“ ein geflügelter Begriff
Team maßen dieser Formulierung keine große                       und Gradmesser für Erfolg in der amerikanischen
Bedeutung bei. Es war die Presse, die auf der Su-                Politik – brachten eine Fülle von Maßnahmen mit
che nach einer Schlagzeile die Formel aufgriff und               sich. Die erste Initiative der New Dealer, mit der
sie mit Roosevelt und seinem Programm verband.                   sie der Bankenpanik im März 1933 Einhalt gebie-
Bald darauf machte sich das Wahlkampfteam den                    ten wollten, schrieb sogar Parlamentsgeschichte.
Begriff zu eigen. Dennoch war damals mitnich-                    Fünf Tage nach Roosevelts Amtsantritt wurde das
ten abzusehen, dass sich noch rund ein Jahrhun-                  einzige Exemplar, das es von der entsprechenden
dert später Menschen auf der ganzen Welt auf den                 Gesetzesvorlage gab, im Kongress verlesen. Die
New Deal beziehen würden.                                        Debatte darüber war auf 40 Minuten beschränkt,
                                                                 woraufhin das Repräsentantenhaus das Gesetz
       UNORTHODOXE IMPROVISATION                                 einstimmig verabschiedete. Rund vier Stunden da-
                                                                 nach ging der Senat denselben Schritt und noch
Trotz – und teilweise gerade wegen – dieser Un-                  am selben Tag unterschrieb Roosevelt das Gesetz,
bestimmtheit veränderte der New Deal die USA                     das der Bundesebene weitreichende Kompetenzen
grundsätzlich. Als Präsident betonte Roosevelt                   übertrug, die unter anderem die Rolle des Staates
immer wieder, keine vorgefertigten Antworten                     in der Bankenregulierung stärkten. Tatsächlich ge-
bereit zu haben. Bereits in einer Wahlkampfrede                  lang es so, die akute Bankenkrise zu überwinden
                                                                 und das Vertrauen in das amerikanische Finanz-
01 Vgl. aus der Fülle der vorhandenen Literatur Eric Rauchway,   system zumindest ansatzweise wiederherzustellen.
Why the New Deal Matters, New Haven 2021; Jason Scott                Viele weitere wichtige Vorhaben folgten in
Smith, A Concise History of the New Deal, Cambridge 2014;
                                                                 atemberaubendem Tempo, etwa ein weitgefasstes
William D. Pederson (Hrsg.), A Companion to Franklin D. Roose-
velt, Malden 2011.
                                                                 Gesetz zur Stabilisierung der Landwirtschaft und
02 Vgl. z. B. John Kenneth Galbraith, The Great Crash 1929,      umfangreiche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen,
Boston 1997.                                                     die Erwerbslosen eine neue Perspektive boten.
03 Stuart Chase, A New Deal, New York 1932, S. 252.
04 Walter Lippmann, Interpretations, 1931–1932, New York
1932, S. 261.                                                    06 Vgl. Roosevelt, Address at Oglethrope University, in: Rosen-
05 Franklin D. Roosevelt, Acceptance Address, in: Samuel I.      man (Anm. 5), S. 646.
Rosenman (Hrsg.), Public Papers and Addresses of Franklin D.     07 Vgl. Roosevelt, First Inaugural Address, in: Rosenman
Roosevelt, Bd. 1, New York 1938, S. 659.                         (Anm. 5), S. 11–16.

12
Green New Deals APuZ

Karte der Tennessee Valley Authority (TVA) zur Planung von Staudämmen zur Flutkontrolle, Energieerzeu-
gung und Landbewässerung, ca. 1940.
© picture alliance/Everett Collection

Die Tennessee Valley Authority (TVA) war ein         Einzelstaaten oder dem Bund bereits seit Langem
riesiges Regionalprojekt im bitterarmen Süden        diskutiert; ab 1933 ergab sich durch den Prob-
des Landes, das unter anderem der Stromerzeu-        lemdruck und den Regierungswechsel ein Zeitfens-
gung diente. Die mächtigen Staudämme der TVA         ter, um sie zu verwirklichen. Einem verbindlichen
sollten das Land aber nicht nur ökonomisch, son-     wirtschaftspolitischen Ansatz zeigten sich die ver-
dern auch sozial entwickeln und der massiven so-     schiedenen Projekte jedoch nicht verpflichtet.
zialen Ungleichheit in der Region entgegenwir-
ken. Direkt nach Abschluss der ersten 100 Tage                        INTERVENTION
im Amt folgte mit dem National Industrial Re-                       UND ABSCHIRMUNG
covery Act ein weiteres Großprojekt, das zusätz-
liche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Infra-         Überblickt man die vielen Dutzend Programme
strukturbereich ebenso beinhaltete wie staatliche    und Behörden, die neu geschaffen wurden, schält
Eingriffe in die gewerbliche Wirtschaft.             sich dennoch eine Richtung heraus: Im Zentrum
    Auch die Folgejahre sahen wichtige Initiati-     stand die Absicht, die amerikanische Bevölkerung
ven, unter anderem den Social Security Act von       stärker als bisher vor den Unwägbarkeiten der mo-
1935, der erstmals ein Sozialversicherungssystem     dernen Welt zu schützen. Dazu setzten die New
auf nationaler Ebene schuf. Während damals die       Dealer auf eine Vielzahl teilweise widersprüchlicher
Alters- und die Arbeitslosenversicherung im Vor-     Instrumente. Auf übergreifender Ebene bauten sie
dergrund standen, scheiterte das Projekt einer öf-   jedoch vor allem auf zweierlei: Staatsinterventionis-
fentlich-rechtlichen Krankenversicherung – eine      mus und die Abschirmung vor globalen Risiken.08
klaffende Lücke, die erst 2010 unter Präsident Ba-       Staatsinterventionismus meinte, dass über
rack Obama weitgehend geschlossen wurde, aber        eine Vielzahl von Programmen der Staat eine grö-
weiterhin höchst umstritten ist.
    Nicht alles am frühen New Deal war neu. Über     08 Vgl. dazu Kiran Klaus Patel, The New Deal. A Global
viele dieser Vorhaben hatte man auf der Ebene von    History, Princeton 2016.

                                                                                                              13
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So wird’s gemacht: Demonstrationsacker der TVA zur Förderung von chemischen Düngemitteln in der
Landwirtschaft, 1937.
© picture alliance/Everett Collection

ßere Verantwortung übernahm. Durch den New            Staat und seine Maßnahmen drangen so ganz in
Deal wurden im föderalen System der USA zwar          die Fläche der USA vor. Während in den meisten
auch die Einzelstaaten gestärkt; vor allem aber ge-   europäischen Gesellschaften Staat und Verwal-
wann die Bundesebene neue Kompetenzen hinzu.          tung bereits lange zuvor eine große Rolle im All-
Vor dem New Deal waren nationale Instanzen,           tag gespielt hatten, änderte dies für die Vereinig-
zumindest in Friedenszeiten, im Leben der meis-       ten Staaten erst der New Deal.09
ten Amerikanerinnen und Amerikaner fast nur in            Roosevelts Reformpolitik gab den Men-
Form des Postamts präsent gewesen; davon ab-          schen so das Gefühl, dass „die da oben“ sich um
gesehen blieb „Washington“ bis 1933 weitgehend        sie kümmerten; dass man nicht hilflos der Wirt-
unwichtig. Das änderte sich nun grundlegend.          schaftskrise ausgesetzt war. Statt Resignation
Wer 1934 sein Feierabendbier im Freundeskreis in      herrschte vielerorts bald Aufbruchstimmung. Da-
der Kneipe trank oder sich in der Nachbarschaft       bei kamen keineswegs alle Maßnahmen einfach
oder der Familie traf, kam kaum umhin, über ei-       aus Washington oder von einer anderen staatli-
nes der zahllosen neuen Programme zu sprechen         chen Instanz. Der New Deal zielte zum Beispiel
– über die Blaue-Adler-Kampagne von Roose-            auch darauf, die Gewerkschaften zu stärken und
velts Industriepolitik, die unter anderem Min-        die Gesellschaft als Ganzes zu mobilisieren. Diese
destlöhne durchsetzte; über die vielen neu gebau-     Aktivierung zivilgesellschaftlicher Kräfte verlieh
ten Straßen; über die Siedlungsprojekte oder die
Expertinnen und Experten, die nun Landwirte           09 Vgl. etwa Gary Gerstle, Liberty and Coercion. The Paradox
in den entlegensten Ecken des Landes mit besse-       of American Government from the Founding to the Present,
ren Anbautechniken vertraut machen sollten. Der       Princeton 2015.

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Green New Deals APuZ

dem New Deal zusätzliche Schubkraft und hilft                        Sicherheit durch Abschirmung übersetzte
zu erklären, warum das Wertegefüge jener Jahre                   sich in dieser Zeit zugleich nicht in einen dras-
und die sogenannte New Deal Order dem Land                       tischen Ausbau der militärischen Kapazitäten.
für Jahrzehnte ihren Stempel aufsetzen konnten.10                Vielmehr blieb der Staat des New Deal auffallend
     Die zweite Dimension, die Abschirmung, war                  zivil und unterschied sich grundsätzlich von je-
eine Reaktion auf Globalisierungskrisen. Denn der                nem gewaltigen Waffenarsenal und den riesigen
New Deal fiel in eine Zeit, in der die Welt bereits              Streitkräften, welche die USA wenige Jahre später
stark vernetzt war und ökonomische und andere                    im Zweiten Weltkrieg mobilisierten und die das
Krisen leicht von einem Land ins nächste überspran-              Gesicht des Landes seitdem prägen.13
gen. Wenngleich der Ausgangspunkt der Weltwirt-                      Der New Deal stand jedoch nicht nur für neue
schaftskrise in Amerika selbst gelegen hatte, setzte             Inhalte, sondern auch für einen anderen Politikstil
die Bundesadministration unter Roosevelt nun da-                 und eine neue politische Kultur. Roosevelt und sein
rauf, das Land unabhängiger von globalen Kräften                 Team setzten die einzelnen Programme sorgfältig
zu machen. Der aktive Staat des New Deal förder-                 als Neuanfang in Szene. Das begann schon mit sei-
te deswegen nicht die internationale Kooperation,                nem Amtsantritt: Sein Vorgänger Hoover hatte
sondern stellte die eigene Nation an die vorderste               dem künftigen Präsidenten in der Übergangszeit
Stelle. Das wog umso schwerer, da sich die USA da-               die Zusammenarbeit angeboten. Roosevelt lehnte
mals bereits zur führenden westlichen Industrie-                 dies ab, um seinen Einstieg als radikalen Bruch in-
macht entwickelt hatten. Wenn sie nicht auf mul-                 szenieren zu können. Oder, als weiteres Beispiel:
tilaterale Zusammenarbeit bauten, dann hatte das                 Im Amt nutzte er das damals noch junge Radio als
Folgen für die ganze Welt. Die ohnehin harschen                  Mittel, um in neuartiger Weise direkt mit der Be-
Einwanderungsgesetze wurden weiter verschärft.                   völkerung zu kommunizieren. Wenn der Mann aus
Die Währungspolitik, die damals aufgrund des so-                 der Ostküsten-Oberschicht mit gebildetem Akzent
genannten Goldstandards einen wichtigen Hebel                    in seinen berühmt gewordenen Radiobotschaften
internationaler Kooperation hätte bilden können,                 auf einen bewusst einfachen Wortschatz setzte und
wurde ganz an nationalen Prioritäten ausgerichtet.               seine Zuhörerschaft als „my fellow Americans“
Symbolträchtig erteilte Roosevelt im Sommer 1933                 oder als „meine Freunde“ ansprach, versuchte er,
auf einer großen Wirtschaftskonferenz in London                  ein neues Gemeinschaftsgefühl zu schaffen. Die
der länderübergreifenden Zusammenarbeit eine                     vielen Zuschriften, die das Weiße Haus als Reakti-
Absage. Grundsätzlich fühlte sich Roosevelt durch-               on erreichten, verdeutlichen den Erfolg dieser Be-
aus dem Internationalismus verpflichtet; angesichts              mühungen.14 Paraden, Symbole und vieles mehr
der Weltwirtschaftskrise setzte er jedoch darauf, zu-            sollten ebenfalls Aufbruch und nationales Selbst-
nächst die Probleme im eigenen Land zu lösen.11                  vertrauen vermitteln.
     Der Ansatz unilateraler Abschirmung, der
den New Deal prägte, ist heute in der Erinne-                                          KRITIK AM
rung an das Amerika der Zwischenkriegszeit in                                          NEW DEAL
den Hintergrund getreten. Er wird überlagert
von dem internationalistisch-multilateralen Kurs,                Trotz des neuen Gefühls von Optimismus und
den Roosevelt allerdings erst in den Kriegsjah-                  Gemeinschaft, für das der New Deal steht, war
ren einschlug und der in den Aufbau von Orga-                    Roosevelts Politik schon zu seiner Zeit hoch kon-
nisationen wie den Vereinten Nationen mündete.                   trovers. Politisch konnte er zwar stets auf solide
Auf dieser Ebene verschwimmen heute die Ge-                      Mehrheiten bauen. Rund 40 Prozent der Amerika-
schichtsbilder – und genau dies lässt den New                    nerinnen und Amerikaner lehnten jedoch die Poli-
Deal in umso hellerem Licht erstrahlen.12                        tik des New Deal mit ihren Versprechungen ab. In
                                                                 die 1930er Jahre fallen die Anfänge einer marktli-
10 Vgl. dazu zuletzt Gary Gerstle/Nelson Lichtenstein/Alice
O’Connor (Hrsg.), Beyond the New Deal Order. U. S. Politics      13 Vgl. Maury Klein, A Call to Arms. Mobilizing America for
from the Great Depression to the Great Recession, Philadelphia   World War II, New York 2013; James T. Sparrow, Warfare
2019.                                                            State. World War II Americans and the Age of Big Government,
11 Vgl. Patricia Clavin, The Failure of Economic Diplomacy:      Oxford 2011.
Britain, Germany, France and the United States, 1931–36, New     14 Vgl. Lawrence W. Levine/Cornelia R. Levine, The Fireside
York 1996.                                                       Conversations. America Responds to FDR During the Great
12 Vgl. Patel (Anm. 8), S. 121–189.                              Depression, Berkeley 2010.

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