AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Green New Deals
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72. Jahrgang, 3–4/2022, 17. Januar 2022 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Green New Deals Klaus Dörre Rainer Land ALLE REDEN VOM KLIMA ENTWICKLUNG STATT WACHSTUM Kiran Klaus Patel IMPROVISIEREND DURCH DIE Johannes Müller-Salo · Rupert Pritzl KRISE: DER NEW DEAL KLIMASCHUTZ DURCH INNOVATION UND Thomas Döring MARKTWIRTSCHAFT 50 JAHRE „GRENZEN DES WACHSTUMS“ Birgit Mahnkopf DER GROẞ E (SELBST-)BETRUG Susanne Dröge DER EUROPÄISCHE GREEN DEAL ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Green New Deals APuZ 3–4/2022 KLAUS DÖRRE RAINER LAND ALLE REDEN VOM KLIMA ENTWICKLUNG STATT WACHSTUM Die weltweiten CO2-Emissionen sind ungleich Statt einen Rückbau der Wirtschaft braucht es verteilt – nicht nur zwischen Industrie- und eine ökologische Wirtschaftsentwicklung, mit Entwicklungsländern, sondern auch innerhalb der durch umweltkompatible Innovationen und der Industriestaaten. Eine grüne Transformation nachhaltige Ressourcenbewirtschaftung eine muss daher auch die innergesellschaftliche wirkliche sozialökologische Transformation Ungleichheit angehen, oder sie wird scheitern. erreichbar ist. Seite 04–10 Seite 31–36 KIRAN KLAUS PATEL JOHANNES MÜLLER-SALO · RUPERT PRITZL IMPROVISIEREND DURCH DIE KRISE: KLIMASCHUTZ DURCH INNOVATION DER NEW DEAL UND MARKTWIRTSCHAFT Durch unkonventionelle Maßnahmen und einen Klimapolitik muss den Forderungen nach starken Staat gelang es mit dem New Deal, die Effizienz und Gerechtigkeit genügen. Anstatt Doppelkrise von Kapitalismus und Demokratie immer ehrgeizigere Klimaziele auszurufen, täte in den USA der 1930er Jahre zu bewältigen. Es die Politik gut daran, die Instrumente und die überrascht nicht, dass sich Bewegungen und mit ihnen verbundenen gesellschaftlichen Kosten Regierungen heute weltweit auf ihn berufen. zu hinterfragen und offen zu diskutieren. Seite 11–17 Seite 37–41 THOMAS DÖRING BIRGIT MAHNKOPF 50 JAHRE „GRENZEN DES WACHSTUMS“ DER GRO ẞ E (SELBST-)BETRUG Der Bericht an den Club of Rome von 1972 ist Der Green Deal der EU-Kommission führt ein Meilenstein in der Analyse des unbegrenzten das wachstumsorientierte Wirtschaftsmodell Wirtschaftswachstums. Auf ihm fußen heutige fort – unter fadenscheinigen grünen Vorzeichen. wachstumskritische Ansätze, aber auch zahlrei- Für eine wirkliche Transformation müssten che Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt als Politik und Gesellschaft die endlichen planetaren der wichtigsten ökonomischen Kennzahl. Ressourcen der Marktlogik entziehen. Seite 18–23 Seite 42–46 SUSANNE DRÖGE DER EUROPÄISCHE GREEN DEAL Der Green Deal ist die umfassendste und ehr- geizigste Agenda, die sich die EU je gegeben hat. Die EU-Kommission verfolgt jedoch nicht bloß den Klimaschutz als Ziel, sondern will durch den Deal auch wirtschaftlich und geopolitisch zu den USA und China aufschließen. Seite 24–30
EDITORIAL Jährlich neue Temperaturrekorde, Extremwetter und die weiter schwindende Artenvielfalt zeigen, dass der menschengemachte Klimawandel voranschreitet. Dass die Menschheit ihre natürlichen Lebensgrundlagen zerstört, liegt in einer Wirtschaftsweise begründet, die auf stetem Wachstum auf Grundlage der Ver- brennung fossiler Rohstoffe fußt. Darauf wies bereits 1972 der Bericht des Club of Rome zu den „Grenzen des Wachstums“ hin. Er legte damit einen Grund- stein der Umweltbewegung und stieß neue Wirtschaftskonzepte wie „Green Growth“ und „De-Growth“ an. Heute ist weitgehend unumstritten, dass es zur Bewältigung ökologischer und sozialer Verwerfungen eine „sozial-ökologische Transformation“ braucht. Weltweit haben sich Regierungen das ursprünglich aktivistische Konzept des „Green New Deal“ auf die Fahnen geschrieben, um diese Transformation voranzutreiben. Sie zielen auf den grundlegenden Umbau von Infrastruktur, Lieferketten und Produktionstechniken, also auf eine „grüne“ Wirtschaft. Die EU und die USA etwa wollen bis 2050 klimaneutral werden. Damit ist freilich die globale Ungleichheit noch gar nicht angesprochen: Für die Länder des Glo- balen Südens scheinen Wirtschaftswachstum und damit auch höhere Emissionen unausweichlich zu sein, um Armut und Abhängigkeit zu verringern. Der Begriff „Green New Deal“ verweist auf die Politik des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt in der Großen Depression der 1930er Jahre. Dieser bewältigte die damalige Krise von Kapitalismus und Demokratie durch den „New Deal“ aus starkem Staat und dirigistischer Industriepolitik. Wie viel der Privatsektor zur Lösung der Krise beitragen kann und in welchem Umfang staatliche Eingriffe nötig sind, sind auch heute die zentralen Fragen, zumal die Kosten der heutigen Transformation sozial gerecht verteilt werden müssen. Robin Siebert 03
APuZ 3–4/2022 ALLE REDEN VOM KLIMA Perspektiven sozial-ökologischer Transformation Klaus Dörre „Die Welt steht am Abgrund“ – mit diesen auf- cher Teilbereich oder ein Funktionsmechanismus rüttelnden Worten drängte UN-Generalsekretär ist immer krisenträchtig, also auf Zeit gestört. In António Guterres am Vorabend der Klimakon- der Gegenwart häufen sich Krisen, sodass es na- ferenz in Glasgow 2021 einmal mehr darauf, der heliegt, die „Unbekanntheit der Zukunft, erfahren Klimadiplomatie endlich Taten folgen zu lassen. und bewältigt als Krise“ als „Integrationsform der Als die Welt wegen der Corona-Pandemie zeit- nächsten Gesellschaft“02 zu betrachten. Offenbar weilig still zu stehen schien, sanken die Kohlen- hat die expansive Dynamik kapitalistischer Ge- stoffemissionen zwar um etwa fünf Prozent. 2021 sellschaften einen Punkt erreicht, an dem sich die näherten sie sich aber schon wieder dem Rekord- Tendenz zu globaler Expansion mit destruktiven wert von 2019 an. Das Ziel, den globalen Tem- Gegenkräften konfrontiert sieht. Vor allem die al- peraturanstieg auf 1,5 Grad seit Beginn der In- ten kapitalistischen Zentren, aber auch die großen dustrialisierung zu begrenzen, und selbst das Schwellenländer befinden sich inmitten einer Kri- 2-Grad-Ziel geraten in Gefahr. Glasgow hat da- se von historisch neuer Qualität, die ich als öko- ran wenig geändert. Würden alle vereinbarten nomisch-ökologische Zangenkrise bezeichne. Maßnahmen greifen, landeten wir am Ende des Damit ist gemeint, dass das wichtigste Mit- Jahrhunderts bei einer Erderhitzung von weit tel zur Überwindung ökonomischer Stagnati- über 2 Grad. Die Konsequenzen des menschen- on und zur Befriedung gesellschaftlicher Konflik- gemachten Klimawandels sind allerdings längst te im Kapitalismus, nämlich die Generierung von spürbar. Während des zurückliegenden halben Wirtschaftswachstum, unter heutigen Bedingun- Jahrhunderts hat sich die Zahl der wetter- und gen ökologisch zunehmend destruktiv und deshalb klimabedingten Katastrophen verfünffacht.01 auch gesellschaftszerstörend wirkt. Denn heutiges Diese Entwicklung vor Augen, stellt sich die Wirtschaftswachstum basiert auf hohen Emissionen Frage nach den Aussichten einer sozial-ökolo- und ressourcenintensiven Produktions- und Le- gischen Transformation und damit nach gesell- bensweisen. Der Zangengriff von Ökonomie und schaftlichen Verhältnissen, die am besten realisie- Ökologie markiert Störungen der Gesellschafts- ren, was nun auch der Weltklimarat fordert: eine Natur-Beziehungen, die eben keine Krise wie jede globale Nachhaltigkeitsrevolution. Haben wir die andere sind. Erfasst werden alle sozialen Felder und Chance dazu bereits vertan oder gibt es begrün- gesellschaftlichen Teilsysteme. Deshalb favorisiere dete Aussichten auf eine erfolgreiche Transforma- ich mit der Zangenkrise eine Bezeichnung, die eine tion? Dem nachfolgenden Antwortversuch liegt klare Hierarchie der Krisenursachen benennt. Die- die These zugrunde, dass ökologische und sozia- se Krise ist historisch einmalig, weil sie mit hoher le Nachhaltigkeit sich wechselseitig bedingen, das Wahrscheinlichkeit den Übergang zu einem neuen eine ohne das andere nicht zu haben ist. Gesell- Erdzeitalter einleitet: dem Anthropozän.03 schaftliche Akteure können in der Transformati- Der Begriff „Anthropozän“ beschreibt, dass on nur erfolgreich sein, wenn sie das Spannungs- die Menschheit zum wichtigsten Faktor bei der verhältnis zwischen sozialen und ökologischen Reproduktion von außermenschlicher Natur ge- Nachhaltigkeitszielen erfolgreich bearbeiten. worden ist. Im Begriff ist eine doppelte Botschaft enthalten. Die Menschheit kann ihre Lebens- IN DER ZANGENKRISE grundlagen zerstören, ist die schlechte Nachricht. Die gute lautet: Wir Menschen haben es selbst in Moderne Gesellschaften prozessieren gewisserma- der Hand, nachhaltige Beziehungen zur Natur ßen im Modus der Krise. Irgendein gesellschaftli- zu schaffen und ihr instrumentelles Verhältnis zu 04
Green New Deals APuZ Naturressourcen und nicht-menschlichen Lebe- den Planeten in dramatischer Weise verändern und wesen zu überwinden. Ob wir die Artenvielfalt für Menschen zumindest in Teilen unbewohnbar erhalten oder die Überhitzung des Planeten stop- machen. Der Anstieg des Meeresspiegels bedroht pen, hängt in erster Linie vom praktischen Tun zunächst nur kleinere Inseln und tiefergelegene der globalen Gesellschaften ab.123 Küstenregionen; das macht das Graduelle des Kli- Klar ist, dass die Störungen der Gesellschafts- mawandels aus. Er wirkt anfangs unsichtbar und Natur-Beziehungen in der Gegenwart in ers- sozialgeografisch differenziert. ter Linie von kapitalistischen Ökonomien aus- Der Hauptgrund für den menschengemachten gehen. Deshalb halten Sozialwissenschaftler wie Klimawandel ist die auf Kohlenstoff basierende Jason Moore die Bezeichnung „Kapitalozän“ für Produktions- und Lebensweise in den frühindus angemessener. Der Kapitalismus selbst müsse als trialisierten Ländern, deren Ausbreitung im globa- Ökosystem begriffen werden. Nicht trotz, son- len Maßstab nur um den Preis eines ökologischen dern wegen des hohen Vergesellschaftungsni- Desasters möglich ist.06 Dies ist der Grund, wes- veaus der Arbeit träten die Naturschranken der halb Regierungen weltweit einen Green New Deal Kapitalakkumulation wieder stärker hervor. Zu in der einen oder anderen Form anstreben. Noch konstatieren sei „the breakdown of the strategies vor 2050 soll die Wirtschaft der wichtigsten In- and relations that have sustained capital accu- dustriestaaten vollständig dekarbonisiert sein. In- mulation over the past five centuries“.04 Deshalb nerhalb der Europäischen Union existieren inzwi- handelt es sich um mehr als eine der „großen Kri- schen verbindliche, sanktionierbare Zielsetzungen, sen“ der Kapitalakkumulation, vergleichbar etwa die einen Abschied von der Kohleverstromung mit der großen Depression im 19. Jahrhundert und einer auf fossilen Brennstoffen basierenden oder den Weltwirtschaftskrisen von 1929 bis 1932 Mobilität verlangen. Dieser Wandel ist in seiner und 1973/74. „Große Krisen“ der Akkumulation Bedeutung und seinen Ausmaßen durchaus mit führen dazu, dass sich kapitalistische Gesellschaf- der ersten industriellen Revolution vergleichbar. ten in all ihren Teilsystemen „häuten“. Sie wälzen Er erfasst alle Branchen und Gesellschaftsbereiche. das gesamte Ensemble gesellschaftlicher Verhält- Im Grunde, so lässt sich resümieren, gibt es nisse um – dies jedoch nur, um die Kernstruktur zwei Pfade, um den menschengemachten Klima- des Kapitalismus, den Zwang zu fortwährender wandel zu begrenzen und die angelagerten ökolo- Marktexpansion, zu immer neuen Landnahmen gischen Gefahren einigermaßen zu kontrollieren. eines nicht-kapitalistischen Anderen, zu konser- Entweder gelingt es, das Wirtschaftswachstum vieren und auf Dauer zu stellen.05 von seinen ökologisch destruktiven Folgen zu In der Zangenkrise stößt diese Bewegungs- entkoppeln, oder es muss eine Transformation form auf einem Planeten mit endlichen Ressour- stattfinden, die Gesellschaften vom ökonomi- cen an unüberwindbare Grenzen. Graduelle schen Wachstumszwang befreit. Prozesse wie die Erderhitzung oder auch der stei- gende Ressourcen- und Energieverbrauch können KLIMAGERECHTIGKEIT ALS ZWISCHENSTAATLICHES PROBLEM 01 Vgl. Weltorganisation für Meteorologie, Atlas of Morta- Gegenwärtig dominieren weltweit Versuche, die lity and Economic Losses from Weather, Climate and Water Extremes (1970–2019), Genf 2021. erste Option einzulösen. Doch gleich, welche po- 02 Dirk Baecker, 4.0 oder: Die Lücke, die der Rechner lässt, litischen Weichenstellungen erfolgen, sie werden Leipzig 2018, S. 94. stets auf das Spannungsverhältnis zwischen sozi- 03 Vgl. Paul J. Crutzen, Das Anthropozän, München 2019. In alen und ökologischen Nachhaltigkeitszielen sto- den Erdwissenschaften ist der Begriff umstritten, und es ist noch ßen. Offenkundig variiert der Ausstoß von Treib- immer möglich, dass er „gänzlich verworfen wird“. Erle C. Ellis, Anthropozän. Das Zeitalter des Menschen – eine Einführung, hausgasemissionen sowohl mit der jeweiligen München 2020, S. 7. Ich nutze ihn dennoch, um das Besondere Platzierung in der sozialen Geografie von Staaten der Zangenkrise zu akzentuieren. als auch mit der jeweiligen Klassenposition in- 04 Jason W. Moore, Capitalism in The Web Of Life, London– nerhalb nationaler Gesellschaften. Während das New York 2015, S. 1. 05 Vgl. Klaus Dörre, Risiko Kapitalismus. Landnahme, Zangenkri- se, Nachhaltigkeitsrevolution, in: ders. et al. (Hrsg.), Große Trans- 06 Vgl. Ulrich Brand/Markus Wissen, Imperiale Lebensweise. formation? Zur Zukunft moderner Gesellschaften. Sonderband Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im Globalen Kapitalis- des Berliner Journals für Soziologie, Wiesbaden 2019, S. 3–34. mus, München 2017. 05
APuZ 3–4/2022 reichste Zehntel der erwachsenen Weltbevölke- und zwischenstaatlicher Auseinandersetzungen rung 2015 49 Prozent der klimaschädlichen Emis- geworden. Wenn die EU ihre Ökonomien bis spä- sionen verursachte, war die untere Hälfte nur für testens 2050, China seine Wirtschaft aber erst bis zehn Prozent verantwortlich.07 2060 emissionsfrei machen will, ist das aus EU- Hinter dieser Asymmetrie verbergen sich zwei Perspektive ein unzulässiger Wettbewerbsvorteil, eng miteinander verkoppelte Gerechtigkeitspro- für China aber ein gerechter Ausgleich für die ko- blematiken. Die erste wurzelt in den ungleichen loniale Erblast. Und auch unter den Mitglieds- Anteilen von Ländern an den klimarelevanten staaten der EU ist der Ausstoß gemessen an den Emissionen. 2015 entfielen 26,3 Prozent der jemals Haushaltseinkommen höchst ungleich verteilt. ausgestoßenen Treibhausgase auf die USA und Allein die einkommensstärksten zehn Prozent 23,4 Prozent auf Europa. Weit dahinter lagen Chi- der Haushalte in Deutschland, Italien, Frankreich na (11,8 Prozent) und Russland (7,4 Prozent). Be- und Spanien, denen insgesamt etwa 28,8 Millio- trachtet man die derzeitigen Anteile an den jährli- nen Menschen zugerechnet werden können, emit- chen globalen Emissionen, stößt China allerdings tieren mehr als die gesamte Bevölkerung von 16 mit mehr als 14 Milliarden Tonnen längst die größ- ärmeren EU-Mitgliedsstaaten.010 te Menge an Treibhausgasen aus, Indien liegt hin- Daher ist es wenig verwunderlich, dass die ter den USA bereits an dritter Stelle. Rechnet man Fortschritte beim Klimaschutz auf internationa- indessen nach Emissionen pro Kopf, ergibt sich ler Ebene bisher relativ begrenzt geblieben sind. ein anderes Bild. Der Treibhausgasausstoß je Ein- Umso wichtiger wird, dass die Länder der früh- wohner ist in den USA nahezu doppelt so hoch industrialisierten Weltregionen bei der so drin- wie in China.08 Indiens Anteil wird von der Bun- gend benötigten Nachhaltigkeitsrevolution eine desrepublik um mehr als das Sechsfache übertrof- Vorreiterrolle spielen. Der richtige Hinweis, die fen. Auch die absolute Emissionslast pro Kopf va- Bundesrepublik habe nur einen Anteil von zwei riiert beträchtlich. Wer in den USA, Luxemburg, Prozent an den klimaschädlichen Emissionen, Katar oder Saudi-Arabien zum reichsten einen entlastet daher nicht von den Anforderungen ei- Prozent gehört, emittiert mehr als das Zweitau- ner raschen Transformation. Das Gegenteil ist sendfache eines armen Bewohners von Ländern der Fall: Es sind die Industriestaaten, die zeigen wie Ruanda, Honduras oder Tadschikistan.09 müssen, wie ein rascher, nachhaltiger Umbau von Aus diesen Ungleichheitsrelationen ergibt sich Ökonomie und Gesellschaft zu verwirklichen ist. eine Gerechtigkeitsproblematik, die global zwi- schen Nationalstaaten oder Staatenbünden ausge- KLIMAGERECHTIGKEIT ALS tragen wird. Einerseits ist eine rasche Reduktion INNERGESELLSCHAFTLICHES von klimaschädlichen Emissionen nur möglich, PROBLEM sofern in den großen Flächenstaaten des Südens, allen voran China und Indien, in kürzester Zeit Alle Versuche, in diese Richtung zu arbeiten, sto- ein radikales Umsteuern stattfindet. Andererseits ßen auf die Zunahme klassenspezifischer Un- können sich entwickelnde Staaten zu Recht darauf gleichheiten innerhalb nationaler Gesellschaften. pochen, dass die frühindustrialisierten Länder bei Diese Ungleichheiten gewinnen in ihrer Bedeu- der Bekämpfung des Klimawandels vorlegen und tung für den Klimaschutz gegenüber den zwi- die Hauptlast der Kosten schultern müssen. Dies schenstaatlichen Ungleichheiten kontinuierlich belastet alle Versuche für eine halbwegs planvol- an Relevanz.11 Werden diese Ungleichheiten nicht le Dekarbonisierung der Weltwirtschaft. Emissi- angegangen, können sie als gewaltiger Bremsklotz onen sind zum Gegenstand imperialer Rivalitäten für ökologische Nachhaltigkeitsziele wirken. 07 Vgl. Kevin P. Gallagher/Richard Kozul-Wright, A New Multi- 010 Vgl. Confronting Carbon Inequality in the European Union, lateralism for Shared Prosperity. Geneva Principles for a Global 7. 12. 2020, www.oxfam.org/en/research/confronting-carbon-in- Green New Deal, Genf 2019, S. 5. equality-european-union; Diana Ivanova/Richard Wood, The Un- 08 Vgl. Kate Larsen et al., China’s Greenhouse Gas Emissions equal Distribution of Household Carbon Footprints in Europe and Exceeded the Developed World for the First Time in 2019, Its Link to Sustainability, in: Global Sustainability 3/2020, S. 1–12. 6. 5. 2021, https://rhg.com/research/chinas-emissions-surpass- 11 1998 erklärten die Ungleichheiten innerhalb nationaler developed-countries. Gesellschaften etwa 30 Prozent der globalen Emissionen; 2013 09 Vgl. World Resources Institute, CAIT Climate Data Explorer waren es bereits 50 Prozent. Vgl. Luca Chancel/Thomas Piketty, 2021, Washington, D. C. 2021. Carbon and Inequality: From Kyoto To Paris, Paris 2015. 06
Green New Deals APuZ In der wachstumskritischen Literatur wird Haushalten mit mittleren Einkommen im glei- häufig darauf hingewiesen, dass die Bevölkerun- chen Zeitraum um 13 Prozent abgenommen.14 gen der reichen Staaten überwiegend zu jenem In Deutschland verursachten die reichsten zehn Zehntel der erwachsenen Weltbevölkerung zäh- Prozent der Haushalte 26 Prozent der Emissi- len, das den erwähnt hohen Anteil an der glo- onslast, die untere Hälfte war für 29 Prozent der balen Emissionslast erzeugt. Fatal wäre es je- Emissionen verantwortlich. Während das reichs- doch, würde man die Ungleichheit innerhalb te Prozent nichts einsparte, reduzierte die unte- dieser Bevölkerungen aus den Augen verlieren. re Hälfte ihre Emissionen um ein Drittel. Bei den Die einkommensstärksten zehn Prozent der eu- Haushalten mit mittleren Einkommen betrugen ropäischen Haushalte sind für 27 Prozent der die Einsparungen immerhin 12 Prozent. Emissionen in der EU verantwortlich, während Zugespitzt formuliert bedeutet dies, dass die die untere Hälfte etwa 26 Prozent der klima- Produktion von Luxusartikeln für die oberen schädlichen Gase verursacht. Allein das reichste Klassen und deren Konsum zu einer Haupttrieb- Prozent verzeichnet einen jährlichen Pro-Kopf- kraft eines Klimawandels geworden sind, unter Ausstoß von 55 Tonnen CO2 und liegt damit dessen Folgen national wie global vor allem die um etwa das Siebenfache über dem europäischen ärmeren, sozial besonders verwundbaren Bevöl- Durchschnittswert. Hauptgrund ist das Fliegen. kerungsgruppen zu leiden haben. Der oftmals Beim einkommensstärksten Prozent verursachen erzwungene Konsumverzicht in den unteren Flugreisen mehr als 40 Prozent der Emissionen, Klassen bringt den wachsenden Anteil des ein- weitere 21 Prozent gehen auf das Konto des in- kommensstärksten oberen Zehntels der europä- dividuellen PKW-Verkehrs. Geflogen wird na- ischen Bevölkerung im statistischen Mittel zum hezu ausschließlich vom oberen Dezil der Haus- Verschwinden. Nur weil Personen mit „kleinen halte mit einem jährlichen Nettoeinkommen von Geldbörsen“ ihren Gürtel wegen sinkender Ein- durchschnittlich 40 000 Euro. Um die Klimazie- kommen und steigender Preise enger schnallen le zu erreichen, müsste der Pro-Kopf-Ausstoß mussten und müssen, sind die verschwenderi- an Klimagasen auf durchschnittlich 2,5 Tonnen schen Lebensstile der oberen Klassen überhaupt im Jahr sinken; das reichste Prozent der Haus- noch möglich. Deshalb, so kann geschlussfolgert halte liegt um mehr als das zweiundzwanzigfa- werden, ist der Kampf gegen Klimawandel und che darüber. Das heißt, nahezu alle müssen ihren ökologische Zerstörung stets auch einer zuguns- Lebensstil ändern, aber der Veränderungsdruck ten der Armen und Benachteiligten – dies aller- ist bei den reichsten Haushalten mit Abstand am dings nicht in einem Sinne, der soziale Gerechtig- stärksten.12 keit zu einer Vorbedingung von Nachhaltigkeit Zwar wurden EU-weit seit 1990 etwa 25 Pro- machen würde, ohne die Wirkung ökologischer zent der Emissionen eingespart, die Entkopp- Destruktivkräfte wirklich ernst zu nehmen. Kli- lung von Wirtschaftswachstum und Emissionen mawandel und Ressourcenverschwendung kann ist also zumindest regional und zeitlich begrenzt nur Einhalt geboten werden, sofern im Einklang durchaus möglich.13 Doch im globalen Maßstab mit diesen Zielen egalitäre Verteilungsverhältnis- sinken die Emissionen viel zu langsam. Zudem se gefördert werden, die den ökologischen Um- sind die Emissionsreduktionen in erster Linie das bau mittels sozialer Nachhaltigkeit forcieren. Verdienst einkommensschwächerer Haushalte. Während die Emissionen des reichsten Prozents AUSWEGE AUS DER der Haushalte zwischen 1990 und 2015 um fünf ZANGENKRISE Prozent und die des einkommensstärksten De- zils um drei Prozent gestiegen sind, haben sie bei Politiken, die auf nachhaltigen Klimaschutz zie- der ärmeren Hälfte um 34 Prozent und bei den len, können daher an ihren Antworten auf zwei einfache Fragen gemessen werden: Sinken die Treibhausgasemissionen und der weltweite Res- 12 Vgl. Ivanova/Wood (Anm. 10). sourcen- und Energieverbrauch so, dass sie eine 13 Vgl. Klaus Dörre, Europe, Capitalist Landnahme and the Wende zur ökologischen Nachhaltigkeit ein- Economic-Ecological Double Crisis: Prospects for a Non-Capi- talist Post-Growth Society, in: Hartmut Rosa/Christoph Henning leiten? Und wird der erzeugte gesellschaftliche (Hrsg.), The Good Life Beyond Growth. New Perspectives, London 2018, S. 241–249. 14 Vgl. Oxfam (Anm. 10), S. 1, S. 3. 07
APuZ 3–4/2022 Reichtum so verteilt, dass möglichst alle und auch das Problem der Klimagerechtigkeit befriedigend künftige Generationen partizipieren können? zu lösen. Beim Versuch, diesen Maßstab zu realisieren, las- Die Technikoption verbindet Marktmecha- sen sich gegenwärtig vier strategische Optionen nismen mit einem Plädoyer für beschleunigten unterscheiden. Ich bezeichne sie als die Markt-, technologischen Wandel. Vorreiter sind Reprä- die Technik-, die Staats- und die Demokratisie- sentanten der New Economy wie Elon Musk rungsoption. und Bill Gates. Beide stehen für den Solutionis- Die Marktoption setzt darauf, künstlich zu mus, sprich: für eine Ideologie, die in unterneh- verknappen, was einstmals im Überfluss vorhan- merischer Kreativität, technischen Innovationen den war. Das geschieht, indem CO2-Äquivalen- und im Primat des Gesetzes von Angebot und te einen Preis erhalten. Der Emissionshandel, ge- Nachfrage die Lösung für nahezu jedes Weltpro- gebenenfalls auch eine CO2-Steuer, werden zum blem sieht. Der Staat wird als Protagonist tech- Hauptinstrument, um den menschengemachten nologischen Wandels durchaus gebraucht. Er Klimawandel zu bekämpfen.15 Ein Problem ist, soll Forschung und Entwicklung fördern, kli- dass diese Instrumente in ihrer Wirksamkeit um- mafreundliche Innovationen anregen und ent- stritten sind. Ist der CO2-Preis zu niedrig, leidet sprechende Investitionen anstoßen. Doch weist seine Steuerungsfunktion, ist er hoch, erzeugt das auch die Technikoption strukturelle Mängel auf. soziale Gerechtigkeitsprobleme. Da schwer zu Geht es nach dem technikbasierten Solutionis- kontrollieren, öffnet der Emissionshandel die Tür mus, fahren wir künftig mit dem Elektroauto, es- zu Kompensationsgeschäften, die keine wirkliche sen aus Pflanzen hergestelltes Fleisch, bauen mit Reduktion der Kohlenstoffemissionen beinhal- emissionsfreiem Zement, verarbeiten klimaneu- ten. Negative Emissionen, also deutlich weniger tralen Stahl, lassen die Welt aber im Großen und Kohlenstoffverbrennung als die natürlichen Sen- Ganzen so, wie sie ist. Das ist eine Wette auf die ken absorbieren, sind mit diesen Instrumenten Zukunft, die sich kaum einlösen lässt, weil die kaum zu erreichen. systemischen Treiber des „Immer mehr und nie Das Hauptproblem marktkompatibler In- genug“ fortbestehen, allen voran eine auf Wachs- strumente besteht jedoch darin, dass sie in ih- tum, Marktexpansion und privaten Gewinn aus- ren Auswirkungen sozial blind sind. Selbst wenn gerichtete Wirtschaft. eine CO2-Steuer mit einem Klimageld verbunden Auch die Staatsoption lässt Marktmechanis- ist, werden die kleinen Geldbörsen anteilig stär- men Raum und setzt auf technologischen Wandel; ker belastet als die großen. In Deutschland hat sie bricht jedoch mit der Vorstellung, der Staat sei die untere Hälfte der Lohnabhängigen gemessen ein schlechter Unternehmer. Vielmehr hänge die am steigenden Volkseinkommen in den vergange- vermeintlich größte Stärke des Kapitalismus, sei- nen Jahrzehnten kontinuierlich verloren. Steigen ne Innovationsfähigkeit, von den Interventio- die Preise für Heizung, Strom, Mobilität, Mie- nen und Ressourcen eines steuernden Staates ab. ten und Nahrungsmittel, wird der frei verfügba- Ohne staatliche Unterstützung sei in der Vergan- re Einkommensanteil immer geringer. Selbst für genheit keine der großen Sprung innovationen Durchschnittsverdiener mit einem Reallohn von und der dazu nötigen Forschungen überhaupt monatlich 1578 Euro16 wird das, auch im Falle möglich gewesen. Der Staat müsse „zu jeder Zeit von Doppelverdiener-Haushalten, zu einer er- im Konjunkturzyklus die Rolle eines echten Ti- heblichen finanziellen Belastung. Geringe ge- gers spielen“, während die Unternehmen nur die sellschaftliche Akzeptanz der Maßnahmen oder Rolle von „Hauskatzen“ einnähmen, argumen- gar sozialer Protest sind dann vorprogrammiert. tiert die Ökonomin Mariana Mazzucato.17 Trotz Die Gelbwestenproteste in Frankreich, aber auch ihrer realistischen Bewertung der keineswegs im- Wählerstimmen für rechtsradikale Klimaleugner mer sichtbaren Hand des Staates im Innovati- zeigen, was dann geschehen kann. Marktmecha- onsprozess hat auch diese Option ihre Tücken. nismen allein reichen offenkundig nicht aus, um So sind wirtschaftsfreundliche Staatsinterventi- onen kaum in der Lage, Strategien zu begegnen, 15 Vgl. exemplarisch Ralf Fücks/Thomas Köhler, Soziale Markt- wirtschaft ökologisch erneuern, Berlin 2019. 17 Vgl. Mariana Mazzucato, Das Kapital des Staates. Eine 16 Vgl. Deutscher Gewerkschaftsbund, Verteilungsbericht andere Geschichte von Innovation und Wachstum, München 2021, Berlin 2021, S. 25. 2013, S. 17. 08
Green New Deals APuZ mit deren Hilfe große Marktakteure das eigene anfälligkeit vor allem, dass er nach dem WalMart- Einkommen zulasten des Einkommens anderer Prinzip funktioniert. Was etwa mithilfe von hö- Marktteilnehmer steigern.18 Hinzu kommt das herer Energieeffizienz an Kapital eingespart wird, Agieren staatlicher Apparate und Behörden, die kann für die Ausdehnung des Geschäfts genutzt – an politisch gewollte Zurückhaltung gewöhnt – werden. Entsprechende Geschäftspraktiken er- unter akuter industrie- und strukturpolitischer zeugen Rebound-Effekte, denn größerer Out- Fantasielosigkeit leiden. Ein staatlich gelenkter put und steigender Konsum stellen die ökologi- Umbau der Wirtschaft, der sich an Dekarboni- schen Erfolge effizienzbasierter Strategien früher sierungszielen ausrichtet, ist mit schwerfälligen oder später wieder infrage. Das vermeintlich grü- Behörden, die im Routinemodus erstarren, aber ne Wachstum bleibt letztendlich so „wenig nach- kaum zu machen. haltig wie bisher“.21 Insgesamt halten alle genannten Optionen, Demgegenüber zielen Demokratisierungs- die sich in ein großes Spektrum möglicher Po- strategien darauf, die Ökonomie der Kontrolle litiken auffächern, an einer Entkopplung von und Planung demokratischer Zivilgesellschaft zu Wirtschaftswachstum und dessen ökologisch de- überantworten. Favorisiert werden neue Formen struktiven Folgen fest. Das führt zu einem ei- eines kollektiven Eigentums (Genossenschaften, gentümlichen Widerspruch. Einerseits muss sich Mitarbeitergesellschaften) und eine stärkere Ge- nahezu alles rasch ändern, nur die Basisregel ka- wichtung des Gemeineigentums („Commons“),22 pitalistischer Marktwirtschaften, der Zwang zu Ansätze demokratischer Rahmenplanung23 so- unendlicher Akkumulation und fortwährendem wie politische Innovationen etwa in Gestalt von raschen Wirtschaftswachstum, soll bestehen blei- Transformations- und Nachhaltigkeitsräten, die ben. Aus dem Finanz- wird ein „Naturkapitalis- Öffentlichkeit hinsichtlich der Erreichung von mus“,19 wobei die gleichen systemischen Mecha- Nachhaltigkeitszielen herstellen und so kon- nismen, die die Zangenkrise heraufbeschworen tinuierlich Druck auf die Entscheidungsträger haben, auch zu ihrer Überwindung beitragen ausüben.24 sollen. So unterschiedlich die Ansätze der Demokra- Dass dieser „kapitalistische Realismus“20 tisierung im Detail auch sein mögen, sie alle eint letztendlich unrealistisch bleibt, wird von diver- die Prämisse, wonach eine Wende zur Nachhal- sen Politikansätzen moniert, die auf eine Befrei- tigkeit ohne die grundlegende Veränderung eta- ung der Gesellschaften von systemischen Akku- blierter Produktions- und Lebensweisen nicht zu mulations- und Wachstumszwängen setzen. Ich bewerkstelligen ist. Ließe sich eine ökologische bezeichne diese oft noch wenig konturierten Stra- Qualitätsproduktion realisieren, würde stofflich tegien als Demokratisierungsoption. Gemein- wenig, dafür aber höherwertiger konsumiert. Das sam ist diesen Ansätzen, dass sie Klimaschutz wäre möglich, weil Nachhaltigkeitsziele nicht nur und ökologische Nachhaltigkeit mit dem Über- in die Preisbildung, sondern ebenso in die Pla- gang zu einem anderen, letztendlich postkapita- nungs- und ökonomischen Anreizsysteme inte- listischen Gesellschaftstyp verbinden. In freilich griert wären. Kooperation, Gleichstellung und sehr unterschiedlicher Weise beziehen sie auch die Vermeidung ökologischer Belastungen wür- die Konfliktachse sozialer Nachhaltigkeit ein. Am den ebenso belohnt wie der Aufbau weitgehend Kapitalismus monieren sie neben dessen Krisen- geschlossener Wirtschaftskreisläufe und nachhal- tiger Mobilitätssysteme. Dazu würde eine tech- nologisch mögliche Reorganisation der Arbeits- 18 Das räumt Mariana Mazzucato durchaus ein. Vgl. dies., prozesse beitragen, die ermöglichte, was sich Wie kommt der Wert in die Welt? Von Schöpfern und Abschöp- fern, Frankfurt/M.–New York 2018, S. 269. 19 Vgl. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Eine spannende Reise zur 21 Tim Jackson, Wohlstand ohne Wachstum, München 2011, Nachhaltigkeit. Naturkapitalismus und die neue Aufklärung, in: S. 129. Benjamin Görgen/Björn Wendt (Hrsg.), Sozialökologische Uto- 22 Vgl. Silke Helfrich, Commons. Für eine Neue Politik jenseits pien. Diesseits oder jenseits von Wachstum und Kapitalismus?, von Markt und Staat, Bielefeld 2014. München 2020, S. 81–95. 23 Vgl. Pat Divine, Planning for Freedom, in: Michael Brie/ 20 Mark Fisher bezeichnet damit eine Grundhaltung, den Claus Thomasberger (Hrsg.), Karl Polanyi’s Vision of a Socialist Untergang der Menschheit eher in Kauf zu nehmen als ein Ende Transformation, Montréal 2018, S. 209–220. des Kapitalismus anzustreben. Vgl. Mark Fisher, Kapitalistischer 24 Vgl. Klaus Dörre, Die Utopie des Sozialismus. Kompass für Realismus ohne Alternative?, Hamburg 2020. eine Nachhaltigkeitsrevolution, Berlin 2021, S. 140 ff., S. 165. 09
APuZ 3–4/2022 Thomas Morus bereits für seine Insel Utopia lismus und seine Eliten immer wieder auf die Pro- wünschte: eine kurze Vollzeiterwerbsarbeit für be zu stellen. Dazu gehört, genau zu inspizieren, alle, die große Freiräume für die Ausübung ande- was sich hinter den diversen politischen Angebo- rer Tätigkeiten schafft.25 ten eines Green New Deal genau verbirgt. In Deutschland, Europa und auch weltweit SCHLUSSBEMERKUNG mangelt es nicht an Konzeptionen, die verspre- chen, soziale mit ökologischer Nachhaltigkeit in Alle Demokratisierungsstrategien zeichnen sich Einklang zu bringen. Sie alle beanspruchen, die durch etwas aus, was dem „kapitalistischen Rea- längst im Gange befindliche große gesellschaft- lismus“ fehlt: den Mut, über scheinbar unverän- liche Transformation als Sprungbrett für den derbare Systemgrenzen hinauszublicken, um die Übergang zu besseren, nachhaltigen Gesellschaf- Zukunft mit utopischem Überschuss und posi- ten zu nutzen. Ob dergleichen gelingen kann, ist tiven Visionen anzugehen. Auch diese Strategien ungewiss. Gegenwärtig besitzen autoritäre Ant- sehen sich indes mit einem strukturellen Wider- worten auf die Zangenkrise eine beträchtliche At- spruch konfrontiert, erfordern sie doch in der ei- traktivität. Ob sich Gegenentwürfe durchsetzen, nen oder anderen Weise eine radikale Überwin- wird wesentlich davon abhängen, ob es gelingt, dung bestehender Machtverhältnisse. Weil das, Konflikte um die sozial-ökologische Transfor- wie der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze betont, mation innerhalb eines demokratischen Rahmens schon wegen der Corona-Pandemie und ihrer so- und einer halbwegs zivilen Staatengemeinschaft zialen Folgen derzeit völlig unwahrscheinlich er- auszutragen. Auf der Mikroebene findet sich bei- scheint26 und die Zeitfenster für Veränderungen des. Wir beobachten die Verselbstständigung von schrumpfen, kommen auch Demokratisierungs- ökologischer und sozialer Konfliktachse in den strategien nicht umhin, Einfluss auf das derzeit Braunkohlerevieren wie der Lausitz samt ent- dominante Krisenmanagement zu nehmen.278 sprechenden Lagerbildungen. Wir sehen aber Um es klar zu sagen: Keine der skizzierten auch, wie Aktive aus Klimabewegungen Solida- politischen Optionen kann für sich genommen ritätskomitees bilden, um die Gewerkschaft bei den Weg in eine nachhaltige Gesellschaft bahnen. der Tarifrunde im Öffentlichen Personennahver- Es kommt auf die Mischungsverhältnisse an, die kehr zu unterstützen, während ver.di diese Aus- transformative Politiken beinhalten. Bei der Er- einandersetzung bewusst als einen Beitrag zum probung solcher Strategien ist angesichts einer Klimaschutz anlegt.28 Immerhin gibt es also zar- ungewissen Zukunft Experimentierfreudigkeit te Pflänzchen für neue Allianzen, die Hoffnung dringend geboten. Die Journalistin Naomi Klein machen können. Mehr und Besseres lässt sich hat das Grundprinzip radikaler Realpolitik tref- zum Stand der sozial-ökologischen Transfor- fend auf den Punkt gebracht. Einerseits hegt sie mation derzeit wohl nicht sagen. Der Zangen- keinen Zweifel, dass „der Kapitalismus, nicht die griff von Ökonomie und Ökologie dürfte daher ‚menschliche Natur‘“ uns „die historische Chan- künftig noch an Stärke gewinnen. Damit wird der ce im Kampf gegen den Klimawandel verbaut“27 Krisenmodus noch nicht zur normalen „Integra- haben. Andererseits vermeidet sie abstrakte De- tionsform“ einer nächsten Gesellschaft. Nur Kri- batten über die Unmöglichkeit systemkonformer senrobustheit ist zukunftsträchtig. Deshalb wer- Nachhaltigkeit. Im Sinne eines radikalen Pragma- den nicht Märkte, sondern nachhaltige Solidarität tismus plädiert sie eindringlich dafür, den Kapita- und Kooperation die wichtigsten Triebkräfte des Neuen sein. Je rascher sich diese Einsicht verbrei- tet, desto größer ist die Chance, dass die kom- 25 Vgl. Thomas Morus, Utopia, Stuttgart 1980 [1516], S. 28 f. mende Gesellschaft eine bessere sein wird. 26 Vgl. Adam Tooze, Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen, München 2021, S. 20 f. 27 Naomi Klein, Warum nur ein Green New Deal unseren Planeten retten kann, Hamburg 2019, S. 273. KLAUS DÖRRE 28 Vgl. Julia Kaiser, #Wir fahren zusammen. Die Allianz von ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschafts- Fridays for Future und ver.di im Bereich Nahverkehr als Exempel soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität ökologischer Klassenpolitik, in: Klaus Dörre et al. (Hrsg.), Abschied von Kohle und Auto? Sozialökologische Transforma- Jena und war geschäftsführender Direktor des tionskonflikte um Energie und Mobilität, Frankfurt/M. 2020, DFG-Kollegs „Postwachstumsgesellschaften“. S. 267–283. klaus.doerre@uni-jena.de 10
Green New Deals APuZ IMPROVISIEREND DURCH DIE KRISE: DER NEW DEAL Kiran Klaus Patel Einmal mehr ist der New Deal in aller Munde. heilungskräfte des Marktes“ zu setzen und dem Mit vielen Maßnahmen bezieht sich die US-Re- Staat einen Sparkurs zu verordnen. Im Ergebnis gierung unter Joe Biden gegenwärtig auf die Re- verschlechterte sich die Lage dadurch nur noch. formpolitik seines demokratischen Vorgängers Wie auch in anderen Teilen der Welt fragten sich Franklin D. Roosevelt aus den 1930er Jahren. deswegen viele Menschen in Amerika, ob nicht Aber auch die EU hat sich einem Green Deal ver- die radikalen Alternativen am rechten und am lin- schrieben; darüber hinaus macht dieses Stichwort ken Rand des politischen Spektrums der Demo- in Großbritannien, Australien, aber zum Beispiel kratie überlegen seien – immerhin schienen Ge- auch in Südkorea die Runde. Offensichtlich ent- sellschaften wie die Sowjetunion oder bald auch spricht es dem heutigen Zeitgeist, eine der sym- das nationalsozialistische Deutschland die Krise bolkräftigsten politischen Phasen des 20. Jahr- besser zu meistern. So stellte etwa der amerika- hunderts als mobilisierende Kraft für Gegenwart nische Ökonom Stuart Chase in einer Mischung und Zukunft heraufzubeschwören. aus Resignation über die eigene Lage und Bewun- Was aber war der New Deal? Im Wesentlichen derung globaler Trends die Frage: „Warum soll- verbirgt sich dahinter eine Reihe von wirtschafts- te man den Russen den ganzen Spaß dabei über- und sozialpolitischen Reformmaßnahmen im ers- lassen, die Welt zu verändern?“03 Die Forschung ten Jahrfünft der Präsidentschaft Roosevelts, der hat jedes positive Bild von der angeblichen Über- die USA insgesamt von 1933 bis 1945 regierte. Von legenheit der Diktaturen längst widerlegt; zeitge- seinem Amtsantritt bis ungefähr 1937/38 versuch- nössisch hatte es durchaus Strahlkraft. te Roosevelt unter dem Stichwort des „New Deal“ Ein Symbol für die Trägheit der politischen mit seiner Entourage, jene Doppelkrise von Kapi- Ordnung in Amerika war die verordnete Über- talismus und Demokratie in den Griff zu bekom- gangszeit zwischen der Präsidentschaftswahl im men, welche die USA damals tief erschütterte.01 November 1932 und Roosevelts Amtsantritt im März des Folgejahrs: Im Zeitalter der Postkut- EIN LAND AM ABGRUND sche, aus dem die Regelung stammte, war es sinn- voll gewesen, eine mehrmonatige Transitionspha- Die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise hatte se bei einem Amtswechsel einzubauen. Dadurch in den Vereinigten Staaten nicht nur ihren Aus- erhielt ein künftiger Präsident Zeit, seine Geschäf- gangspunkt; sie traf das Land auch mit beson- te zu Hause abzuschließen und in die Hauptstadt derer Wucht: 1932 war rund ein Viertel aller Er- überzusiedeln, selbst wenn er aus einem entfernten werbsfähigen arbeitslos; zwischen 1929 und Ende Teil des Landes kam. Im Krisenwinter 1932/33, als 1932 verloren die im Dow-Jones-Index geliste- Eisenbahnen, Autos und ansatzweise sogar Flug- ten Aktien knapp 90 Prozent ihres Wertes. In den zeuge längst für ein höheres Lebenstempo gesorgt Tagen vor Roosevelts Amtsantritt im März 1933 hatten, versinnbildlichte die Bestimmung dagegen stand außerdem das Bankensystem kurz vor der nur, wie viel sich schnellstens ändern musste. Kernschmelze. Viele hielten den Kapitalismus für Die Krise der bisherigen Ordnung zeigte sich gescheitert – die wenige Jahre zuvor ausgerufe- bereits am Wahlabend. Denn als Roosevelt in je- ne Phase der Prosperität kam den Menschen wie nem Herbst einen Erdrutschwahlsieg für die De- eine entfernte Vergangenheit vor.02 mokraten sicherte, war dies vor allem eines: eine Gleichzeitig schien das politische System un- krachende Absage an den bisherigen Präsiden- fähig, angemessen auf die Krise zu reagieren. ten Herbert Hoover von den Republikanern. Das Hauptrezept bestand darin, auf die „Selbst- Der demokratische Herausforderer war mit kei- 11
APuZ 3–4/2022 nem klaren Programm in den Wahlkampf gezo- im Mai 1932 hatte er unterstrichen, dass es ihm gen. Während er sich in jenen Monaten eindeutig vor allem um mutige Experimente zur Überwin- zur Demokratie bekannte, ließ er eindeutige Ant- dung der Krise ginge; dass er sich nicht an bis- worten in Bezug auf die Art, wie er die drängen- herige Glaubenssätze halten wolle.06 Trotz gewis- den ökonomischen Probleme bekämpfen wollte, ser Ambivalenzen trat er letztlich für eine aktive vermissen. Roosevelt widersprach sich sogar ge- Rolle des Staates ein, wiewohl die damalige wirt- legentlich selbst – plädierte er in der einen Rede schaftspolitische Mehrheitsmeinung diesen An- für mehr staatliche Eingriffe, warf er in einer an- satz als kostspielig, ungerecht und krisenver- deren dem bisherigen Amtsinhaber Hoover vor, schärfend kritisierte. Von solchen Orthodoxien zu viel bundesstaatliche Kontrolle eingeführt zu ließ Roosevelt sich nicht allzu sehr beeindrucken; haben. Der Staat sollte aktiver werden, zugleich Pragmatismus und Tempo standen fortan im Vor- aber sparen. Für den einflussreichen Journalisten dergrund. In seiner Antrittserklärung sprach er Walter Lippmann stand fest, dass Roosevelt eine davon, dass man nichts als die Furcht selbst zu „überaus beeinflussbare Person“ sei, „ohne kla- fürchten habe,07 und legendär wurden bald jene res Verständnis der öffentlichen Angelegenheiten Sitzungen, in denen er Mitglieder seines Teams und ohne besonders starke123 Überzeugungen“.04 mit eigentlich unvereinbaren Positionen so lange Selbst der Begriff „New Deal“ war im We- tagen ließ, bis sie sich zumindest auf einen For- sentlichen ein Produkt des Zufalls. In der Rede, melkompromiss geeinigt hatten. mit der Roosevelt im Juli 1932 seine Nominie- Angesichts der tiefen Krise konnten die New rung zum Präsidentschaftskandidaten der Demo- Dealer mit diesem Ansatz ein umfangreiches Paket kraten annahm, versprach er, die Karten für das von Reformen in die Welt setzen. Bereits die ers- amerikanische Volk neu zu mischen – „a new deal ten 100 Tage im Amt – seit der Zeit Roosevelts sind for the American people“.05 Er selbst und sein die „first hundred days“ ein geflügelter Begriff Team maßen dieser Formulierung keine große und Gradmesser für Erfolg in der amerikanischen Bedeutung bei. Es war die Presse, die auf der Su- Politik – brachten eine Fülle von Maßnahmen mit che nach einer Schlagzeile die Formel aufgriff und sich. Die erste Initiative der New Dealer, mit der sie mit Roosevelt und seinem Programm verband. sie der Bankenpanik im März 1933 Einhalt gebie- Bald darauf machte sich das Wahlkampfteam den ten wollten, schrieb sogar Parlamentsgeschichte. Begriff zu eigen. Dennoch war damals mitnich- Fünf Tage nach Roosevelts Amtsantritt wurde das ten abzusehen, dass sich noch rund ein Jahrhun- einzige Exemplar, das es von der entsprechenden dert später Menschen auf der ganzen Welt auf den Gesetzesvorlage gab, im Kongress verlesen. Die New Deal beziehen würden. Debatte darüber war auf 40 Minuten beschränkt, woraufhin das Repräsentantenhaus das Gesetz UNORTHODOXE IMPROVISATION einstimmig verabschiedete. Rund vier Stunden da- nach ging der Senat denselben Schritt und noch Trotz – und teilweise gerade wegen – dieser Un- am selben Tag unterschrieb Roosevelt das Gesetz, bestimmtheit veränderte der New Deal die USA das der Bundesebene weitreichende Kompetenzen grundsätzlich. Als Präsident betonte Roosevelt übertrug, die unter anderem die Rolle des Staates immer wieder, keine vorgefertigten Antworten in der Bankenregulierung stärkten. Tatsächlich ge- bereit zu haben. Bereits in einer Wahlkampfrede lang es so, die akute Bankenkrise zu überwinden und das Vertrauen in das amerikanische Finanz- 01 Vgl. aus der Fülle der vorhandenen Literatur Eric Rauchway, system zumindest ansatzweise wiederherzustellen. Why the New Deal Matters, New Haven 2021; Jason Scott Viele weitere wichtige Vorhaben folgten in Smith, A Concise History of the New Deal, Cambridge 2014; atemberaubendem Tempo, etwa ein weitgefasstes William D. Pederson (Hrsg.), A Companion to Franklin D. Roose- velt, Malden 2011. Gesetz zur Stabilisierung der Landwirtschaft und 02 Vgl. z. B. John Kenneth Galbraith, The Great Crash 1929, umfangreiche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Boston 1997. die Erwerbslosen eine neue Perspektive boten. 03 Stuart Chase, A New Deal, New York 1932, S. 252. 04 Walter Lippmann, Interpretations, 1931–1932, New York 1932, S. 261. 06 Vgl. Roosevelt, Address at Oglethrope University, in: Rosen- 05 Franklin D. Roosevelt, Acceptance Address, in: Samuel I. man (Anm. 5), S. 646. Rosenman (Hrsg.), Public Papers and Addresses of Franklin D. 07 Vgl. Roosevelt, First Inaugural Address, in: Rosenman Roosevelt, Bd. 1, New York 1938, S. 659. (Anm. 5), S. 11–16. 12
Green New Deals APuZ Karte der Tennessee Valley Authority (TVA) zur Planung von Staudämmen zur Flutkontrolle, Energieerzeu- gung und Landbewässerung, ca. 1940. © picture alliance/Everett Collection Die Tennessee Valley Authority (TVA) war ein Einzelstaaten oder dem Bund bereits seit Langem riesiges Regionalprojekt im bitterarmen Süden diskutiert; ab 1933 ergab sich durch den Prob- des Landes, das unter anderem der Stromerzeu- lemdruck und den Regierungswechsel ein Zeitfens- gung diente. Die mächtigen Staudämme der TVA ter, um sie zu verwirklichen. Einem verbindlichen sollten das Land aber nicht nur ökonomisch, son- wirtschaftspolitischen Ansatz zeigten sich die ver- dern auch sozial entwickeln und der massiven so- schiedenen Projekte jedoch nicht verpflichtet. zialen Ungleichheit in der Region entgegenwir- ken. Direkt nach Abschluss der ersten 100 Tage INTERVENTION im Amt folgte mit dem National Industrial Re- UND ABSCHIRMUNG covery Act ein weiteres Großprojekt, das zusätz- liche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Infra- Überblickt man die vielen Dutzend Programme strukturbereich ebenso beinhaltete wie staatliche und Behörden, die neu geschaffen wurden, schält Eingriffe in die gewerbliche Wirtschaft. sich dennoch eine Richtung heraus: Im Zentrum Auch die Folgejahre sahen wichtige Initiati- stand die Absicht, die amerikanische Bevölkerung ven, unter anderem den Social Security Act von stärker als bisher vor den Unwägbarkeiten der mo- 1935, der erstmals ein Sozialversicherungssystem dernen Welt zu schützen. Dazu setzten die New auf nationaler Ebene schuf. Während damals die Dealer auf eine Vielzahl teilweise widersprüchlicher Alters- und die Arbeitslosenversicherung im Vor- Instrumente. Auf übergreifender Ebene bauten sie dergrund standen, scheiterte das Projekt einer öf- jedoch vor allem auf zweierlei: Staatsinterventionis- fentlich-rechtlichen Krankenversicherung – eine mus und die Abschirmung vor globalen Risiken.08 klaffende Lücke, die erst 2010 unter Präsident Ba- Staatsinterventionismus meinte, dass über rack Obama weitgehend geschlossen wurde, aber eine Vielzahl von Programmen der Staat eine grö- weiterhin höchst umstritten ist. Nicht alles am frühen New Deal war neu. Über 08 Vgl. dazu Kiran Klaus Patel, The New Deal. A Global viele dieser Vorhaben hatte man auf der Ebene von History, Princeton 2016. 13
APuZ 3–4/2022 So wird’s gemacht: Demonstrationsacker der TVA zur Förderung von chemischen Düngemitteln in der Landwirtschaft, 1937. © picture alliance/Everett Collection ßere Verantwortung übernahm. Durch den New Staat und seine Maßnahmen drangen so ganz in Deal wurden im föderalen System der USA zwar die Fläche der USA vor. Während in den meisten auch die Einzelstaaten gestärkt; vor allem aber ge- europäischen Gesellschaften Staat und Verwal- wann die Bundesebene neue Kompetenzen hinzu. tung bereits lange zuvor eine große Rolle im All- Vor dem New Deal waren nationale Instanzen, tag gespielt hatten, änderte dies für die Vereinig- zumindest in Friedenszeiten, im Leben der meis- ten Staaten erst der New Deal.09 ten Amerikanerinnen und Amerikaner fast nur in Roosevelts Reformpolitik gab den Men- Form des Postamts präsent gewesen; davon ab- schen so das Gefühl, dass „die da oben“ sich um gesehen blieb „Washington“ bis 1933 weitgehend sie kümmerten; dass man nicht hilflos der Wirt- unwichtig. Das änderte sich nun grundlegend. schaftskrise ausgesetzt war. Statt Resignation Wer 1934 sein Feierabendbier im Freundeskreis in herrschte vielerorts bald Aufbruchstimmung. Da- der Kneipe trank oder sich in der Nachbarschaft bei kamen keineswegs alle Maßnahmen einfach oder der Familie traf, kam kaum umhin, über ei- aus Washington oder von einer anderen staatli- nes der zahllosen neuen Programme zu sprechen chen Instanz. Der New Deal zielte zum Beispiel – über die Blaue-Adler-Kampagne von Roose- auch darauf, die Gewerkschaften zu stärken und velts Industriepolitik, die unter anderem Min- die Gesellschaft als Ganzes zu mobilisieren. Diese destlöhne durchsetzte; über die vielen neu gebau- Aktivierung zivilgesellschaftlicher Kräfte verlieh ten Straßen; über die Siedlungsprojekte oder die Expertinnen und Experten, die nun Landwirte 09 Vgl. etwa Gary Gerstle, Liberty and Coercion. The Paradox in den entlegensten Ecken des Landes mit besse- of American Government from the Founding to the Present, ren Anbautechniken vertraut machen sollten. Der Princeton 2015. 14
Green New Deals APuZ dem New Deal zusätzliche Schubkraft und hilft Sicherheit durch Abschirmung übersetzte zu erklären, warum das Wertegefüge jener Jahre sich in dieser Zeit zugleich nicht in einen dras- und die sogenannte New Deal Order dem Land tischen Ausbau der militärischen Kapazitäten. für Jahrzehnte ihren Stempel aufsetzen konnten.10 Vielmehr blieb der Staat des New Deal auffallend Die zweite Dimension, die Abschirmung, war zivil und unterschied sich grundsätzlich von je- eine Reaktion auf Globalisierungskrisen. Denn der nem gewaltigen Waffenarsenal und den riesigen New Deal fiel in eine Zeit, in der die Welt bereits Streitkräften, welche die USA wenige Jahre später stark vernetzt war und ökonomische und andere im Zweiten Weltkrieg mobilisierten und die das Krisen leicht von einem Land ins nächste überspran- Gesicht des Landes seitdem prägen.13 gen. Wenngleich der Ausgangspunkt der Weltwirt- Der New Deal stand jedoch nicht nur für neue schaftskrise in Amerika selbst gelegen hatte, setzte Inhalte, sondern auch für einen anderen Politikstil die Bundesadministration unter Roosevelt nun da- und eine neue politische Kultur. Roosevelt und sein rauf, das Land unabhängiger von globalen Kräften Team setzten die einzelnen Programme sorgfältig zu machen. Der aktive Staat des New Deal förder- als Neuanfang in Szene. Das begann schon mit sei- te deswegen nicht die internationale Kooperation, nem Amtsantritt: Sein Vorgänger Hoover hatte sondern stellte die eigene Nation an die vorderste dem künftigen Präsidenten in der Übergangszeit Stelle. Das wog umso schwerer, da sich die USA da- die Zusammenarbeit angeboten. Roosevelt lehnte mals bereits zur führenden westlichen Industrie- dies ab, um seinen Einstieg als radikalen Bruch in- macht entwickelt hatten. Wenn sie nicht auf mul- szenieren zu können. Oder, als weiteres Beispiel: tilaterale Zusammenarbeit bauten, dann hatte das Im Amt nutzte er das damals noch junge Radio als Folgen für die ganze Welt. Die ohnehin harschen Mittel, um in neuartiger Weise direkt mit der Be- Einwanderungsgesetze wurden weiter verschärft. völkerung zu kommunizieren. Wenn der Mann aus Die Währungspolitik, die damals aufgrund des so- der Ostküsten-Oberschicht mit gebildetem Akzent genannten Goldstandards einen wichtigen Hebel in seinen berühmt gewordenen Radiobotschaften internationaler Kooperation hätte bilden können, auf einen bewusst einfachen Wortschatz setzte und wurde ganz an nationalen Prioritäten ausgerichtet. seine Zuhörerschaft als „my fellow Americans“ Symbolträchtig erteilte Roosevelt im Sommer 1933 oder als „meine Freunde“ ansprach, versuchte er, auf einer großen Wirtschaftskonferenz in London ein neues Gemeinschaftsgefühl zu schaffen. Die der länderübergreifenden Zusammenarbeit eine vielen Zuschriften, die das Weiße Haus als Reakti- Absage. Grundsätzlich fühlte sich Roosevelt durch- on erreichten, verdeutlichen den Erfolg dieser Be- aus dem Internationalismus verpflichtet; angesichts mühungen.14 Paraden, Symbole und vieles mehr der Weltwirtschaftskrise setzte er jedoch darauf, zu- sollten ebenfalls Aufbruch und nationales Selbst- nächst die Probleme im eigenen Land zu lösen.11 vertrauen vermitteln. Der Ansatz unilateraler Abschirmung, der den New Deal prägte, ist heute in der Erinne- KRITIK AM rung an das Amerika der Zwischenkriegszeit in NEW DEAL den Hintergrund getreten. Er wird überlagert von dem internationalistisch-multilateralen Kurs, Trotz des neuen Gefühls von Optimismus und den Roosevelt allerdings erst in den Kriegsjah- Gemeinschaft, für das der New Deal steht, war ren einschlug und der in den Aufbau von Orga- Roosevelts Politik schon zu seiner Zeit hoch kon- nisationen wie den Vereinten Nationen mündete. trovers. Politisch konnte er zwar stets auf solide Auf dieser Ebene verschwimmen heute die Ge- Mehrheiten bauen. Rund 40 Prozent der Amerika- schichtsbilder – und genau dies lässt den New nerinnen und Amerikaner lehnten jedoch die Poli- Deal in umso hellerem Licht erstrahlen.12 tik des New Deal mit ihren Versprechungen ab. In die 1930er Jahre fallen die Anfänge einer marktli- 10 Vgl. dazu zuletzt Gary Gerstle/Nelson Lichtenstein/Alice O’Connor (Hrsg.), Beyond the New Deal Order. U. S. Politics 13 Vgl. Maury Klein, A Call to Arms. Mobilizing America for from the Great Depression to the Great Recession, Philadelphia World War II, New York 2013; James T. Sparrow, Warfare 2019. State. World War II Americans and the Age of Big Government, 11 Vgl. Patricia Clavin, The Failure of Economic Diplomacy: Oxford 2011. Britain, Germany, France and the United States, 1931–36, New 14 Vgl. Lawrence W. Levine/Cornelia R. Levine, The Fireside York 1996. Conversations. America Responds to FDR During the Great 12 Vgl. Patel (Anm. 8), S. 121–189. Depression, Berkeley 2010. 15
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