GESCHICHTEN AUS DER GESCHICHTE - Jahre Bezirkskrankenhaus Bayreuth
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1870 1934 2020 Eröffnung der Die Nationalsozialisten Interimsbau für die „Kreisirrenanstalt“ erlassen das „Gesetz zur 1998 Kinder- und Jugend- mit 250 Betten Verhütung erbkranken Umbenennung in psychiatrie und 1906 1957 1975 „Bezirkskranken- -psychotherapie Nachwuchses“, ver- Umbenennung Das erste Bayreuth wird haus“ wird in Betrieb meintlich Erbkranke der Kreisirrenanstalt in Antidepressivum Universitäts- 2016 genommen und Alkoholiker werden „Heil- und Pflegeanstalt kommt auf den stadt Kommunalunter- zwangssterilisiert Bayreuth“ Markt nehmen erhält den Namen GeBO (Gesundheitseinrich- tungen des Bezirks 1947 1994 Oberfranken) 1893 1922 Provisorische Klinik für Kinder- in Bayreuth Schwerpunkt der Wiedereröffnung des und Jugendpsychiatrie 2005 Krankenhauses 1964 wird eine dauerhafte Therapien liegt auf und -psychotherapie Kommunal- Umbenennung elektrische Badetherapie und der wird gegründet unternehmen „Kliniken in „Nervenkranken- Straßenbeleuchtung Anleitung zur sinnvollen und Heime des Bezirks haus Bayreuth“ installiert Beschäftigung Oberfranken“ entsteht 1870 2020 1949 2016 1914 Gründung einer 1995 Neubau der Klinik für Schließung der Erster neurologischen 1876 Forensische Psychiatrie Neurologie Weltkrieg 1939 Abteilung In Bayreuth finden zum Zweiter 1975 wird in Betrieb 1923 1961 2018 ersten Mal die Richard- Weltkrieg Umsetzung der genommen Sigmund Freud Bau der 1989 2001 Teil-Neubau der Klinik Wagner-Festspiele statt Psychiatrie-Enquete veröffentlicht seine Berliner Mauerfall Tagesklinik mit Institutsambulanz für Psychiatrie, mit dem Ziel, Betten für Kinder- und Jugendpsychiatrie Psychotherapie und Studie über das Ich, das Mauer zu reduzieren Es und das Über-Ich und -psychotherapie entsteht Psychosomatik 2 3
Grußwort der Staatsministerin Melanie Huml S ehr geehrte Damen und Herren, die Psychiatrie in Bayern hat sich enorm gewandelt – zum Wohl und Verwahrung der „Insassen". In den letzten 50 Jahren hat sich eine tiefgreifende Entwicklung vollzogen. eignete Wohn- und Pflegemöglichkei- ten außerhalb des Krankenhauses zu schaffen. Zudem wurden im Rahmen Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie im Jahr 1994, mit der das psychiatrische Behandlungsange- Allein in den vergangenen 25 Jahren wurden über 60 Millionen Euro für In- vestitionen bereitgestellt. Jüngstes der Patientinnen und Patienten. Mit der Psychiatrie-Enquete sind seit der Dezentralisierung in ganz Bayern bot um ein wichtiges Segment erwei- Beispiel ist der Neubau eines Pflege- Heute erhalten Menschen mit einer den 70er Jahren des vergangenen wohnortnahe Behandlungsangebote tert wurde. Die Klinik verfügt mittler- gebäudes, das im Jahr 2018 in Betrieb psychischen Erkrankung eine hoch- Jahrhunderts schrittweise medizini- und regionale Versorgungsnetzwerke weile über 38 Betten und acht Plätze genommen wurde und das mit rund 18 wertige Versorgung und Pflege, die sche Standards in die Versorgung geschaffen. Die Psychiatrie ist damit zur Versorgung von Kindern und Ju- Millionen Euro vom Freistaat gefördert sich an ihren individuellen Bedürf- psychisch kranker Menschen einge- ein gutes Stück näher zum Patienten, gendlichen. Inzwischen ist der weitere wurde. nissen orientiert. flossen, die noch heute fortwirken. aber auch in die Gesellschaft gerückt. Ausbau geplant. Mit 60 Betten und 14 Plätzen werden die Kapazitäten bei- Die bauliche Entwicklung des Bezirks- Das war nicht immer so. Lange Zeit So ist es durch die Enthospitalisierung Das Bezirkskrankenhaus Bayreuth mit nahe verdoppelt, so dass künftig eine krankenhauses Bayreuth ist damit aber war die Psychiatrie geprägt von Isolation gelungen, für Langzeitpatienten ge- seinen 150 Jahren spiegelt eindrück- noch stärkere Spezialisierung in der bei Weitem noch nicht abgeschlossen. lich diese Entwicklung und zeigt den Behandlung möglich wird. Die Klinik Der Freistaat Bayern wird auch in Zu- Wandel von den „Irrenanstalten" des für Kinder- und Jugendpsychiatrie und kunft notwendige Investitionsmaßnah- 19. Jahrhunderts zu den heutigen mo- -psychotherapie des Bezirkskranken- men unterstützen und so die bestmög- dernen Fachkrankenhäusern. hauses Bayreuth ist und bleibt damit liche Versorgung psychisch kranker eine der größten Kliniken in ganz Bayern. Menschen sichern. Den Patientinnen und Patienten wün- Dem Bezirkskrankenhaus Bayreuth ist sche ich alles Gute auf dem Weg der es auf sehr beeindruckende Art und Das geschieht aber nicht ohne Zutun. Ich gratuliere dem Bezirkskranken- Genesung! Weise gelungen, mit den einschnei- Qualitativ hochwertige Leistungen set- haus Bayreuth zu seinem 150-jährigen denden Veränderungen in der Psych- zen Investitionen in zeitgerechte Ge- Bestehen. Ganz herzlich möchte ich Ihre iatrie Schritt zu halten und ein breit bäude und Ausstattung des Kranken- außerdem den Mitarbeiterinnen und gefächertes diagnostisches und thera- hauses voraus. Der Freistaat Bayern Mitarbeitern des Bezirkskrankenhau- peutisches Spektrum aufzubauen. hat den Bezirk Oberfranken und seine ses Bayreuth für ihren Einsatz danken. Trägergesellschaft bei den notwen- Denn der Erfolg des Krankenhauses Melanie Huml MdL Eine große Veränderung diesbezüg- digen Modernisierungs- und Ausbau- hängt ganz entscheidend von ihrer Bayerische Staatsministerin für lich war die Gründung der Klinik für maßnahmen in Bayreuth unterstützt. Arbeit ab! Gesundheit und Pflege 4 5
Grußwort des Bezirkstagspräsidenten Henry Schramm Im Jahr 1870 wurde die damalige Kreisirrenanstalt Bayreuth auf dem Gelände des heutigen Bezirks- präsident habe ich es mir zum Ziel gesetzt, die Gesundheitseinrichtungen des Bezirks Oberfranken (GeBO) fit für Bei diesen Projekten handelt es sich nicht nur um Einzelmaßnahmen. Jeder einzelne Schritt ist Teil eines baulichen krankenhauses eröffnet. Seitdem die Zukunft zu machen. Mir ist es ein Gesamtkonzeptes für das Bezirks- hat sich, ohne Frage und Gott sei besonderes Anliegen, den Menschen, krankenhaus Bayreuth. Die GeBO als Dank, vieles verändert. denen es nicht so gut in ihrem Leben Teil des Bezirks Oberfrankens, kann ergeht, angemessen zu helfen. darauf zählen, dass der Bezirk sei- Neben dem medizinischen Fortschritt ne Verantwortung auch in finanzieller und den neuen Behandlungsmetho- Das vom Bezirk Oberfranken und der Weise weiterhin nachkommen wird. den hat sich die Kreisirrenanstalt über GeBO beschlossene Investitionspro- Als Verwaltungsratsvorsitzender der eine Heil- und Pflegeanstalt hin zum gramm in Höhe von über einer halben GeBO bin ich dankbar für das hoch- Nervenkrankenhaus in eine moderne Milliarde Euro reicht bis in das Jahr wertige Therapieangebot und die psychiatrische Klinik mit stationären, 2032. Einige Projekte sind bereits auf hervorragende Arbeit, die am Bezirks- tagesklinischen und ambulanten An- den Weg gebracht. Am Bezirkskran- krankenhaus Bayreuth geleistet wird. geboten entwickelt. Als Bezirkstags- kenhaus Bayreuth entsteht zum einen der Neubau des Heilpädagogischen Mein besonderer Dank gilt hierbei al- Bereichs, in dem psychisch kranke Pa- len Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, tienten mit geistiger Behinderung be- die sich tagtäglich und oftmals über handelt werden. Zum anderen werden das Geforderte hinaus einbringen, um 35 Millionen Euro in die Erweiterung Menschen zu helfen. der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie fließen. Bevor der ei- Ihr gentliche Neubau der Klinik errichtet wird, schaffen wir mit einem Interims- gebäude schon kurzfristig Verbesse- rungen. Die bestmögliche Versorgung Henry Schramm, MdL a.D. von Kindern und Jugendlichen ist mir Bezirkstagspräsident von Oberfranken persönlich eine Herzensangelegenheit. 6 7
Grußwort unseres Vorstandes Katja Bittner W ir leben in einer sich immer rasanter drehenden Welt. In diese Hektik hinein wird ein Jubi- bäude geben. Die Forensik wird er- weitert, die heilpädagogische Station bekommt ein neues Zuhause. Es geht den Haufen. Unser Alltag – auch unser Klinikalltag – hat sich verändert. Und wir feierten bescheidener. Auf eine läum, ein so stolzes noch dazu, voran im Bezirkskrankenhaus Bay- Festschrift, die die Historie des Hau- zum Stopp-Schild. Wir halten inne, reuth – und das mit großen Schritten. ses abbildet, wollten wir trotz allem blicken zurück und blicken voraus. Alle Investitionen stehen immer unter nicht verzichten. Wir wünschen Ihnen 150 Jahre ist das Bezirkskranken- der Prämisse, dass sie dem Wohl der viel Vergnügen beim Stöbern in unse- haus Bayreuth, wie es heute heißt, Patienten und unserer Mitarbeiter dienen. rer Geschichte. in diesem Jahr geworden. Ein wirk- lich stolzes Jubiläum. Seit 2005 arbeiten die Kliniken des Mit herzlichem Gruß, Bezirks Oberfranken unter dem Dach Wir sind der Geschichte verbunden eines Kommunalunternehmens zu- und an der Zukunft orientiert. Denn sammen, das seit 2016 den Titel „Ge- unser Blick zurück bedingt auch im- sundheitseinrichtungen des Bezirks Katja Bittner mer einen Blick nach vorne. Wir pla- Oberfranken“ – kurz: GeBO – trägt. die bereit sind, Entwicklungen in der Vorstand nen, bauen und entwickeln Therapien, Wir sind ein Verbund von Kliniken und Psychiatrie zu gestalten, mitzutragen Gesundheitseinrichtungen des Gebäude und Strukturen, und gehen ambulanten Einrichtungen für Psych- und zum Wohl unserer Patienten zu Bezirks Oberfranken so gut aufgestellt in die Zukunft. In iatrie, Psychotherapie und Psycho- arbeiten. den nächsten Jahren werden sich somatik, sowie Lungenheilkunde und gerade in baulicher Sicht viele Verän- Internistische Rheumatologie. Aber 150 Jahre Bezirkskrankenhaus Bay- derungen auf dem Gelände des Be- vor allem sind wir ein Team. Wir be- reuth. Geplant war, groß zu feiern. Wir zirkskrankenhauses ergeben. Erst in handeln, pflegen und betreuen Pati- hätten Sie alle gerne eingeladen, woll- diesem Jahr entstand in Rekordzeit enten in ganz Oberfranken. Wir sind ten mit vielen interessanten Vorträgen ein Interimsbau für die Kinder- und gemeinsam nah am Menschen. Den und Aktionen unser Haus vorstellen, Jugendpsychiatrie und -psychothera- Erfolg unseres Hauses verdanken wir wollten mit Ihnen die Geburtstagstor- pie auf dem Gelände, für diese Klinik unseren Mitarbeiterinnen und Mitar- te anschneiden. Dann kam Corona. wird es demnächst ein weiteres Ge- beitern. Damals wie heute sind sie es, Und wir warfen alle Pläne wieder über 8 9
Grußwort unseres Leitenden Ärztlichen Direktors Prof. Dr. med. habil. Thomas W. Kallert Von der „HuPf“ zum modernen Fachkrankenhaus Versorgungsgebiet lebenden Bevöl- kerung, Aus- und Weiterbildung aller W erte Leserinnen und Leser, obwohl die Corona-Pandemie das 150-jährige Bestehen des Be- tenreiche Geschichte unseres Hauses vorzustellen – nicht zuletzt deshalb, weil uns als MitarbeiterInnen diese lange Berufsgruppen, Bewahrung des hu- manistischen Menschenbildes, Erin- nerung an dunkle Kapitel der Klinikhis- zirkskrankenhauses Bayreuth an Tradition mit Stolz erfüllt, wir aber auch torie, Offenheit für ethische Fragen – um seinem aktuellen Standort überla- um die nicht überwundene Stigmatisie- nur einige zu nennen. gert hat, haben wir uns – nach Ab- rung psychisch Erkrankter wissen. sage vieler Veranstaltungen, auf de- Blicken Sie mit uns in dieser Schrift nen wir gerne zahlreich Bayreuther Zum einen steht das Haus modellhaft auf die Historie zurück und begleiten BürgerInnen sowie weitere Gäste für alle Etappen der deutschen Kran- Sie den in den kommenden Jahren begrüßt hätten – dazu entschlossen, kenhauspsychiatrie, wie zum Beispiel fortschreitenden Umstrukturierungs- wenigstens die lang geplante Fest- die bauliche Modernisierung und den prozess des Hauses kritisch wie wohl- schrift termingerecht zu publizieren. personellen Ausbau in den letzten wollend. 50 Jahren, eine sozial- und gemein- in mehrere eigenständige Kliniken, Wir finden es von großer Bedeutung, depsychiatrische Orientierung, die die Implementierung psychotherapeu- Im Namen der gesamten Mitarbeiter- der Öffentlichkeit die bewegte und facet- Enthospitalisierung, die Unterteilung tischer Angebote und die Erweiterung schaft wünsche ich Ihnen eine anre- des gesamten therapeutischen Spek- gende Lektüre! trums, die Ambulantisierung unserer diagnostischen und therapeutischen Ihr Angebote. Zum anderen steht das Haus für Verpflichtungen und Werte in seiner zentralen Aufgabe der Patien- tenversorgung: Bereitschaft zum kon- Prof. Dr. med. habil. Thomas W. Kallert tinuierlichen Wandel und zur Umset- Leitender Ärztlicher Direktor zung fachlicher Weiterentwicklungen, Gesundheitseinrichtungen des Vollversorgung der im zugeordneten Bezirks Oberfranken 10 11
Die Vorgeschichte Verwaltungsleiter / Krankenhausdirektoren / Vorstände im Überblick Entwicklung der Psychiatrie in Bayreuth I n den vergangenen 150 Jahren waren folgende Persönlichkeiten als Verwaltungsleiter (bis 1998), Krankenhaus- direktoren (bis 2005) oder Vorstände tätig: D ie Geschichte der klinischen Psychiatrie und Psychotherapie in Bayreuth geht wahrscheinlich bis durch den Erbprinzen und Markgrafen Georg Wilhelm gegründeten Vorstadt St. Georgen am See gelegt. Das obe- Heilanstalt für Geisteskranke“ um. Es sollte eine Einrichtung der Krankenbe- handlung, nicht primär der Pflege und in das 14. Jahrhundert zurück. 1326 re Stockwerk war für die Beherber- Verwahrung – wie es sonst in Deutsch- 1998 - 2002 Albrecht Diller wurde ein „Dollhaus zu St. Geor- gung der „Besessenen“ und das unte- land üblich war – darstellen. gen“ gestiftet. Um 1538 finden sich re Stockwerk für die „Arbeitsscheuen“ 1997 - 1998 Peter Unterburger Nachweise, dass ein Narrenhaus vorgesehen, getrennt in einen Män- 1991 - 1997 Dieter Meisel bestand. Es diente vermutlich vor- ner- und einen Frauentrakt. Im Winter wiegend der Verwahrung von Geis- 1724/25 öffnete dann das „Zucht- und 1990 - 1991 Adam Gräbner tesgestörten, hatte aber auch die Arbeitshaus“ in der Vorstadt St. Ge- 2015 - Heute 1964 - 1990 Heinrich Boffo Funktion eines öffentlichen Pran- orgen seine Pforten. Geisteskranke, gers. Sträflinge, Bettler und Behinderte Katja Bittner 1955 - 1964 Alfred Hertel unter einem Dach zu vereinen, ent- Im Juli 1724 wurde der Grundstein für sprach damals durchaus der üblichen 1953 - 1955 Helmut Sebastian ein „Zucht- und Arbeitshaus“ in der Praxis. Dabei ging es jedoch nicht um 1949 - 1952 Heilung, sondern um Verwahrung und Friedrich Lein Unterbringung. Die damaligen Be- 1937 - 1940 handlungsmethoden umfassten Arbeit, 1928 - 1936 Jakob Bäumel Gottesdienst und Strafe. 1919 - 1928 Ludwig Troppmann 1805 – Bayreuth gehörte damals zur Preußischen Provinz – führte Dr. Lan- 1902 - 1919 Heinrich Gossler germann die praktische „Irrenreform“ 2002 - 2015 1870 - 1902 Johann Adam Schierbel durch und wandelte das Bayreuther Bruno Harmuth Dollhaus zur ersten „Psychischen 12 13
Die Geschichte Wie aus uns wurde, was wir heute sind dorf sieht im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert drei große Entwicklungen W egsperren. Das war die Idee, die man im 18. Jahrhundert hatte, wenn es um Irre ging. Um dass Oberfranken eine Kreisirrenan- stalt braucht. Zunächst war nicht klar, ob man dafür Bayreuth oder doch lie- und gegen Ende des Jahrhunderts auch in der sich entwickelnden Psy- chotherapie, wie wir sie heute kennen, der Psychiatrie: die Formulierung von definierten Erkrankungen, die Organi- sation der stationären Versorgung psy- Geisteskranke. Um Besessene gar. ber Bamberg wählen sollte. Bayreuth so Professor Manfred Wolfersdorf – chisch Kranker und die Entwicklung ei- Es wurde anders. Besser. Aber machte das Rennen. Vier Jahre dau- selbst lange Jahre Ärztlicher Direktor nes psychologischen Verständnisses schnell ging das nicht. erte es, bis das Gebäude fertig war. am Bezirkskrankenhaus Bayreuth. „In von psychischer Erkrankung. Am 16. Mai 1870 fand die Eröffnung Bayreuth entstand Ende des 19. Jahr- Wir schreiben das Jahr 1866. Die der „Kreisirrenanstalt Bayreuth“ statt. hunderts eine Klinik unter Leitung von Die Anstalt in Bayreuth wuchs rasch. Preußen führen Krieg, wollen ein Sechs Krankenabteilungen, 250 Bet- Dr. Langermann, die europaweit wahr- Anfang des 20. Jahrhunderts ver- Durch den Ersten Weltkrieg verschlech- Kranke und behinderte Menschen deutsches Kaiserreich schaffen. Und ten, 138 Patienten. genommen wurde.“ Langermann hat zeichnete die Kreisirrenanstalt rund terte sich die Versorgung. Nur wenige getötet worden. Dass an der Wurzel in Wendelhöfen, nordwestlich von die freiheitliche Behandlung psychisch 553 Betten und fast 1.700 Patienten. Räume der Heil- und Pflegeanstalt auch Psychiater beteiligt waren, ge- Bayreuth, wird gebaut. Der Landrat Das 19. Jahrhundert war eine Zeit gro- Kranker und die Bäderbehandlung Die vielen Patienten konnten kaum konnten beheizt werden, es gab nicht hört zu unserer Schande, die wir als für Oberfranken hatte entschieden, ßer Veränderungen in der Psychiatrie eingeführt. Es herrschte ein Geist, der untergebracht werden, Typhus- und genug zu essen, Infektionen griffen um Fach vor über einem Jahrzehnt öffent- die Psychiatrie veränderte: Von den Tuberkulose verbreiteten sich, wieder sich. Auf dem Klinikgelände wurde Ge- lich eingestanden und um Vergebung Ver-Rückten und den Vorstellungen wurde gebaut, um die Situation zu ent- müse angebaut, um den Hunger auf gebeten hatten.“ Etwa 325 Patienten des Mittelalters hin zu einer medizi- schärfen. 1905 wurde – zur Entlastung diese Weise etwas lindern zu können. der Bayreuther Heil- und Pflegeanstalt nischen Wissenschaft. Wolfersdorf: der Bayreuther Anstalt – in Kutzenberg werden bis 1940 zwangssterilisiert, „Die vielen klinischen Bilder, zum Bei- eine zweite Kreisirrenanstalt eröffnet. Und wieder ein Krieg. 1939 kamen Grundlage war das „Gesetz zur Ver- spiel melancholia (heute Depression), Und trotzdem wuchs die Bayreuther 110 Patienten der Heil- und Pflegean- hütung erbkranken Nachwuchses“, psychotischer Raptur/melancholischer Anstalt weiter und weiter und erhielt stalt Klingenmünster nach Bayreuth, das die Nationalsozialisten erlassen Raptus, Wahnsinn, Ver-Rücktheit‘ wa- bald einen neuen Namen: „Heil- und es wurde noch enger. Und es wurde hatten. 1940 geht alles ganz schnell, ren schon lange bekannt, jetzt erfolgte Pflegeanstalt Bayreuth“. Heute noch grausam. Wolfersdorf spricht von einer binnen zwei Tagen verlassen 511 die psychiatrisch-medizinische Klassi- sprechen die Bayreuther von der „Katastrophe und der bisher dunkels- Kranke Bayreuth in Sonderzügen. fikation und Einordnung in biologische „HuPf“ – einer Abkürzung für Heil- und ten Zeit der Psychiatrie. Wahrschein- Sie werden zunächst verlegt, dann und psychologische Modelle.“ Wolfers- Pflegeanstalt. lich sind bis zu 250.000 psychisch in Tötungsanstalten umgebracht. 14 15
Inzwischen sind nur noch wenige Pa- das nach einer kurzen Schließung im 1998 wieder einen neuen Namen: Klaus Leipziger als Chefarzt entstand tienten in der Bayreuther Heil- und Jahr 1999 im Jahr 2001 wiedereröffnet Bezirkskrankenhaus Bayreuth. Un- im Jahr 2000 aus den forensischen Pflegeanstalt. Im Oktober 1940 wird wurde. ter diesem Namen fungierte dann die Stationen der Klinik für Psychiatrie, sie schließlich geräumt und in ein „Klinik für Psychiatrie und Psychothe- Psychotherapie und Psychosomatik. Kinderheim umgewandelt. Die Na- Es war der 1. April 1997 als dann Pro- rapie“ (KPPP), später dann, als Wolf- tionalsozialisten, die im Sommer in fessor Manfred Wolfersdorf auf den ersdorf seinen Facharzt für Psycho- Zur Bayreuther Klinik für Kinder- und Scharen auf den Grünen Hügel zu Plan trat. Als Ärztlicher Direktor über- somatik ins Spiel brachte, die „Klinik Jugendpsychiatrie und -psychothe- den Richard-Wagner-Festspielen pil- nahm er das Nervenkrankenhaus und für Psychiatrie, Psychotherapie und rapie gehören heute nicht nur die Kli- gerten, wollten die Irren nicht in Sicht- wurde außerdem Chefarzt der „Psy- Psychosomatik“. Außerdem die Klinik nik am Bezirkskrankenhaus, sondern weite des Festspielhauses wissen. Im chiatrischen Klinik“. Er verfolgte das für Kinder- und Jugendpsychiatrie und auch Tageskliniken in Coburg, Hof und Jahr 1942 verkaufte man schließlich Konzept der inneren Differenzierung. -psychotherapie, die 1994 mit 36 Plan- Bamberg. Eine Adoleszentenstation die Anstalt an die NS-Volkswohlfahrt. Nun waren nicht mehr chronisch Psy- betten gegründet worden war. Die „Kli- der Klinik ist in Kutzenberg unterge- Während der weiteren Kriegsjahre wa- die Bettenzahl – im Lauf der Jahre um 1992 folgte die zweite Neurologische chose-Kranke die Hauptgruppe der nik für Forensische Psychiatrie“ mit Dr. bracht. ren die Gauhauptstelle der NS-V und etwa die Hälfte. Rehabilitationsstation mit 20 Betten. Patienten in den Kliniken, sondern eine große neurologische Abteilung ei- Die beiden neurologischen Rehabili- Alkoholkranke, depressive Kranke, ge- nes Reservelazaretts auf dem Gelän- Neues schaffen – das war das Gebot tationsstationen wurden 2001 zusam- rontopsychiatrische Patienten und sol- de untergebracht. Erst 1947 wurde die dieser Jahre, von denen die, die sie mengefasst – inzwischen gibt es sie che mit neurotischen Störungen. Aus Anstalt provisorisch wieder eröffnet. erlebten, immer noch schwärmen. Ein gar nicht mehr. einem „Lebensraum Krankenhaus“ ganz besonderer Geist der Aufbruch- wurde ein Akutkrankenhaus und Bay- Dann kamen die 1970er Jahre – mit stimmung habe geherrscht. Und es Kein Jahr verging ohne eine Neuerung: reuth hatte einen Namen in der deut- ihnen die Psychiatrie-Enquete und de- wurde gebaut: 1987 wurde die „Klinik 1995 wurde der erste Neubau der fo- schen Psychiatrielandschaft. ren Ziel der Enthospitalisierung. Die für Neurologie“ nach Umbau und Sa- rensischen Psychiatrie mit 28 Betten Bayreuther Geschichte prägten dabei nierung wieder in Betrieb genommen. in Betrieb genommen. 1996 errichtete Professor Wolfersdorf fand auch, dass die Ärztlichen Direktoren Professor 1990 eröffnete die erste Neurologische man ein psychiatrisches Pflegeheim das Krankenhaus endlich so heißen Felix Böcker (1975 bis 1997) und Pro- Rehabilitationsstation mit 20 Betten zur weiteren Enthospitalisierung von muss, wie das, was es ist. Ein Kran- fessor Manfred Wolfersdorf (1997 bis und an der Berufsfachschule wur- Langzeitpatienten auf dem Gelände kenhaus unter der Trägerschaft des 2016). Professor Böcker reduzierte den Krankenpflegehelfer ausgebildet. des Nervenkrankenhauses Bayreuth, Bezirks nämlich. So bekam das Kind 16 17
In Richtung Zukunft Im Lauf der Jahre und Jahrzehnte ar- beiteten viele Menschen an und für die Kliniken des heutigen Bezirkskranken- Jahre wandelte der Bezirk seine Kran- kenhäuser in Eigenbetriebe um, die 2002 unter die einheitliche Leitung übertragen, ihm standen der Kranken- hausbeirat mit dem jeweiligen Ärztli- chem Direktor und dem Pflegedienst- D ie Entwicklung des Bezirkskran- kenhauses Bayreuth ist eine stetige. Aktuell am sichtbarsten ist hauses – Ärzte und Pflegekräfte, aber des Krankenhaus- und Heimdirektors leiter beratend zur Seite. 2017 erhält dies im Bereich der Kinder- und Ju- auch Schlosser, Elektriker, Köche, Bruno Harmuth gestellt wurden. 2005 das Kommunalunternehmen den Na- gendpsychiatrie und -psychotherapie. Verwaltungsleute, Gärtner. So konnte wurden alle Eigenbetriebe und Pflege- men „Gesundheitseinrichtungen des und kann das Bezirkskrankenhaus fast heime des Bezirks Oberfranken zu ei- Bezirks Oberfranken“, GeBO, ein Jahr Hier entstand innerhalb von nur sechs schon autark agieren. nem Kommunalunternehmen Kliniken später wird der Teil-Neubau der Klinik Monaten ein Interimsbau, der zwei und Heime zusammengefasst. Die für Psychiatrie, Psychotherapie und Jugendpsychotherapiestationen und Auch die Rechtsform der Klinik änder- Leitung des Kommunalunternehmens Psychosomatik eröffnet. einen Therapie- und Schulbereich te sich immer wieder: Ende der 1990er wurde dem Vorstand Bruno Harmuth beherbergt. Dieser Modulbau hilft die Und heute? Noch immer reicht der Platz räumliche Situation zu entspannen, bis nicht aus. Die Kinder- und Jugendpsy- in wenigen Jahren ein komplett neues chiatrie und -psychotherapie wächst, in Klinikgebäude gebaut werden soll. Rekordzeit entstand in diesem Jahr ein Interimsbau, der von der Kinder- und Nicht nur räumlich, auch inhaltlich tut Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sich im Bereich der Kinder- und Ju- genutzt werden soll, bis der Klinikneu- gendpsychiatrie und -psychotherapie bau steht. Die Klinik für Forensische gerade einiges: Im Jubiläumsjahr wur- Psychiatrie wird erweitert und auch die de eine spezialisierte Suchtstation für heilpädagogische Abteilung soll erneu- Jugendliche eröffnet. ert werden. Bei allen Bemühungen – auf medizinischer, baulicher, verwalteri- scher Ebene – steht jedoch immer einer im Mittelpunkt: der Patient. Die GeBO ist, heute mehr denn je, „gemeinsam nah am Menschen“. 18 19
Die vielen Namen des Schwachsinns S prache prägt. Stellen Sie sich einen Arzt vor. Wen haben Sie vor Augen? Einen Mann oder eine den dieses medizinische Fach durch- laufen hat. Schwachsinn bezeichnete eine geis- tige Behinderung. In der Psychiatrie wird dieser wertende und diskriminie- tionaler Fähigkeiten bezeichnet. Heute sprechen wir von Demenz. Frau? Sprache prägt. Sie formt un- Eine kleine Kulturgeschichte der rende Begriff nicht mehr verwendet – Neurasthenie. Burnout als Phänomen ser Denken und wie wir die Welt Begriffe. in der Rechtswissenschaft schon. des 21. Jahrhunderts? Wohl nicht. wahrnehmen. Geisteskrankheit. Das kann als Sam- Schon vor 100 Jahren schlug Berufstä- melbegriff für verschiedene Verhal- Oligophrenie. Damit bezeichnete tigen schwerer Stress auf die Nerven. Und das ist nicht nur dann der Fall, tensbilder oder Krankheiten verstan- man angeborenen Schwachsinn. Damals hieß das Krankheitsbild Neu- wenn es um Gendergerechtigkeit den werden, die zu Verhalten führen, rasthenie. Wie eine Epidemie über- in der deutschen Sprache geht, um das in der Gesellschaft nicht akzeptiert Idiotie. „Idiot“ ist ein Schimpfwort für zog die sogenannte Nervenschwäche Sternchen und weibliche Formen oder wurde. Von den Geisteskrankheiten einen dummen Menschen. Der Begriff Mitteleuropa. Als Ursache galt damals darum, ob Frauen nicht einfach bei wurden die Gemütskrankheiten und leitet sich vom altgriechischen Wort das Hetzen und Jagen des modernen männlichen Ausdrucksformen mitge- die Geistesschwäche als Störung idiotes ab, das etwa „Privatperson“ Wirtschaftslebens. meint sein dürfen. Sprache prägt auch mit klinisch schwächer ausgeprägten bedeutet. In Medizin und Psychologie dann, wenn es um die Beschreibung Symptomen abgegrenzt. Heute spricht war die Idiotie bis ins frühe 20. Jahr- Und heute? Sprache prägt. Wir spre- von Krankheiten geht. Das ist vor allem man nicht mehr von Geisteskrankhei- hundert als Diagnose für eine geistige chen nicht mehr von „Blöden“, von in der Psychiatrie der Fall – eine Blind- ten sondern von psychischen Störungen. Behinderung gebräuchlich. „Irren“ oder „Schwachsinnigen“. Wir darmentzündung ist nun einmal eine sprechen von Depressionen, Sucht- Blinddarmentzündung. Aber Schwach- Schwachsinn. Im Deutschen Wör- Jugendirresein. Heute spricht man erkrankungen oder geistigen Behin- sinn? Gibt es das heute noch? Be- terbuch wird Schwachsinn Ende des von hebephrener Schizophrenie, einer derungen – und gehen damit (auch) schwört der Begriff nicht auch sofort 19. Jahrhunderts als Mangel an Emp- Form der Schizophrenie, bei der vor sprachlich deutlich respektvoller mit ein Bild herauf – eines, das wir viel- findung und Verstand beschrieben. In allem das Gefühls- und Gemütsleben Menschen um, die eine psychische Er- leicht gar nicht (mehr) wollen? der Psychiatrie galt der Begriff bis ins verändert ist. Zudem können Denken krankung haben. 20. Jahrhundert als zusammenfassen- und Verhalten desorganisiert sein. Die Bezeichnung der Krankheitsbilder de Bezeichnung für Intelligenzminde- in der Psychiatrie hat sich gewandelt rung. Schwachsinn entsprach einem Verblödung. Damit wurde der erwor- und dokumentiert auch den Wandel, Intelligenzquotienten von unter 70, bene Verlust intellektueller oder emo- 20 21
Das Bezirkskrankenhaus in der Zeit des Nationalsozialismus Dr. Ulrich Wirz, stellvertretender Bezirksheimatpfleger über die schwärzeste Zeit der Psychiatrie Mit einem auf den Kriegsbeginn 1. Sep- Ende August 1941 mutmaßlich unter stärkt Personal auf Schulungen beor- tember 1939 zurückdatierten Schrei- dem Eindruck der später wohl meist- dert wurde. Der zum 1. Mai 1933 zum F ür die gesamte deutsche Psychi- atrie wurde die Zeit des National- sozialismus zum dunkelsten Kapitel nen anzeigten, begutachteten und als Beisitzer den mit dem Gesetzesvollzug betrauten Gerichten angehörten. einer Sitzung des Preußischen Lan- desgesundheitsrates den Entwurf ei- nes „Eugenetik-Gesetzes“ vor, das ben Hitlers wurde die im Hauptamt II der „Kanzlei des Führers“ geplante, euphemistisch „Euthanasie“ bezeich- zitierten Predigt des Bischofs Clemens August Graf von Galen (1878– 1946) offiziell beendet. Unter strenger Ge- Direktor berufene Dr. Karl Schwarz wehrte sich gegen diese zunehmen- den „Abkommandierungen“. Als einer ihrer Geschichte. schließlich erst nach Muckermanns nete Mordaktion mit der Versendung heimhaltung und im kleineren Umfang seiner beiden verbliebenen ärztlichen Die Geringschätzung von Ärzten und Entlassung durch die Nationalsozialis- von Meldebögen an die Heil- und Pfle- wurde die gezielte Tötung Kranker Mitarbeiter Ende September 1934 zu Über 250.000 psychisch kranke und be- Gesellschaft gegenüber psychisch ten am 14. Juli 1933 als „Gesetz zur geanstalten im ganzen Reichsgebiet in aber fortgesetzt. einem „erbbiologischen Kurs“ abberu- hinderte Menschen wurden Opfer des Kranken und geistig behinderten Men- Verhütung erbkranken Nachwuchses“ Gang gesetzt. Organisiert wurde diese fen wurde, erhob er mit Hinweis auf die sogenannten „Euthanasieprogramms“. schen war zwar keine völlig neue Ent- verabschiedet und veröffentlicht wurde systematische Ermordung von einer in Die Heil- und Pflegeanstalt Bayreuth längst „untragbar“ gewordenen Ver- Hinzu kommen Hunderttausende vor al- wicklung in Deutschland, aber was mit (RGBl. I. S. 529). der Tiergartenstraße 4 untergebrach- litt zu Beginn der NS-Herrschaft be- hältnisse in seiner Anstalt Einspruch lem psychisch kranker und geistig behin- dem am 14. Juli 1933 verkündeten und ten Bürozentrale. Der an die Adresse reits unter einem starken Ärzteman- bei der seit 1. Januar 1933 in Ansbach derter Menschen, die Opfer von Zwangs- zum 1. Januar 1934 in Kraft getrete- Vor allem der Zwangscharakter des des Büros angelehnte Begriff „Aktion gel. Verschärft wurde die Lage, weil im befindlichen gemeinsamen Regierung sterilisationen wurden; von ihnen starben nen „Gesetz zur Verhinderung erb- Gesetzes und seine akribische Um- T4“ für diese Mordtaten wurde erst Zuge dieser desaströsen Wende ver- von Ober- und Mittelfranken. mehrere tausend Betroffene bei solchen kranken Nachwuchses“ an menschen- setzung besaßen neben ökonomi- nach 1945 im Zuge der historischen Eingriffen oder an deren Folgen. Durch ein verachtenden Maßnahmen ins Werk schen Motiven eine von den neuen Aufarbeitung dieser menschenver- am 26. Juni 1936 beschlossenes Ände- gesetzt wurde, ist singulär. Machthabern verfolgte, bis dato nie achtenden Maßnahme gebräuchlich. rungsgesetz wurden Abtreibungen lega- dagewesene „rassenpolitische Dimen- In zeitgenössischen Quellen findet lisiert, wovon insgesamt mehrere Zehn- Die theoretischen Grundlagen für die sion“. „Erbgesundheitsgerichte“ be- sich diese Bezeichnung nicht. Dort tausend Frauen betroffen waren. Diese speziell zwischen 1933 und 1945 in ziehungsweise als Berufungsinstanz ist nur von „Aktion“ oder mit vorange- Schreckensbilanz vervollständigen in diesem Bereich veranlassten Maß- sogenannte „Erbgesundheitsoberge- stelltem Kürzel für „Euthanasie“ von nicht zu beziffernder Anzahl verfolgte, aus nahmen lieferte die 1905 gegründete richte“, deren Personal vor allem nach „Eu-Aktion“ oder „E-Aktion“ die Rede. Deutschland vertriebene jüdische und po- „Gesellschaft für Rassenhygiene“. De- ihrer ideologischen Zuverlässigkeit litisch missliebige Psychiatriefachkräfte. ren Mitglied Hermann Muckermann ausgewählt wurde, sollten eine Ver- Im Zuge dieser Vernichtungsaktion (1877–1962), ein aus dem Jesui- fahrenstransparenz vortäuschen und wurden über 70.000 Psychiatriepatien- Psychiater tragen dafür maßgeblich tenorden ausgetretener katholischer die tatsächlichen Motive verschleiern tinnen und Patienten in Tötungsanstal- Verantwortung, weil sie die Betroffe- Geistlicher, legte am 2. Juli 1932 in helfen. ten ermordet. Zwar wurde die Aktion 22 23
Dass in der „Gesellschaft für Ras- geanstalt Bayreuth früh durch entspre- zahlen anstiegen. Gleichzeitig wurde wurden sieben Personen jüdischer wegen der bevorstehenden Auflösung Willy Liebel und der Bayreuther Ober- senhygiene“ im Vorfeld der entspre- chende Maßnahmen signalisiert. Nach aus Kostengründen Personal abgebaut. Konfession gemeldet. Die Betroffenen der Anstalt. bürgermeister Friedrich Kempfler mit chenden Gesetzgebung zu Strate- Errichtung des Erbgesundheitsgerichts mussten Bayreuth am 14. September der Schließung der Heil- und Pflege- gien ausgearbeitete „erbbiologische Bayreuth Mitte März 1934 begannen Im März 1938 berichtete die Zeitung 1940 verlassen und kamen vermutlich Am 1. Oktober 1940 wurde die Auflö- anstalt Bayreuth einen Wunsch Adolf Überlegungen“ rasch in die Praxis die Sterilisationen, die offenbar vom „Bayerische Ostmark“ über eine Art in der Tötungsanstalt des vormaligen sung der Anstalt angeordnet und weni- Hitlers umgesetzt. Möglicherweise umgesetzt werden sollen, wurde den Gericht und der Anstalt gleicherma- Fachtagung in der Heil- und Pflegan- KZ Brandenburg an der Havel zu Tode. ge Tage danach vollzogen. Die Anzahl störte sich die politische Führung an Verantwortlichen in ßen betrieben wurden. So wurde von stalt und legte sogar die perfiden Kon- der verlegten Personen ist nicht sicher einer solchen Einrichtung in der Nähe der Heil- der Anstaltsleitung ein Fragebogen sequenzen in Form einer „Ausmer- Zum 1. Mai 1939 wechselte die An- zu ermitteln. Im Juli 1940 waren laut des Festspielhauses beziehungsweise und Pfle- konzipiert, mit dessen Hilfe mutmaß- zung der Erbuntauglichen“ offen. staltsführung durch die Ruhestands- Meldebogen noch 644 Pfleglinge in der benachbarten, 1936 errichteten lich erbbiologisch bedeutsame An- versetzung von Dr. Schwarz in die der Bayreuther Anstalt. Angekommen Hans-Schemm-Gartenstadt. gaben erhoben wurden. Gegen Jahresende 1938 wurde die Hände von Dr. Martin Hohl, der im sind in den Aufnahmeanstalten Kut- Dies hatte wiederum Direktion der Bayreuther Anstalt von Gegensatz zu seinem Vorgänger eine zenberg, Erlangen und Ansbach 511 Für viele der Bayreuther Patientinnen zur Folge, dass der Regierung und gleichzeitig vom einschlägige Parteiprägung mitbrachte Personen, während 87 Personen nach und Patienten begann erst mit der Ver- Entlassungs- Einwohnermeldeamt Bayreuth auf- (seit 1. Mai 1933 NSDAP-Mitglied, seit Klingenmünster zurückverlegt wurden. legung der eigentliche Leidensweg. möglichkeiten gefordert, die Zahl der unter- 1. August 1935 SA-Mitglied) und dem Die Differenz betreffen einige wenige, Von 511 in den drei fränkischen Verle- eingeschränkt gebrachten Juden zu melden. seine Linientreue bei der Besetzung die vor Abtransport entlassen und von gungsanstalten Angekommenen wur- wurden und Am 30. April 1940 wurde diese nachweislich zugutekam. Angehörigen abgeholt wurden und für den 222 in Tötungsanstalten gebracht. die Beleg- Aufforderung durch den Re- arbeitsfähig befundene Patientinnen Die besten Überlebenschancen hatten gierungspräsidenten in Erin- Für die Vorbereitung der „Aktion T4“ und Patienten, die als Arbeitskräfte bei die nach Kutzenberg verlegten Pati- nerung gebracht. Vier Män- wurden der Bayreuther Heil- und Pfle- der Versorgung im Zuge der „Kinder- enten, weil der dortige Anstaltsleiter ner und zwei Frauen wurden geanstalt im Sommer 1940 Meldebö- landverschickung“ in der Anstalt unter- Dr. Josef Lothar Entres sich in seinem schließlich am 6. Mai 1940 gen übersandt. Den dortigen Verant- gebrachter Hamburger Kinder einge- Handeln mehr von seiner christlichen durch die Anstaltsleitung wortlichen war spätestens in diesem setzt wurden. Überzeugung und seinem Hippokra- gemeldet. Auf eine unterm Moment klar, welche Konsequenzen tischen Eid leiten ließ denn von den 17. Juli 1940 von der israe- das für viele ihrer Pfleglinge haben Nach eigenen Angaben hatten der als Unrecht erkannten administrativen litischen Kultusgemeinde würde. Die Durchführung der Erhe- Gauleiter der Bayerischen Ostmark, Vorgaben des nationalsozialistischen eingereichte Anfrage, bung verzögerte sich dann offenbar Fritz Wächtler, Kreistagspräsident Gesundheitswesens, Motive, die auch 24 25
Ärztliche Direktoren im Überblick die Tochter Dr. Martin Hohls später für ihren Vater geltend machte. Sie be- richtete, dass ihr Vater und sein Stell- Literatur: Aas, Norbert: Verlegt – dann vergast, vergiftet, verhungert. Die Kranken der N eben dem Vorstand gab und gibt es den ärztlichen Direktor. In den vergangenen 150 Jahren waren folgende Persönlichkeiten in diesem Amt tätig: vertreter Fragebögen gefälscht hätten, Heil- und Pflegeanstalt Bayreuth in der Zeit der Zwangssterilisation und um Patienten als Arbeitskräfte in Bay- „Euthanasie“. Bayreuth 2000. reuth halten zu können. Cranach, Michael von / Siemen, Hans-Ludwig (Hrsg.): Psychiatrie im National- sozialismus. Die Bayerischen Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1933 und 1975 - 1997 Prof. Dr. Felix Böcker Gesühnt wurde das unbeschreibliche 1945. München 1999. Unrecht, an dem weltliche Behörden Süß, Winfried: Der „Volkskörper“ im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheits- 1972 - 1975 Dr. Heinrich Müller und deren Mitarbeiter ebenso betei- verhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland ligt waren wie einzelne Geistliche, die 1939–1945 (= Studien zur Zeitgeschichte, 65). München 2003. 1950 - 1972 Dr. Hans Mönius selbst über Rassenhygiene schwad- Zenk, Alfons: Die Betreuung hospitalisierter Menschen in der oberfränkischen ronierten wie ein für die Bayreuther Heil- und Pflegeanstalt Kutzenberg 1905–1946. Würzburg 1995. 01.01.2017 - Heute 1947 - 1950 Dr. Karl Friedlaender Anstalt zuständiger evangelischer Aly, Götz (Hrsg.): Aktion T4: 1939–1945. Die „Euthanasie“-Zentrale in der Prof. Dr. med. habil. Thomas W. Kallert Geistlicher, wenn überhaupt, dann nur Tiergartenstraße 4. 2., erw. Aufl. Edition Hentrich. Berlin 1989. 1945 - 1947 Dr. H. Riemenschneider unzureichend. Cranach, Michael von / Siemen, Hans-Ludwig (Hrsg.): Psychiatrie im National- sozialismus – Die Bayerischen Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1933 und 1939 - 1945 Dr. Martin Hohl Umso wichtiger ist es, dass man den 1945. 2. Auflage München 2012. Opfern bleibendes Gedenken sichert. Kater, Michael H.: Doctors under Hitler. Chapel Hill, Londnon 1989. 1933 - 1939 Dr. Karl Schwarz Bezirkstagspräsident Henry Schramm Taegert, Jürgen-Joachim: Geschichte(n) aus Weidenberg 1919-1949, Alltags- hat deshalb eine Arbeitsgruppe beauf- leben und Kirchenkampf in einer oberfränkischen Marktgemeinde, Folge 5: 1910 - 1932 Dr. Josef Hock tragt, ein Konzept für eine zentrale Ge- Spuren der Opfer – Anteilnahme und Verleugnung. Pressath 2018. 1888 - 1910 Dr. Karl Kraussold denkstätte im Bezirksklinikum Ober- main zu erarbeiten. 1870 - 1888 Geh. Hofrat Dr. Joseph Engelmann 01.04.1997 - 30.09.2016 Prof. Dr. med. Manfred Wolfersdorf 26 27
Kunst-voll – Ein Spaziergang über das Gelände 1 1: Wir starten kurz vor dem Gebäude P1 und gehen in Richtung Dia- gnostikzentrum. Hier bewundern wir zuerst die imposante Steinskulptur "Hinschauen – Wegschauen." 2: Ein Stück weiter kommen hier be- sonders Bewunderer von Richard 3 Wagner auf ihre Kosten. Am See- rosenteich kann man nämlich einen Blick auf die Rheintöchter Wellgunde, 2 Woglinde und Floßhilde werfen. 4 1 2 28 29
Die gute Seele der Bibliothek 3 „I ch bin psychisch krank. Da mache ich kein Geheimnis drum“, sagt Ingrid Jakubek resolut. der Patientenbibliothek des Nerven- krankenhauses. Als studierte Biblio- thekarin war sie prädestiniert für diese Karteikästen hatte Jakubek genau im Blick, wer wann was ausgeliehen hat- te. Natürlich kam es vor, dass mancher 4 Die 85-Jährige hat sich als junge Frau selbst ins Nervenkranken- Aufgabe. „Ich hatte jedes Jahr einen bestimmten Etat, von dem ich neue Patient das Buch nicht fristgerecht nach vier Wochen zurückgab. „Dann haus Bayreuth eingewiesen. „Ich Bücher anschaffen durfte. Etwa 20 habe ich auf der Station angerufen und brauchte Hilfe. Jemanden, der mich Quadratmeter groß war der Raum – Dampf gemacht“, sagt die 85-Jährige auffängt.“ Jakubek wurde 1935 in voll mit Lesestoff für die Patienten des und lacht. Wenn sie während der Ar- Böhmen geboren. 1948 kam sie Hauses. „Ich habe immer geschaut, beit Luft hatte, bastelte sie gerne. Sie nach Bayreuth. „Wir wurden ausge- was sie gerne lesen. Das waren viele beklebte gerne Bücher, erstellte Colla- 3: Weiter geht es. Wir spazieren in siedelt.“ Bruchstückhaft erzählt sie Problemromane. Max Frisch und so.“ gen. Eine Leidenschaft, die ihr sicher Richtung Alte Wäscherei. Dort gibt ihre Geschichte. 20 Jahre lang führte sie die Bücherei ihr Vater Rudolf Jakubek mitgab. Er war es ein wunderschönes Mosaik mit gewissenhaft. Jeden Tag von 10:00 Maler. 1980 zog Jakubek mit vier weite- einer Sonnenuhr zu entdecken. Das habe ihr so zugesetzt und sie bis 12:00 und von 14:00 bis 16:00 Uhr ren Mitpatienten in eine therapeutische krank gemacht. Die damalige Station konnten sich die Patienten bei ihr Li- Wohngemeinschaft – die erste Bay- 4: Zu guter Letzt führt der Weg in R3 wurde ihr Zuhause. „Ich war Pati- teratur ausleihen. Aber nicht nur das: reuths. Prof. Dr. med. Felix Böcker rief Richtung Zentralküche. An diesem entin hier. Aber ich habe trotzdem et- „Ich habe viel mit den Leuten gespro- diese im Zuge der Enthospitalisierung Gebäude gibt es nochmal einiges zu was geschafft“, sagt sie stolz. Damit chen. Über ihre Krankheiten. Ich hatte ins Leben. Seit Sommer 2019 lebt Ja- entdecken. Das Außenrelief er- meint sie ihre langjährige Tätigkeit in immer ein offenes Ohr.“ Mit Hilfe von kubek im Bayreuther Hospitalstift. streckt sich über drei Seiten. Hier lohnt sich auf jeden Fall ein Blick um die Ecken. 30 31
Vom Exorzismus zur Therapie Wie sich Behandlungsansätze in der Psychiatrie entwickelten und entwickeln werden Das ist jetzt ein Beispiel für eine The- der 1970er) wie an der Benutzung der hundert hinein praktiziert, denken rapie, die gar nicht so abwegig war – jeweils verfügbaren beziehungsweise wir nur an Tauchbäder. Und auch M it Exorzismus versuchte man im Mittelalter den Dämonen Herr zu werden. Heute wissen wir, werden aus den Vorstellungen über die Ursache dann Behandlungsme- thoden abgeleitet – so abstrus sie uns auch wenn es offensichtlich lange gedauert hat, bis dies bewiesen wur- de. Aber es gab ja auch andere An- weiterentwickelten Verfahren der bild- gebenden Hirndiagnostik (beginnend mit der ebenfalls seit den 1970ern Zwangsjacken sind noch gar nicht so lange von der Bildfläche ver- schwunden. Warum gab es hier ein die Dämonen sind Krankheiten. heute auch erscheinen mögen. Und sätze. Hatten die Ärzte früher denn verfügbaren Computertomographie) Umdenken? Wenn auch in der jüngeren Ge- wenn ein seelisch Kranker, zumal in Erfolg mit aus heutiger Sicht teils ablesen. Professor Kallert: Das hat insbe- schichte kein Exorzist mehr vorbei einer Zeit, in der Abweichungen von abstrusen Behandlungen? sondere mit der Wissenschaftsent- kam – aus heutiger Sicht abstruse der Norm praktisch synonym mit Ab- Professor Kallert: Die Weiterentwick- Manche Behandlungsansätze von wicklung der vergangenen 50 Jahre Behandlungen gab es doch. weichung vom Glauben waren, als von lung von Therapien ist ja ein steter Pro- früher wurden bis weit ins 20. Jahr- zu tun (insbesondere die erbrachten Dämonen besessen gilt, dann ist der zess und folgt über die Jahrhunderte Wie entstanden solche Therapiean- Weg zum Exorzismus nicht mehr weit den jeweils verfügbaren Möglichkei- sätze? Woher rühren diese Vorstel- (und im Übrigen ja auch heute noch ten; auch in den letzten Jahrzehnten lungen von der Behandlung psychi- nicht ganz verschwunden). gibt es Beispiele von Therapieformen, scher Krankheiten? Professor Dr. Professor Kallert: Franz Anton Mes- die initial Erfolg versprachen, was sich med. habil. Thomas W. Kallert, Lei- Was versprach man sich von Folter- mer entwickelte eine Theorie (1784 im weiteren Verlauf dann aber leider tender Ärztlicher Direktor der Ge- methoden als Behandlung? von der französischen Akademie der deutlich relativiert hat. sundheitseinrichtungen des Bezirks Professor Kallert: Bestrafung ist ja Wissenschaften geprüft und verwor- Oberfranken und Chefarzt der Klinik ein probates Mittel, um jemanden er- fen), nach der ein Fluid, das er als Ma- Wann kam es dazu, dass Psychiat- für Psychiatrie, Psychotherapie und zieherisch wieder auf den rechten Weg gnetismus animalis bezeichnete, von rie wissenschaftlicher wurde? Psychosomatik am Bezirkskran- zu bringen. Und Folter galt ja nicht nur Mensch zu Mensch übertragbar sei Professor Kallert: Psychiatrie wurde kenhaus Bayreuth: Vorstellungen dem erkrankten Menschen, sondern und unter anderem bei der Hypnose zunehmend wissenschaftlicher, als das über die Verursachung von seelischen den Mächten, die als krankheitsverur- eine Rolle spielen sollte. Heute ver- Fach selbst mehr darauf bestand, inte- Erkrankungen speisen sich aus dem sachend galten. wenden wir die repetitive transkranielle graler Bestandteil des Medizinbetriebs jeweiligen Zeitgeist sowie dem verfüg- Magnetstimulation im Bezirkskranken- zu sein. Dies lässt sich beispielhaft baren Stand der medizinisch-wissen- Welche Behandlungsansätze gab haus Bayreuth als Therapieverfahren sowohl am Konzept der Abteilungs- schaftlichen Erkenntnis. Und natürlich es denn in früheren Zeiten? in der Depressionsbehandlung. psychiatrien (zunehmend seit Mitte 32 33
Die Rolle des Arztes Wirksamkeitsnachweise für alle Verfah- (methodenvielfältiger) Psychotherapie, fortsetzen. Ein solches Gesamtpaket ren, die wir heute im therapeutischen flankiert durch ergo-, physio-, kunst-, ist für Patienten aktuell nur in der Kli- Portfolio haben), aber auch mit der Inte- musiktherapeutische (etc.) Verfahren nik erhältlich, entsprechende ambu- gration von Ethik in der Psychiatrie so- (in Einzel- wie in Gruppentherapien), lante Strukturen (zum Beispiel in Ins- wie auch mit einer Rechtsprechung, die ergänzt durch sozialrehabilitative An- titutsambulanzen) müssen ausgebaut sich insbesondere am Grundsatz der sätze, Anschluss an Selbsthilfegrup- werden. Gesellschaftliche Akzeptanz Autonomie orientiert. Zudem ist es Ziel pen und so weiter. muss wachsen und Inanspruchnah- geworden, mit dem informierten Patien- meschwellen müssen minimiert wer- ten auf Augenhöhe seine Therapie zu Wo sehen Sie die Psychiatrie in den den. Angebote müssen auskömmlich definieren – auch Haltungen gegenüber nächsten Jahrzehnten? finanziert sein, nur so kann der erfor- beziehungsweise das Bild von psy- Professor Kallert: Die gerade be- derliche hohe Personaleinsatz sicher- chisch Kranken haben sich geändert. schriebene Differenzierung wird sich gestellt werden. Wann begann die medikamentöse Behandlung? Professor Kallert: 1948 bis 1963 wur- den die ersten Substanzen der heute gebräuchlichen wichtigsten Psycho- „Die Grundlage der heutigen pharmakagruppen eingeführt. Behandlung ist das Vertrauen des Welche Therapien sind heute das Kranken zum Arzt, in dem jener Maß aller Dinge? Aus: Das heutige Irrenwesen nicht den Quälgeist und Feind, Professor Kallert: Heute ist die in- dividualisierte multimodale Therapie von Dr. J. Finckh, 1907 sondern seine natürliche Zuflucht das Maß der Dinge, also Psychophar- und seinen Berater sehen muss.“ maka in Kombination mit (störungs- spezifischer) Psychoedukation und 34 35
Viel passiert in dreieinhalb Jahrzehnten Wie die dienstälteste Oberärztin Joanna Stich den Wandel in der Psychiatrie erlebte les andere. Abgestimmt auf den in- Fachbereichen gibt es spezialisierte und Intelligenzminderung und geisti- dividuellen Behandlungsplan eines Fachkräfte in jeder Berufsgruppe. Auch ger Behinderungen. J ournalist oder Psychiater – vor dieser Entscheidung stand Joa- nna Stich nach ihrem Abitur. Letzt- zum Teil entstigmatisiert wurde. Die Zu- sammenarbeit mit der Gemeindepsych- iatrie ist ebenfalls deutlich enger gewor- Patienten arbeiten die verschiedenen Berufsgruppen – Ärzte, Psycholo- gen, Spezialtherapeuten, Pflege – als die teilstationäre (Tages- und Nachtkli- nik) und ambulante Versorgung bieten dem Patienten mehr Möglichkeiten, im Die Ärztin betonte immer wieder, dass eine gute und erfolgreiche Behandlung lich fiel die Wahl auf die Psychiatrie. den. Trotzdem sei noch viel zu tun. „Zu multiprofessionelles Team zusammen. gewohnten Umfeld gesund zu werden. nur erreicht werden kann, wenn alle Und inzwischen ist die Oberärztin uns kommen Menschen, die mittelgra- Beziehungsarbeit und Milieutherapie an einem Strang ziehen. „Ich bin dem seit Juli 1985 am Bezirkskranken- dig, schwer bis schwerst erkrankt sind, spielen eine sehr wichtige Rolle. Für Was ist schlechter geworden? gesamten Team sehr dankbar für die haus Bayreuth im Einsatz. was eine deutliche Verschiebung zu das Bezirkskrankenhaus Bayreuth sei Gerade im Arbeitsbereich von Joanna Leistung und das Engagement, das früher zeigt.“, erklärt Joanna Stich. aber vor allem die innere Differenzie- Stich bleiben Patienten oft sehr lange sie jeden Tag zeigen.“ Vor allem die Biografien der Patienten rung von großer Bedeutung. So ha- in der Klinik. Aus diesem Grund prüft beeindrucken sie. Wie Menschen mit ver- Wie hat sich der Klinikalltag verändert? ben sich mit den Jahren verschiedene der Medizinische Dienst mehr Pati- schiedenen Traumata und Belastungen Die größte Veränderung im Klinikall- Fachbereiche in der Allgemeinpsy- entenakten, was sehr viel Zeit in An- umgehen, berührt sie sehr. Joanna Stich tag zeigt die Enthospitalisierung und chiatrie herauskristallisiert: die Akut- spruch nimmt. sagt weiter: „Jeder Tag ist hochspannend. Ausweitung der ambulanten Versor- tationspflicht von therapeutischem und psychiatrie, die Psychotherapie und Jeden Tag treffen wir auf Menschen mit gung. Dadurch werden den Patienten pflegerischem Bereich ausgeweitet. Psychosomatische Medizin, das Ge- Was muss sich in der Psychiatrie verschiedenen Krankheits- und Behand- nach dem stationären Aufenthalt viel Joanna Stich erlebte auch mit, als rontopsychiatrische Zentrum, die Kli- ändern? lungsverläufen, Persönlichkeitsentwick- mehr Hilfen an die Hand gegeben und die Psychotherapie in die Psychiat- nische Sozialpsychiatrie, der Psychia- Laut Joanna Stich ist es immer wichtig, lungen und Ressourcen.“ die Selbständigkeit und Autonomie rie integriert wurde. Das ermöglichte trisch-Heilpädagogische Bereich, das die Kompetenz der Mitarbeiter weiter des Menschen wird dadurch gewahrt. das Zusammenspiel von multiprofes- Depressionszentrum und die Klinische zu steigern. „Die Weiterbildung im Be- Wie haben sich die Patienten ver- Auch die Umstellung von der Psychi- sionellen Therapieangeboten. Heute Suchtmedizin. reich der Psychiatrie und Psychothe- ändert? atrie-Personalverordnung (Psych-PV) gibt es zum Beispiel die Einzel- und rapie muss vorangetrieben werden.“, Die erfahrene Ärztin behandelt Pati- auf das Pauschalierende Entgeltsys- Gruppentherapie, die Ergotherapie, Was ist besser geworden? betont die Oberärztin. Zudem sollte enten im Psychiatrisch-Heilpädagogi- tem für Psychiatrie und Psychosoma- die Kunst- und Gestaltungstherapie, Therapeutisch und pflegerisch ist eine die Forschung auf weniger im Fokus schen Bereich und in der Klinischen tik (PEPP) hat eine weitreichende Ver- die Sport- und Bewegungstherapie, sehr hohe Kompetenz vorhanden, es stehende Gebiete gerichtet sein, wie Sozialpsychiatrie. Im Lauf der Jahre änderung mit sich gebracht. Dadurch die Psychoedukation, das kognitive werde von allen Seiten viel geleistet, beispielsweise den Bereich für Men- habe sie erlebt, dass die Psychiatrie wurde nämlich vor allem die Dokumen- Training, die Musiktherapie und vie- sagt Joanna Stich. In den einzelnen schen mit psychischen Erkrankungen 36 37
Kunst und Handwerk gegen die Krankheit Wie Beschäftigung einen negativen Kreislauf unterbrechen kann bezeichnungen Beschäftigungs- und kein oder nur wenig Interesse an ihrer Arbeitstherapeut geändert. Die aktu- Umwelt. Sie sehen alles schwarz und K örbe flechten, Bilder gestalten, Musizieren…. Im Alltag der Pati- enten sind solche Beschäftigungen Anfang des 20. Jahrhunderts nutzte man in den USA die Arbeitstherapie systematisch zur Behandlung psychi- elle gesetzlich geschützte Berufsbe- zeichnung lautet Ergotherapeut. glauben, nie wieder aus ihrer Situation herauszufinden. Das Gehirn stellt sich auf den Kreislauf von Grübeleien und inzwischen fest verankert. Das war scher Störungen: der Beruf des Er- Immer mehr Menschen erkranken Ängsten ein und die Gedanken wer- nicht immer so – aber doch schon gotherapeuten entstand. Durch den an Depressionen – besonders in der den so gefestigt, dass der Betroffene seit recht langer Zeit, erklärt Kristi- deutschen Psychiater Hermann Si- heutigen Zeit. Depressionen zählen nicht mehr in der Lage ist, positiv zu na Blum. Sie leitet die Ergotherapie mon erfuhr die Arbeitstherapie in den zu den bekanntesten psychiatrischen denken. Die Ergotherapie in der Psy- am Bezirkskrankenhaus Bayreuth. 1920er Jahren eine besondere Förde- Erkrankungen. Umso wichtiger ist es, chiatrie unterbricht diesen Kreislauf, rung, denn er führte eine arbeitsähn- die Betroffenen aus ihrem Tief heraus- hilft dem Patienten, neue Denkmuster Schon im 18. Jahrhundert berichte- liche Tätigkeit unter therapeutischen zuholen. Depressive Menschen haben anzutrainieren, und bietet wieder Er- ten einige Ärzte über beachtliche Be- Gesichtspunkten für psychisch Kran- folgserlebnisse, auf die der Betroffene handlungserfolge bei psychisch ke ein. Die Ergotherapie wurde dabei aufbauen kann. Kranken durch regelmä- von unterschiedlichen Berufsgruppen benötigten. Mit Unterstützung des ßige Arbeit. Doch erst wie Ärzten, Sozialarbeitern, Kran- Britischen Roten Kreuzes wurden Anderes Beispiel: Suchtkranke ste- kenschwestern, Künstlern, Kurzlehrgänge zur Ausbildung von Be- hen oft am Rand der Gesellschaft. Sie Handwerkslehrern und Ar- schäftigungstherapeuten eingerichtet. werden verurteilt und gemieden oder chitekten unabhängig von- Die erste staatlich anerkannte Schu- ignoriert. Die Süchtigen haben sich einander entwickelt. le für Beschäftigungstherapie wurde vielmals selbst aufgegeben. Sie sehen menspiel zwischen Ergotherapie und 1953 in Hannover gegründet. 1977 trat wenig Sinn in ihrem Leben, ähnlich Psychiatrie. Die Patienten lernen un- Der entscheidende Wandel in der ein neues Gesetz in Kraft, das die Ar- wie Menschen, die an Depressionen ter der Anleitung der Ergotherapeuten Entwicklung der Arbeitstherapie zur beitstherapie und die Beschäftigungs- leiden. Die Gründe für eine Suchter- wieder, mit sich selbst und anderen Beschäftigungstherapie erfolgte in therapie zusammenfügte unter der krankung sind vielschichtig und nicht verantwortungsbewusst umzugehen, Deutschland während des Zweiten neuen Berufsbezeichnung „Ergothe- immer nachzuvollziehen. Die Behand- ihr Selbstbild zum positiven zu ändern Weltkriegs, als viele Kriegsverletzte rapeut“. Daraufhin wurde 1999 die bis lung Suchtkranker ist eine langwierige und ihre Aggressionen in vernünftige gezielte Rehabilitationsmaßnahmen dahin gesetzlich geschützten Berufs- Arbeit und erfordert ein enges Zusam- Bahnen zu lenken. 38 39
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