Gleichwertige Bildung für alle Keine Diskriminierung von Geflüchteten! - VPOD

Die Seite wird erstellt Peer Böhm
 
WEITER LESEN
Gleichwertige Bildung für alle Keine Diskriminierung von Geflüchteten! - VPOD
Nummer 215 / Februar 2020

                                                    Zeitschrift für Bildung, Erziehung und Wissenschaft

                                                       Regionalteil Bern

                                                   Regionalteil beider Basel

                                                       Sektion Zürich Lehrberufe

Gleichwertige Bildung für alle
Keine Diskriminierung von
Geflüchteten!
Ergebnisse der Fachtagung «Geflüchtete – Bildung, Integration und Emanzipation»
vom 7. September 2019 in Bern
Gleichwertige Bildung für alle Keine Diskriminierung von Geflüchteten! - VPOD
Inhalt

                                                                                                                              Zeitschrift für
                                                                                                                              Bildung, Erziehung
                                                                                                                              und Wissenschaft

                                                                                                     vpod bildungspolitik 215
                                                                                                     Februar 2020
Der Schwerpunkt versammelt
                                                                                                     Ausgewählte Artikel der aktuellen Nummer
Beiträge zur Fachtagung                                                                              der vpod bildungspolitik sind auch auf unserer
«Geflüchtete – Bildung, Integration                                                                  Homepage zu finden. Jeweils zwei Monate
und Emanzipation» vom                                                                                nach Erscheinen sind die vollständigen Hefte
7. September in Bern.                                                                                als pdf abrufbar: vpod-bildungspolitik.ch

Bildung für                                      Bildung für                                         Impressum
Geflüchtete                                      Geflüchtete II                                      Redaktion / Koordinationsstelle
                                                                                                     Birmensdorferstr. 67
Der VPOD engagiert sich für das                  21 Das Konstrukt des «spät
                                                                                                     Postfach 8279, 8036 Zürich
Recht auf Bildung für alle Menschen.             zugewanderten» Jugendlichen
                                                                                                     Tel: 044 266 52 17
Für die gleichwertige Bildung von                Defizitorientierter Diskurs und jugendliche
                                                                                                     Fax: 044 266 52 53
Geflüchteten wird eine Kampagne                  Gegenstrategien.
                                                                                                     Email: redaktion@vpod-bildungspolitik.ch
lanciert.
                                                                                                     Homepage: www.vpod-bildungspolitik.ch
                                                 25 Solidarität ist unentbehrlich
                                                                                                     Herausgeberin: Trägerschaft im Rahmen des
                                                 Engagement im Spannungsfeld von Gratisarbeit
                                                                                                     Verbands des Personals öffentlicher Dienste VPOD
04 Gleichwertige Bildung für                     und politischem Widerstand.
alle – Keine Diskriminierung von                                                                     Einzelabonnement: Fr. 40.– pro Jahr (5 Nummern)
                                                                                                     Einzelheft: Fr. 8.–
Geflüchteten!                                    27 Bessere Chancen schaffen
Die Forderungen des Positionspapiers.            Für eine erfolgreiche Ausbildung sind erst einmal   Kollektivabonnement: Sektion ZH Lehrberufe;
                                                                                                     Lehrberufsgruppen AG, BL, BE (ohne Biel), LU, SG.
                                                 Verbesserungen bei den Integrationsangeboten
08 Auch für Geflüchtete!                         nötig.                                              Satz: erfasst auf Macintosh
                                                                                                     Layout: Sarah Maria Lang, Brooklyn
VPOD-Präsidentin und Grünen-Nationalrätin
                                                                                                     Titelseite Foto: Florian Thalmann
Katharina Prelicz-Huber über die Umsetzung des   29 Plädoyer für das Zuhören
                                                                                                     Druck: Ropress, Zürich
Rechts auf Bildung für Geflüchtete.              Ergebnisse des Workshops «Wie kann soziale
                                                                                                     ISSN: 1664-5960
                                                 Arbeit den Zugang zum Lernen verbessern?».
09 Gegen die                                                                                         Erscheint fünf Mal jährlich
Ausschaffungsmaschinerie!                        31 Kritik und Engagement ist nötig                  Redaktionsschluss Heft 216:
Die Umstrukturierung des Asylbereichs geht zu    Die Grussbotschaft der Berner Bildungs- und         6. April 2020
Lasten der Asylsuchenden.                        Kulturdirektorin Christine Häsler.                  Auflage Heft 215: 6500 Exemplare
                                                                                                     Zahlungen:
11 Humanitäre Katastrophe und                                                                        PC 80 - 69140 - 0, vpod bildungspolitik, Zürich
bürokratischer Unsinn
Zum Dubliner Übereinkommen und den
                                                 Lehrberufe Bern                                     Inserate: Gemäss Tarif 2011; die Redaktion kann
                                                                                                     die Aufnahme eines Inserates ablehnen.
entsprechenden Verordnungen.
                                                 32 Regionalteil Bern
                                                 –   Gehaltsklasse Lehrpersonen                      Redaktion
13 Was braucht es für eine gelingende
                                                 –   Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe       Verantwortlich im Sinne des Presserechts
schulische Integration?
                                                 –   Lehrabschluss für Geflüchtete                   Johannes Gruber
Über die Bedürfnisse von geflüchteten
SchülerInnen und ihrer Lehrpersonen.
                                                                                                     Redaktionsgruppe
                                                 Aktuell                                             Susanne Beck-Burg, Christine Flitner, Fabio

Pflichtlektion Zürich
                                                                                                     Höhener, Anna-Lea Imbach, Markus Holenstein,
                                                 33 Der Fuchs ruft NEIN                              Ute Klotz, Ruedi Lambert (Zeichnungen), Thomas
                                                                                                     Ragni, Michela Seggiani, Béatrice Stucki, Ruedi
                                                 Das neue Kinderbuch von Silvia Hüsler.
17 – 20 Das Mitgliedermagazin                                                                        Tobler, Peter Wanzenried, Kerstin Wenk
der Sektion Zürich Lehrberufe
                                                 35 Reclaim Democracy!
–   Umsetzung der fünften Ferienwoche                                                                Beteiligt an Heft 215
                                                 Ein Kongress vom 27. bis 29. Februar in Zürich.
–   Volle Anerkennung statt halbe Geschenke!                                                         Heiner Busch, Réjane Fauser, Hanna Gerig,
    VPOD fordert Lohnklasse 19 für alle                                                              Christine Häsler, Marianne Hochuli, Amanda Ioset,
                                                                                                                                                         Foto: Florian Thalmann

    Kindergartenlehrpersonen.                                                                        Bettina Looser, Urs Loppacher, Kathrin Oester,
–   Musikschulgesetz mit Kompromissen            Basel Lehrberufe                                    Katharina Prelicz-Huber, Peter Schmidheiny,
                                                                                                     Yvonne Tremp, Markus Truniger
–   10ni-Pause
                                                 34 – 35 Regionalteil beider Basel
                                                 –   Mangel an Logopäd*innen
                                                 –   Lehrmittelstreit

2   vpod bildungspolitik 215
Gleichwertige Bildung für alle Keine Diskriminierung von Geflüchteten! - VPOD
Editorial

U
           nsere Tagung «Geflüchtete – Bildung,       In den nächsten Wochen werden wir ausgehend
           Integration und Emanzipation» war ein      von unserem Positionspapier an einer Kampagne
           voller Erfolg: 200 Teilnehmende aus der    für die Umsetzung des Rechts auf Bildung
           ganzen Schweiz, Fachpersonen aus           für Geflüchtete in der Schweiz arbeiten.
dem Bildungs- und Sozialbereich, Mitglieder von       Ausreichende Ressourcen für die Integration in
VPOD und SOSF, gewerkschaftlich Engagierte            die Regelschule, Änderungen im Berufsbildungs-
und politische AktivistInnen sowie nicht zuletzt      und Weiterbildungsgesetz, eine Verbesserung der
Geflüchtete selbst trafen sich am 7. September        Diplomanerkennung sowie ein kritisches Monitoring
2019 auf dem Campus Muristalden für eine              der aktuellen Integrationsagenda von Bund und
Bestandsaufnahme der Bildungsmöglichkeiten von        Kantonen – an Themen für unsere Kampagne
Geflüchteten, zu einem Erfahrungsaustausch und        mangelt es nicht. Grundlegend sind Forderungen
für die Diskussion von Forderungen an die Politik,    nach Aufenthaltssicherheit, insbesondere für junge
wie das verfassungsmässige Recht auf Bildung          Menschen, die etwa eine Zusage für eine Lehre
in der Schweiz auch für Geflüchtete angemessen        erhalten oder diese bereits sogar begonnen haben.
umgesetzt werden soll.                                So schwierig die migrationspolitischen Diskussionen
                                                      in der Schweiz manchmal erscheinen, so ist es auch
Das Organisationskomitee der Tagung hatte             ermutigend, wenn der Grosse Rat des Kantons Bern
unter dem Titel «Gleichwertige Bildung für alle       über Parteigrenzen hinweg ein Gesetz beschliesst,
– Keine Diskriminierung von Geflüchteten!» ein        dass bei «Personen mit einer angebrochenen Aus-
Positionspapier mit elf Forderungen vorgelegt.        und Weiterbildung oder einer festen Anstellung» der
Auf Basis der Tagungsdiskussionen und der             Kanton dazu verpflichtet wird, ein Härtegesuch zu
Rückmeldungen nach der Tagung wurde dieses            beantragen (vgl. S.32f.). Ermutigend waren auch
überarbeitet und ergänzt. In neuen Kapiteln wurden    die Einigkeit und die Aufbruchstimmung, die an der
etwa die menschenrechtlichen Grundlagen gleicher      Tagung in Bern herrschten: Lasst uns dem Recht auf
Bildung für alle ausgeführt, die Bedingungen          Bildung für alle Geltung verschaffen!
für gute Erwachsenenbildung skizziert und auf
frauenspezifische Bedürfnisse eingegangen.
Getragen waren die Änderungen insbesondere von
dem Anliegen, noch präziser herauszuarbeiten,
dass niemand aufgrund seiner Herkunft, seines
                                                      Johannes Gruber
Geschlechts oder seines Alters vom Recht auf
                                                      vpod bildungspolitik
Bildung ausgeschlossen werden darf und was es
hierfür zu berücksichtigen gilt. Auf den Seiten 5-7
finden Sie die 14 Forderungen, die schliesslich
am Samstag, dem 18. Januar 2020 an einem
Folgetreffen des Netzwerks verabschiedet wurden.

                                                                                    vpod bildungspolitik 215   3
Gleichwertige Bildung für alle Keine Diskriminierung von Geflüchteten! - VPOD
thema

Gleichwertige Bildung
für alle – Keine
Diskriminierung von
Geflüchteten!
Geflüchtete haben im Vergleich zu anderen Menschen in der Schweiz keinen gleichgestellten Zugang
zu einer vollwertigen Bildung. Diese Diskriminierung muss behoben und die Bildungsangebote für
Geflüchtete müssen massiv ausgebaut werden, insbesondere im nachobligatorischen Bereich.

A    m 7. September 2019 trafen sich 200
     Fachleute und Engagierte aus dem Bil-
dungs- und Sozialbereich zu einer nationalen
                                               verabschiedet. Auf dieser Grundlage werden
                                               wir in den nächsten Monaten eine Kampa-
                                               gne führen, die sich an den Bund und die
Fachtagung in Bern, die die Gewerkschaft       Kantone richten wird. Das Positionspapier
VPOD und die nationale Organisation der        kann heruntergeladen werden unter: https://
Asyl-Bewegung Solidarité sans frontières       vpod.ch/themen/migration/gefluechtete-
(SOSF) veranstalteten. Die Teilnehmenden       bildung-integration-emanzipation/
der Tagung diskutierten das Positionspapier
«Gleichwertige Bildung für alle – Kei-         Die einzelnen Forderungen drucken wir hier
ne Diskriminierung von Geflüchteten!»,         auf den Seiten 5-7 ab:
das eine Situationsanalyse vornimmt und
konkrete Forderungen beinhaltet. Dieses
wurde aufgrund der Diskussion an der
                                                                                                   © FrauDiethelm

Tagung bereinigt und am 18. Januar 2020
an einem Netzwerktreffen, zu dem alle
Tagungsteilnehmenden eingeladen waren,

4   vpod bildungspolitik 215
Gleichwertige Bildung für alle Keine Diskriminierung von Geflüchteten! - VPOD
Geflüchtete

                          Plenumsgespräch an
                          der Tagung «Geflüchtete
                          – Bildung, Integration
                          und Emanzipation» am
                          7.‌S eptember 2019 in Bern,
                          Campus Muristalden.

                    Forderung 1:                                     len besuchen. Sie sollen so möglichst rasch    Sprachförderung und zum sozialen Lernen,
                    Menschenrechtlich orientierter                   ein sicheres und möglichst stabiles Umfeld     und in der Zusammenarbeit mit den Eltern
                    Diskurs, Partizipation der                       mit konstanten Bezugspersonen erhalten,        aus- und weitergebildet werden.
                    Geflüchteten                                     was sie nach belastender Flucht und Reisen
                    Die Akteure der Zivilgesellschaft, die verant-   dringend benötigen. Die Unterbringung          Forderung 4:
                    wortlichen Behörden – darunter insbesonde-       muss auf kinder- und familienfreundliche       Sofortige besonders unterstützte
                    re die Bildungsbehörden –, das Fachpersonal      und lernförderliche Bedingungen achten: be-    und gleichwertige Teilnahme an
                    und die Medien sind aufgefordert, darauf zu      treutes Wohnen in geeigneten Wohnungen,        der Grundschulbildung
                    achten, den Diskurs über Geflüchtete auf der     keine Gross-Zentren, keine Notunterkünfte.     Die Einschulung der Kinder und Jugend-
                    Basis der Menschenrechte und der Grund-          UMAs sind möglichst rasch in regulären         lichen bis zum Alter von 18 Jahren in die
                    werte der Bundesverfassung zu führen: mit        Jugendheimen oder in Pflegefamilien unter-     Volksschule (inklusive Kindergarten) muss
                    gleichem Respekt vor der Würde jedes Men-        zubringen, wo sie sozialpädagogisch intensiv   sofort erfolgen, und zwar in den Schulen
                    schen, nicht-diskriminierend, solidarisch.       betreut werden. Dies muss unter Aufsicht       der Wohnortgemeinde, denn jedes Kind hat
                       In den Debatten sollen Geflüchtete immer      einer fachlich geeigneten Stelle erfolgen.     Anspruch auf Schulunterricht.
                    Raum und Zeit zur Verfügung haben, selbst                                                          Dies gilt auch bei vorübergehendem Auf-
                    zu sprechen und gehört zu werden. Es gilt,       Forderung 3:                                   enthalt in Zentren. In diesem Fall können
                    die Ressourcen der Geflüchteten wahrzuneh-       Zugang zur frühen Betreuung                    besondere Aufnahmeklassen eingerichtet
                    men und sie als Subjekte anzuerkennen. Das       und Bildung für die Kinder sowie               werden, jedoch nicht abgesondert, sondern
                    Fachpersonal sollte das eigene professionelle    zur Beratung für Eltern                        in Schulräumen der öffentlichen Schulen.
                    Sprechen und Handeln regelmässig einer           Sozialarbeitende, die Geflüchtete beraten,     Die Lernbedingungen der geflüchteten Kin-
                    vorurteils- und diskriminierungssensiblen        müssen die Eltern unterstützen, so dass die    der dürfen nicht schlechter sein als bei den
                    Selbstreflexion unterziehen.                     Kinder Angebote der frühen Betreuung und       anderen: Die Wochenstundenzahlen müs-
                                                                     Bildung, das heisst Kitas und Spielgruppen,    sen diejenigen sein, die je nach Alter der Kin-
                    Forderung 2:                                     besuchen können und so mit andern Kindern      der regulär vorgeschrieben sind. Lehrpläne
                    Kinder- und familiengerechte                     zusammenkommen und zusammen lernen.            für das erste Jahr müssen präzisiert werden.
                    Abläufe und Unterbringung                        Geflüchtete Eltern sollen aufsuchende          Sie müssen das Lernen der Lokalsprache bis
                    Familien, Kinder und «Unbegleitete minder-       Beratung erhalten, die sie in der Erziehung    zum Niveau A2, wenn nötig eine Alphabe-
                    jährige Asylsuchende» (UMAs) sollen nach         ihrer Kinder im Schweizer Kontext stärkt.      tisierung, sowie soziale Orientierung und
Foto: Tanja Lantz

                    der Erstaufnahme in Bundeszentren rasch          Die Kosten von Kitas, Spielgruppen und         Allgemeinbildung beinhalten; sie müssen
                    einem Kanton und einer Gemeinde zugeteilt        Tagesbetreuung sollen bei Bedarf von der So-   alle Schulfächer der Volksschule umfas-
                    und dort in Wohnungen untergebracht wer-         zialhilfe getragen werden. Das Fachpersonal    sen. Schulräume und -ausrüstung müssen
                    den. Die Kinder sollen dort öffentliche Schu-    muss in der Förderung der Kinder, z.B. zur     dem üblichen Standard in der Volksschule

                                                                                                                                          vpod bildungspolitik 215   5
Geflüchtete

entsprechen. Übergänge an nächste Schul-       nachobligatorischen Alter zuwandern:              erhalten, das ihnen hilft, allfällige Lücken zu
stationen müssen geplant und sorgfältig        a) in der «Erstintegration» im Rahmen der         schliessen. Wichtig ist, dass Lehrpersonen,
koordiniert werden. Zuteilungsentscheide       «Integrationsagenda» – das heisst für das         Schulleitungen, SozialarbeiterInnen, Berufs-
müssen zum Wohle der Kinder (und nicht         Lernen der Lokalsprache bis mindestens            beraterInnen und StudienberaterInnen eine
aufgrund von asylpolitischen Rücksichten)      zum Niveau A2, nötigenfalls für Alpha-            ressourcenorientierte und wohlwollende
getroffen werden.                              betisierung, für soziale Orientierung und         Haltung haben und möglichst ambitionierte
   Übergeordnetes Ziel muss sein, das mög-     Allgemeinbildung; damit soll nach Einreise        Bildungslaufbahnen unterstützen, die dem
lichst bald alle Kinder am Unterricht einer    in die Schweiz in den Bundeszentren begon-        Potenzial, den Fähigkeiten, Interessen und
Regelklasse teilnehmen. Eine Schulung in       nen werden;                                       Wünschen der Geflüchteten entsprechen. Fi-
einer Aufnahmeklasse muss so kurz wie          b) in Berufsvorbereitungsjahren – das heisst      nanziell erschwingliche Vorbereitungskurse
möglich sein und soll nur in begründeten       für weiteres Sprachenlernen, je nach indivi-      zur Maturitätsäquivalenzprüfung (ECUS)
Ausnahmefällen länger als ein Jahr dauern.     duellem Potenzial bis zu einem Niveau von         und damit zum Hochschulzugang müssen
Zusätzlich Ressourcen sind unabdingbar,        B1 bis C2, für die Erweiterung der Allgemein-     bereitgestellt werden.
um die inklusive Schulung von geflüchteten     bildung und für die Berufswahlvorbereitung;
Kindern in Regelklassen zu unterstützen.       es braucht auch Brückenangebote mit               Forderung 7:
Regellehrpersonen müssen bei ihrer Arbeit      Sprachkursen bis C2 und einer Einführung          Allen lebenslanges Lernen
die Unterstützung erhalten, die nach päd-      in akademisches Lernen, die Personen mit          ermöglichen
agogischer Beurteilung notwendig ist. In       grossem Lernpotenzial auf den Eintritt in         Als Priorität innerhalb der staatlich geför-
jedem Falle braucht es Lehrpersonen für        Mittel- und Hochschulen vorbereiten;              derten Weiterbildung (gemäss Weiterbil-
Deutsch/Französisch als Zweitsprache und       c) in Integrationsvorlehren;                      dungsgesetz) sollen Angebote für alle, inklu-
auf individuellen Bedarf hin auch schulische   d) bei Bedarf sollte eine fehlende schulische     sive Geflüchtete, aufgebaut werden, die das
HeilpädagogInnen, die die Kinder in der Ein-   Grundbildung nachgeholt werden können.            Nachholen der schulischen Grundbildung
schulung zusätzlich zu den Lehrpersonen                                                          ermöglichen, bei Bedarf auch Sprachkurse
der Regelklassen unterstützen. Die ganze          Diese Angebote müssen gut und nahtlos          bis Niveau C2 und berufliche Weiterbil-
Schule, insbesondere auch die Schulleitung,    aufeinander aufbauen und – je nach indi-          dungen. Auch Personen im Alter von über
ist verantwortlich, dass Inklusion gelingt.    viduellen Voraussetzungen und Verläufen           30 Jahren sollten die Möglichkeit haben,
Wichtig ist, dass die Eltern der Kinder gut    – über zwei bis vier Jahre dauern, bis der Ein-   nachholend grundlegende Kenntnisse im
informiert und einbezogen werden. Der Ein-     tritt in eine reguläre Ausbildung (berufliche     Sinne der schulischen Grundbildung sowie
satz von interkulturellen Dolmetschenden ist   Grundbildung EBA oder EFZ, Mittelschule           der Aus- und Weiterbildung zu erwerben.
dabei notwendig.                               oder Universität) möglich ist. Es ist darauf
   Alle Lehrpersonen müssen an den Pä-         zu achten, dass Brückenangebote möglichst         Forderung 8:
dagogischen Hochschulen schon in ihrer         viele soziale Kontakte mit dem schweizeri-        Frauenspezifische Bedürfnisse
Ausbildung auf die Arbeit mit geflüchteten     schen Umfeld ermöglichen. Um passende             berücksichtigen
Kindern vorbereitet werden. Sie sollen sich    individuelle Wege zu finden, brauchen junge       Geschützte Räume und ein geschlechtersen-
in spezifischen Fragen wie Sprachunterricht    Geflüchtete zudem individuelle Beratung           sibles Klima in den Kollektivunterkünften
und Umgang mit Traumata weiterbilden           sowie eine enge und mehrjährige Begleitung        sind eine Voraussetzung, dass Frauen sich
können. Ein Coaching vor Ort sowie Inter-      durch MentorInnen oder Coaches (oder auch         sicher fühlen und sich auf Lernprozesse
vision und Supervision sind zu empfehlen.      Patenschaften, Tandems). Auch während             einlassen können. Auch in den Gemeinden
Lehrpersonen von Aufnahmeklassen und           der Ausbildung brauchen diese zusätzliche         und Städten sollen geschützte Orte geschaf-
des Unterrichts in Deutsch/Französisch als     Unterstützung, für die an Berufs-, Mittel-        fen werden, an denen sich Frauen treffen,
Zweitsprache müssen über eine entspre-         und Hochschulen zusätzliche Ressourcen            austauschen, die neue Sprache lernen und
chende Zusatzqualifikation verfügen.           bereitgestellt werden müssen.                     sich beraten lassen können. Bei Bildungs-
                                                                                                 und Beschäftigungsangeboten ist darauf zu
Forderung 5:                                   Forderung 6:                                      achten, dass Kursorte und -zeiten gefunden
Vollzeitliche Bildungsgänge für                Anerkennung von Ressourcen                        werden, die für Frauen mit Familien zu-
alle im nachobligatorischen                    und Diplomen von Geflüchteten                     gänglich sind. Die Kinderbetreuung muss
Bereich                                        Vorangegangene schulische Laufbahnen,             gewährleistet sein. Kompetenzen, die Frauen
Was die Rechte der Kinder und die Bun-         auch ausserschulische Erfahrungen und             mitbringen und die sie sich informell erwor-
desverfassung verlangen – ein Recht auf        Stärken, müssen systematisch erfragt,             ben haben, sollen valorisiert werden. Das
schulische Grundbildung für alle –, muss bis   wahrgenommen und für die Bildungsgänge            Fachpersonal der Betreuung und Bildung
zum vollendeten 18. Lebensjahr zwingend        genutzt werden. Dafür braucht es sorgfältige      soll einen geschlechtersensiblen Verhaltens-
gewährleistet werden und sollte auch danach    Erstgespräche. Sowohl mitgebrachte Fähig-         codex beachten.
für alle zur Anwendung kommen. Bund und        keiten als auch alle Bildungsschritte in der
Kantone haben sich offiziell im Rahmen der     Schweiz sollen dokumentiert werden, bei-          Forderung 9:
Integrationsagenda das Ziel gesetzt, dass      spielsweise in Lerndokumentationen oder           Beschäftigungsprogramme mit
auch Geflüchtete bis zum Alter von 25 Jahren   Portfolios. Es muss einfache Verfahren der        vergleichbaren Bedingungen,
einen Abschluss auf Sekundarstufe II (Be-      Diplomanerkennung und allenfalls der Klä-         mit Bildungsanteilen und mit
rufs- oder Mittelschulabschluss) erreichen     rung von Ausbildungsteilen geben, die für         Übergängen in Ausbildungen
sollten. Die «Integrationsagenda» muss fol-    die Äquivalenz von Abschlüssen noch fehlen.       und in den ersten Arbeitsmarkt
gerichtig auch den Anspruch umfassen, dass       Menschen mit grossem Lernpotenzial              Personen ohne Arbeit sollen Bildungsange-
jede geflüchtete Person, inklusive Personen    sollten im Einzelfall ohne unüberwindbare         bote unentgeltlich zugänglich sein – es darf
mit N und Abgewiesene, einen Zugang in         formale Hürden «sur dossier» oder über            nicht, dass diese in Beschäftigungsprogram-
die nachobligatorische Bildung hat.            Assessments (mindestens probeweise) in            men «parkiert» werden. Wenn Beschäfti-
  Das Erreichen dieses Ziels erfordert voll-   Mittelschulen und Hochschulen aufgenom-           gungsprogramme angeboten werden, sollen
zeitliche Bildungsangebote für alle, die im    men werden. Sie sollten dabei ein Coaching        sie Anteile an sprachlicher und beruflicher

6   vpod bildungspolitik 215
Geflüchtete

Bildung umfassen. Die Teilnehmenden            Asyl- und Integrationswesen – keine Unter-      von Geflüchteten genutzt werden.
sollen Beratung und Begleitung bekommen,       schiede nach Aufenthaltsstatus machen. Für        Zur Verbesserung der Qualität sollen
um Anschlüsse in weitere Ausbildungen          professionelle Bildungsangebote ist in der      gezielt Personen mit eigener Migrationsbio-
zu finden. Entschädigungen in Praktika         obligatorischen Bildung die Volksschule der     graphie als interkulturelle Dolmetschende,
und berufslehrähnlichen Angeboten sollen       Kantone zuständig. Die Einschulung muss         als Lehrpersonen, Schulassistenzen, So-
üblichen Löhnen für Praktika und Berufs-       durch die Kantone und die Gemeinden finan-      zialpädagogInnen, «BrückenbauerInnen»
vorlehren entsprechen.                         ziert werden; für Kinder aus Bundeszentren      angestellt werden.
                                               leistet der Bund gemäss Asyl-Gesetz Beiträ-       Das Fachpersonal muss von den päda-
Forderung 10:                                  ge. Im nachobligatorischen Bereich sind         gogischen und andern Fach-Hochschulen
Sowohl Therapie als auch                       der Bund und die Kantone zuständig (in der      durch gezielte Aus- und Weiterbildung für
ein «heilendes» Umfeld, um                     Berufsbildung in Zusammenarbeit mit den         die Arbeit mit Geflüchteten unterstützt
Traumata zu lindern                            Organisationen der Arbeitswelt), das heisst     werden. Die Gewerkschaften sollen das
Geeignete Therapien helfen, dass traumati-     für Berufswahl- und Berufsfachschulen           Personal unterstützen, sich zu organisieren
sierte Kinder und Erwachsene lernen kön-       sowie Mittel- und Hochschulen. Es ist deren     und sich gemeinsam mit diesem für seine
nen. Andererseits wirken eine sichere und      Aufgabe, ihre Angebote so zu ergänzen, dass     Interessen einsetzen. Sie müssen deshalb
sinnstiftende Tagesstruktur sowie tragende     Geflüchtete Zugang finden.                      ungehinderten Zugang zu den diesbezügli-
Beziehungen in Schulen und Ausbildungen           Bildungsangebote in den Regelstrukturen      chen Institutionen und Orten haben.
heilend auf Traumata. Lehrpersonen und         kosten in der Regel mehr als Billigangebote
Ausbildende sollen sich dafür einsetzen,       in Parallelstrukturen. Deshalb braucht es       Forderung 14:
dass Betroffene adäquate Therapien be-         höhere Bildungsbudgets für die Regelstruk-      Zivilgesellschaftliches
kommen. Das gilt auch für Geflüchtete mit      turen. Davon lassen sich aber auch bessere      Engagement für Bildung
Beeinträchtigungen, für die es angepasste      Erfolge erwarten. Gleichwertige Bildung         Autonome Bildungsinitiativen, NGOs und
Bildungsmöglichkeiten braucht. In der          für Geflüchtete bedeutet auch gleich hohe       Freiwillige sind nötig, um das staatliche
Schulpsychologie und in der Psychiatrie        Bildungsausgaben, wie sie für andere junge      Bildungsangebot kritisch zu begleiten. Es
müssen Plätze für Trauma-Therapien aus-        Leute pro Jahr vom Staat investiert werden.     ist gut, wenn sich diese Organisationen
gebaut, die Qualifikation des Fachpersonals    Für Personenkreise mit besonderem Un-           zusammenschliessen, um sich für die Inter-
in diesem Thema muss erhöht werden. Die        terstützungsbedarf sind höhere finanzielle      essen der Geflüchteten an einem breiten und
Verantwortlichen und das Fachpersonal          Mittel angezeigt. Die Finanzierung von          qualitativ hochstehenden Bildungsangebot
des Asyl- und Bildungswesens müssen            Bildungsangeboten muss staatlich gesichert      einzusetzen. Sie schaffen selbst Räume
darauf achten, (re-)traumatisierende Effekte   werden, sei es durch staatliche finanzierte     für Gemeinschaft und Wissensaustausch,
im eigenen System zu erkennen und zu           Angebote oder sei es durch die Sozialhilfe      welche Selbstermächtigung, den Ausdruck
vermeiden.                                     oder Stipendien. Für die «Erstintegration»      einer eigenen Stimme und Kreativität sowie
                                               hat der Bund seine Beiträge mit der «Integra-   selbständiges und kritisches Denken und
Forderung 11:                                  tionsagenda» verdreifacht. Auch die Kantone     Handeln ermöglichen. Sie beziehen auch die
Zukunftsperspektiven durch                     müssen da massiv mehr investieren.              Personen mit ein, die von staatlichen Ange-
Regularisierung des Aufenthalts                   Für Asylsuchende, vorläufig Aufgenom-        boten ausgeschlossen sind. Sie können Bil-
Zumindest für alle Kinder, junge Menschen      mene sowie regularisierte Sans-Papiers          dungsangebote machen, die die staatlichen
und Familien soll die Schweiz eine Regula-     und Asylsuchende muss der Zugang zu Sti-        Angebote ergänzen. Solange das staatliche
risierung des Aufenthalts vorsehen, wenn       pendien ermöglicht und erleichtert werden.      Angebot Lücken hat, können sie im Interesse
sie schon länger als zwei Jahre hier leben.    Die ausbezahlten Stipendien müssen die          der Geflüchteten Lücken schliessen, sollten
Das ist durch den besonderen Schutz der        Lebenskosten decken. Hochschulen sollen         sich aber gleichzeitig dafür stark machen,
Kinder begründet, den Kinderrechte und         über einen Sozialfonds Mittel für finanziell    dass der Staat seine Aufgaben zu erfüllen
Bundesverfassung vorschreiben. So können       schwächere Studierende bereitstellen (Re-       hat. Die Koordination und Leitung von Bil-
Kinder und junge Menschen lernen, sich         duktion oder Erlass von Studiengebühren,        dungsangeboten durch Freiwillige sollte vom
entfalten, sich ausbilden, sich eine Zukunft   unentgeltliche Sprachkurse, Übernahme von       Staat finanziell unterstützt und auch Spesen
aufbauen und mitverantwortliche Mitglieder     Material- und Fahrkosten).                      sollten übernommen werden.
der Gesellschaft werden.
   Junge Menschen in Ausbildung sollen ihre    Forderung 13:
angefangenen Ausbildungen abschliessen         Sichere Arbeitsbedingungen
können, auch wenn negative Asylentscheide      und hohe Qualität der Arbeit der
gefällt wurden.                                Fachpersonen
                                               Auch wenn die Flucht-Migration Schwan-
Forderung 12:                                  kungen unterliegt, ist das Fachpersonal
Bildung von Geflüchteten                       fest und den anderen regulären Bildungs-
in der Zuständigkeit der                       und Betreuungsangeboten gleichgestellt
Regelstrukturen der Grundschul-                anzustellen. Es ist wichtig, Kontinuität zu
und der nachobligatorischen                    gewährleisten und professionelles Wissen
Bildung, Investition von mehr                  längerfristig aufzubauen, zu pflegen und
finanziellen Ressourcen                        zu sichern. Deswegen dürfen die derzeit
Es ist unabdingbar, dass das öffentliche       sinkenden Zahlen von neu zuwandernden
Bildungswesen für alle Bildungsbedürfnisse     Geflüchteten nicht zum Personalabbau füh-
zuständig sein muss, auch für solche von       ren, sondern sollen zur Intensivierung und
Menschen, die in der Schweiz im Asylwesen      zum qualitativen Ausbau der Bildungs- und
oder ohne anerkannten Status leben. Das        Betreuungsangebote sowie zum Schliessen
Bildungswesen soll – im Gegensatz zum          von Lücken in der Bildung und Betreuung

                                                                                                                    vpod bildungspolitik 215   7
Geflüchtete

                                                                                              und kostenlosen Grundschulunterricht und
                                                                                              auf den Zugang zu Berufs- und Hochschu-
                                                                                              len. Es gilt das Diskriminierungsverbot, das
                                                                                              Anhörungsrecht und gar der Vorrang des
                                                                                              Kindeswohls vor anderen Interessen. Somit
Gleichwertige Bildung für alle –                                                              wäre klar geregelt, dass allen Kindern und
                                                                                              Jugendlichen, unabhängig von ihrem oder
auch für Geflüchtete!                                                                         dem Status der Eltern, dieselben Chancen
                                                                                              und Möglichkeiten, nach ihren individuellen
Bildung ist ein Grundbedürfnis und ein Grundrecht aller Menschen.                             Fähigkeiten gefördert zu werden, offenste-
Sie ermöglicht Teilhabe und kritische Auseinandersetzung mit sich,                            hen müssten.
der Gesellschaft und der Welt, ist die Basis für qualifizierte Arbeit                           Unterricht und Bildungsmöglichkeiten
und eine gute Existenzsicherung, trägt zu mehr Wohlbefinden und                               müssen für Geflüchtete ab Beginn ihres
weniger Armut bei. Bildung für alle ist eine wichtige Voraussetzung                           Aufenthalts in genügender Anzahl und
für das soziale, friedliche und demokratische Zusammenleben und                               Qualität zur Verfügung stehen. Um ihre
nützt dem Individuum, der Gesellschaft und der Wirtschaft. Das gilt                           Integration zu erleichtern und ein Stück All-
für alle Menschen und speziell für Geflüchtete.                                               tagsnormalität herzustellen, sind Kinder im
Von Katharina Prelicz-Huber                                                                   Volksschulalter so schnell wie möglich in die
                                                                                              Regelschule und bereits ab dem Aufenthalt in
                                                                                              den Bundesasylzentren in den öffentlichen
                                                                                              Schulräumen zu schulen. Dafür braucht es
                                                                                              genügend qualifiziertes Personal mit guten
                                                                                              Arbeitsbedingungen, das die nötige Zeit hat,
                                                                                              zusätzliche Unterstützung zu leisten. Wo
                                                                                              Kantone und Gemeinden diese Forderung
                                                                                              nicht oder nur teilweise umgesetzt haben,
                                                                                              muss der VPOD hartnäckig dranbleiben. Es
                                                                                              darf nicht sein, dass Kinder von Geflüchteten,
                                                                                              die zu lange in segregativen «Spezialschu-
                                                                                              len» bleiben müssen, in ihrem Vorankom-
                                                                                              men behindert werden.

                                                                                              Parlamentarische Initiative für
                                                                                              Frühförderung
                                                                                              Zur Bildung gehört die Frühförderung.
                                                                                              Verschiedene Studien zeigen, dass sie eine
                                                                                              lohnende Investition in die Zukunft ist, weil
                                                                                              das Potential der sozialen, kognitiven und
                                                                                              emotionalen Ressourcen der Kinder bei kind-
                                                                                              gerechter Förderung in den ersten Lebens-
                                                                                              jahren am grössten ist. Profitieren würden
                                                                                              insbesondere Kinder aus sozio-ökonomisch
                                                                                              benachteiligten Familien. Zukünftig soll
                                                                                              die familien- und schulergänzende Betreu-
                                                                  VPOD-                       ung Teil des Bildungswesens und damit
                                                                  Präsidentin                 des Service Public werden. Sie soll nach
                                                                  und Grünen-                 dem gesetzlichen Mutterschaftsurlaub bis
                                                                  Nationalrätin               Ende der Volksschulzeit allen Kindern und
                                                                  Katharina                   Jugendlichen, auch Sans Papiers, unentgelt-
                                                                  Prelicz-Huber               lich, in guter, dem Kindswohl verpflichteter
                                                                                              Qualität und mit guten Arbeitsbedingungen
                                                                                              zur Verfügung stehen. Das fordere ich in
                                                                                              einer Parlamentarischen Initiative mit einer
                                                                                              Erweiterung des Bildungsartikels, die ich in

D    er VPOD will, dass sich alle Menschen,
     unabhängig von ihrem Aufenthaltssta-
tus (ob F oder N, Abgewiesene oder Sans
                                                nötig mit Unterstützung. Diesem Ziel will
                                                ich mit parlamentarischen Vorstössen
                                                näherkommen.
                                                                                              der Frühlingssession 2020 einreichen will.
                                                                                              Finanziert werden soll die Betreuung wie
                                                                                              die Volksschule über allgemeine Steuern,
Papiers), ihrem Geschlecht oder ihrem Alter                                                   die dank progressiver Ausgestaltung in den
im Rahmen ihrer individuellen Potenziale        Zugang zur öffentlichen Schule                meisten Kantonen die fairste Finanzierung
aus- und weiterbilden, eine entsprechende       Kinder und Jugendliche haben u.a. ge-         ist.
                                                                                                                                               Foto: Florian Thalmann

Arbeit finden und ihr Leben selbstbestimmt      mäss UNO-Kinderrechtskonvention, die
gestalten können. Dabei sollen alle die glei-   die Schweiz ratifiziert hat, einen Anspruch   Postobligatorische
chen Chancen und den Anspruch haben, auf        auf besonderen Schutz von Unversehrtheit      Bildungsmöglichkeiten
allen Stufen rasch Zugang zum Regelsystem       und auf Förderung ihrer Entwicklung. Sie      Nach Ende der obligatorischen Schulzeit
des Bildungswesens zu bekommen, wenn            haben ein Recht auf einen ausreichenden       müssen Jugendlichen und jungen Erwach-

8   vpod bildungspolitik 215
Geflüchtete

senen bis zum 25. Lebensjahr flexible             zierte Migrant*innen arbeiten deshalb – und      und weiter ein Aufenthaltsrecht spätestens
Anschlussmöglichkeiten wie Brückenan-             wegen nicht geförderten Sprachkenntnissen        nach 2 Jahren zugesprochen wird. Das wäre
gebote zur Verfügung stehen, die sie für          – als Unqualifizierte im Tieflohnbereich der     für mich ohnehin die logischste Genehmi-
eine anschliessende Lehre oder (Berufs-)          Gastro- und Reinigungsbranche. Deshalb           gungspraxis: Wer in der Schweiz eine Arbeit
Ausbildung befähigen. Ein Jahr, wie es das        will ich mich für Vereinfachungen zur            und damit eine Existenzgrundlage findet,
Berufsbildungsgesetz heute vorsieht, reicht       Anerkennung der Diplome und zur Nach-            wo immer jemand herkommt, soll eine
dafür selten. Ich werde mich dafür einsetzen,     qualifizierung einsetzen.                        Aufenthaltsbewilligung erhalten. Somit ist
dass die Brückenangebote auf mindestens             Bei allen Bemühungen werde ich speziell        für mich klar, dass wir in der Frage der Regu-
zwei Jahre ausgeweitet werden. Und sind           auf die frauenspezifischen Bedürfnisse ach-      larisierung für Sans Papiers weiterkommen
der Wunsch und das Potential vorhanden,           ten. Denn wen wundert’s: Studien zeigen,         müssen. Sans Papiers darf es nicht geben.
eine weiterführende Ausbildung bis zur            dass (geflüchtete) Frauen – oft schon im         Kein Mensch ist illegal!
Hochschule zu absolvieren, muss dieser Weg        Herkunftsland und wieder in der Schweiz –
offenstehen.                                      weniger als Männer von Bildung und Arbeit
   Bei der Bildung darf das Alter keine Rolle     profitieren können.                              Katharina Prelicz-Huber ist Präsidentin des VPOD
spielen. Gerade die Digitalisierung führt uns       Auch wenn Menschen die Schweiz wieder          und Nationalrätin für die Grünen.
vor Augen, wie lebenslanges Lernen bis ins        verlassen müssen, sollen sie eine möglichst
(hohe) Alter von allen Menschen gefordert ist,    gute Existenzbasis haben. Bildung ist ein
wenn sie Teil der sich technologisch schnell      zentraler Pfeiler. Aufgrund des besonderen
ändernden Arbeitswelt bleiben wollen. Aus-        Schutzes, den Kindern und Familien ge-
und Weiterbildung in jedem Alter muss allen       währt werden muss, will ich dafür kämpfen,
offen stehen und finanziell erschwinglich         dass keine Ausschaffungen während einer
sein. Was für Gutqualifizierte bereits Norm       Ausbildungszeit vollzogen werden dürfen
ist, soll für alle möglich werden. Auch
die Weiterbildung eines/einer 50-Jährigen
macht persönlich und volkswirtschaftlich
Sinn. Ziel muss sein, (immer wieder) einen
Berufsabschluss zu haben, der eine Basis für
ein selbstbestimmtes und würdiges Leben
ermöglicht.
   Arbeitseinsätze für Erwachsene, die nur
eine begrenzte oder prekäre Integration
ermöglichen, reichen nicht. Schwerpunkt           Gegen die
muss sein, vorhandene Bildungslücken
mit qualifizierten Aus- und Weiterbildun-         Ausschaffungsmaschinerie!
gen zu füllen, die eine zufriedenstellende
Perspektive ermöglichen. Das gilt für alle        Die Neustrukturierung des Asylbereichs geht zu Lasten der
Erwachsenen, auch im Tieflohnbereich oder         Asylsuchenden. Es gilt, deren Isolation zu durchbrechen und sich
mit Flüchtlingsstatus. Wie ich es für die Stadt   um die neuen Zentren herum zu organisieren.
Zürich erreicht habe, müssen schweizweit          Von Amanda Ioset
existenzsichernde Stipendien bei finanziel-
len Engpässen helfen.
   Eine wichtige Basis für eine gelingen-
de Integration ist die Beherrschung der
                                                  D    ie Neustrukturierung des Asylbereichs
                                                       stellt eine tiefgreifende Veränderung
                                                  der staatlichen Organisation der Aufnahme
                                                                                                   Zentren und Verfahren
                                                                                                   Es gibt drei verschiedene Arten von Zentren:
                                                                                                   • BAZmV «mit Verfahrensfunktion» bei der
hiesigen Sprache. Geflüchtete bzw. alle           von Asylsuchenden dar. Heute werden alle         Ankunft von Asylbewerbern;
Migrant*innen sollen faktisch vom ersten          Personen, die in der Schweiz ein Asylgesuch      • BAZoV «ohne Verfahrensfunktion», was
Tag motiviert werden, die ansässige Sprache       einreichen, zunächst für maximal 140 Tage        eine technokratische Redewendung für
zu lernen. Dabei dürfen die Sprachkurse           in Bundesasylzentren (BAZ) untergebracht.        «Ausschaffungsszentrum» ist – anfänglich
nicht an Finanzen scheitern. Zu berücksich-       Diese Zentren sind auf sechs Regionen            war von «Ausreisezentren» die Rede;
tigen ist, dass eine echte Diskussion erst ab     verteilt. Sie sind dafür konzipiert, eine sehr   • BESOZ, «besondere Zentren», die für
Niveau C geführt werden kann. Dass bei der        grosse Zahl von Personen aufzunehmen:            Asylsuchende bestimmt sind, «die die öf-
Subventionierung aber meist nur vom Ni-           Im Allgemeinen haben sie eine Kapazität          fentliche Sicherheit und Ordnung ernsthaft
veau B gesprochen wird, ist stossend und will     von je 350 Personen, einige sollten sogar für    gefährden oder durch ihr Verhalten das
ich ändern. Ich denke an eine Erweiterung         bis zu 500 Personen ausgelegt sein – auch        ordnungsgemässe Funktionieren der BAZ
des Weiterbildungsartikels.                       wenn sie heute aufgrund der Schliessung der      stören», so das SEM. 1
                                                  Schweizer und europäischen Grenzen halb            Im neuen System gibt es zwei Arten
Diplome anerkennen und                            leer stehen. Insgesamt sollen Kapazitäten        von Asylverfahren. Zum einen das be-
Aufenthalte regularisieren                        von 5000 Plätzen in den Bundesasylzentren        schleunigte Verfahren, das ganz in den
Viele Flüchtlinge und Migrant*innen kom-          erreicht werden, einige Zentren sind jedoch      Bundesasylzentren stattfindet. Es betrifft
men mit einem guten Bildungsrucksack in           noch nicht gebaut. Kürzlich hat die neue         Asylgesuche, die innerhalb von 140 Tagen
die Schweiz, könnten qualifizierte Arbeiten       Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und      abgeschlossen werden können. Für dieses
übernehmen und damit dem Fachkräfte-              Polizeidepartements (EJPD), Karin Keller-        Verfahren wurden die Fristen für einen
mangel entgegenwirken. Oft sind aber ihre         Sutter, angekündigt, dass ihr Departement        Rekurs gegen einen negativen Asylentscheid
Ausbildungen nicht akzeptiert, die Anerken-       die Möglichkeit prüft, die Kapazitäten zu        von 30 auf sieben Tage herabgesetzt – eine
nungs- und Äquivalenzverfahren mühsam,            reduzieren.                                      deutliche Verkürzung der Einspruchsfrist.
aufwändig und zu teuer. Viele hochqualifi-                                                         Asylgesuche, die nicht innerhalb von 140

                                                                                                                           vpod bildungspolitik 215   9
Geflüchtete

Tagen bearbeitet werden können, gehen in
die zweite Verfahrensart über, das erweiterte
Verfahren. Dieses Verfahren findet in den
Kantonen statt, d.h. die Personen werden
einem Kanton zugeordnet und bleiben nicht
in den BAZ. Im erweiterten Verfahren bleibt
es bei der bisherigen Rekursfrist von 30 Ta-
gen. Bei den Dublin-Verfahren, die auch in
den Bundeszentren abgeschlossen werden,
war die Frist für Einsprachen schon vor der
Neustrukturierung sehr kurz; sie bleibt bei
fünf Tagen.
   Gewissermassen als Ausgleich für die
schnelleren Verfahren bietet das SEM Per-
sonen, die sich in beschleunigten Verfahren
befinden, kostenlosen Rechtsbeistand bis
zur ersten Instanz an. Auch im erweiterten
Verfahren gibt es nun kostenlosen Rechts-
beistand, aber dieser ist beschränkt und
beinhaltet keine etwaigen Rekurse. Wichtig
ist, dass die vom SEM beauftragten Rechtsbe-
ratungsstellen ein Pauschalhonorar pro Fall
erhalten, das sich nicht nach der Komplexität
des Falles oder der Anzahl der tatsächlich
benötigten Stunden für die Vertretung der
Person richtet.

Kritische Punkte
Solidarité sans frontières beschäftigt beson-
ders Folgendes:
• Es ist bereits jetzt zu erkennen, dass die                                                                                  Denise Graf, Amanda
Beschleunigung der Verfahren zu Lasten                                                                                        Ioset, Heiner Busch
der Sorgfalt des SEM bei der Analyse der                                                                                      (von links nach rechts)
Asylgesuche geht, wie z.B. bei der medizi-
nischen Abklärung. Diesbezüglich hat das
Bundesverwaltungsgericht rund zwanzig
Entscheide aufgehoben;
• Generell beobachten wir, dass die Auf-
nahmestrukturen zunehmend privatisiert
und kommerzialisiert werden, wobei sehr
wichtige Mandate an Unternehmen vergeben        Isolation durchbrechen                           Menschen, die sich mit den Asylsuchenden
werden, deren Hauptziel es ist, Gewinne für     Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass      solidarisch fühlen, die neue Funktionsweise
ihre Aktionäre zu erzielen. Mit gut dotierten   mit dem neuen System ein ganzer Teil der         dieses Systems studieren müssen: Die Prio-
Verträgen, insbesondere für Sicherheitsun-      Asylsuchenden sehr schnell von einem BAZ         rität der Asylbewegung in den kommenden
ternehmen. Welche Auswirkungen wird dies        in ein Ausschaffungszentrum oder sogar in        Jahren muss darin bestehen, sich um diese
haben – beispielsweise, was die Ausbildung      Ausschaffungshaft kommen wird, und das           neuen Zentren herum zu organisieren,
des Personals in den Zentren oder die Pro-      alles mit sehr wenig oder gar keinem Kontakt     um die Isolation zu durchbrechen, die den
gramme betrifft, die den Asylsuchenden bei      zur übrigen Gesellschaft. Dies ist natürlich     Missbrauch gegen Geflüchtete ermöglicht.
ihrer Ankunft im Zentrum zur Verfügung          das Ziel der Behörden: den Austausch mit
gestellt werden oder gestellt werden sollten?   den auszuschaffenden Personen so weit wie        Amanda Ioset arbeitet bei Solidarité sans frontières.
• Diese Umstrukturierung hat auch die           möglich zu reduzieren, damit die Ausschaf-
Isolierung der Asylsuchenden verstärkt –        fung erleichtert wird. Für Solidarité sans
                                                                                                 1 Eine kurze historische Klammer zu diesen «besonderen
durch die längere Zeit, die sie nun in den      frontières stellt der neustrukturierte Asylbe-   Zentren», die wir bei Solidarité sans frontières als «besonde-
BAZ verbringen, die sich zudem an sehr          reich deshalb eine «Ausschaffungsmaschi-         re Gefängnisse» bezeichnen. Die Schaffung dieser Zentren
                                                                                                 wurde am 5. Juni 2013 von der Schweizer Bevölkerung an-
abgelegenen Orten befinden. Der Zugang          nerie» bzw. eine Maschine zur Produktion         genommen. Damals haben einige Politiker in den Medien al-
der Zivilgesellschaft zu diesen Zentren         von Sans-Papiers dar: denn wenn ihnen            len Ernstes verkündet, dass die Einrichtung solcher Zentren
                                                                                                 äusserst dringlich sei, dass es Hunderte von Asylbewerbern
ist begrenzt, manchmal ist sie gar nicht        klar wird, dass ihr Asylgesuch abgelehnt         gebe, die das Funktionieren der Zentren stören würden usw.
präsent, manchmal macht die Zentrumslei-        wird oder sie in einen anderen Dublin-Staat      So wurde das erste dieser Zentren im Dezember 2018 in
                                                                                                 Les Verrières eröffnet, also fünfeinhalb Jahre später – welch
tung die Dinge schwierig. Als Folge dieser      zurückgeschickt werden sollen, entscheiden       eine Erfüllung der vermeintlich so dringlichen Aufgabe: Acht
Abgeschlossenheit der Zentren können sich       sich viele Asylsuchende dazu abzutauchen.        Monate später kündigte der Staatssekretär für Migration an,
                                                                                                                                                                  Foto: Florian Thalmann

                                                                                                 dass Les Verrières vorübergehend geschlossen werde, weil
Mängel, Willkür oder Machtmissbrauch            Das war eine ausgesprochen knappe Dar-           man in diesen acht Monaten lediglich 33 Personen – also
entwickeln, ohne dass die Behörden oder die     stellung der Neustrukturierung des Asyl-         durchschnittlich drei oder vier Personen pro Monat – gefun-
                                                                                                 den habe, die man ans Ende des Val-de-Travers schicken
Zentrumsleitung zur Rechenschaft gezogen        bereichs. Es gäbe noch viele andere Dinge        konnte. Zur Erinnerung: Dieses Zentrum kostete den Bund
würden.                                         zu sagen. Und ich bin der Meinung, dass          im ersten Jahr seines Bestehens fünf Millionen Franken. Es
                                                                                                 gibt also im Moment keine «besonderen Gefängnisse» mehr
                                                alle Aktivist*innen, alle Freiwilligen, alle     in der Schweiz, und das ist gut so.

10   vpod bildungspolitik 215
Geflüchtete

                                                                                                                                                  2

                                                                                                                                                                                                                     n
                                                                                                                                                                                          n

                                                                                                                                                                                                                 ge
                                                                                                                                                                          en

                                                                                                                                                                                        ge

                                                                                                                                                                                                     en

                                                                                                                                                                                                                un
                                                                                                                                                                        hr

                                                                                                                                                                                     un

                                                                                                                                                                                                   hr
                                                                                                                                                                        fa

                                                                                                                                                                                                               ell
                                                                                                                                                                                    ell

                                                                                                                                                                                                   fa
                                                                                                                                                                      er

                                                                                                                                                                                                           st
                                                                                                                                                                                   st

                                                                                                                                                                                                 r
                                                                                                                                                                   t-V

                                                                                                                                                                                              Ve

                                                                                                                                                                                                          er
                                                                                                                                                                               er

                                                                                                                                                                                                          Üb
                                                                                                                                                                             Üb
                                                                                                                                                                  Ou

                                                                                                                                                                                          In-
Humanitäre Katastrophe und
                                                                                                                                                 Gesamt         2 571        922          2 620           604

                                                                                                                                                 Italien         950         354              85           9

bürokratischer Unsinn                                                                                                                            Deutschland

                                                                                                                                                 Frankreich
                                                                                                                                                                 560

                                                                                                                                                                 351
                                                                                                                                                                             234

                                                                                                                                                                             108
                                                                                                                                                                                             723

                                                                                                                                                                                             930
                                                                                                                                                                                                          220

                                                                                                                                                                                                           82

Über die europäischen Aspekte der Asylpolitik zu schreiben,                                                                                      Niederlande     150           38            228           73
bedeutet zuallererst auf «Dublin»1 einzugehen.                                                                                                   Griechenland     46           1             175          116
Von Heiner Busch
                                                                                                                                                 Dublin-Statistik – 1. Halbjahr 2019

F   lüchtende haben ihr Asylgesuch in dem
    Dublin-Staat zu stellen, den sie als ersten
betreten haben. Alle anderen sind «unzu-
                                                                      Dass «nur» etwas über ein Viertel derjeni-
                                                                      gen, gegen die ein «Dublin-Out»-Verfahren
                                                                      geführt wurde, tatsächlich «überstellt»
                                                                                                                                                das Verfahren für «Dublin-Fälle» nun ganz
                                                                                                                                                in den neuen Bundeszentren ablaufen – ab-
ständig». Sie können die betroffene Person                            wurde, liegt nicht an der Grosszügigkeit                                  seits der Öffentlichkeit und der solidarischen
in den «zuständigen» Staat zurückschaffen.                            der Schweiz, sondern häufig genug schlicht                                Gruppen.
Seit Dezember 2008 gilt dieses Dubliner                               daran, dass die Behörden die Sechs-Monate-                                  Auf europäischer Ebene hat die EU-
Grundprinzip auch für die Schweiz.                                    Frist für die «Überstellung» nicht einhalten                              Kommission bereits im Sommer 2015 die
  Glaubt man dem Bundesrat, dann hat sich                             konnten. In der Regel scheiterten die «Trans-                             Mitgliedstaaten gedrängt, auf jeden Fall neu
das vor allem finanziell gelohnt. Die Schweiz                         fers» aus bürokratischen Gründen.                                         ankommende Asylsuchende zu registrieren
habe Milliarden einsparen können, weil die                                                                                                      und ihre Fingerabdrücke in Eurodac zu
Zahl der Ausschaffungen in andere Dublin-                             Mehr Zwang                                                                speichern – notfalls mit «verhältnismässiger
Staaten im letzten Jahrzehnt viermal höher                            Dublin ist nicht nur eine humanitäre Katast-                              Gewalt». Mittlerweile sind die «Hot Spots»,
lag als die der Übernahmen.                                           rophe, sondern auch bürokratischer Unsinn.                                die Registrierungslager, an den südlichen
Schauen wir uns die Tabelle 1 an:                                     Die EU-Kommission hat 2016 festgestellt,                                  Aussengrenzen installiert. Wenn alle oder
• Von 2009 bis Mitte 2019 hat das SEM ins-                            dass die Quote der tatsächlichen Überstel-                                fast alle Ankommenden mit Fingerabdrü-
gesamt 107 Tausend Dublin-Out-Verfahren                               lungen verglichen mit den eingeleiteten                                   cken und demnächst auch mit Gesichts-
eröffnet, das heisst, bei anderen Dublin-                             Dublin-Verfahren generell niedrig ist.                                    erkennung erfasst werden, heisst das aber
Staaten um Übernahme ersucht. Das betraf                              Es ist offensichtlich: Dublin ist ein büro-                               auch, dass die Ankunftsstaaten weiterhin
fast die Hälfte aller in dieser Zeit gestellten                       kratischer Verschiebebahnhof. Statt dieses                                zuständige Dublin-Staaten sind.
Asylgesuche.                                                          System aufzugeben und nach einer men-
• In 71 000 Fällen haben die ersuchten                                schenrechtlichen Alternative zu suchen,                                   Konflikte der
Staaten zugestimmt oder nicht geantwortet,                            setzt man sowohl auf nationaler als auch auf                              Unterzeichnerstaaten
was als Zustimmung gilt.                                              europäischer Ebene auf mehr «Effizienz»                                   Der Entwurf einer neuen Dublin-Verord-
• 66 000 Personen erhielten einen Nicht-                              – und das heisst: mehr Zwang. Nach dem                                    nung (Dublin IV) von 2016 setzte diese
Eintretensentscheid.                                                  revidierten Asylgesetz kann das SEM zum                                   Tendenz fort: Die Souveränitätsklausel,
• Und circa 30 000 wurden tatsächlich                                 einen finanziellen Druck auf jene Kantone                                 die einem «unzuständigen» Staat erlaubte,
ausgeschafft, während in derselben Zeit nur                           ausüben, die bei Ausschaffungen zu «nach-                                 freiwillig auf ein Gesuch einzutreten, soll
7000 übernommen werden mussten.                                       lässig» sind. Das traf bisher insbesondere die                            eingeschränkt werden. Die bisherige Sechs-
                                                                      Westschweizer Kantone. Zum andern wird                                    Monate-Frist soll abgeschafft werden – in
                                                                                                                                                Zukunft wären dann Dublin-Ausschaffun-
                                                                                                                                                gen auch noch nach Jahren möglich. Neu
  1
                                                                                                                           g
                                                         ng

                                                                                                                                            n
                                                                                        n

                                                                                                                            un

                                                                                                                                        ge
                                     en

                                                                                      ge

                                                                                                                                                sollten die Asylbehörden zudem prüfen, ob
                                                           u
                    m e

                                                  er g

                                                                                                                   er g
                                                                                                       en

                                                                                                                         st
                                                        st

                                                                                                                                       un
                                   hr
              ge uch

                                              l. V un

                                                                                   un
                                                                     n

                                                                                                               l. V un
                     t

                                                                                                                     fri
                                                                    bli

                                                                                                     hr
                                                    fri
                                   fa

                                                                                                                                      ell
                                           inc timm

                                                                                  ell

                                                                                                            inc timm

                                                                                                                                                die Betroffenen zuvor in einem «sicheren
                                                                                                   fa
                 sa
           ins lges

                                                                Du
                                er

                                                                                                                                   st
                                                                                 st

                                                                                                  r
                             t-V

                                                                                               Ve

                                                                                                                                 er
                                                                             er

                                                                                                                                                Drittstaat» ausserhalb der EU waren und
                                                               E
                                              s
              y

                                                                                                               s

                                                                                                                                 Üb
                                                               NE

                                                                                              In-
                            Ou

                                           Zu

                                                                            Üb
           As

                                                                                                            Zu

 2009     16 005           6 041          4 590            3 486          1 904              605             452             195
                                                                                                                                                man sie dorthin zurückschaffen kann.
                                                                                                                                                   Die Verhandlungen um Dublin IV sind
 2010     15 567           5 994          5 095            6 393          2 722             1 327            797             481
                                                                                                                                                blockiert. Und zwar nicht, weil das EU-
 2011     22 551           9 347          7 014            7 099          3 621             1 582            907             482                Parlament vom Dublin-Prinzip weg will.
 2012     28 631          11 029          9 328            9 130          4 637             2 302           1 186            574                Seinen Vorschlag haben die Regierungen der
                                                                                                                                                Mitgliedstaaten, also der Rat der EU, nicht im
 2013     21 465           9 679          7 592            7 078          4 165             3 672           1 819            751
                                                                                                                                                Ansatz zur Kenntnis genommen. Sie streiten
 2014     23 765          14 900          5 642            4 844          2 638             4 041           1 801            933                sich über den im Kommissionsentwurf
 2015     39 523          17 377          8 782            7 915          2 461             3 072           1 205            558                vorgesehenen «Korrekturmechanismus»,
                                                                                                                                                der in Krisensituationen eine Umvertei-
 2016     27 207          15 203          10 197           8 874          3 750             4 115           1 302            469
                                                                                                                                                lung – «Relocation» – von Asylsuchenden
 2017     18 088           8 370          6 728            5 843          2 297             6 113           2 485            885                ermöglichen sollte.
 2018     15 255           6 810          4 769            4.185          1.760             6.583           3.035           1.298                  Die osteuropäischen Staaten und Öster-
 2019      7 029           2 571          1 861            1 527           922              2 620           1 310            604
                                                                                                                                                reich hatten sich schon der Umsiedlung
 1. Hj                                                                                                                                          verweigert, die die EU im September 2015 be-
 TOTAL    235 086         107 321         71 598          66 374          29 117            32 575          16 299          7 230
                                                                                                                                                schlossen hatte. 160 000 Flüchtlinge sollten
                                                                                                                                                innerhalb von zwei Jahren aus Griechenland

                                                                                                                                                                             vpod bildungspolitik 215                11
thema

                                                 An der Tagung «Geflüchtete – Bildung,
                                                 Integration und Emanzipation» nahmen
                                                 200 Fachpersonen und Engagierte aus
                                                 dem Bildungs- und Sozialbereich teil.
                                                 Eine Auswahl von Bildern, die Einblicke in
                                                 die Tagung vermittelt.

und Italien in die anderen EU-Staaten verteilt   die osteuropäischen Regierungen. Beide           arbeit an den Aussengrenzen» wurde die
werden. Bis Februar 2018, fünf Monate nach       Staaten sperren ihre Häfen für Seenotret-        Agentur für die «Europäische Grenz- und
Ende der Frist, waren gerade einmal 33 721       tungsschiffe.                                    Küstenwache». Im April 2019 haben das
Menschen umverteilt worden – 11 954 aus Ita-       Praktisch heisst das, dass bei jeder Ankunft   EU-Parlament und der Rat nun die nächste
lien und 21 767 aus Griechenland. Immerhin       eines solchen Schiffes tage- oder wochen-        Revision folgen lassen. Frontex soll in den
hat die Schweiz ihre freiwillige Zusage, 1500    lang darüber gestritten wird, wer wie viele      kommenden Jahren eine ständige Reserve
                                                                                                                                                                  Foto: Florian Thalmann und Tanja Lantz

Flüchtlinge zu übernehmen, fast erfüllt: 580     Geflüchtete aufnehmen wird.                      von 10 000 Grenzschützern erhalten. Eine
kamen aus Griechenland, 913 aus Italien.           Während die beteiligten EU- und as-            richtige kleine Armee also.
Dorthin wiederum schaffte man allein 2017        sozierten Schengen/Dublin-Staaten ein
jedoch 981 andere Asylsuchende zurück.           widerliches Geschacher um die Geretteten         Heiner Busch arbeitet bei Solidarité sans frontières.
   Insbesondere Italien und Malta weigern        betreiben, haben sie sich in ungeheurer
sich, weiterhin als Aussengrenz-Staaten          Geschwindigkeit über eine neue Frontex-          1 Das Dubliner Übereinkommen von 1990 ist ein völker-
                                                                                                  rechtlicher Vertrag, der bestimmt, welcher Staat für die
für die dort Ankommenden zuständig zu            Verordnung geeinigt: Die letzte Revision         Prüfung eines in der EU gestellten Asylantrags zuständig ist.
sein. Sie tun das mit dem gleichen natio-        der Verordnung stammt von 2016. Aus              2003 wurde dieses mit der Dublin-II-Verordnung und 2013
                                                                                                  mit der Dublin-III-Verordnung weiterentwickelt.
nalistischen Schaum vor dem Mund wie             der Agentur für die «operative Zusammen-

12   vpod bildungspolitik 215
Geflüchtete

Was brauchen                                                                                      Ressourcen erkennen, nicht nur die
                                                                                                  Defizite
                                                                                                  Geflüchtete Kinder verfügen zu Beginn ihrer

geflüchtete Kinder                                                                                schulischen Integration manchmal noch
                                                                                                  über wenig für uns offensichtliches Wissen
                                                                                                  und Können. Das versperrt oftmals unnötig

und Jugendliche und                                                                               lange den Blick auf vorhandene Ressourcen.
                                                                                                  Dabei wäre es besonders wichtig, auch zu

ihre Lehrpersonen
                                                                                                  fragen, was das Kind schon kann und gelernt
                                                                                                  hat. Auch ausserschulisch erworbene Kennt-
                                                                                                  nisse und Kompetenzen müssten dabei

für eine gelingende
                                                                                                  umfassend beachtet werden. Das einzelne
                                                                                                  Kind sollte zudem in eine Situationsanalyse
                                                                                                  einbezogen werden. Die Vorgeschichte,

schulische
                                                                                                  Vorbildung, die Wohn- und Schulsituation,
                                                                                                  Familie, Peers etc., alles das gehört dazu,
                                                                                                  ebenso wie die Selbsteinschätzung, die

Integration?
                                                                                                  Wünsche und die Motivation des Kindes oder
                                                                                                  des Jugendlichen. Wie kann das einzelne
                                                                                                  Kind seine Ressourcen stärken? Wie kann
                                                                                                  ich ihm in der Schule ermöglichen, diese zu
Geflüchtete Kinder und Jugendliche gehören zu den verletzlichsten                                 zeigen und so auch Resonanz zu erfahren?
Kindern in unserem Schulsystem. Sie sind auch in der Schweiz                                      Darauf Antworten zu finden, gehört zu den
nicht nur von den Folgen von Krieg, Verfolgung, Flucht, Armut und                                 zentralen Aufgaben der Schule – auch bei
gesellschaftlicher Ausgrenzung betroffen, sondern haben insgesamt                                 geflüchteten Kindern. Anstelle des Anspru-
eingeschränkte Bildungschancen – trotz des grossen Engagements                                    ches, dass Kinder in der Schule zu funktio-
vieler Lehrpersonen. Oft fehlt der politische Wille, Investitionen zu                             nieren haben, sollte zudem eine Haltung der
tätigen, um die Bildungsstrukturen an die Bedürfnisse der Kinder                                  suchenden Gelassenheit treten, bei welcher
und ihrer Lehrpersonen anzupassen.                                                                der Beziehungsaufbau und das schrittweise
Von Bettina Looser                                                                                Lernen bei offener und flexibler Planung im
                                                                                                  Zentrum stehen.

N    ach kurz aufgeflammter Aufmerksam-
     keit in den Jahren 2015/2016 zeigt         A.   Bedürfnisse geflüchteter
                                                Kinder und Jugendlicher
                                                                                                  Diskriminierende
die Bildungspolitik am Thema Flucht und                                                           Wahrnehmungsmuster vermeiden
Schule aktuell wenig Interesse. Darum be-       Zu einer gelingenden schulischen Integration      An Schweizer Schulen ist bereits viel Wissen
kommen Lehrpersonen oft zu wenig ideellen,      gehören qualitativ hochstehender Sprachun-        und Können in Bezug auf die schulische Inte-
personellen und finanziellen Support. Es        terricht, soziale Integration im Schulalltag      gration fremdsprachiger Kinder vorhanden,
fehlt an einer breiten Weiterbildungspalette    und tragfähige Beziehungen zu den Lehrper-        worauf man bauen kann. Gleichzeitig zeigt
für Lehrpersonen, aber auch an angepassten      sonen – und vieles mehr. Für alle Aspekte der     sich aber in den letzten Jahren gerade an den
Formen der schulischen Förderung und der        schulischen Integration braucht es Wissen,        geflüchteten Kindern, dass dies für die sich
psychosozialen Stabilisierung der Kinder –      Kompetenzen, Handlungsideen und die               stellenden Herausforderungen noch nicht
flexible Lösungen oder innovative Formen        Fähigkeit zur Reflexion des eigenen Tuns.         reicht. Die Schwächen des Schulsystems
von Teamarbeit beispielsweise sind so kaum      Besonders wichtig ist aber auch eine wohlwol-     bezüglich der Gestaltung von Diversität in
möglich.                                        lende und bedürfnisorientierte Grundhaltung       all ihren Dimensionen, etwa ein Mangel
   Vielerorts gibt es darum Verunsicherung      der Lehrpersonen. In der Folge werden darum       an Diversitätssensibilität oder Rassismus-
im Zusammenhang mit Bildungsdefiziten           verschiedene Aspekte zweier Bedürfnisse von       Bewusstsein, trifft die verletzlichsten Kinder
oder/und Flucht-Traumata und deren Folgen       geflüchteten Kindern und Jugendlichen be-         am stärksten. Was anders ist oder anders
im Schulalltag. Motivierte Lehrpersonen         schrieben, die allzu oft vergessen gehen: Das     erscheint, ist bei geflüchteten Kindern und
reagieren auf die Herausforderungen dieser      Bedürfnis nach Ressourcenorientierung und         Jugendlichen besonders sichtbar: Meist
Integrationsaufgabe nicht selten mit anfäng-    jenes nach traumapädagogischer Begleitung         sind sie nicht-europäischer Herkunft, tra-
lichem Aktivismus, der allmählich Resigna-      im Schulalltag.                                   gen manchmal Kopftuch, haben vielleicht
tion und Ratlosigkeit weicht. Die Folge ist,                                                      Kriegsnarben, sind verunsichert durch
dass geflüchtete Kinder und Jugendliche vor-    Migration als Normalität anerkennen               ein ungewisses Bleiberecht und unklare
schnell problematisiert und pathologisiert      Die Grundbedingungen einer ressourcenori-         Perspektiven, sind psychosozial oftmals
werden, und, auch von politischer Seite, nach   entierten Wahrnehmung geflüchteter Kinder         belastet durch Krieg, Verfolgung und Flucht.
ihrer generellen Separierung gerufen wird.      und Jugendlicher ist ihre Akzeptanz als Teil      Sie haben, gemessen an unseren Normen,
Das aber ist etwas, was ihre schulische und     einer postmigrantischen Gesellschaft und          Bildungsrückstände und leben meist in
soziale Integration nicht befördert, sondern    der Blick auf ihre Integration als ein normaler   sozioökonomisch prekären Verhältnissen.
viel eher massiv behindert.                     gesellschaftlicher Vorgang. Bildung findet im     Dieses sichtbare Anderssein führt unter
   Was aber brauchen geflüchtete Kinder und     Kontext von Migration statt, und die Schule ist   anderem auch dazu, dass das Recht auf
Jugendliche in der Schule? Und was brau-        der Integrationsort, für alle jungen Menschen     Gleichbehandlung, auf Teilhabe und auf
chen ihre Lehrpersonen, um ihrer Aufgabe        einer Gesellschaft. Diese Einsicht nimmt der      ressourcenorientierte Förderung oft noch
gerecht werden zu können?                       schulischen Integration geflüchteter Kinder       stärker missachtet wird als bei anderen
                                                den Sonderstatus und die Bedrohung des            migrantischen Kindern.
                                                Ausserordentlichen.

                                                                                                                      vpod bildungspolitik 215   13
Sie können auch lesen