Grenzerfahrung - Ärztekammer Schleswig-Holstein
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Nr. 1 Januar 2021 74. Jahrgang Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein Grenzerfahrung Ängste, Depressionen und weitere Folgen der Pandemie belasten Patienten und Ärzte. Seiten 12 – 15 Gesellschaft Die Ärztekammer im Dialog. Seiten 8 – 11 Impfen Wie halten es die Ärzte im Land? Seiten 18 – 21
E N T A K T IE R E N S IE U N S F Ü R E IN E IM N O R D E N E R R E IC H E N . K O L A T T E R S C H E IN T. L L E Ä R Z T CHE N Ä R Z T E B E IG E A IG -H O L S T E IN IS M IT E IN E R A N Z D IM S C H L E S W IG E , D IE IM H AMBURGER UN ANZE Fotos: axelbueckert / photocase.de · FloKu. / photocase.de Anzeige Bismarckstr. 2 | 20259 Hamburg | fon (040) 33 48 57 11 | fax (040) 33 48 57 14 | info@elbbuero.com | www.elbbuero.com
JA N UA R 2 0 2 1 EDITORIAL 3 Beruf und Berufung Viele stellen sich die Frage, was das neue Jahr mit sich bringt. Die Corona-Pandemie wird uns weiter intensiv beschäftigen, auch wenn mit der Impfung eine präventive Therapie zur Verfügung steht und die ersten Erfahrungen damit gesammelt werden (Seite 18). Eine erneute riesige logistische Herausforderung für unsere Profession und für das Gesundheitswesen. Einmal mehr zeigt sich, dass die ärztliche Selbstverwal- tung unverzichtbar ist, sei es in der Mobilisation von Ärztinnen und Ärzten auch aus dem Ruhestand heraus, sei es in der Besetzung der Impfzentren mit kompetenten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, sei es in der Schulung und Qualifizierung. Die Bereitschaft zum Helfen ist bewundernswert und – vor dem Hintergrund unserer Werte und Haltungen – zugleich für viele von uns selbstverständlich. Doch auch nach Überwindung der Pandemie werden wir noch lange mit den Folgen konfrontiert werden. Neben ökonomischen und gesellschaftlichen Aspekten werden Prof. Henrik Herrmann ist gesundheitliche Problematiken auf uns zukommen. Die psychischen Belastungen seit 2018 Präsident der durch die Pandemie sind enorm und haben Einfluss auf die Gesundheit, allerdings Ärztekammer Schleswig-Holstein. mit einer Latenzzeit (Seite 12). Die Auswirkungen sind noch unklar, da natürlich noch keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu vorliegen können. Die ersten Anzeichen werden bereits beschrieben und deuten auf eine weitere Herausforderung im Rahmen der Pandemie hin. Dabei muss auch das psychische Befinden der Beschäftigten im Gesundheitswesen mehr Beachtung finden, denn sie sind durch ihren Einsatz während der Pandemie im ambulanten und stationären Bereich an die Grenzen der physischen, mentalen und emotionalen Belastbarkeit gekommen. »Die Beschäftigten im Dass es neben Covid-19 auch andere Infektionskrankheiten gibt, die uns täglich herausfordern, zeigt der Bericht zur Endokarditis-Konferenz (Seite 22). Infektiologi- sche Krankheitsbilder bieten sich besonders für ein interdisziplinäres Vorgehen an. Vor diesem Hintergrund sind auch Überlegungen zu sehen, eine vertiefende Fach- arztkompetenz im Rahmen der Infektiologie zu schaffen. Die Weiterbildungsgremien auf Bundesebene beraten dazu zurzeit, eine Entscheidung könnte auf dem nächsten Gesundheitswesen Deutschen Ärztetag fallen. sind während der Es stellt sich fast die Frage, ob es neben den Infektionen noch andere Themen im Gesundheitswesen gibt. An dieser Stelle bringt die Ärztekammer eine neue Serie auf den Weg: Kammer in Gesellschaft (Seite 8). Mitglieder aus Vorstand und Geschäfts- Pandemie an die führung werden sich mit Vertretern aus Politik und Gesellschaft austauschen, die Schnittmengen zur ärztlichen Profession haben. Dieser Austausch auch mit Gruppen, Grenze der Belast- barkeit gekommen.« die sonst nicht im Fokus des Gesundheitswesens stehen, ermöglicht uns, ärztliche Positionen zu verdeutlichen und Themen voranzubringen. Neues Jahr, neues Format – hoffen wir auf ein gutes Jahr! Freundliche Grüße Ihr Prof. Henrik Herrmann Foto: ÄKSH Präsident
4 I N H A LT JA N UA R 2 0 2 1 188 36 22 38 16 24 34 Inhalt NAC HRICHT EN 6 Wie halten es die Ärzte in Schleswig- PE R SO N AL I A 38 Kurz notiert 6 Holstein mit der Impfung? 18 Lübecker Ampel gibt Hilfestellung 6 Endokarditis-Konferenz am UKSH 22 MI T T E I L U N G E N D E R ÄR Z T EKAMMER 40 Lohfert-Preis ausgeschrieben 6 Flensburger Projekt ausgezeichnet 24 Datenaustausch zur Fortbildung 40 Corona Warnarmband in Testphase 7 Train the Trainer für die Weiterbildung 26 Serie: Die Kreisausschüsse der Kurz notiert 7 Modell für die berufsbegleitende Ärztekammer 41 Zusatzweiterbildung 27 Termine 42 T I TE LTHEM A 8 Ungewisse Zukunft für die Medizinische Kammer vergibt Stipendium 43 Fotos: Adobe Stock Alexander Raths / J. Haacks, Uni Kiel / Di / Klinik Borstel 28 Kammer in Gesellschaft: Prof. Henrik Medizinstudium ohne Präsenz 30 MI T T E I L U N G E N D E R KVSH 44 Herrmann im Gespräch mit Christine Aschenberg-Dugnus und Thomas Stritzl 8 RECHT 32 AN Z E I G E N 46 GES UN DHEIT S P O LIT IK 12 Schlichtungsfall 32 Mehr Depressionen, Ängste und Süchte T E L E F O N VE R Z E I CH N I S/I MPRESSUM 50 Titelbild: Adobe Stock Maridav M E D I Z I N & WI SSE N SCH AF T 33 Städtisches Krankenhaus Kiel als Folge der Pandemie 12 Interview mit Prof. Kamila Jauch-Chara 15 Neues Herzklappen-Reparatursystem 33 Schleswig-Holstein hat erstmals ein Nord-Unis sind in Forschungsverbünde Landeskrankenhausgesetz 16 zu Covid-19 eingebunden 34 Kommunen kümmern sich um Welche Rolle spielt das Immungedächtnis niedergelassene Ärzte 17 bei Covid-19? 36
JA N UA R 2 0 2 1 I N H A LT 5 28 Gesucht: Zukunftskonzept für das „Juwel“ Borstel Festgehalten In diesem Jahr wird über die Zukunft der Medizinischen Klinik Borstel entschieden. Bund und Land von Dirk Schnack haben als Träger der Stiftung Borstel das Direktorium beauftragt, bis Ende 2021 ein Konzept zu entwi- ckeln, um durch strategische Partnerschaften Forschung und Krankenversorgung in enger Kooperation mit dem Forschungszentrum zu sichern. Die Verantwortlichen um den Medizinischen Direktor Prof. Christoph Lange (Foto) arbeiten daran, dass Forschung und Krankenversorgung im Gesamtpaket bestehen bleiben. Zentrumsdirektor Prof. Stefan Ehlers spricht von einem „Juwel“, das erhalten werden sollte.
6 NEWS JA N UA R 2 0 2 1 Lübecker Ampel: Anleitung für Kranken- KURZ NOTIERT häuser und Pflegeeinrichtungen Leid und Unrecht künstlerisch D ie Corona-Pandemie hat von Be- dort die Ampel auf Rot, unabhängig aufgearbeitet ginn an die Gesundheitsversor- von der regionalen Bewertung. Viele Menschen, die von 1949 bis 1975 als Kinder und Ju- gung unter Druck gesetzt. Die Aus der Ampelfarbe ergeben sich gendliche in Einrichtungen der Behindertenhilfe, der Maßnahmen verunsichern viele einrichtungsspezifische Maßgaben, Kinder- und Jugendpsychiatrie oder der Jugendfürsorge Einrichtungen und werfen oft ethi- die etwa den Fahrdienst, Besuchs- untergebracht waren, haben Leid und Unrecht erfahren. sche Grundsatzfragen auf: Was hat regelungen, den Umfang der Test- Dazu gehörten u. a. Medikamentenversuche, Gewalt und Vorrang – der Schutz einer vulnera- und Hygienemaßnahmen sowie den Erniedrigung. Um daran zu erinnern, hatte das Sozial- blen Gruppe vor Infektionen oder Grad der Zugangsbeschränkungen ministerium in Zusammenarbeit mit der Muthesius die Vermeidung von Isolation sowie betreffen. Kunsthochschule und dem Landesverband Bildender die Respektierung von Freiheitsrech- Entstanden ist das Konzept im Künstler den Kunstwettbewerb „Skulptur Leid und Un- ten und Selbstbestimmung? Um sol- Rahmen des „Gesundheitsnetz- recht“ ins Leben gerufen. Der Preis wird durch die Stif- chen Fragen die Komplexität zu neh- werks COVID-19 in HL“. Seit Mit- tung Anerkennung und Hilfe gefördert. Künstler aus men und trotzdem angemessen auf te des Jahres beschäftigt sich dort Schleswig-Holstein waren aufgerufen, Entwürfe einzu- das Infektionsgeschehen reagieren eine Arbeitsgruppe mit der lokalen reichen, die an das Schicksal der Betroffenen erinnern zu können, haben Lübecker Akteu- Anwendbarkeit von Vorgaben von und die historische Verantwortung dafür zum Ausdruck re der Gesundheitsversorgung eine Bund, Land, Stadt und Robert Koch- bringen. Handlungsanleitung für Gesund- Institut. Aktuell können die Einrich- Den ersten Platz des Wettbewerbs belegte Susan Walke heitseinrichtungen in der Corona- tungen das Konzept freiwillig nut- für ihren Entwurf „Leid und Unrecht 2020“. Die Skulp- Situation erarbeitet: das Lübecker zen. Die Einschätzung der Ampel- tur thematisiert das Leid der Betroffenen und das man- Ampelsystem (L.A.S.). farben liegt im Verantwortungsbe- gelnde Interesse der Gesellschaft an den Zuständen in Das Konzept sieht vor, dass ein reich des jeweiligen Gesundheits- den Einrichtungen. Der systematische Missbrauch wird Fachgremium anhand mehrerer Kri- amtes und liegt derzeit dem Kieler durch Aktenordner symbolisiert, die als visualisierte terien entscheidet, welche Ampelfar- Gesundheitsministerium sowie wei- Grundlage für Leid und Unrecht in staatlichen, kirchli- be in einer Stadt oder einem Land- teren politischen Akteuren vor Ort chen und privaten Einrichtungen, abgeheftet in Akten- kreis gilt. An die jeweilige Ampel- vor. Weitere Informationen auf der ordnern, dienen. Auf dieser Basis steht das Gebäude farbe sind konkrete Maßnahmen ge- Homepage des Netzwerks unter: ohne Dach, Türen und Fenster symbolhaft für Schutz- knüpft. Wird in einer Einrichtung ein www.ethik-netzwerk.de/ampelsys- und Aussichtslosigkeit für Betroffene. Es macht die Ent- lokaler Ausbruch festgestellt, springt tem. (pm/red) individualisierung der Opfer deutlich. (pm/red) Die Gewinnerskulptur von Lohfert-Preis 2021 ausgeschrieben Susan Walke soll zunächst P an verschiedenen Orten atient im Mittelpunkt: Integrier- orientierte, qualitätsverbessernde in Schleswig-Holstein und te Therapiekonzepte und Ver- Impulse beinhalten sowie idealer- später an einem festen Ort sorgungsformen der Zukunft – weise einen Bezug zur stationären aufgestellt werden. so lautet das Ausschreibungs- Versorgung aufweisen. Entspre- thema für den Lohfert-Preis 2021. chende Projekte, die einen Bei- Schirmherrin des mit 20.000 Euro trag zur Bewältigung der Corona- dotierten Förderpreises ist Dr. Re- krise leisten, sind ausdrücklich er- gina Klakow-Franck, stellvertre- wünscht, jedoch keine Vorausset- tende Leiterin des IQTIG – Institut zung. für Qualitätssicherung und Trans- Bewerben können sich alle Teil- parenz im Gesundheitswesen. Be- nehmer der Krankenversorgung werbungen werden noch bis 28. Fe- im deutschsprachigen Raum so- bruar 2021 online entgegengenom- wie Management- und Beratungs- men. gesellschaften, Krankenkassen oder Der Lohfert-Preis prämiert pra- sonstige Experten. Die Bewerbung xiserprobte und nachhaltige Kon- muss in deutscher Sprache verfasst zepte, die den Patienten, seine Be- und online eingereicht werden. Be- Foto: Susan Walke VG Bild-Kunst dürfnisse und Interessen in den werbungen werden ausschließlich Mittelpunkt rücken. Gesucht wer- über das Online-Bewerbungsfor- den Best-Practice-Projekte, die be- mular (https://bit.ly/3283M1o) un- reits implementiert sind und deren ter www.christophlohfert-stiftung. Nutzen wissenschaftlich evaluiert de angenommen. Die Stiftung ver- wurde. Das Konzept soll grundle- leiht den Preis im September. (pm/ gend neue Ansätze und patienten- red)
JA N UA R 2 0 2 1 NEWS 7 Armband als Alternative zur Corona-Warn-App E in an der Kieler Universität ent- wickeltes Corona-Warnarmband wird seit Mitte Dezember getes- tet. 1.000 Kieler aus Pflegeeinrich- tungen tragen die Armbänder für drei Monate. Die Entwickler sehen in dem Armband eine Alternative zur Corona-Warn-App, die nicht auf allen Smartphones läuft. Es soll ana- log zu der von der Bundesregierung empfohlenen App funktionieren. Via Bluetooth-Chip korrespon- diert es mit anderen Warnarmbän- dern und Smartphones, auf denen die Anwendung aktiv ist. In den Pflegeeinrichtungen werden Basis- stationen mit Internetverbindung aufgebaut, die die Kontaktnachver- folgung gewährleisten. Kommt ein Träger des Armbands in die Nähe der Station, werden die Daten ausge- tauscht. Bei einer Risikobegegnung blinkt ein LED-Licht am Armband Kompatibel mit der Corona-Warn-App: Das in Kiel entwickelte Warnarmband nutzt Bluetooth auf. (pm/red) für den Datenaustausch. KURZ NOTIERT Bvmd ist auf Spenden angewiesen Die Coronakrise hat viele Vereine in Deutschland schwer getrof- Nach Angaben der Universität sind allein in der Lübecker Regi- fen, so auch die Bundesvertretung der Medizinstudierenden in on 42.000 Menschen betroffen. Die länderübergreifende Zusam- Deutschland e.V. (bvmd). Sie vertritt die Interessen der knapp menarbeit ermöglicht, die Daten auf Basis einer größeren Testpo- 100.000 Medizinstudierenden in Deutschland und setzt sich u. a. pulation in unterschiedlichen Umgebungen zu validieren, was den für gute medizinische Ausbildung und Gesundheitsversorgung Präzisionsgrad der App erhöht. Die App ist derzeit in einer ersten und für ehrenamtliche Projekte ein. Aufgrund der geltenden Be- Version im Probebetrieb an 50 Patienten. (pm/red) schränkungen in der Coronakrise sind viele Einnahmequellen des Vereins entfallen, während Kosten etwa für Miete weiterhin an- fallen. Ende des Jahres machte der Verein auf die Möglichkeit auf- Dosierungsangaben auf Rezept beachten merksam, „dass der bvmd diese Krise nicht gut übersteht und wir Seit November sind Ärzte verpflichtet, bei der Verordnung von unsere Aktivitäten und Unterstützungen noch weiter herunterfah- verschreibungspflichtigen Arzneimitteln die jeweilige Dosierung ren müssen, um der Insolvenz zu entgehen“. Verbunden wurde auf dem Rezept anzugeben. Trotz Informationen durch Ärzte- dies mit der Bitte um Spenden für den Verein. Weitere Infos auf und Apothekerorganisationen berichten Inhaber von Apotheken der Website www.bvmd.de. (pm/red) in Hamburg und Schleswig-Holstein, dass viele vorgelegte Rezep- te die erforderlichen Dosierungsangaben nicht, nicht vollständig oder falsch enthalten. Apotheker sind in solchen Fällen verpflich- App für AMD-Patienten tet, das Rezept zurückzuschicken oder den Arzt zu kontaktieren, Ein deutsch-dänisches Medizinprojekt mit Ärzten aus Lübeck, was mit viel Aufwand für beide Seiten verbunden ist. Die Apothe- Roskilde und Koge setzt auf eine Früherkennung der altersbe- kervereine in beiden Bundesländern sprechen von einem „kaum dingten Makula-Degeneration (AMD) per App. Dr. Mahdy Ranj praktikablen und zumutbaren Umstand“ – immerhin wurden bar, Oberarzt in Lübeck und dort Leiter der Studie, erwartet vom 2019 bundesweit 878 Millionen Arzneimittelpackungen ärztlich Foto: © Benjamin Walczak Einsatz der App Vorteile für die Betroffenen: „Sie stärkt den auto- verordnet. nomen Umgang mit der Erkrankung. Sie macht es einfacher, die Deshalb bitten die Apotheker in Hamburg und Schleswig-Hol- Entwicklung der Krankheit einzuschätzen, damit man zur rech- stein die verordnenden Ärzte, die geänderten Vorschriften zur ten Zeit behandelt werden kann. Und schließlich bringt diese di- Ausstellung von Verordnungen und insbesondere die Pflichtanga- gitale Früherkennungsmöglichkeit Vorteile für die Patienten, die ben zur Dosierung zu beachten. Die Neuregelungen finden sich in in ländlichen Räumen sehr lange Wege zum Facharzt haben.“ der Arzneimittelverschreibungsverordnung. (pm/red)
8 T I T E LT H E M A JA N UA R 2 0 2 1 Nah am Menschen KAMMER IN GESELLSCHAFT Unter diesem Motto spricht die Ärztekammer mit Vertretern aus Institutionen und Verbänden unserer Gesellschaft, die Schnittmengen zur ärzt- lichen Arbeit haben. Zum Auftakt traf sich Kammerpräsident Prof. Henrik Herrmann mit zwei Gesundheitspolitikern. Z wischen Politik und Standespoli- tik wird oft gestritten, gefordert und zugespitzt. Als Christine Aschen- berg-Dugnus (FDP) und Prof. Hen- rik Herrmann sich kürzlich erstmals zu einem persönlichen Gespräch tref- fen konnten, war das anders. Im Kieler Büro des FDP-Landesverbandes nahm sich die Politikerin, die seit Beginn der Legis- laturperiode Mitglied im Gesundheitsaus- schuss des Bundestages und gesundheits- politische Sprecherin ihrer Bundestagsfrak- tion ist, viel Zeit für ein Gespräch mit dem Präsidenten der Landesärztekammer. Statt Streit und Forderungen waren Mut und Optimismus das Ergebnis auf beiden Seiten – was nicht bedeutet, dass die Gesprächs- partner ohne Erwartungen an die jeweils andere Seite aus dem Austausch gingen. „Ich schaue noch positiver in die Zu- kunft“, sagte die in Strande lebende Juristin nach dem Gespräch. „Der Veränderungs- wille macht Mut“, sagte der Präsident. Bei- de haben lebhaftes Interesse an dem in der Politik lange Zeit unterschätzten Gesund- heitswesen. Die Politikerin hat es nie als Verlegenheitslösung begriffen, sich in ihrer »Nichts in der Politik Herrmann wiederum weiß um die The- menvielfalt und Termindichte, die unter massiver Medienbeobachtung auf politi- Fraktion um Gesundheitspolitik zu küm- mern. „Von dem Thema ist jeder betroffen ist so nah an den sche Entscheidungsträger warten, und ist sich bewusst, dass nicht jede ärztliche For- und es berührt jedes Alter. Das deckt die Gesundheitspolitik mit Regelungen vom Embryonenschutzgesetz bis zur Diskussi- Menschen wie derung von Politikern eins zu eins umge- setzt werden kann. Gute Voraussetzungen also für einen konstruktiven Austausch. on über Sterbehilfe ab. Welches andere Po- litikfeld bietet das? Nichts in der Politik ist Gesundheitspolitik.« Das Stichwort „nah am Menschen“ greift Herrmann auf. Er verweist auf den so nah an den Menschen wie Gesundheits- CHRI ST I N E AS C H E N B E R G - One-Health-Gedanken, der im Zuge des politik“, sagt Aschenberg-Dugnus. Klimawandels stärkere Beachtung erfährt DUGNU S Fotos: SG / shutterstock designtools Zugleich schwingt in ihren Äußerungen und der deutlich macht, welchen zentralen eine gesunde Distanz, aber auch Respekt Stellenwert das Thema Gesundheit einneh- vor den Leistungen der Ärzte mit. Dies gilt men sollte. Hat sich diese Einstellung im für angestellte Ärzte in Krankenhäusern, Zuge der Pandemie verändert? Ja, meinen Gesundheitsämtern und für die Ärzte, die beide. Aschenberg-Dugnus erwartet, dass ihre Praxen selbstständig organisieren. Was Themen wie Hygiene und Prävention von das bedeutet, weiß Aschenberg-Dugnus als der Politik künftig stärker beachtet werden, Frau eines Zahnarztes aus erster Hand. und setzt darauf, dass frühere Einstellun-
JA N UA R 2 0 2 1 T I T E LT H E M A 9 gen nach der Pandemie auf den Prüfstand am Thema Klinikfinanzen, die ebenfalls kommen. Herrmann nimmt viele seiner beide für reformbedürftig halten. Auch die Kollegen als wohltuend kritisch wahr, wenn sektorübergreifende Versorgung, so etwas es um den Zusammenhang zwischen Um- wie der Klassiker unter den nicht gelösten welt, Klima und Gesundheit geht. Problemen des deutschen Gesundheitswe- Dass sich trotz der Bedeutung der oft sens, treibt beide um: Sie treten für „sek- unmittelbaren Auswirkung auf den beruf- torenverschmelzende Modelle“ ein. Herr- lichen Alltag nur eine Minderheit von Ärz- mann hat ein solches in Brunsbüttel vor ten gesundheitspolitisch engagiert, hält er der eigenen Haustür und Aschenberg-Du- für nachvollziehbar – schließlich sind die gnus ermuntert die Akteure im Gesund- meisten mit dem Arztberuf voll ausgefüllt heitswesen, diesen Gedanken stärker zu le- und können sich nach der Arbeit nicht mit ben und einzufordern. Sie hält es für uner- den oft komplexen gesundheitspolitischen lässlich, dass die Politik dafür die richtigen Problemen beschäftigen. Er persönlich kann den in der Gesundheitspolitik behan- »Das Sozialgesetzbuch V Rahmenbedingungen schafft. Dass sol- che Probleme auch nach Jahrzehnten noch delten Themen aber oft mehr abgewinnen, als Auseinandersetzungen zwischen Partei- en oder zwischen Politikern und Standes- hat ein kaum nicht gelöst sind, halten beide zwar für ent- täuschend, aber nicht für entmutigend. Trotz gemeinsamer Haltungen: Es politikern ahnen lassen. Mut gab beiden Gesprächspartnern, begreifbares Volumen gab auch unterschiedliche Auffassun- gen. Wo Herrmann sich mehr Aufklä- dass weder Politiker noch Standespoliti- ker vor Themen zurückschrecken, die Fort- schritte über die letzten Jahrzehnte nur er- angenommen.« rung und Information über politische Entscheidungsfindungen und Struktu- ren wünscht, kontert Aschenberg-Dugnus kennen lassen, wenn man sie im Zeit- PROF. H E N R I K H E R R M AN N mit der „Holschuld“, die auch für die Ak- raffer betrachtet. Zum Beispiel die Re- teure im Gesundheitswesen gilt. Konkret: gelungsdichte im Gesundheitswesen: Der Kammerpräsident hatte auf die im- Aschenberg-Dugnus nimmt die deutsche mer zahlreicheren Gremien und nicht im- Sozialgesetzgebung als oft undurchschau- mer transparenten Entscheidungswege im bar für Patienten und Akteure wahr, zum deutschen Gesundheitssystem verwiesen, Teil als verkrustet. „Nichts wird weniger“, die von Ärzten ohne Funktionen im Ge- sagt sie mit Blick auf einen häufig beschwo- sundheitswesen immer schwerer nachvoll- renen Abbau von Vorschriften und Rege- ziehbar seien. Als Beispiele nannte er die lungen. Entscheidungsfindungen etwa im Gemein- Für Herrmann hat das Sozialgesetz- samen Bundesausschuss (G-BA) oder im buch V inzwischen ein „kaum begreifbares Gesundheitsausschuss. „Ich wünsche mir, Fotos: SG / shutterstock designtools Volumen“ angenommen, das er als kaum dass man besser verfolgen könnte, wel- noch durchschaubar wahrnimmt. Beide che Argumente dort ausgetauscht werden“, wünschen sich, dass eine künftige Regie- sagte Herrmann. Aschenberg-Dugnus hält rung den Mut findet, diese Regelungsdich- es eher für eine Aufgabe der Institutionen te abzuflachen. Beiden ist bewusst, dass im Gesundheitswesen, diese Informatio- unter den derzeitigen Bedingungen und in nen zu ihren Mitgliedern zu transportie- den verbleibenden Monaten hieran aller- ren. dings genauso wenig gearbeitet wird wie Dirk Schnack
10 T I T E L T H E M A JA N UA R 2 0 2 1 Belebender Dialog KAMMER IN GESELLSCHAFT Thomas Stritzl kandi- diert für den Bundestag und will möglichst wieder in den Gesundheitsausschuss − dort hatte er bis 2017 schon eine Legislaturperiode hinter sich. Im Gespräch mit Prof. Henrik Herrmann verriet er, was ihn antreibt. E s war kein Sprung in eiskaltes Was- enten, wollte der Präsident wissen. Stritzl keiten hat, sich zu informieren“, steht für ser, als Thomas Stritzl 2013 ein Sitz nimmt das Verhältnis zwischen Patienten Stritzl fest. im Gesundheitsausschuss des Deut- und Ärzten weiterhin als von Abhängigkeit Ihn interessierte im Gespräch mit Herr- schen Bundestages angeboten wur- geprägt wahr, trotz aller vom Präsidenten mann u. a. die Frage, ob Ärzte ihre Ent- de. Immerhin verfügte der Jurist über geschilderten Bemühungen um gemein- scheidungen heute auf anderer Basis treffen, Erfahrungen u. a. als früherer Ge- schaftliche Entscheidungsfindungen und weil Patienten anders informiert sind. „Das schäftsführer der Kieler Schmerzkli- Begegnungen auf Augenhöhe. „Der Arzt kommt auf den Patienten an“, lautete die nik, als er in den Ausschuss kam. Stritzl war bleibt die Vertrauensperson und sein Ur- Antwort. Denn Ärzte seien weiterhin gefor- auch bewusst, dass Gesundheitspolitik da- teil hat für Patienten hohes Gewicht, auch dert, sich auf ihre Patienten und deren indi- mals nicht als erste Wahl oder als Karrie- wenn man heute ganz andere Möglich- viduelle Bedürfnisse einzustellen. Patienten re-Sprungbrett in Berlin galt. Aber ein frei- mit vermeintlich hohem Vorwissen kön- er Sitz war im Ausschuss zu besetzen – und nen falsch informiert sein und brauchen der Neuling im Bundestag griff zu. deshalb unter Umständen mehr Zeit, weil „Mit Gesundheitspolitik kann man sich nicht profilieren“ – diese Haltung unter vie- Kammer in Gesellschaft noch intensiver aufgeklärt werden muss und Missverständnisse ausgeräumt werden len Politikern war ihm damals bekannt. Die neue Serie des Schleswig-Holsteini- müssen. Andererseits könne das veränder- Stritzl konnte sich vier Jahre lang einar- schen Ärzteblattes bringt Mitglieder aus te Informationsverhalten auch dazu beitra- beiten, war die folgende Legislaturperiode Vorstand und Geschäftsführung der Ärz- gen, Patienten mit neuen Kommunikati- dann aber nicht mehr im Bundestag. Ge- tekammer Schleswig-Holstein mit Ver- onsmethoden mehr Wissen schneller oder sundheitspolitik hat er dennoch weiterver- tretern des gesellschaftlichen Lebens aus einfacher zu vermitteln. Einig waren sich folgt und möchte im Fall einer Wahl erneut Schleswig-Holstein zusammen. Dies Stritzl und Herrmann in der Einschätzung, in den Gesundheitsausschuss. Warum? sind zum Auftakt zwei Politiker aus un- dass das Gespräch zwischen Arzt und Pa- „Ich habe wenige Bereiche kennenge- serem Land, die im Gesundheitsaus- tient unerlässlich ist, Zeit braucht und ent- lernt, die so spannend sind. Aber auch kei- schuss des Deutschen Bundestages wa- sprechend honoriert werden muss. „Für die nen, der so kodifiziert ist. Jurist zu sein, ist ren (Thomas Stritzl) bzw. sind (Christi- sprechende Medizin muss es angemessene nie von Nachteil, das gilt auch im Gesund- ne Aschenberg-Dugnus) und die es beide Abrechnungsmöglichkeiten geben“, sagte heitswesen“, sagte Stritzl bei einem Besuch nach der nächsten Bundestagswahl wie- Stritzl. in der Ärztekammer Schleswig-Holstein, der sein möchten. Weitere Politiker an- Er bezeichnete sich zwar als Anhän- wo er sich erstmals mit Präsident Prof. derer Parteien und mit anderen Bezugs- ger des Kammersystems, nimmt aber in der Henrik Herrmann austauschte. punkten zur Gesundheitspolitik folgen Arbeit der Selbstverwaltung auch Defizi- Weitere Berührungspunkte mit dem im Laufe der Serie, die aber auch außer- te wahr. Zum einen in der Intensität, in der Gesundheitswesen pflegte Stritzl auch nach halb der Politik interessante Gesprächs- sich die Mitglieder einbringen. Hier ist aus Foto: shutterstock designtools seiner Zeit als Bundestagsabgeordneter, partner bieten wird. Geplant ist der Aus- seiner Sicht noch deutlich Luft nach oben. u. a. als Kreisvorsitzender des DRK in Kiel. tausch u. a. mit Vertretern verschiedener Zum anderen in der Art, wie sich die ge- Er verfolgt die hohe Dynamik der Gesetz- Religionen, mit Gewerkschaften, Arbeit- wählten Selbstverwaltungsorgane der Ärz- gebung, kennt die wirtschaftliche Kraft des geberverbänden, Umweltorganisationen te in die politische Diskussion einbrin- Gesundheitssektors, betont die Bedeutung und weiteren gesellschaftlich relevan- gen. „Es reicht nicht, immer nur dagegen der privaten Krankenversicherung. Was ten Gruppen, die eine Schnittmenge zur zu sein. Politik lebt von konstruktivem Mit- aber ist mit der täglichen Arbeit am Pati- ärztlichen Tätigkeit aufweisen. einander“, machte Stritzl deutlich. Und die-
JA N UA R 2 0 2 1 T I T E L T H E M A 11 Thomas Stritzl, der zurück in den Bundestag und den Gesundheitsausschuss möchte, im Gespräch in der Ärztekammer Schleswig- Holstein mit Kammerpräsident Prof. Henrik Herrmann. se Diskussionen erwartet er „im eigenen Haus“, also in den Gremien von Kammer, »Für die sprechende mit mehr Kapital und Personal ausgestattet werden müsse. Eine der wichtigsten Maß- KVen und weiteren Institutionen des Ge- sundheitswesens. Herrmann stimmte ihm zu, sieht die Medizin muss es nahmen aus ihrer Sicht: Die Ärzte im ÖGD müssen auf dem gleichen Niveau bezahlt werden wie ihre Kollegen in den Kranken- eigene Kammer allerdings auf einem gu- ten Weg. „Wir sagen nicht, dass etwas nicht angemessene häusern. Dann zeigt Stritzl mit einem überra- geht, sondern vielmehr, wie es gehen könn- te.“ Welche Folgen haben Veränderungen für die Gesellschaft und die Patientenver- Abrechnungsmög- schenden Vorschlag, was diesen Austausch so wertvoll macht: Er „denkt laut“ und ohne Anspruch auf ein fertiges Konzept sorgung, nicht nur für die eigene Klientel − diese Frage steht für Herrmann längst über lichkeiten geben.« darüber nach, ob und warum der ÖGD ei- gentlich in Trägerschaft der Kommunen ist vielen kammerinternen Diskussionen. THOMAS S TR I TZL und bleiben sollte. „Wir haben über Jahr- Was aber will Stritzl konkret als Ge- zehnte erlebt, dass das nicht überall wirk- sundheitspolitiker erreichen? Drei Punkte lich gut funktioniert hat. Warum ist der hob er heraus: ÖGD eigentlich nicht bei den Ärztekam- Die Sektorengrenzen durchlässiger ma- mern angesiedelt? Weiß eine Ärztekam- chen und eine bessere Zusammenarbeit mer nicht viel besser Bescheid als der Bür- forcieren. germeister oder der Landrat, wenn es um Das Nebeneinander von gesetzlicher und die gesundheitlichen Belange geht?“, frag- privater Krankenversicherung stärken. te Stritzl sich und den Präsidenten. Der at- Die Bedeutung der europäischen Phar- testierte dem überraschenden Vorschlag maindustrie neu definieren und Abhän- einen „gewissen Charme“ und freute sich, gigkeiten von der Produktion in Übersee dass neue Ideen so ungezwungen disku- abbauen. Damit einhergehen sollte aus tiert werden. Bei näherer Betrachtung seiner Sicht, dass die Gesellschaft die Ar- zeigte sich dann zwar, wie viele Hürden Fotos: SG / shutterstock designtools beit im Arzneimittelsektor nicht länger und Probleme mit einer solchen Verände- eher negativ und unter reinen Kostenas- rung verbunden wären und dass es keines- pekten betrachtet. wegs ausgemacht ist, ob dieser Wandel ein Als sich das Gespräch – in diesen Zeiten Vorteil für alle Seiten wäre. Aber beide wa- unvermeidlich – auch um die Folgen der ren sich einig: Solche Ideen beleben den Pandemie dreht, sind sich Herrmann und Dialog zwischen Politik und Selbstverwal- Stritzl schnell einig, dass der Öffentliche tung. Gesundheitsdienst (ÖGD) gestärkt und Dirk Schnack
12 G E S U N D H E I T S P O L I T I K JA N UA R 2 0 2 1 Mehr Depressionen, Ängste und Süchte COVID-19 Spezialeinrichtungen verzeichnen eine steigende Patien tenzahl wegen psychischer Belastungen. In den Hausarztpraxen in Schleswig-Holstein spielen Ängste wegen Covid-19 dagegen bislang keine große Rolle, weder bei den Patienten noch bei den Mitarbeitern. D ie Corona-Pandemie belastet die Psy- (siehe Interview Seite 15). „Menschen kön- potenziell toxischer Stressfaktor“ interpre- che der Menschen und wirkt sich auf nen Pandemien nicht sehr lange durchhal- tiert werden und zu einem steigenden aku- alle Ebenen aus – auf das Privatle- ten, psychische Störungen kommen dabei ten Bedarf an psychologischer Versorgung ben, den Beruf und die Gesellschaft. meist mit Verzögerung“, sagte Prof. Arno führen, so die Professorin. Darauf lassen vielfältige Befragun- Deister, Chefarzt des Zentrums für Psy Erstmals belastbare Zahlen hat die gen und Untersuchungen schlie- chosoziale Medizin am Klinikum Itzehoe, NAKO – die Nationale Kohorte, Deutsch- ßen, die seit Pandemiebeginn veröf- Ende November beim virtuellen Kongress lands größte Langzeitstudie, bei der rund fentlicht werden. Laut Forsa-Umfrage füh- der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie 200.000 Menschen 20 bis 30 Jahre zu Le- len sich fast 70 Prozent von 1.000 Befragten und Psychotherapie (DGPPN). Depressio- bensumständen und Krankheitsgeschich- emotional belastet, weil sie sich um die Ge- nen und posttraumatische Belastungssymp te befragt und medizinisch untersucht wer- sundheit von Angehörigen sorgen. 55 Pro- tome hätten in der Pandemie zugenom- den – Ende November geliefert. Im Früh- zent erklärten, sie litten unter Unsicherheit, men, Angst und Einsamkeit seien ebenfalls jahr hatte die NAKO eine Sonderbefra- wie es in den kommenden Monaten weiter- ein wesentliches Thema. Die Deutsche Ge- gung unter allen Studienteilnehmern zu geht. Die AOK meldet, dass psychische Er- sellschaft für Psychologie (DGP) befürch- den Belastungen der Pandemie durchge- krankungen in den ersten neun Monaten tet eine ähnliche Entwicklung. „Psychische führt, 114.000 Rückantworten flossen in die 2020 für 16,4 Prozent der Krankschreibun- Störungen haben eine längere Inkubations- Auswertung ein (Dtsch. Ärztebl. Int. 2020; gen verantwortlich seien, 0,6 Prozent mehr zeit. Auch wenn aktuelle Erhebungen noch 117:861-7). Der Anteil derjenigen Men- als im Vorjahr. Für die DAK hat das Institut den Eindruck erwecken, dass wir bislang schen, die moderate bis schwer ausgepräg- für Therapie- und Gesundheitsforschung in verhältnismäßig gut durch die Krise ge- te depressive Symptome aufweisen, die eine Kiel herausgefunden, dass Lehrer sich ak- kommen sind, erwarten wir in absehbarer klinische Relevanz nahelegen, stieg von tuell in der Schule stark belastet fühlen; ein Zeit einen deutlichen Anstieg insbesondere 6,4 auf 8,8 Prozent. Der selbst empfunde- Drittel hat Angst, zur Schule zu gehen, je- von Depressionen, Anpassungsstörungen, ne Stress nahm in allen Altersgruppen und der zweite befürchtet, sich bei Schülern an- Angststörungen, und Traumafolgestörun- Geschlechtern zu, vor allem in der Gruppe zustecken. Die Hans-Böckler-Stiftung hat gen“, erklärte Prof. Eva-Lotta Brakemei- der 30- bis 49-Jährigen, aber auch bei Äl- nach Auswertung der Angaben von 26.500 er von der Universität Greifswald. Die CO- teren. „Die Ergebnisse weisen darauf hin, Beschäftigten ermittelt, dass sich im No- VID-19-Pandemie könne – das lehren Er- dass sich im Frühjahr während der ersten vember 33 Prozent der Beschäftigten fürch- fahrungen mit früheren Pandemien und Welle der Pandemie die Ausprägung de- teten, sich bei der Arbeit oder auf dem Weg Krisen – als ein „neuer, einzigartiger und pressiver Symptome sowie von Angst und dahin mit dem Coronavirus zu infizieren; Stresssymptomen in der Bevölkerung ver- im Sommer waren es lediglich 25 Prozent. stärkt hat“, fasst Prof. Klaus Berger aus Und bei der Telefonseelsorge meldeten sich Münster, Sprecher einer NAKO-Experten- in der Hochphase im vergangenen Früh- jahr täglich 3.000 Menschen im Vergleich Info gruppe, zusammen. Laut Weltgesundheitsorganisation ist zu 2.500 in normalen Zeiten. Menschen, die bereits an einer psychi- dies ein weltweites Phänomen. Die Psy- „Uns fehlen die Evidenzen, um klare schen Erkrankung leiden, sind von der che sei ein „vergessener Aspekt von CO- Aussagen machen zu können“, sagt Prof. Pandemie besonders betroffen. So kön- VID-19“, sagte Dr. Devora Kestel, WHO- Kamila Jauch-Chara, Direktorin der Kli- nen sich etwa die Kontaktbeschränkun- Direktorin für psychische Gesundheit, bei Foto: Adobe Stock Maridav nik für Psychiatrie und Psychotherapie am gen, wie sie im Frühjahr und im Herbst einer virtuellen Pressekonferenz. „Die UKSH-Campus Kiel. Gleichwohl geht sie galten, für Menschen mit Depressio- Trauer um gestorbene Corona-Opfer, Ver- davon aus, „dass vermehrt psychische Er- nen verstärkend auswirken. Um Schübe einsamung, Einkommensverluste und krankungen auf uns zukommen werden, zu vermeiden, raten Experten zu einem Angst lösen psychische Erkrankungen aus vor allem Depressionen, Ängste, Somatisie- Aufrechterhalten der therapeutischen oder verschlimmern bereits bestehende Er- rungsstörungen und Suchterkrankungen“ Angebote. krankungen.“ Viele Menschen reagierten
JA N UA R 2 0 2 1 G E S U N D H E I T S P O L I T I K 13 auf ihre Probleme mit „erhöhtem Alkohol- re und ambulante Behandlungska- und Drogenkonsum, Schlaflosigkeit und pazitäten aufrechtzuerhalten und so- Angstzuständen“, so die Argentinierin. bald wie möglich wieder hochzufah- Dabei gibt es für jeden Einzelnen Mög- ren. „Weiterhin brauchen wir auch lichkeiten, besser mit der aktuellen Situati- mehr Wissen und Forschung zu be- on fertig zu werden. „An erster Stelle steht, stimmten psychischen Aspekten wie Gesundheit und Resilienz zu fördern. Das Suizidalität, Sucht und Aggressivi- gelingt durch eine feste Tagesstruktur und tät als Folge sozialer Isolation. Es ist eine gute Schlafhygiene. Gesund leben, ei- wichtig, Angebote zu entwickeln, die nen Tagesplan aufstellen und befolgen“, er- frühzeitig ansetzen und helfen, Sui- läutert die Kieler Psychiaterin Jauch-Cha- zide, Suchtentwicklungen und häus- ra. Zum anderen solle man soziale Bezie- liche Gewalt zu verhindern oder zu- hungen aufrechterhalten. Wenn das nicht mindest soweit wie möglich zu redu- physisch möglich sei, dann solle man alle zieren.“ modernen technischen Kommunikations- Und wie wirkt sich die Pande- möglichkeiten nutzen, um mit anderen mie auf die Beschäftigten im Ge- Menschen in Kontakt zu bleiben. Ein gu- sundheitswesen aus? Das Fachportal tes Stressmanagement sei ebenfalls emp- Medscape vermeldet in einem Re- fehlenswert. Auf den bekannten Video- port zu Burnout und Depressionen plattformen im Internet gebe es Anleitun- bei Ärzten, dass sich im Zusammen- gen zu Entspannungstechniken, zum Len- hang mit der Corona-Krise 55 Pro- ken der Aufmerksamkeit, zur progressiven zent der Ärzte mit Gefühlen „kör- Muskelentspannung. „Wichtig ist es auch, perlicher, emotionaler und mentaler auf persönliche Ressourcen zurückzugrei- Erschöpfung“ plagen. Viele Ärzte ga- fen. Was tut mir gut, was hilft mir? Persön- ben an, dass sie unter Schlafstörun- liche Stärken, Interessen und Hobbies soll- gen leiden, was die Erschöpfung und te man gerade in psychisch belasteten Pha- nervliche Belastung weiter verstärkt. sen nicht aus den Augen verlieren“, so die Bei jedem zweiten Arzt, der unter Klinikleiterin. Burnout-Symptomen leide, habe die Besonders betroffen von der Pandemie Corona-Pandemie zu einer weiteren sind psychisch erkrankte Menschen. Wer Verschlimmerung der persönlichen ohnehin depressiv ist, für den können sich Situation geführt. Hinzu kommt das Kontaktbeschränkungen krankheitsver- in Kliniken und Praxen erhöhte In- stärkend auswirken. Aus Angst vor Infek- fektionsrisiko: Bei der zuständigen tionen „hatten wir eine Zeitlang deutlich Berufsgenossenschaft BGW wurden weniger Patienten“, berichtet Jauch-Cha- bis Ende Oktober knapp 11.000 Ver- ra. „Wer sich aktuell in eine Behandlung dachtsfälle einer Corona-Infektion begibt, ist oft deutlich schwerer erkrankt. gemeldet, Arbeitsmediziner gehen Den Betreffenden geht es dann so schlecht, davon aus, dass Beschäftigte in Me- dass das Krankheitsmanagement zu Hau- dizin und Pflege ein etwa doppelt so se selbst unter besten Bedingungen nicht hohes Risiko haben, sich mit SARS- mehr funktioniert.“ Ganz wichtig sei es, CoV-2 zu infizieren. akute Krankheitsschübe schnellstmöglich All das geht an den meisten Be- zu stoppen. Dies gelinge am ehesten, wenn schäftigten im Gesundheitswesen das therapeutische Angebot weitgehend nicht spurlos vorüber. „Für diejeni- aufrecht erhalten bleibe, gegebenenfalls mit gen, die direkt am Patienten arbeiten Videosprechstunden oder am Telefon. und engen, auch körperlichen Kon- Dem stimmt DGPPN-Präsident Prof. takt haben, sind es besondere Zeiten“, Andreas Heinz aus der Berliner Charité zu. sagt Jauch-Chara. Viele von ihnen „Psychische Gesundheit ist im Umgang mit seien aktuell erheblich psychisch be- der Pandemie von entscheidender Bedeu- lastet, ersten Untersuchungen zu- tung. Und das nicht nur zur Stärkung der folge im Schnitt um etwa zehn Pro- Resilienz und Widerstandskräfte, sondern zentpunkte stärker als vorher. In al- auch wegen der großen Belastung, die so- ler Regel handele es sich jedoch um ziale Isolation für die Allgemeinbevölke- vorübergehende psychische Mehr- rung und insbesondere für Menschen mit belastungen und nicht um psychi- psychischen Erkrankungen darstellt.“ Zwi- sche Erkrankungen, so Jauch-Chara. schenmenschliche Begegnungen würden „Ganz wichtig ist es, die Ängste und Gesundheit stabilisieren; insofern sei es un- Sorgen im beruflichen Umfeld zu abdingbar, neben digitalen Behandlungs- thematisieren, in Teamsitzungen zu und Therapiemöglichkeiten auch stationä- besprechen, die in Kliniken häufig
14 G E S U N D H E I T S P O L I T I K JA N UA R 2 0 2 1 angebotenen Ansprechpartner auch tat- Tag mit einem erhöhten gesundheitli- sächlich zu kontaktieren. Zur Stressab- chen Risiko. „Es wird immer wieder Si- wehr gehört auch, die eigenen Grenzen tuationen geben, in denen zum Beispiel zu erkennen, sie zu akzeptieren und nö- ein Patient mit einer ansteckenden Tu- tigenfalls im Gespräch mit anderen dar- berkulose durch die Praxis läuft.“ Das auf hinzuweisen.“ sei allen bewusst und im beruflichen In den Hausarztpraxen in Schles- Alltag – selbst jetzt während der Pande- wig-Holstein scheint das Problem we- mie – in der Regel kein echtes Problem. niger verbreitet zu sein als in speziali- Auch auf die Angstproblematik ins- sierten Praxen oder in Kliniken. „Nein, gesamt hat Maurer aufgrund seiner täg- Ängste dieser Art sind unter den Mit- lichen Erfahrungen eine etwas ande- arbeiterinnen und Mitarbeitern prak- re Sicht. Ob in den Hausarztpraxen in tisch nicht vorhanden“, so Dr. Thomas Schleswig-Holstein seit Beginn der Co- Maurer aus dem nordfriesischen Leck, rona-Pandemie vermehrt Patienten der sich abseits der Sprechstunde täg- mit Ängsten und Depressionen in die lich mit seinem Team bespricht. Als Sprechstunden kommen? Für den Ver- Vorsitzender des Schleswig-Holsteini- bandsvorsitzenden ist die Antwort ein- schen Hausärzteverbandes tauscht sich deutig: Nein! „In der ganzen Zeit hat- Maurer darüber hinaus regelmäßig mit te ich persönlich nicht einen Patien- Kollegen im Land aus. Alle Praxen ha- ten, der gesagt hat, dass ihn Corona psy- ben gute Sicherheitskonzepte umge- chisch fertigmacht.“ Viele wollen sich setzt, Patientenströme werden beson- informieren, fragen den Arzt nach des- ders gelenkt, Schutzmaßnahmen wie sen Einschätzung, wie lange die Pande- Plexiglasscheiben am Tresen, Tragen ei- mie noch dauert oder wann ein Impf- nes Mund-Nasenschutzes, Wahrung der stoff kommt. „Aber kein einziger hat Abstandsregeln und regelmäßiges Des- konkrete Ängste aufgrund der pande- infizieren flächendeckend eingehalten. mischen Situation geäußert.“ Das lie- Grundsätzlich, so Maurer, leben alle Be- ge wahrscheinlich auch an der Klien- schäftigten in Arztpraxen seit Jahr und tel in Hausarztpraxen, so Maurer. Älte- re Menschen könnten mit konkreten Si- tuationen wie der Pandemie besser um- gehen; junge Leute, die häufiger genervt oder aggressiv wegen der persönlichen Einschränkungen seien, sehe man als Hausarzt eher weniger. Thomas Maurer hat sogar den Ein- druck, dass es aktuell weniger Patienten mit psychischen Problemen in der Pra- xis gebe, dass die Menschen der Situa- tion etwas Positives abgewinnen. „Bei vielen nimmt die Pandemie den Stress aus dem Alltag. Sie finden es gar nicht so schlimm, bei der Begrüßung nicht mehr jedem 'um den Hals fallen' oder in der Vorweihnachtszeit 'zu sieben ver- schiedenen Grünkohlessen' zu müs- sen.“ Wenn Patienten mit psychischen Problemen in der Praxis vorstellig wer- den, dann häufig wegen einer gefühlten Überforderung im Alltag und nicht mit einer klassischen Depression, so Mau- rer. „Diese Patienten kommen mor- gens nicht aus dem Bett, weil ihnen alles zu viel wird. Fragt man nach, stellt man schnell fest: Die haben einfach zu viel Foto: Adobe Stock Maridav um die Ohren. Für sie ist Corona wie ein Segen: Die Pandemie hat ihnen den Arbeits- und Freizeitstress genommen und das empfinden etliche Menschen als positiv.“ Uwe Groenewold
JA N UA R 2 0 2 1 G E S U N D H E I T S P O L I T I K 15 Gefühl des Kontrollverlustes INTERVIEW ZiP-Direktorin Prof. Kamila Jauch-Chara sprach mit unserem Mitarbeiter Uwe Groenewold über die Sorgen vor und die seelischen Folgen nach einer Covid-19-Erkrankung. Frau Prof. Jauch-Chara, was macht die den Eindruck, nach und nach die Kontrol- Prof. Kamila Jauch-Chara, Direktorin Pandemie mit uns Menschen? le auch über andere Bereiche des Lebens des Zentrums für integrative Psychiatrie Prof. Kamila Jauch-Chara: Sie belastet zu verlieren und stellen alles infrage. Jeder (ZiP) und der Klinik für Psychiatrie und uns, das ist ganz natürlich! Bedeutsam ist Mensch, der sich in extremen Situationen Psychotherapie, UKSH, Campus Kiel. der Übergang von der Belastung zur psy- befindet, die er nicht als bewältigbar dekla- chischen Erkrankung. Uns fehlen noch Evi- riert hat, schwebt in der Gefahr, eine psy- denzen, um endgültige Aussagen zu treffen. chische Erkrankung zu entwickeln. Viele Studien zu dem Thema laufen noch, chisch gehen diese Reaktionen unter an- wir machen aber klinische Beobachtungen Gibt es dafür ein neurobiologisches Kor- derem mit dem sogenannten Tunnelblick und haben indirekte Hinweise darauf, wel- relat? oder einem Gefühl des Kontrollverlustes che Folgen die Pandemie haben wird. Si- Jauch-Chara: Es gibt typische neuro- einher. cher scheint, dass vermehrt psychische Er- biologische Veränderungen bei der Ent- krankungen auf uns zukommen werden, wicklung von Ängsten und Depressionen. Bei älteren Menschen scheint dies seltener vor allem Depressionen, Ängste, Somatisie- Insbesondere kommt es zu einer Hyperak- der Fall zu sein. Hat das Leben sie gegen rungsstörungen und Suchterkrankungen. tivität der Amygdala. Die Amygdala ist Teil Stress geimpft? des limbischen Systems und für die Emoti- Jauch-Chara: Eine interessante Beob- Woran liegt das? onsverarbeitung zuständig. Auch die Gene achtung, viele ältere Menschen scheinen Jauch-Chara: All diesen Erkrankun- spielen hierbei eine Rolle. Wir wissen aus die Pandemiezeit psychisch gut zu über- gen ist gemein, dass sie die Folge von Stress verschiedenen Untersuchungen, dass in stehen. Resilienz hängt von unterschiedli- sind. Stress führt zu Einschränkungen im jungen Jahren erlebte Krisen und schwere chen Faktoren ab: 1. Von den Vorerfahrun- Alltag. Wer sich unbehaglich, unsicher Schicksalsschläge einen Einfluss darauf ha- gen, ob jemand schon früher in der Lage fühlt, zieht sich zurück, macht weniger po- ben, ob Menschen mit genetischer Prädis- gewesen ist, schwierige Situationen gut zu sitive Erfahrungen und wird freudloser; position später auf größere Krisen mit einer meistern. 2. Vom Optimismus, vom Glau- das können bereits erste Schritte auf dem psychischen Erkrankung antworten. Men- ben, eine Krise ist zeitlich begrenzt und Weg in eine depressive Störung sein. Wenn schen, die in ihrer Kindheit viele negative lässt sich überwinden. 3. Von der Akzep- es nicht gelingt, die innere Anspannung zu Erfahrungen gemacht haben, neigen zu ei- tanz, sich zum Beispiel nicht über Dinge reduzieren und wir uns permanent auf das ner Überaktivierung der Amygdala und re- aufzuregen, die man nicht ändern kann. All belastende Gefühl und die damit einherge- agieren auf schwierige Situationen mit ei- das gelingt älteren Menschen aufgrund ih- henden körperlichen Symptome konzent- ner Aktivierung des Angstnetzwerkes und rer Lebenserfahrung offensichtlich besser rieren, können sich Ängste und Panikatta- somit sehr emotional. als jüngeren. cken manifestieren, die in eine psychiatri- sche Diagnose münden. Die Logik wird also ausgeblendet? Haben Sie abschließend einen guten Rat Jauch-Chara: Richtig, logisches Den- für uns alle? Können schlimme Ereignisse – aktuell ken wird vom präfrontalen Kortex gesteu- Jauch-Chara: Die aktuelle Phase ist eine denkt man an den Terror von rechts oder ert, welcher normalerweise inhibitorisch Zeit der Kompromisse. Schwierige Situati- die zurückliegenden Wahlen in den USA – auf die Amygdala wirkt. Reagiert diese al- onen lassen sich besser bewältigen, wenn Symptome und Erkrankungen auslösen? lerdings über, kommt es zu einer massi- man das Unabänderliche akzeptiert und Jauch-Chara: Ja, das ist möglich. Sol- ven Aktivierung des vegetativen Nerven- den Blick darauf richtet, was man tun kann, chen Belastungen ist gemein, dass sich der systems und zur vermehrten Ausschüttung um das Beste aus und in der Situation zu Mensch der eigenen Einschätzung nach in des Stresshormons Kortisol. Beides führt machen. Eine Portion Optimismus ist im- einer unkontrollierbaren und unbeherrsch- zur Fokussierung der Wahrnehmung auf mer angebracht, denn irgendwann ist die Foto: UKSH baren Situation befindet. Das schürt auf die Gefahr, Erhöhung des Blutdrucks und Krise vorbei. Dauer Unsicherheit, die Betroffenen haben Veränderung der Atmungsfrequenz. Psy- Vielen Dank für das Gespräch.
16 G E S U N D H E I T S P O L I T I K JA N UA R 2 0 2 1 Neues Gesetz erfüllt nicht alle Wünsche KLINIKEN Der Landtag hat ein Landeskrankenhausgesetz verab schiedet. Ziel ist eine höhere Versorgungssicherheit. Land bekommt mehr Gestaltungsspielraum. Ärztekammer ohne Stimmrecht. A ls letztes Bundesland hat nun auch ausgeschöpft und „eigene Akzente gesetzt“, mann ist das nicht genug: „Mit abstimmen Schleswig-Holstein ein Kranken so Garg. zu dürfen hat den ungleich höheren Wert. hausgesetz: Der Landtag beschloss „Eine never-ending-Story ist endlich be- Übertragen auf die Politik ist es, als hätte den Text bei seiner Sitzung im De- endet“, freute sich der SPD-Abgeordnete eine Partei nicht den Einzug ins Parlament zember. Das Gesetz gibt der Politik Bernd Heinemann angesichts der jahrelan- geschafft, sondern müsse von draußen zu- mehr Einfluss, es soll Patientenrechte gen Entstehungsgeschichte des Gesetzes. schauen.“ Die aktuelle Besetzung der Run- stärken und die Versorgungssicher- Wesentlich mehr Lob gab es von der Oppo- de sei „geldgesteuert“, kritisierte Herrmann: heit verbessern. Aus Sicht der Ärztekammer sition nicht: „Die Chance ist vertan, mehr „Nur wer Mittel zu vergeben hat oder entge- bleibt jedoch ein großer Mangel: Im Lan- für Patientenrechte und das Personal zu gennimmt, ist dabei.“ Entsprechend würde deskrankenhausausschuss, dem zentralen tun“, sagte Heinemann. Unter anderem be- eine „Geschäftsführer-Perspektive“ über- Mitwirkungsgremium, hat die Ärztekam- mängelte der SPD-Gesundheitsexperte das wiegen. Die ärztliche Kompetenz und Er- mer kein Stimmrecht. Hygienekonzept, mit dem nach seiner An- fahrung fehle. „Der Zug ist abgefahren, wir In 45 Paragrafen beschreibt das Ge- sicht nicht genug gegen die Ausbreitung müssen das so hinnehmen, aber ich bin ent- setz, wie künftig die Planung und die Förde- von multiresistenten Keimen unternom- täuscht“, sagt Herrmann. Auch aus der Ärz- rung ablaufen, aber auch, welche Pflichten men wird. Auch Kinderschutz sei nicht fest- teschaft höre er Unverständnis und Enttäu- die Krankenhäuser haben. Das betrifft un- geschrieben. Im Bereich des Entlassungs- schung über die Entscheidung. ter anderem die Aufnahme von Notfallpa- managements fehlte Heinemann die Ver- Zum Beispiel vom Landesverband des tienten und die Zusammenarbeit mit dem bindlichkeit, etwa durch mehr Kurzzeitpfle- Marburger Bundes (MB). Dessen Landes- Rettungsdienst sowie Personen mit beson- ge, in die Patienten nach einem stationären vorsitzender Michael Wessendorf sah nach derem Betreuungsbedarf, zu denen Kin- Aufenthalt wechseln könnten. Entstanden der Verabschiedung eine „Chance vertan, der und Jugendliche, Menschen mit Behin- sei ein „Rumpfgesetz“, das auf Bundesrats- ärztlichen Sachverstand mit einzubeziehen“ derung, Demenzerkrankte sowie Sterbende Initiativen verweise, statt Dinge selbst zu re- und sprach von einem „Demotivationspro- zählen. Für sie sollen erweiterte Besuchszei- geln. gramm“ für Ärzte. Auch die Pflegeberufe- ten gelten, Begleitpersonen sollen mit auf- Dr. Marret Bohn, gesundheitspolitische kammer hätte gerne einen Sitz mit Stimm- genommen werden. Sprecherin der Grünen, widersprach: Vie- recht gehabt. Bei ihr überwogen dennoch „Das Land erhält mehr Gestaltungsmög- le der kritisierten Punkte, von Kinderschutz die Vorteile, etwa die gesetzliche Gleichstel- lichkeiten, aber auch mehr Gestaltungs- bis Kampf gegen die Klinikkeime, stünden lung der Pflegeleitung mit ärztlicher und verantwortung“, sagte Gesundheitsminis- „sehr wohl“ im Gesetz. Jamaika habe wichti- wirtschaftlicher Leitung in den Kliniken. ter Dr. rer. pol. Heiner Garg im Landtag. So ge Fragen geregelt, unter anderem zur Ver- Dennys Bornhöft (FDP) ging im Land- kann die Regierung künftig die Kliniken be- sorgung der Menschen auf den Halligen tag auf die Streitfrage ein: „Es wurde viel nennen, die schwerpunktmäßig bestimmte und Inseln. Am Ende stimmten die Jamai- über die Zusammensetzung der Beteiligten- Krankheiten behandeln sollen, etwa Schlag- ka-Fraktionen und die AfD-Vertreter für, runde diskutiert, viele Gruppen meldeten anfälle. Auf diese Weise kann die Politik SPD und SSW gegen das Gesetz. ihren Anspruch auf einen Sitz an.“ Wenn „darauf hinwirken“, dass sich Zentren bil- Ein Streitpunkt während der Anhörun- eine Kammer oder Fachgesellschaft aufge- den, die dann entsprechende hohe Behand- gen im Gesundheitsausschuss war die Frage, nommen worden wäre, hätten auch ande- lungsfallzahlen vorweisen können. Ein wei- wer dem Krankenhausausschuss angehö- re mit an den Tisch geholt werden müssen, terer, aus Sicht des Ministeriums wesentli- ren sollte. Aus Gargs Sicht sind „alle Akteu- aber „die Runde sollte nicht größer werden cher Punkt ist, dass es mit dem Landeskran- rinnen und Akteure im Gremium vertreten“. als ein Kreistag“. Alle Vertreter des Jamai- kenhausgesetz erstmals eine Rechtsaufsicht Prof. Henrik Herrmann sieht das anders: ka-Bündnisses erklärten aber, dass es nun über die Krankenhäuser in Schleswig-Hol- Der Präsident der Ärztekammer Schleswig- auf den Praxistest ankommt: „Wir sind uns stein geben wird. Die Schwierigkeit des Ge- Holstein hatte sich seit Beginn der Beratun- einig, dass die Umsetzung sehr genau im setzes sei, dass Bundesregelungen des So- gen dafür eingesetzt, dass die Kammer Sitz Blick behalten wird, um eventuelle Nach- zialgesetzbuchs V und der Entgeltverord- und Stimme erhält. Dieses Ziel wurde nicht besserungen vornehmen zu können“, so nung betroffen seien. Den „engen Rahmen“ erreicht. Ärztekammer und Pflegeberufe- Hans Hinrich Neve (CDU). zwischen diesen Regelungen habe das Land kammer sind nur beratend dabei. Für Herr- Esther Geisslinger
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