Grenzerfahrung - Ärztekammer Schleswig-Holstein

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Grenzerfahrung - Ärztekammer Schleswig-Holstein
Nr. 1
                                              Januar 2021
                                              74. Jahrgang

                                              Herausgegeben von
                                              der Ärztekammer
                                              Schleswig-Holstein

Grenzerfahrung
Ängste, Depressionen und weitere Folgen der
Pandemie belasten Patienten und Ärzte.
Seiten 12 – 15

Gesellschaft
Die Ärztekammer im Dialog.
Seiten 8 – 11

Impfen
Wie halten es die
Ärzte im Land?
Seiten 18 – 21
Grenzerfahrung - Ärztekammer Schleswig-Holstein
E
                                                                                      N T A K T IE R E N  S IE U N S F Ü R E IN
                                            E IM  N O R D E N  E R R E IC H E N . K O                         L A T T E R S C H E IN T.
                              L L E Ä R Z T                                             CHE    N  Ä R Z T E B
                     E IG E A                                     IG -H O L S T E IN IS
 M IT E IN E R A N Z                          D IM  S C H L E S W
      IG E , D IE IM  H AMBURGER UN
ANZE

                                                                                                                                   Fotos: axelbueckert / photocase.de · FloKu. / photocase.de

                                                                                                                                                                                                Anzeige

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Grenzerfahrung - Ärztekammer Schleswig-Holstein
JA N UA R 2 0 2 1                                                                                                 EDITORIAL 3

             Beruf und Berufung
             Viele stellen sich die Frage, was das neue Jahr mit sich bringt. Die Corona-Pandemie
             wird uns weiter intensiv beschäftigen, auch wenn mit der Impfung eine präventive
             Therapie zur Verfügung steht und die ersten Erfahrungen damit gesammelt werden
             (Seite 18). Eine erneute riesige logistische Herausforderung für unsere Profession und
             für das Gesundheitswesen. Einmal mehr zeigt sich, dass die ärztliche Selbstverwal-
             tung unverzichtbar ist, sei es in der Mobilisation von Ärztinnen und Ärzten auch aus
             dem Ruhestand heraus, sei es in der Besetzung der Impfzentren mit kompetenten
             Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, sei es in der Schulung und Qualifizierung. Die
             Bereitschaft zum Helfen ist bewundernswert und – vor dem Hintergrund unserer
             Werte und Haltungen – zugleich für viele von uns selbstverständlich.

             Doch auch nach Überwindung der Pandemie werden wir noch lange mit den Folgen
             konfrontiert werden. Neben ökonomischen und gesellschaftlichen Aspekten werden
                                                                                                      Prof. Henrik Herrmann ist
             gesundheitliche Problematiken auf uns zukommen. Die psychischen Belastungen
                                                                                                      seit 2018 Präsident der
             durch die Pandemie sind enorm und haben Einfluss auf die Gesundheit, allerdings
                                                                                                      Ärztekammer Schleswig-Holstein.
             mit einer Latenzzeit (Seite 12). Die Auswirkungen sind noch unklar, da natürlich noch
             keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu vorliegen können. Die ersten
             Anzeichen werden bereits beschrieben und deuten auf eine weitere Herausforderung
             im Rahmen der Pandemie hin. Dabei muss auch das psychische Befinden der
             Beschäftigten im Gesundheitswesen mehr Beachtung finden, denn sie sind durch
             ihren Einsatz während der Pandemie im ambulanten und stationären Bereich an die
             Grenzen der physischen, mentalen und emotionalen Belastbarkeit gekommen.

                                                                                                      »Die Beschäftigten im
             Dass es neben Covid-19 auch andere Infektionskrankheiten gibt, die uns täglich
             herausfordern, zeigt der Bericht zur Endokarditis-Konferenz (Seite 22). Infektiologi-
             sche Krankheitsbilder bieten sich besonders für ein interdisziplinäres Vorgehen an.
             Vor diesem Hintergrund sind auch Überlegungen zu sehen, eine vertiefende Fach-
             arztkompetenz im Rahmen der Infektiologie zu schaffen. Die Weiterbildungsgremien
             auf Bundesebene beraten dazu zurzeit, eine Entscheidung könnte auf dem nächsten
                                                                                                        Gesundheitswesen
             Deutschen Ärztetag fallen.
                                                                                                        sind während der
             Es stellt sich fast die Frage, ob es neben den Infektionen noch andere Themen im
             Gesundheitswesen gibt. An dieser Stelle bringt die Ärztekammer eine neue Serie auf
             den Weg: Kammer in Gesellschaft (Seite 8). Mitglieder aus Vorstand und Geschäfts-
                                                                                                        Pandemie an die
             führung werden sich mit Vertretern aus Politik und Gesellschaft austauschen, die
             Schnittmengen zur ärztlichen Profession haben. Dieser Austausch auch mit Gruppen,          Grenze der Belast-
                                                                                                        barkeit gekommen.«
             die sonst nicht im Fokus des Gesundheitswesens stehen, ermöglicht uns, ärztliche
             Positionen zu verdeutlichen und Themen voranzubringen. Neues Jahr, neues Format –
             hoffen wir auf ein gutes Jahr!

             Freundliche Grüße
             Ihr

             Prof. Henrik Herrmann
Foto: ÄKSH

             Präsident
Grenzerfahrung - Ärztekammer Schleswig-Holstein
4 I N H A LT                                                                                                                 JA N UA R 2 0 2 1

188                                         36                                            22

                                            38
 16                                         24                                            34

Inhalt
NAC HRICHT EN                           6   Wie halten es die Ärzte in Schleswig-        PE R SO N AL I A                                38
Kurz notiert                           6    Holstein mit der Impfung?               18
Lübecker Ampel gibt Hilfestellung      6    Endokarditis-Konferenz am UKSH          22   MI T T E I L U N G E N D E R ÄR Z T EKAMMER 40
Lohfert-Preis ausgeschrieben           6    Flensburger Projekt ausgezeichnet       24
                                                                                         Datenaustausch zur Fortbildung                  40
Corona Warnarmband in Testphase        7    Train the Trainer für die Weiterbildung 26
                                                                                         Serie: Die Kreisausschüsse der
Kurz notiert                           7    Modell für die berufsbegleitende             Ärztekammer                                     41
                                            Zusatzweiterbildung                     27   Termine                                         42
T I TE LTHEM A                          8   Ungewisse Zukunft für die Medizinische       Kammer vergibt Stipendium                       43
                                                                                                                                                 Fotos: Adobe Stock Alexander Raths / J. Haacks, Uni Kiel / Di /

                                            Klinik Borstel                          28
Kammer in Gesellschaft: Prof. Henrik
                                            Medizinstudium ohne Präsenz             30   MI T T E I L U N G E N D E R KVSH               44
Herrmann im Gespräch mit Christine
Aschenberg-Dugnus und Thomas Stritzl 8
                                            RECHT                                  32
                                                                                         AN Z E I G E N                                  46
GES UN DHEIT S P O LIT IK             12    Schlichtungsfall                       32
Mehr Depressionen, Ängste und Süchte                                                     T E L E F O N VE R Z E I CH N I S/I MPRESSUM 50
                                                                                                                                                 Titelbild: Adobe Stock Maridav

                                            M E D I Z I N & WI SSE N SCH AF T      33
                                                                                                                                                 Städtisches Krankenhaus Kiel

als Folge der Pandemie                 12
Interview mit Prof. Kamila Jauch-Chara 15   Neues Herzklappen-Reparatursystem 33
Schleswig-Holstein hat erstmals ein         Nord-Unis sind in Forschungsverbünde
Landeskrankenhausgesetz                16   zu Covid-19 eingebunden              34
Kommunen kümmern sich um                    Welche Rolle spielt das Immungedächtnis
niedergelassene Ärzte                  17   bei Covid-19?                        36
Grenzerfahrung - Ärztekammer Schleswig-Holstein
JA N UA R 2 0 2 1                                                                                               I N H A LT 5

                      28

                    Gesucht: Zukunftskonzept für das „Juwel“ Borstel
Festgehalten        In diesem Jahr wird über die Zukunft der Medizinischen Klinik Borstel entschieden. Bund und Land
von Dirk Schnack    haben als Träger der Stiftung Borstel das Direktorium beauftragt, bis Ende 2021 ein Konzept zu entwi-
                    ckeln, um durch strategische Partnerschaften Forschung und Krankenversorgung in enger Kooperation
                    mit dem Forschungszentrum zu sichern. Die Verantwortlichen um den Medizinischen Direktor Prof.
                    Christoph Lange (Foto) arbeiten daran, dass Forschung und Krankenversorgung im Gesamtpaket
                    bestehen bleiben. Zentrumsdirektor Prof. Stefan Ehlers spricht von einem „Juwel“, das erhalten werden
                    sollte.
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6 NEWS                                                                                                                      JA N UA R 2 0 2 1

                                                           Lübecker Ampel: Anleitung für Kranken-
KURZ NOTIERT                                               häuser und Pflegeeinrichtungen
Leid und Unrecht künstlerisch

                                                           D
                                                               ie Corona-Pandemie hat von Be-       dort die Ampel auf Rot, unabhängig
aufgearbeitet                                                  ginn an die Gesundheitsversor-       von der regionalen Bewertung.
Viele Menschen, die von 1949 bis 1975 als Kinder und Ju-       gung unter Druck gesetzt. Die            Aus der Ampelfarbe ergeben sich
gendliche in Einrichtungen der Behindertenhilfe, der           Maßnahmen verunsichern viele         einrichtungsspezifische Maßgaben,
Kinder- und Jugendpsychiatrie oder der Jugendfürsorge      Einrichtungen und werfen oft ethi-       die etwa den Fahrdienst, Besuchs-
untergebracht waren, haben Leid und Unrecht erfahren.      sche Grundsatzfragen auf: Was hat        regelungen, den Umfang der Test-
Dazu gehörten u. a. Medikamentenversuche, Gewalt und       Vorrang – der Schutz einer vulnera-      und Hygienemaßnahmen sowie den
Erniedrigung. Um daran zu erinnern, hatte das Sozial-      blen Gruppe vor Infektionen oder         Grad der Zugangsbeschränkungen
ministerium in Zusammenarbeit mit der Muthesius            die Vermeidung von Isolation sowie       betreffen.
Kunsthochschule und dem Landesverband Bildender            die Respektierung von Freiheitsrech-         Entstanden ist das Konzept im
Künstler den Kunstwettbewerb „Skulptur Leid und Un-        ten und Selbstbestimmung? Um sol-        Rahmen des „Gesundheitsnetz-
recht“ ins Leben gerufen. Der Preis wird durch die Stif-   chen Fragen die Komplexität zu neh-      werks COVID-19 in HL“. Seit Mit-
tung Anerkennung und Hilfe gefördert. Künstler aus         men und trotzdem angemessen auf          te des Jahres beschäftigt sich dort
Schleswig-Holstein waren aufgerufen, Entwürfe einzu-       das Infektionsgeschehen reagieren        eine Arbeitsgruppe mit der lokalen
reichen, die an das Schicksal der Betroffenen erinnern     zu können, haben Lübecker Akteu-         Anwendbarkeit von Vorgaben von
und die historische Verantwortung dafür zum Ausdruck       re der Gesundheitsversorgung eine        Bund, Land, Stadt und Robert Koch-
bringen.                                                   Handlungsanleitung für Gesund-           Institut. Aktuell können die Einrich-
Den ersten Platz des Wettbewerbs belegte Susan Walke       heitseinrichtungen in der Corona-        tungen das Konzept freiwillig nut-
für ihren Entwurf „Leid und Unrecht 2020“. Die Skulp-      Situation erarbeitet: das Lübecker       zen. Die Einschätzung der Ampel-
tur thematisiert das Leid der Betroffenen und das man-     Ampelsystem (L.A.S.).                    farben liegt im Verantwortungsbe-
gelnde Interesse der Gesellschaft an den Zuständen in          Das Konzept sieht vor, dass ein      reich des jeweiligen Gesundheits-
den Einrichtungen. Der systematische Missbrauch wird       Fachgremium anhand mehrerer Kri-         amtes und liegt derzeit dem Kieler
durch Aktenordner symbolisiert, die als visualisierte      terien entscheidet, welche Ampelfar-     Gesundheitsministerium sowie wei-
Grundlage für Leid und Unrecht in staatlichen, kirchli-    be in einer Stadt oder einem Land-       teren politischen Akteuren vor Ort
chen und privaten Einrichtungen, abgeheftet in Akten-      kreis gilt. An die jeweilige Ampel-      vor. Weitere Informationen auf der
ordnern, dienen. Auf dieser Basis steht das Gebäude        farbe sind konkrete Maßnahmen ge-        Homepage des Netzwerks unter:
ohne Dach, Türen und Fenster symbolhaft für Schutz-        knüpft. Wird in einer Einrichtung ein    www.ethik-netzwerk.de/ampelsys-
und Aussichtslosigkeit für Betroffene. Es macht die Ent-   lokaler Ausbruch festgestellt, springt   tem. (pm/red)
individualisierung der Opfer deutlich. (pm/red)

                            Die Gewinnerskulptur von       Lohfert-Preis 2021 ausgeschrieben
                            Susan Walke soll zunächst

                                                           P
                            an verschiedenen Orten             atient im Mittelpunkt: Integrier-    orientierte, qualitätsverbessernde
                            in Schleswig-Holstein und          te Therapiekonzepte und Ver-         Impulse beinhalten sowie idealer-
                            später an einem festen Ort         sorgungsformen der Zukunft –         weise einen Bezug zur stationären
                            aufgestellt werden.                so lautet das Ausschreibungs-        Versorgung aufweisen. Entspre-
                                                           thema für den Lohfert-Preis 2021.        chende Projekte, die einen Bei-
                                                           Schirmherrin des mit 20.000 Euro         trag zur Bewältigung der Corona-
                                                           dotierten Förderpreises ist Dr. Re-      krise leisten, sind ausdrücklich er-
                                                           gina Klakow-Franck, stellvertre-         wünscht, jedoch keine Vorausset-
                                                           tende Leiterin des IQTIG – Institut      zung.
                                                           für Qualitätssicherung und Trans-            Bewerben können sich alle Teil-
                                                           parenz im Gesundheitswesen. Be-          nehmer der Krankenversorgung
                                                           werbungen werden noch bis 28. Fe-        im deutschsprachigen Raum so-
                                                           bruar 2021 online entgegengenom-         wie Management- und Beratungs-
                                                           men.                                     gesellschaften, Krankenkassen oder
                                                                Der Lohfert-Preis prämiert pra-     sonstige Experten. Die Bewerbung
                                                           xiserprobte und nachhaltige Kon-         muss in deutscher Sprache verfasst
                                                           zepte, die den Patienten, seine Be-      und online eingereicht werden. Be-
                                                                                                                                                 Foto: Susan Walke VG Bild-Kunst

                                                           dürfnisse und Interessen in den          werbungen werden ausschließlich
                                                           Mittelpunkt rücken. Gesucht wer-         über das Online-Bewerbungsfor-
                                                           den Best-Practice-Projekte, die be-      mular (https://bit.ly/3283M1o) un-
                                                           reits implementiert sind und deren       ter www.christophlohfert-stiftung.
                                                           Nutzen wissenschaftlich evaluiert        de angenommen. Die Stiftung ver-
                                                           wurde. Das Konzept soll grundle-         leiht den Preis im September. (pm/
                                                           gend neue Ansätze und patienten-         red)
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JA N UA R 2 0 2 1                                                                                                               NEWS 7

                           Armband als Alternative zur Corona-Warn-App

                           E
                              in an der Kieler Universität ent-
                              wickeltes Corona-Warnarmband
                              wird seit Mitte Dezember getes-
                              tet. 1.000 Kieler aus Pflegeeinrich-
                           tungen tragen die Armbänder für
                           drei Monate. Die Entwickler sehen
                           in dem Armband eine Alternative
                           zur Corona-Warn-App, die nicht auf
                           allen Smartphones läuft. Es soll ana-
                           log zu der von der Bundesregierung
                           empfohlenen App funktionieren.
                               Via Bluetooth-Chip korrespon-
                           diert es mit anderen Warnarmbän-
                           dern und Smartphones, auf denen
                           die Anwendung aktiv ist. In den
                           Pflegeeinrichtungen werden Basis-
                           stationen mit Internetverbindung
                           aufgebaut, die die Kontaktnachver-
                           folgung gewährleisten. Kommt ein
                           Träger des Armbands in die Nähe
                           der Station, werden die Daten ausge-
                           tauscht. Bei einer Risikobegegnung
                           blinkt ein LED-Licht am Armband           Kompatibel mit der Corona-Warn-App: Das in Kiel entwickelte Warnarmband nutzt Bluetooth
                           auf. (pm/red)                             für den Datenaustausch.

                           KURZ NOTIERT
                           Bvmd ist auf Spenden angewiesen
                           Die Coronakrise hat viele Vereine in Deutschland schwer getrof-       Nach Angaben der Universität sind allein in der Lübecker Regi-
                           fen, so auch die Bundesvertretung der Medizinstudierenden in          on 42.000 Menschen betroffen. Die länderübergreifende Zusam-
                           Deutschland e.V. (bvmd). Sie vertritt die Interessen der knapp        menarbeit ermöglicht, die Daten auf Basis einer größeren Testpo-
                           100.000 Medizinstudierenden in Deutschland und setzt sich u. a.       pulation in unterschiedlichen Umgebungen zu validieren, was den
                           für gute medizinische Ausbildung und Gesundheitsversorgung            Präzisionsgrad der App erhöht. Die App ist derzeit in einer ersten
                           und für ehrenamtliche Projekte ein. Aufgrund der geltenden Be-        Version im Probebetrieb an 50 Patienten. (pm/red)
                           schränkungen in der Coronakrise sind viele Einnahmequellen des
                           Vereins entfallen, während Kosten etwa für Miete weiterhin an-
                           fallen. Ende des Jahres machte der Verein auf die Möglichkeit auf-    Dosierungsangaben auf Rezept beachten
                           merksam, „dass der bvmd diese Krise nicht gut übersteht und wir       Seit November sind Ärzte verpflichtet, bei der Verordnung von
                           unsere Aktivitäten und Unterstützungen noch weiter herunterfah-       verschreibungspflichtigen Arzneimitteln die jeweilige Dosierung
                           ren müssen, um der Insolvenz zu entgehen“. Verbunden wurde            auf dem Rezept anzugeben. Trotz Informationen durch Ärzte-
                           dies mit der Bitte um Spenden für den Verein. Weitere Infos auf       und Apothekerorganisationen berichten Inhaber von Apotheken
                           der Website www.bvmd.de. (pm/red)                                     in Hamburg und Schleswig-Holstein, dass viele vorgelegte Rezep-
                                                                                                 te die erforderlichen Dosierungsangaben nicht, nicht vollständig
                                                                                                 oder falsch enthalten. Apotheker sind in solchen Fällen verpflich-
                           App für AMD-Patienten                                                 tet, das Rezept zurückzuschicken oder den Arzt zu kontaktieren,
                           Ein deutsch-dänisches Medizinprojekt mit Ärzten aus Lübeck,           was mit viel Aufwand für beide Seiten verbunden ist. Die Apothe-
                           Roskilde und Koge setzt auf eine Früherkennung der altersbe-          kervereine in beiden Bundesländern sprechen von einem „kaum
                           dingten Makula-Degeneration (AMD) per App. Dr. Mahdy Ranj­            praktikablen und zumutbaren Umstand“ – immerhin wurden
                           bar, Oberarzt in Lübeck und dort Leiter der Studie, erwartet vom      2019 bundesweit 878 Millionen Arzneimittelpackungen ärztlich
Foto: © Benjamin Walczak

                           Einsatz der App Vorteile für die Betroffenen: „Sie stärkt den auto-   verordnet.
                           nomen Umgang mit der Erkrankung. Sie macht es einfacher, die          Deshalb bitten die Apotheker in Hamburg und Schleswig-Hol-
                           Entwicklung der Krankheit einzuschätzen, damit man zur rech-          stein die verordnenden Ärzte, die geänderten Vorschriften zur
                           ten Zeit behandelt werden kann. Und schließlich bringt diese di-      Ausstellung von Verordnungen und insbesondere die Pflichtanga-
                           gitale Früherkennungsmöglichkeit Vorteile für die Patienten, die      ben zur Dosierung zu beachten. Die Neuregelungen finden sich in
                           in ländlichen Räumen sehr lange Wege zum Facharzt haben.“             der Arzneimittelverschreibungsverordnung. (pm/red)
Grenzerfahrung - Ärztekammer Schleswig-Holstein
8 T I T E LT H E M A                                                                                                     JA N UA R 2 0 2 1

                                                    Nah am Menschen
                                                    KAMMER IN GESELLSCHAFT           Unter diesem Motto spricht
                                                    die Ärztekammer mit Vertretern aus Institutionen und
                                                    Verbänden unserer Gesellschaft, die Schnittmengen zur ärzt-
                                                    lichen Arbeit haben. Zum Auftakt traf sich Kammerpräsident
                                                    Prof. Henrik Herrmann mit zwei Gesundheitspolitikern.

Z
       wischen Politik und Standespoli-
       tik wird oft gestritten, gefordert und
       zugespitzt. Als Christine Aschen-
       berg-Dugnus (FDP) und Prof. Hen-
       rik Herrmann sich kürzlich erstmals
       zu einem persönlichen Gespräch tref-
       fen konnten, war das anders. Im Kieler
Büro des FDP-Landesverbandes nahm sich
 die Politikerin, die seit Beginn der Legis-
 laturperiode Mitglied im Gesundheitsaus-
 schuss des Bundestages und gesundheits-
politische Sprecherin ihrer Bundestagsfrak-
tion ist, viel Zeit für ein Gespräch mit dem
Präsidenten der Landesärztekammer. Statt
 Streit und Forderungen waren Mut und
Optimismus das Ergebnis auf beiden Seiten
– was nicht bedeutet, dass die Gesprächs-
partner ohne Erwartungen an die jeweils
 andere Seite aus dem Austausch gingen.
     „Ich schaue noch positiver in die Zu-
kunft“, sagte die in Strande lebende Juristin
nach dem Gespräch. „Der Veränderungs-
wille macht Mut“, sagte der Präsident. Bei-
 de haben lebhaftes Interesse an dem in der
Politik lange Zeit unterschätzten Gesund-
 heitswesen. Die Politikerin hat es nie als
Verlegenheitslösung begriffen, sich in ihrer
                                                   »Nichts in der Politik                    Herrmann wiederum weiß um die The-
                                                                                         menvielfalt und Termindichte, die unter
                                                                                         massiver Medienbeobachtung auf politi-
Fraktion um Gesundheitspolitik zu küm-
mern. „Von dem Thema ist jeder betroffen
                                                    ist so nah an den                    sche Entscheidungsträger warten, und ist
                                                                                         sich bewusst, dass nicht jede ärztliche For-
und es berührt jedes Alter. Das deckt die
Gesundheitspolitik mit Regelungen vom
Embryonenschutzgesetz bis zur Diskussi-
                                                    Menschen wie                         derung von Politikern eins zu eins umge-
                                                                                         setzt werden kann. Gute Voraussetzungen
                                                                                         also für einen konstruktiven Austausch.
 on über Sterbehilfe ab. Welches andere Po-
 litikfeld bietet das? Nichts in der Politik ist
                                                    Gesundheitspolitik.«                     Das Stichwort „nah am Menschen“
                                                                                         greift Herrmann auf. Er verweist auf den
 so nah an den Menschen wie Gesundheits-            CHRI ST I N E AS C H E N B E R G -   One-Health-Gedanken, der im Zuge des
politik“, sagt Aschenberg-Dugnus.                                                        Klimawandels stärkere Beachtung erfährt
                                                    DUGNU S
                                                                                                                                              Fotos: SG / shutterstock designtools

      Zugleich schwingt in ihren Äußerungen                                              und der deutlich macht, welchen zentralen
 eine gesunde Distanz, aber auch Respekt                                                 Stellenwert das Thema Gesundheit einneh-
vor den Leistungen der Ärzte mit. Dies gilt                                              men sollte. Hat sich diese Einstellung im
für angestellte Ärzte in Krankenhäusern,                                                 Zuge der Pandemie verändert? Ja, meinen
Gesundheitsämtern und für die Ärzte, die                                                 beide. Aschenberg-Dugnus erwartet, dass
ihre Praxen selbstständig organisieren. Was                                              Themen wie Hygiene und Prävention von
 das bedeutet, weiß Aschenberg-Dugnus als                                                der Politik künftig stärker beachtet werden,
Frau eines Zahnarztes aus erster Hand.                                                   und setzt darauf, dass frühere Einstellun-
Grenzerfahrung - Ärztekammer Schleswig-Holstein
JA N UA R 2 0 2 1                                                                                               T I T E LT H E M A 9

                                       gen nach der Pandemie auf den Prüfstand                                            am Thema Klinikfinanzen, die ebenfalls
                                       kommen. Herrmann nimmt viele seiner                                                beide für reformbedürftig halten. Auch die
                                       Kollegen als wohltuend kritisch wahr, wenn                                         sektorübergreifende Versorgung, so etwas
                                       es um den Zusammenhang zwischen Um-                                                wie der Klassiker unter den nicht gelösten
                                       welt, Klima und Gesundheit geht.                                                   Problemen des deutschen Gesundheitswe-
                                           Dass sich trotz der Bedeutung der oft                                          sens, treibt beide um: Sie treten für „sek-
                                       unmittelbaren Auswirkung auf den beruf-                                            torenverschmelzende Modelle“ ein. Herr-
                                       lichen Alltag nur eine Minderheit von Ärz-                                         mann hat ein solches in Brunsbüttel vor
                                       ten gesundheitspolitisch engagiert, hält er                                        der eigenen Haustür und Aschenberg-Du-
                                       für nachvollziehbar – schließlich sind die                                         gnus ermuntert die Akteure im Gesund-
                                       meisten mit dem Arztberuf voll ausgefüllt                                          heitswesen, diesen Gedanken stärker zu le-
                                       und können sich nach der Arbeit nicht mit                                          ben und einzufordern. Sie hält es für uner-
                                       den oft komplexen gesundheitspolitischen                                           lässlich, dass die Politik dafür die richtigen
                                       Problemen beschäftigen. Er persönlich
                                       kann den in der Gesundheitspolitik behan-      »Das Sozialgesetzbuch V             Rahmenbedingungen schafft. Dass sol-
                                                                                                                          che Probleme auch nach Jahrzehnten noch
                                       delten Themen aber oft mehr abgewinnen,
                                       als Auseinandersetzungen zwischen Partei-
                                       en oder zwischen Politikern und Standes-
                                                                                       hat ein kaum                       nicht gelöst sind, halten beide zwar für ent-
                                                                                                                          täuschend, aber nicht für entmutigend.
                                                                                                                              Trotz gemeinsamer Haltungen: Es
                                       politikern ahnen lassen.
                                           Mut gab beiden Gesprächspartnern,           begreifbares Volumen               gab auch unterschiedliche Auffassun-
                                                                                                                          gen. Wo Herrmann sich mehr Aufklä-
                                       dass weder Politiker noch Standespoliti-
                                       ker vor Themen zurückschrecken, die Fort-
                                       schritte über die letzten Jahrzehnte nur er-
                                                                                       angenommen.«                       rung und Information über politische
                                                                                                                          Entscheidungsfindungen und Struktu-
                                                                                                                          ren wünscht, kontert Aschenberg-Dugnus
                                       kennen lassen, wenn man sie im Zeit-            PROF. H E N R I K H E R R M AN N   mit der „Holschuld“, die auch für die Ak-
                                       raffer betrachtet. Zum Beispiel die Re-                                            teure im Gesundheitswesen gilt. Konkret:
                                       gelungsdichte im Gesundheitswesen:                                                 Der Kammerpräsident hatte auf die im-
                                       Aschenberg-Dugnus nimmt die deutsche                                               mer zahlreicheren Gremien und nicht im-
                                       Sozialgesetzgebung als oft undurchschau-                                           mer transparenten Entscheidungswege im
                                       bar für Patienten und Akteure wahr, zum                                            deutschen Gesundheitssystem verwiesen,
                                       Teil als verkrustet. „Nichts wird weniger“,                                        die von Ärzten ohne Funktionen im Ge-
                                       sagt sie mit Blick auf einen häufig beschwo-                                       sundheitswesen immer schwerer nachvoll-
                                       renen Abbau von Vorschriften und Rege-                                             ziehbar seien. Als Beispiele nannte er die
                                       lungen.                                                                            Entscheidungsfindungen etwa im Gemein-
                                           Für Herrmann hat das Sozialgesetz-                                             samen Bundesausschuss (G-BA) oder im
                                       buch V inzwischen ein „kaum begreifbares                                           Gesundheitsausschuss. „Ich wünsche mir,
Fotos: SG / shutterstock designtools

                                       Volumen“ angenommen, das er als kaum                                               dass man besser verfolgen könnte, wel-
                                       noch durchschaubar wahrnimmt. Beide                                                che Argumente dort ausgetauscht werden“,
                                       wünschen sich, dass eine künftige Regie-                                           sagte Herrmann. Aschenberg-Dugnus hält
                                       rung den Mut findet, diese Regelungsdich-                                          es eher für eine Aufgabe der Institutionen
                                       te abzuflachen. Beiden ist bewusst, dass                                           im Gesundheitswesen, diese Informatio-
                                       unter den derzeitigen Bedingungen und in                                           nen zu ihren Mitgliedern zu transportie-
                                       den verbleibenden Monaten hieran aller-                                            ren.
                                       dings genauso wenig gearbeitet wird wie                                                                           Dirk Schnack
Grenzerfahrung - Ärztekammer Schleswig-Holstein
10 T I T E L T H E M A                                                                                                            JA N UA R 2 0 2 1

                                                      Belebender Dialog
                                                      KAMMER IN GESELLSCHAFT           Thomas Stritzl kandi-
                                                      diert für den Bundestag und will möglichst wieder
                                                      in den Gesundheitsausschuss − dort hatte er bis 2017
                                                      schon eine Legislaturperiode hinter sich. Im Gespräch
                                                      mit Prof. Henrik Herrmann verriet er, was ihn antreibt.

E
      s war kein Sprung in eiskaltes Was-          enten, wollte der Präsident wissen. Stritzl   keiten hat, sich zu informieren“, steht für
      ser, als Thomas Stritzl 2013 ein Sitz        nimmt das Verhältnis zwischen Patienten       Stritzl fest.
      im Gesundheitsausschuss des Deut-            und Ärzten weiterhin als von Abhängigkeit         Ihn interessierte im Gespräch mit Herr-
      schen Bundestages angeboten wur-             geprägt wahr, trotz aller vom Präsidenten     mann u. a. die Frage, ob Ärzte ihre Ent-
      de. Immerhin verfügte der Jurist über        geschilderten Bemühungen um gemein-           scheidungen heute auf anderer Basis treffen,
      Erfahrungen u. a. als früherer Ge-           schaftliche Entscheidungsfindungen und        weil Patienten anders informiert sind. „Das
      schäftsführer der Kieler Schmerzkli-         Begegnungen auf Augenhöhe. „Der Arzt          kommt auf den Patienten an“, lautete die
nik, als er in den Ausschuss kam. Stritzl war      bleibt die Vertrauensperson und sein Ur-      Antwort. Denn Ärzte seien weiterhin gefor-
auch bewusst, dass Gesundheitspolitik da-          teil hat für Patienten hohes Gewicht, auch    dert, sich auf ihre Patienten und deren indi-
mals nicht als erste Wahl oder als Karrie-         wenn man heute ganz andere Möglich-           viduelle Bedürfnisse einzustellen. Patienten
re-Sprungbrett in Berlin galt. Aber ein frei-                                                    mit vermeintlich hohem Vorwissen kön-
er Sitz war im Ausschuss zu besetzen – und                                                       nen falsch informiert sein und brauchen
der Neuling im Bundestag griff zu.                                                               deshalb unter Umständen mehr Zeit, weil
    „Mit Gesundheitspolitik kann man sich
nicht profilieren“ – diese Haltung unter vie-
                                                   Kammer in Gesellschaft                        noch intensiver aufgeklärt werden muss
                                                                                                 und Missverständnisse ausgeräumt werden
len Politikern war ihm damals bekannt.             Die neue Serie des Schleswig-Holsteini-       müssen. Andererseits könne das veränder-
Stritzl konnte sich vier Jahre lang einar-         schen Ärzteblattes bringt Mitglieder aus      te Informationsverhalten auch dazu beitra-
beiten, war die folgende Legislaturperiode         Vorstand und Geschäftsführung der Ärz-        gen, Patienten mit neuen Kommunikati-
dann aber nicht mehr im Bundestag. Ge-             tekammer Schleswig-Holstein mit Ver-          onsmethoden mehr Wissen schneller oder
sundheitspolitik hat er dennoch weiterver-         tretern des gesellschaftlichen Lebens aus     einfacher zu vermitteln. Einig waren sich
folgt und möchte im Fall einer Wahl erneut         Schleswig-Holstein zusammen. Dies             Stritzl und Herrmann in der Einschätzung,
in den Gesundheitsausschuss. Warum?                sind zum Auftakt zwei Politiker aus un-       dass das Gespräch zwischen Arzt und Pa-
    „Ich habe wenige Bereiche kennenge-            serem Land, die im Gesundheitsaus-            tient unerlässlich ist, Zeit braucht und ent-
lernt, die so spannend sind. Aber auch kei-        schuss des Deutschen Bundestages wa-          sprechend honoriert werden muss. „Für die
nen, der so kodifiziert ist. Jurist zu sein, ist   ren (Thomas Stritzl) bzw. sind (Christi-      sprechende Medizin muss es angemessene
nie von Nachteil, das gilt auch im Gesund-         ne Aschenberg-Dugnus) und die es beide        Abrechnungsmöglichkeiten geben“, sagte
heitswesen“, sagte Stritzl bei einem Besuch        nach der nächsten Bundestagswahl wie-         Stritzl.
in der Ärztekammer Schleswig-Holstein,             der sein möchten. Weitere Politiker an-           Er bezeichnete sich zwar als Anhän-
wo er sich erstmals mit Präsident Prof.            derer Parteien und mit anderen Bezugs-        ger des Kammersystems, nimmt aber in der
Henrik Herrmann austauschte.                       punkten zur Gesundheitspolitik folgen         Arbeit der Selbstverwaltung auch Defizi-
    Weitere Berührungspunkte mit dem               im Laufe der Serie, die aber auch außer-      te wahr. Zum einen in der Intensität, in der
Gesundheitswesen pflegte Stritzl auch nach         halb der Politik interessante Gesprächs-      sich die Mitglieder einbringen. Hier ist aus
                                                                                                                                                      Foto: shutterstock designtools

seiner Zeit als Bundestagsabgeordneter,            partner bieten wird. Geplant ist der Aus-     seiner Sicht noch deutlich Luft nach oben.
u. a. als Kreisvorsitzender des DRK in Kiel.       tausch u. a. mit Vertretern verschiedener     Zum anderen in der Art, wie sich die ge-
Er verfolgt die hohe Dynamik der Gesetz-           Religionen, mit Gewerkschaften, Arbeit-       wählten Selbstverwaltungsorgane der Ärz-
gebung, kennt die wirtschaftliche Kraft des        geberverbänden, Umweltorganisationen          te in die politische Diskussion einbrin-
Gesundheitssektors, betont die Bedeutung           und weiteren gesellschaftlich relevan-        gen. „Es reicht nicht, immer nur dagegen
der privaten Krankenversicherung. Was              ten Gruppen, die eine Schnittmenge zur        zu sein. Politik lebt von konstruktivem Mit-
aber ist mit der täglichen Arbeit am Pati-         ärztlichen Tätigkeit aufweisen.               einander“, machte Stritzl deutlich. Und die-
JA N UA R 2 0 2 1                                                                                                  T I T E L T H E M A 11

                                       Thomas Stritzl, der zurück in den Bundestag und den Gesundheitsausschuss möchte, im Gespräch in der Ärztekammer Schleswig-
                                       Holstein mit Kammerpräsident Prof. Henrik Herrmann.

                                       se Diskussionen erwartet er „im eigenen
                                       Haus“, also in den Gremien von Kammer,           »Für die sprechende                   mit mehr Kapital und Personal ausgestattet
                                                                                                                              werden müsse. Eine der wichtigsten Maß-
                                       KVen und weiteren Institutionen des Ge-
                                       sundheitswesens.
                                            Herrmann stimmte ihm zu, sieht die
                                                                                         Medizin muss es                      nahmen aus ihrer Sicht: Die Ärzte im ÖGD
                                                                                                                              müssen auf dem gleichen Niveau bezahlt
                                                                                                                              werden wie ihre Kollegen in den Kranken-
                                       eigene Kammer allerdings auf einem gu-
                                       ten Weg. „Wir sagen nicht, dass etwas nicht
                                                                                         angemessene                          häusern.
                                                                                                                                  Dann zeigt Stritzl mit einem überra-
                                       geht, sondern vielmehr, wie es gehen könn-
                                       te.“ Welche Folgen haben Veränderungen
                                       für die Gesellschaft und die Patientenver-
                                                                                         Abrechnungsmög-                      schenden Vorschlag, was diesen Austausch
                                                                                                                              so wertvoll macht: Er „denkt laut“ und
                                                                                                                              ohne Anspruch auf ein fertiges Konzept
                                       sorgung, nicht nur für die eigene Klientel −
                                       diese Frage steht für Herrmann längst über
                                                                                         lichkeiten geben.«                   darüber nach, ob und warum der ÖGD ei-
                                                                                                                              gentlich in Trägerschaft der Kommunen ist
                                       vielen kammerinternen Diskussionen.               THOMAS S TR I TZL                    und bleiben sollte. „Wir haben über Jahr-
                                           Was aber will Stritzl konkret als Ge-                                              zehnte erlebt, dass das nicht überall wirk-
                                       sundheitspolitiker erreichen? Drei Punkte                                              lich gut funktioniert hat. Warum ist der
                                       hob er heraus:                                                                         ÖGD eigentlich nicht bei den Ärztekam-
                                        Die Sektorengrenzen durchlässiger ma-                                                mern angesiedelt? Weiß eine Ärztekam-
                                          chen und eine bessere Zusammenarbeit                                                mer nicht viel besser Bescheid als der Bür-
                                          forcieren.                                                                          germeister oder der Landrat, wenn es um
                                        Das Nebeneinander von gesetzlicher und                                               die gesundheitlichen Belange geht?“, frag-
                                          privater Krankenversicherung stärken.                                               te Stritzl sich und den Präsidenten. Der at-
                                        Die Bedeutung der europäischen Phar-                                                 testierte dem überraschenden Vorschlag
                                          maindustrie neu definieren und Abhän-                                               einen „gewissen Charme“ und freute sich,
                                          gigkeiten von der Produktion in Übersee                                             dass neue Ideen so ungezwungen disku-
                                          abbauen. Damit einhergehen sollte aus                                               tiert werden. Bei näherer Betrachtung
                                          seiner Sicht, dass die Gesellschaft die Ar-                                         zeigte sich dann zwar, wie viele Hürden
Fotos: SG / shutterstock designtools

                                          beit im Arzneimittelsektor nicht länger                                             und Probleme mit einer solchen Verände-
                                          eher negativ und unter reinen Kostenas-                                             rung verbunden wären und dass es keines-
                                          pekten betrachtet.                                                                  wegs ausgemacht ist, ob dieser Wandel ein
                                       Als sich das Gespräch – in diesen Zeiten                                               Vorteil für alle Seiten wäre. Aber beide wa-
                                       unvermeidlich – auch um die Folgen der                                                 ren sich einig: Solche Ideen beleben den
                                       Pandemie dreht, sind sich Herrmann und                                                 Dialog zwischen Politik und Selbstverwal-
                                       Stritzl schnell einig, dass der Öffentliche                                            tung.
                                       Gesundheitsdienst (ÖGD) gestärkt und                                                                                  Dirk Schnack
12 G E S U N D H E I T S P O L I T I K                                                                                        JA N UA R 2 0 2 1

Mehr Depressionen,
Ängste und Süchte
COVID-19    Spezialeinrichtungen verzeichnen eine steigende Patien­
tenzahl wegen psychischer Belastungen. In den Hausarztpraxen in
Schleswig-Holstein spielen Ängste wegen Covid-19 dagegen bislang keine
große Rolle, weder bei den Patienten noch bei den Mitarbeitern.

D
        ie Corona-Pandemie belastet die Psy- (siehe Interview Seite 15). „Menschen kön-      potenziell toxischer Stressfaktor“ interpre-
        che der Menschen und wirkt sich auf nen Pandemien nicht sehr lange durchhal-         tiert werden und zu einem steigenden aku-
        alle Ebenen aus – auf das Privatle-     ten, psychische Störungen kom­men dabei      ten Bedarf an psychologischer Versorgung
        ben, den Beruf und die Gesellschaft.    meist mit Verzögerung“, sagte Prof. Arno     führen, so die Professorin.
        Darauf lassen vielfältige Befragun-     Deister, Chefarzt des Zentrums für Psy­          Erstmals belastbare Zahlen hat die
        gen und Untersuchungen schlie-          chosoziale Medizin am Klinikum Itzehoe,      NAKO – die Nationale Kohorte, Deutsch-
        ßen, die seit Pandemiebeginn veröf-     Ende November beim virtuellen Kongress       lands größte Langzeitstudie, bei der rund
fentlicht werden. Laut Forsa-Umfrage füh-       der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie   200.000 Menschen 20 bis 30 Jahre zu Le-
len sich fast 70 Prozent von 1.000 Befragten und Psychotherapie (DGPPN). Depressio-          bensumständen und Krankheitsgeschich-
emotional belastet, weil sie sich um die Ge- nen und posttraumatische Belastungssymp­        te befragt und medizinisch untersucht wer-
sundheit von Angehörigen sorgen. 55 Pro-        tome hätten in der Pandemie zugenom-         den – Ende November geliefert. Im Früh-
zent erklärten, sie litten unter Un­sicherheit, men, Angst und Einsamkeit seien ebenfalls    jahr hatte die NAKO eine Sonderbefra-
wie es in den kommenden Monaten weiter- ein wesentliches Thema. Die Deutsche Ge-             gung unter allen Studienteilnehmern zu
geht. Die AOK meldet, dass psychische Er-       sellschaft für Psychologie (DGP) befürch-    den Belastungen der Pandemie durchge-
krankungen in den ersten neun Monaten           tet eine ähnliche Entwicklung. „Psychische   führt, 114.000 Rückantworten flossen in die
2020 für 16,4 Prozent der Krankschreibun-       Störungen haben eine längere Inkubations-    Auswertung ein (Dtsch. Ärztebl. Int. 2020;
gen verantwortlich seien, 0,6 Prozent mehr zeit. Auch wenn aktuelle Erhebungen noch          117:861-7). Der Anteil derjenigen Men-
als im Vorjahr. Für die DAK hat das Institut den Eindruck erwecken, dass wir bislang         schen, die moderate bis schwer ausgepräg-
für Therapie- und Gesundheitsforschung in verhältnismäßig gut durch die Krise ge-            te depressive Symptome aufweisen, die eine
Kiel herausgefunden, dass Lehrer sich ak-       kommen sind, erwarten wir in absehbarer      klinische Relevanz nahelegen, stieg von
tuell in der Schule stark belastet fühlen; ein Zeit einen deutlichen Anstieg insbesondere    6,4 auf 8,8 Prozent. Der selbst empfunde-
Drittel hat Angst, zur Schule zu gehen, je-     von Depressionen, Anpassungsstörungen,       ne Stress nahm in allen Altersgruppen und
der zweite befürchtet, sich bei Schülern an- Angststörungen, und Traumafolgestörun-          Geschlechtern zu, vor allem in der Gruppe
zustecken. Die Hans-Böckler-Stiftung hat        gen“, erklärte Prof. Eva-Lotta Brakemei-     der 30- bis 49-Jährigen, aber auch bei Äl-
nach Auswertung der Angaben von 26.500          er von der Universität Greifswald. Die CO-   teren. „Die Ergebnisse weisen darauf hin,
Beschäftigten ermittelt, dass sich im No-       VID-19-Pandemie könne – das lehren Er-       dass sich im Frühjahr während der ersten
vember 33 Prozent der Beschäftigten fürch- fahrungen mit früheren Pandemien und              Welle der Pandemie die Ausprägung de-
teten, sich bei der Arbeit oder auf dem Weg Krisen – als ein „neuer, einzigartiger und       pressiver Symptome sowie von Angst und
dahin mit dem Coronavirus zu infizieren;                                                     Stresssymptomen in der Bevölkerung ver-
im Sommer waren es lediglich 25 Prozent.                                                     stärkt hat“, fasst Prof. Klaus Berger aus
Und bei der Telefonseelsorge meldeten sich                                                   Münster, Sprecher einer NAKO-Experten-
in der Hochphase im vergangenen Früh-
jahr täglich 3.000 Menschen im Vergleich
                                              Info                                           gruppe, zusammen.
                                                                                                 Laut Weltgesundheitsorganisation ist
zu 2.500 in normalen Zeiten.                    Menschen, die bereits an einer psychi-       dies ein weltweites Phänomen. Die Psy-
   „Uns fehlen die Evidenzen, um klare          schen Erkrankung leiden, sind von der        che sei ein „vergessener Aspekt von CO-
Aussagen machen zu können“, sagt Prof.          Pandemie besonders betroffen. So kön-        VID-19“, sagte Dr. Devora Kestel, WHO-
Kamila Jauch-Chara, Direktorin der Kli-         nen sich etwa die Kontaktbeschränkun-        Direktorin für psychische Gesundheit, bei
                                                                                                                                                  Foto: Adobe Stock Maridav

nik für Psychiatrie und Psychotherapie am       gen, wie sie im Frühjahr und im Herbst       einer virtuellen Pressekonferenz. „Die
UKSH-Campus Kiel. Gleichwohl geht sie           galten, für Menschen mit Depressio-          Trauer um gestorbene Corona-Opfer, Ver-
davon aus, „dass vermehrt psychische Er-        nen verstärkend auswirken. Um Schübe         einsamung, Einkommensverluste und
krankungen auf uns zukommen werden,             zu vermeiden, raten Experten zu einem        Angst lösen psychi­sche Erkrankungen aus
vor allem Depressionen, Ängste, Somatisie- Aufrechterhalten der therapeutischen              oder verschlimmern bereits bestehende Er-
rungsstörungen und Suchterkrankungen“           Angebote.                                    krankungen.“ Viele Men­schen reagierten
JA N UA R 2 0 2 1                                                                          G E S U N D H E I T S P O L I T I K 13

 auf ihre Probleme mit „erhöhtem Alkohol- re und ambulante Behandlungska-
 und Drogen­konsum, Schlaflosigkeit und         pazitäten aufrechtzuerhalten und so-
Angstzuständen“, so die Argentinierin.          bald wie möglich wieder hochzufah-
      Dabei gibt es für jeden Einzelnen Mög-    ren. „Weiterhin brauchen wir auch
 lichkeiten, besser mit der aktuellen Situati-  mehr Wissen und Forschung zu be-
 on fertig zu werden. „An erster Stelle steht,  stimmten psychischen Aspekten wie
 Gesundheit und Resilienz zu fördern. Das       Suizidalität, Sucht und Aggressivi-
 gelingt durch eine feste Tagesstruktur und     tät als Folge sozialer Isolation. Es ist
 eine gute Schlafhygiene. Gesund leben, ei-     wichtig, Angebote zu entwickeln, die
 nen Tagesplan aufstellen und befolgen“, er-    frühzeitig ansetzen und helfen, Sui-
 läutert die Kieler Psychiaterin Jauch-Cha-     zide, Suchtentwicklungen und häus-
 ra. Zum anderen solle man soziale Bezie-       liche Gewalt zu verhindern oder zu-
 hungen aufrechterhalten. Wenn das nicht        mindest soweit wie möglich zu redu-
 physisch möglich sei, dann solle man alle      zieren.“
 modernen technischen Kommunikations-               Und wie wirkt sich die Pande-
 möglichkeiten nutzen, um mit anderen           mie auf die Beschäftigten im Ge-
 Menschen in Kontakt zu bleiben. Ein gu-        sundheitswesen aus? Das Fachportal
 tes Stressmanagement sei ebenfalls emp-        Medscape vermeldet in einem Re-
 fehlenswert. Auf den bekannten Video-          port zu Burnout und Depressionen
 plattformen im Internet gebe es Anleitun-      bei Ärzten, dass sich im Zusammen-
 gen zu Entspannungstechniken, zum Len-         hang mit der Corona-Krise 55 Pro-
 ken der Aufmerksamkeit, zur progressiven       zent der Ärzte mit Gefühlen „kör-
 Muskelentspannung. „Wichtig ist es auch,       perlicher, emotionaler und mentaler
 auf persönliche Ressourcen zurückzugrei-       Erschöpfung“ plagen. Viele Ärzte ga-
 fen. Was tut mir gut, was hilft mir? Persön-   ben an, dass sie unter Schlafstörun-
 liche Stärken, Interessen und Hobbies soll-    gen leiden, was die Erschöpfung und
 te man gerade in psychisch belasteten Pha-     nervliche Belastung weiter verstärkt.
 sen nicht aus den Augen verlieren“, so die     Bei jedem zweiten Arzt, der unter
 Klinikleiterin.                                Burnout-Symptomen leide, habe die
      Besonders betroffen von der Pandemie      Corona-Pandemie zu einer weiteren
 sind psychisch erkrankte Menschen. Wer        Verschlimmerung der persönlichen
 ohnehin depressiv ist, für den können sich     Situation geführt. Hinzu kommt das
 Kontaktbeschränkungen krankheitsver-           in Kliniken und Praxen erhöhte In-
 stärkend auswirken. Aus Angst vor Infek-       fektionsrisiko: Bei der zuständigen
 tionen „hatten wir eine Zeitlang deutlich      Berufsgenossenschaft BGW wurden
weniger Patienten“, berichtet Jauch-Cha-        bis Ende Oktober knapp 11.000 Ver-
 ra. „Wer sich aktuell in eine Behandlung       dachtsfälle einer Corona-Infektion
 begibt, ist oft deutlich schwerer erkrankt.    gemeldet, Arbeitsmediziner gehen
 Den Betreffenden geht es dann so schlecht,     davon aus, dass Beschäftigte in Me-
 dass das Krankheitsmanagement zu Hau-          dizin und Pflege ein etwa doppelt so
 se selbst unter besten Bedingungen nicht       hohes Risiko haben, sich mit SARS-
 mehr funktioniert.“ Ganz wichtig sei es,       CoV-2 zu infizieren.
 akute Krankheitsschübe schnellstmöglich            All das geht an den meisten Be-
 zu stoppen. Dies gelinge am ehesten, wenn      schäftigten im Gesundheitswesen
 das therapeutische Angebot weitgehend          nicht spurlos vorüber. „Für diejeni-
 aufrecht erhalten bleibe, gegebenenfalls mit gen, die direkt am Patienten arbeiten
Videosprechstunden oder am Telefon.             und engen, auch körperlichen Kon-
      Dem stimmt DGPPN-Präsident Prof.          takt haben, sind es besondere Zeiten“,
Andreas Heinz aus der Berliner Charité zu.      sagt Jauch-Chara. Viele von ihnen
„Psychische Gesundheit ist im Umgang mit        seien aktuell erheblich psychisch be-
 der Pandemie von entscheidender Bedeu-         lastet, ersten Untersuchungen zu-
 tung. Und das nicht nur zur Stärkung der       folge im Schnitt um etwa zehn Pro-
 Resilienz und Widerstandskräfte, sondern       zentpunkte stärker als vorher. In al-
 auch wegen der großen Belastung, die so-       ler Regel handele es sich jedoch um
 ziale Isolation für die Allgemeinbevölke-      vorübergehende psychische Mehr-
 rung und insbesondere für Menschen mit         belastungen und nicht um psychi-
 psychischen Erkrankungen darstellt.“ Zwi- sche Erkrankungen, so Jauch-Chara.
 schenmenschliche Begegnungen würden           „Ganz wichtig ist es, die Ängste und
 Gesundheit stabilisieren; insofern sei es un- Sorgen im beruflichen Umfeld zu
 abdingbar, neben digitalen Behandlungs-        thematisieren, in Teamsitzungen zu
 und Therapiemöglichkeiten auch stationä-       besprechen, die in Kliniken häufig
14 G E S U N D H E I T S P O L I T I K                                                                             JA N UA R 2 0 2 1

                                         angebotenen Ansprechpartner auch tat-       Tag mit einem erhöhten gesundheitli-
                                         sächlich zu kontaktieren. Zur Stressab-     chen Risiko. „Es wird immer wieder Si-
                                         wehr gehört auch, die eigenen Grenzen       tuationen geben, in denen zum Beispiel
                                         zu erkennen, sie zu akzeptieren und nö-     ein Patient mit einer ansteckenden Tu-
                                         tigenfalls im Gespräch mit anderen dar-     berkulose durch die Praxis läuft.“ Das
                                         auf hinzuweisen.“                           sei allen bewusst und im beruflichen
                                             In den Hausarztpraxen in Schles-        Alltag – selbst jetzt während der Pande-
                                         wig-Holstein scheint das Problem we-        mie – in der Regel kein echtes Problem.
                                         niger verbreitet zu sein als in speziali-        Auch auf die Angstproblematik ins-
                                         sierten Praxen oder in Kliniken. „Nein,     gesamt hat Maurer aufgrund seiner täg-
                                         Ängste dieser Art sind unter den Mit-       lichen Erfahrungen eine etwas ande-
                                         arbeiterinnen und Mitarbeitern prak-        re Sicht. Ob in den Hausarztpraxen in
                                         tisch nicht vorhanden“, so Dr. Thomas       Schleswig-Holstein seit Beginn der Co-
                                         Maurer aus dem nordfriesischen Leck,        rona-Pandemie vermehrt Patienten
                                         der sich abseits der Sprechstunde täg-      mit Ängsten und Depressionen in die
                                         lich mit seinem Team bespricht. Als         Sprechstunden kommen? Für den Ver-
                                         Vorsitzender des Schleswig-Holsteini-       bandsvorsitzenden ist die Antwort ein-
                                         schen Hausärzteverbandes tauscht sich       deutig: Nein! „In der ganzen Zeit hat-
                                         Maurer darüber hinaus regelmäßig mit        te ich persönlich nicht einen Patien-
                                         Kollegen im Land aus. Alle Praxen ha-       ten, der gesagt hat, dass ihn Corona psy-
                                         ben gute Sicherheitskonzepte umge-          chisch fertigmacht.“ Viele wollen sich
                                         setzt, Patientenströme werden beson-        informieren, fragen den Arzt nach des-
                                         ders gelenkt, Schutzmaßnahmen wie           sen Einschätzung, wie lange die Pande-
                                         Plexiglasscheiben am Tresen, Tragen ei-     mie noch dauert oder wann ein Impf-
                                         nes Mund-Nasenschutzes, Wahrung der         stoff kommt. „Aber kein einziger hat
                                         Abstandsregeln und regelmäßiges Des-        konkrete Ängste aufgrund der pande-
                                         infizieren flächendeckend eingehalten.      mischen Situation geäußert.“ Das lie-
                                         Grundsätzlich, so Maurer, leben alle Be-    ge wahrscheinlich auch an der Klien-
                                         schäftigten in Arztpraxen seit Jahr und     tel in Hausarztpraxen, so Maurer. Älte-
                                                                                     re Menschen könnten mit konkreten Si-
                                                                                     tuationen wie der Pandemie besser um-
                                                                                     gehen; junge Leute, die häufiger genervt
                                                                                     oder aggressiv wegen der persönlichen
                                                                                     Einschränkungen seien, sehe man als
                                                                                     Hausarzt eher weniger.
                                                                                          Thomas Maurer hat sogar den Ein-
                                                                                     druck, dass es aktuell weniger Patienten
                                                                                     mit psychischen Problemen in der Pra-
                                                                                     xis gebe, dass die Menschen der Situa-
                                                                                     tion etwas Positives abgewinnen. „Bei
                                                                                     vielen nimmt die Pandemie den Stress
                                                                                     aus dem Alltag. Sie finden es gar nicht
                                                                                     so schlimm, bei der Begrüßung nicht
                                                                                     mehr jedem 'um den Hals fallen' oder in
                                                                                     der Vorweihnachtszeit 'zu sieben ver-
                                                                                     schiedenen Grünkohlessen' zu müs-
                                                                                     sen.“ Wenn Patienten mit psychischen
                                                                                     Problemen in der Praxis vorstellig wer-
                                                                                     den, dann häufig wegen einer gefühlten
                                                                                     Überforderung im Alltag und nicht mit
                                                                                     einer klassischen Depression, so Mau-
                                                                                     rer. „Diese Patienten kommen mor-
                                                                                     gens nicht aus dem Bett, weil ihnen alles
                                                                                     zu viel wird. Fragt man nach, stellt man
                                                                                     schnell fest: Die haben einfach zu viel
                                                                                                                                       Foto: Adobe Stock Maridav

                                                                                     um die Ohren. Für sie ist Corona wie
                                                                                     ein Segen: Die Pandemie hat ihnen den
                                                                                     Arbeits- und Freizeitstress genommen
                                                                                     und das empfinden etliche Menschen
                                                                                     als positiv.“
                                                                                                            Uwe Groenewold
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             Gefühl des
             Kontrollverlustes
             INTERVIEW      ZiP-Direktorin Prof. Kamila Jauch-Chara sprach
             mit unserem Mitarbeiter Uwe Groenewold über die Sorgen vor
             und die seelischen Folgen nach einer Covid-19-Erkrankung.

             Frau Prof. Jauch-Chara, was macht die           den Eindruck, nach und nach die Kontrol-         Prof. Kamila Jauch-Chara, Direktorin
             Pandemie mit uns Menschen?                      le auch über andere Bereiche des Lebens          des Zentrums für integrative Psychiatrie
                 Prof. Kamila Jauch-Chara: Sie belastet      zu verlieren und stellen alles infrage. Jeder    (ZiP) und der Klinik für Psychiatrie und
             uns, das ist ganz natürlich! Bedeutsam ist      Mensch, der sich in extremen Situationen         Psychotherapie, UKSH, Campus Kiel.
             der Übergang von der Belastung zur psy-         befindet, die er nicht als bewältigbar dekla-
             chischen Erkrankung. Uns fehlen noch Evi-       riert hat, schwebt in der Gefahr, eine psy-
             denzen, um endgültige Aussagen zu treffen.      chische Erkrankung zu entwickeln.
             Viele Studien zu dem Thema laufen noch,                                                         chisch gehen diese Reaktionen unter an-
             wir machen aber klinische Beobachtungen         Gibt es dafür ein neurobiologisches Kor-        derem mit dem sogenannten Tunnelblick
             und haben indirekte Hinweise darauf, wel-       relat?                                          oder einem Gefühl des Kontrollverlustes
             che Folgen die Pandemie haben wird. Si-             Jauch-Chara: Es gibt typische neuro-        einher.
             cher scheint, dass vermehrt psychische Er-      biologische Veränderungen bei der Ent-
             krankungen auf uns zukommen werden,             wicklung von Ängsten und Depressionen.          Bei älteren Menschen scheint dies seltener
             vor allem Depressionen, Ängste, Somatisie-      Insbesondere kommt es zu einer Hyperak-         der Fall zu sein. Hat das Leben sie gegen
             rungsstörungen und Suchterkrankungen.           tivität der Amygdala. Die Amygdala ist Teil     Stress geimpft?
                                                             des limbischen Systems und für die Emoti-           Jauch-Chara: Eine interessante Beob-
             Woran liegt das?                                onsverarbeitung zuständig. Auch die Gene        achtung, viele ältere Menschen scheinen
                 Jauch-Chara: All diesen Erkrankun-          spielen hierbei eine Rolle. Wir wissen aus      die Pandemiezeit psychisch gut zu über-
             gen ist gemein, dass sie die Folge von Stress   verschiedenen Untersuchungen, dass in           stehen. Resilienz hängt von unterschiedli-
             sind. Stress führt zu Einschränkungen im        jungen Jahren erlebte Krisen und schwere        chen Faktoren ab: 1. Von den Vorerfahrun-
             Alltag. Wer sich unbehaglich, unsicher          Schicksalsschläge einen Einfluss darauf ha-     gen, ob jemand schon früher in der Lage
             fühlt, zieht sich zurück, macht weniger po-     ben, ob Menschen mit genetischer Prädis-        gewesen ist, schwierige Situationen gut zu
             sitive Erfahrungen und wird freudloser;         position später auf größere Krisen mit einer    meistern. 2. Vom Optimismus, vom Glau-
             das können bereits erste Schritte auf dem       psychischen Erkrankung antworten. Men-          ben, eine Krise ist zeitlich begrenzt und
             Weg in eine depressive Störung sein. Wenn       schen, die in ihrer Kindheit viele negative     lässt sich überwinden. 3. Von der Akzep-
             es nicht gelingt, die innere Anspannung zu      Erfahrungen gemacht haben, neigen zu ei-        tanz, sich zum Beispiel nicht über Dinge
             reduzieren und wir uns permanent auf das        ner Überaktivierung der Amygdala und re-        aufzuregen, die man nicht ändern kann. All
             belastende Gefühl und die damit einherge-       agieren auf schwierige Situationen mit ei-      das gelingt älteren Menschen aufgrund ih-
             henden körperlichen Symptome konzent-           ner Aktivierung des Angstnetzwerkes und         rer Lebenserfahrung offensichtlich besser
             rieren, können sich Ängste und Panikatta-       somit sehr emotional.                           als jüngeren.
             cken manifestieren, die in eine psychiatri-
             sche Diagnose münden.                      Die Logik wird also ausgeblendet?                    Haben Sie abschließend einen guten Rat
                                                            Jauch-Chara: Richtig, logisches Den-             für uns alle?
             Können schlimme Ereignisse – aktuell       ken wird vom präfrontalen Kortex gesteu-                 Jauch-Chara: Die aktuelle Phase ist eine
             denkt man an den Terror von rechts oder    ert, welcher normalerweise inhibitorisch             Zeit der Kompromisse. Schwierige Situati-
             die zurückliegenden Wahlen in den USA – auf die Amygdala wirkt. Reagiert diese al-              onen lassen sich besser bewältigen, wenn
             Symptome und Erkrankungen auslösen?        lerdings über, kommt es zu einer massi-              man das Unabänderliche akzeptiert und
                 Jauch-Chara: Ja, das ist möglich. Sol- ven Aktivierung des vegetativen Nerven-              den Blick darauf richtet, was man tun kann,
             chen Belastungen ist gemein, dass sich der systems und zur vermehrten Ausschüttung              um das Beste aus und in der Situation zu
             Mensch der eigenen Einschätzung nach in    des Stresshormons Kortisol. Beides führt             machen. Eine Portion Optimismus ist im-
             einer unkontrollierbaren und unbeherrsch- zur Fokussierung der Wahrnehmung auf                  mer angebracht, denn irgendwann ist die
Foto: UKSH

             baren Situation befindet. Das schürt auf   die Gefahr, Erhöhung des Blutdrucks und              Krise vorbei.
             Dauer Unsicherheit, die Betroffenen haben Veränderung der Atmungsfrequenz. Psy-                    Vielen Dank für das Gespräch.
16 G E S U N D H E I T S P O L I T I K                                                                                          JA N UA R 2 0 2 1

Neues Gesetz erfüllt
nicht alle Wünsche
KLINIKEN     Der Landtag hat ein Landeskrankenhausgesetz verab­
schiedet. Ziel ist eine höhere Versorgungssicherheit. Land bekommt
mehr Gestaltungsspielraum. Ärztekammer ohne Stimmrecht.

A
         ls letztes Bundesland hat nun auch      ausgeschöpft und „eigene Akzente gesetzt“,     mann ist das nicht genug: „Mit abstimmen
         Schleswig-Holstein ein Kranken­         so Garg.                                       zu dürfen hat den ungleich höheren Wert.
         hausgesetz: Der Landtag beschloss          „Eine never-ending-Story ist endlich be- Übertragen auf die Politik ist es, als hätte
         den Text bei seiner Sitzung im De-      endet“, freute sich der SPD-Abgeordnete        eine Partei nicht den Einzug ins Parlament
         zember. Das Gesetz gibt der Politik    Bernd Heinemann angesichts der jahrelan-        geschafft, sondern müsse von draußen zu-
         mehr Einfluss, es soll Patientenrechte gen Entstehungsgeschichte des Gesetzes.         schauen.“ Die aktuelle Besetzung der Run-
         stärken und die Versorgungssicher-     Wesentlich mehr Lob gab es von der Oppo-        de sei „geldgesteuert“, kritisierte Herrmann:
 heit verbessern. Aus Sicht der Ärztekammer sition nicht: „Die Chance ist vertan, mehr         „Nur wer Mittel zu vergeben hat oder entge-
 bleibt jedoch ein großer Mangel: Im Lan-        für Patientenrechte und das Personal zu        gennimmt, ist dabei.“ Entsprechend würde
 deskrankenhausausschuss, dem zentralen          tun“, sagte Heinemann. Unter anderem be-       eine „Geschäftsführer-Perspektive“ über-
 Mitwirkungsgremium, hat die Ärztekam-           mängelte der SPD-Gesundheitsexperte das       wiegen. Die ärztliche Kompetenz und Er-
 mer kein Stimmrecht.                           Hygienekonzept, mit dem nach seiner An-         fahrung fehle. „Der Zug ist abgefahren, wir
      In 45 Paragrafen beschreibt das Ge-        sicht nicht genug gegen die Ausbreitung        müssen das so hinnehmen, aber ich bin ent-
 setz, wie künftig die Planung und die Förde- von multiresistenten Keimen unternom-             täuscht“, sagt Herrmann. Auch aus der Ärz-
 rung ablaufen, aber auch, welche Pflichten      men wird. Auch Kinderschutz sei nicht fest- teschaft höre er Unverständnis und Enttäu-
 die Krankenhäuser haben. Das betrifft un-       geschrieben. Im Bereich des Entlassungs-       schung über die Entscheidung.
 ter anderem die Aufnahme von Notfallpa-         managements fehlte Heinemann die Ver-              Zum Beispiel vom Landesverband des
 tienten und die Zusammenarbeit mit dem          bindlichkeit, etwa durch mehr Kurzzeitpfle- Marburger Bundes (MB). Dessen Landes-
 Rettungsdienst sowie Personen mit beson-        ge, in die Patienten nach einem stationären   vorsitzender Michael Wessendorf sah nach
 derem Betreuungsbedarf, zu denen Kin-          Aufenthalt wechseln könnten. Entstanden         der Verabschiedung eine „Chance vertan,
 der und Jugendliche, Menschen mit Behin-        sei ein „Rumpfgesetz“, das auf Bundesrats-     ärztlichen Sachverstand mit einzubeziehen“
 derung, Demenzerkrankte sowie Sterbende Initiativen verweise, statt Dinge selbst zu re- und sprach von einem „Demotivationspro-
 zählen. Für sie sollen erweiterte Besuchszei- geln.                                            gramm“ für Ärzte. Auch die Pflegeberufe-
 ten gelten, Begleitpersonen sollen mit auf-         Dr. Marret Bohn, gesundheitspolitische kammer hätte gerne einen Sitz mit Stimm-
 genommen werden.                                Sprecherin der Grünen, widersprach: Vie-       recht gehabt. Bei ihr überwogen dennoch
     „Das Land erhält mehr Gestaltungsmög- le der kritisierten Punkte, von Kinderschutz die Vorteile, etwa die gesetzliche Gleichstel-
 lichkeiten, aber auch mehr Gestaltungs-         bis Kampf gegen die Klinikkeime, stünden       lung der Pflegeleitung mit ärztlicher und
verantwortung“, sagte Gesundheitsminis-         „sehr wohl“ im Gesetz. Jamaika habe wichti- wirtschaftlicher Leitung in den Kliniken.
 ter Dr. rer. pol. Heiner Garg im Landtag. So    ge Fragen geregelt, unter anderem zur Ver-         Dennys Bornhöft (FDP) ging im Land-
 kann die Regierung künftig die Kliniken be- sorgung der Menschen auf den Halligen              tag auf die Streitfrage ein: „Es wurde viel
 nennen, die schwerpunktmäßig bestimmte          und Inseln. Am Ende stimmten die Jamai-        über die Zusammensetzung der Beteiligten-
 Krankheiten behandeln sollen, etwa Schlag- ka-Fraktionen und die AfD-Vertreter für,            runde diskutiert, viele Gruppen meldeten
 anfälle. Auf diese Weise kann die Politik       SPD und SSW gegen das Gesetz.                  ihren Anspruch auf einen Sitz an.“ Wenn
„darauf hinwirken“, dass sich Zentren bil-           Ein Streitpunkt während der Anhörun-       eine Kammer oder Fachgesellschaft aufge-
 den, die dann entsprechende hohe Behand- gen im Gesundheitsausschuss war die Frage, nommen worden wäre, hätten auch ande-
 lungsfallzahlen vorweisen können. Ein wei- wer dem Krankenhausausschuss angehö-                re mit an den Tisch geholt werden müssen,
 terer, aus Sicht des Ministeriums wesentli-     ren sollte. Aus Gargs Sicht sind „alle Akteu- aber „die Runde sollte nicht größer werden
 cher Punkt ist, dass es mit dem Landeskran- rinnen und Akteure im Gremium vertreten“. als ein Kreistag“. Alle Vertreter des Jamai-
 kenhausgesetz erstmals eine Rechtsaufsicht Prof. Henrik Herrmann sieht das anders:             ka-Bündnisses erklärten aber, dass es nun
 über die Krankenhäuser in Schleswig-Hol-        Der Präsident der Ärztekammer Schleswig- auf den Praxistest ankommt: „Wir sind uns
 stein geben wird. Die Schwierigkeit des Ge- Holstein hatte sich seit Beginn der Beratun- einig, dass die Umsetzung sehr genau im
 setzes sei, dass Bundesregelungen des So-       gen dafür eingesetzt, dass die Kammer Sitz     Blick behalten wird, um eventuelle Nach-
 zialgesetzbuchs V und der Entgeltverord-        und Stimme erhält. Dieses Ziel wurde nicht besserungen vornehmen zu können“, so
 nung betroffen seien. Den „engen Rahmen“ erreicht. Ärztekammer und Pflegeberufe-               Hans Hinrich Neve (CDU).
 zwischen diesen Regelungen habe das Land kammer sind nur beratend dabei. Für Herr-                                      Esther Geisslinger
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