Hessische mitteilungen - HESSISCHE JUSTIZ IM PANDEMIE-MODUS - Richterbund ...
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INHALT IHRE VORTEILE ALS MITGLIED DES DEUTSCHEN RICHTERBUNDS: –B ezug der Deutschen Richterzeitung VORWORT 3 einschließlich exklusiver Exemplare juris- tischer Standardkommentare auf CD so- wie exklusiver Zugriff auf „JURION“ (das TITELTHEMA 4 digitale Wissenswerk) und die Deutsche Richterzeitung online im Internet (auch Blick in die Glaskugel: über App) Beschleunigt die Krise die Digitalisierung der Justiz? 4 –G ruppen-Diensthaftpflichtversicherung –S onderkonditionen zum Beispiel bei Modernisierung der Justiz: Akzeptanzbasierter digitaler Kulturwandel Versicherungen durch Mitwirkung, Entlastung, Transparenz, Ergonomie und Rücksicht 6 –H aftpflicht- und Rechtsschutzversiche- rung – Vorsorgewerk – k ostenlose DRiB-Visacard eJUSTICE 8 – vergünstigter Erwerb des ZR-Report.de Die Suche nach der Schrift 8 – v ergünstigte Teilnahme am Richter- und Staatsanwaltstag –F achforum für Mitglieder im Internet – im Einzelfall Rechtsschutz für Rechts- 10 JAHRE ZIT 10 streitigkeiten mit dem Dienstherrn 10 Jahre ZIT – ein kurzes Porträt 10 Das Beitrittsformular finden Sie Das Darknet – zwischen Mythos und Realität 12 auf Seite 35. GEGENSTANDPUNKT 16 IMPRESSUM Absenkung der Voraussetzungen für die Einstellung ins Richteramt 16 Einstellungssache 16 HERAUSGEBER Beibehaltung des „Doppelprädikats“ als Deutscher Richterbund Landesverband Hessen e. V. Einstellungsvoraussetzung ins Richteramt? 17 Gerichtsstraße 2 60313 Frankfurt am Main REDAKTION AKTUELLES 18 RiOLG Dr. Charlotte Rau (V. i. S. d. P.), RiLG Barbara-Luise Bendrick, Reisesachen beim Amtsgericht Frankfurt am Main 18 LOStA a. D. Dr. Ursula Goedel, OStA a. D. Peter Köhler, DirSG Dr. Henning Müller, Eine Gedenktafel für Dr. Emil Lehmann (1872–1942) 20 StA Sebastian T. Müller, RiAG Dr. Johannes Schmidt, Willige Vollstrecker oder standhafte Richter? 23 RiLG Dr. Christine Schröder E-Mail: hemi@richterbund-hessen.de INTERVIEW 24 SATZ UND DRUCK Wilke Mediengruppe GmbH Forschungsprojekt am Oberlandesgericht Frankfurt am Main – Oberallener Weg 1, 59069 Hamm Telefon: 0 23 85-4 62 90-0 Zustandekommen und Hintergründe 24 Telefax: 0 23 85-4 62 90-90 E-Mail: info@wilke-mediengruppe.de Interview mit VorsRiLG a. D. Dr. Heinrich Gehrke Internet: www.wilke-mediengruppe.de vom 24. September 2020 27 Zitiervorschlag: HeMi, Bildnachweis: Cover, S. 5, 19, 34: p.c.p.a. (jeweils Details des Oberlandesge- richts), S. 6: p.c.p.a. (Schönfelder), S. 13, 15: Sebastian T. Müller, S. 20, 21, 22: Katja Fambach, VERSCHIEDENES 32 S. 23, 24: Ulrich Stump, S. 24: Georg D. Falk, Zeichnungen: Ralf Rinke ALFONS, DER UNEINSICHTIGE 32 BEITRITTSERKLÄRUNG 35 www.richterbund-hessen.de 2 HeMi 2/2020
TITELTHEMA EDITORIAL VORWORT Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist die zweite Ausgabe der Hessischen Mitteilungen Katja Fambach, Direktorin des Amtsge- nach Ausbruch der Pandemie. Weiterhin ist das Virus im richts Friedberg, stellt in ihrem Beitrag Dr. privaten, öffentlichen und auch beruflichen Leben das Emil Lehmann vor, weiterer aufsichtfüh- vorherrschende Thema – und dies wird wohl noch für ei- render Richter des Amtsgerichts Frankfurt nige Zeit so bleiben. Die hessische Justiz hat sich in der am Main, 1933 als Jude aus dem hes- Corona-Krise bewährt, Abläufe in der Justiz wurden verän- sischen Justizdienst entfernt und 1942 in dert und angepasst. Es wird wieder verhandelt, auch die Theresienstadt umgekommen. Seit April Charlotte Rau Durchführung von Großverfahren ist unter Einhaltung der 2020 befindet sich am Gebäude der Außenstelle Höchst bestehenden Abstands- und Hygieneregeln möglich. Am des Amtsgerichts Frankfurt am Main eine Gedenktafel für Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat Ende Septem- ihn. Die Langfassung des Aufsatzes ist auf der Homepage ber 2020 – wenn auch in kleinerem Kreis als üblich – eine des Richterbunds Hessen eingestellt. Buchvorstellung stattgefunden. In diesem Heft geht es da- her auch, aber nicht nur, um Corona, das den Berufsalltag Besonders hinweisen möchten wir auf das gerade erschie- von uns allen prägt. nene Buch „Willige Vollstrecker oder standhafte Richter?“ mit einer Analyse der Rechtsprechung des Oberlandesge- Der Landesvorsitzende Johannes Schmidt wagt einen Blick richts Frankfurt am Main in Zivilsachen von 1933 bis 1945. in die Glaskugel. Beschleunigt die Krise die Digitalisierung Die beiden Hauptverfasser, Vorsitzende Richter am Ober- der Justiz? Erforderlich hierfür ist ein akzeptanzbedingter landesgericht a. D. Dr. Georg D. Falk und Dr. Ulrich Stump, digitaler Kulturwandel. erläutern in einem Kurzinterview Zustandekommen und Hintergründe dieses Werks. Die großartigen Fotos von p.c.a.p. und Zeichnungen von Ralf Rinke thematisieren ebenfalls die neue Normalität in Schließlich zieht Vorsitzender Richter am Landgericht a. D. Zeiten der Pandemie; manchmal bestehen Veränderungen Dr. Heinrich Gehrke im Interview ein spannendes Resümee hier auch nur in der eigenen Wahrnehmung der Umwelt, seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Strafkammervorsit- liegen also im Auge des Betrachters. zender am Landgericht Frankfurt am Main. Peter Köhler berichtet nach dem Interview über eigene denkwürdige Henning Müller beschäftigt sich wie auch in den letzten Erfahrungen als Staatsanwalt. Ausgaben wiederum mit einer Thematik aus dem Bereich eJustice und weist auf das Problem von Anwaltsbriefköp- Wir danken ganz herzlich allen, die sich zu Interviewbeiträ- fen mit exotischen Schriftarten in elektronisch eingereichten gen bereit erklärt haben, und hoffen, dass diese Ausgabe Schriftsätzen hin. der Hessischen Mitteilungen durch die vielen Stimmen, die zu Wort kommen, besonders lesenswert ist. Unser Redaktionsteam hat mit Staatsanwalt Dr. Sebastian T. Müller Verstärkung bekommen. Wir freuen uns darüber Bleiben Sie gesund und kommen Sie gut durch die dunkle und verweisen auf seinen informativen Artikel über das Jahreszeit! Darknet und die Tätigkeit der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (ZIT), bei der er derzeit abgeordnet Mit herzlichen Grüßen ist. Christine Schröder hat ein Kurzinterview mit Leitendem Ihre Charlotte Rau Oberstaatsanwalt Andreas May, dem Leiter der ZIT, ge- führt. Nachdem im Frühjahr 2020 in Hessen die Voraussetzungen für die Einstellung ins Richteramt auf Probe abgesenkt wur- den, finden Sie Infos und Meinungen hierzu in dem Beitrag „Einstellungssache“ mit der Rubrik „Gegenstandpunkt“. Der Vizepräsident des Amtsgerichts Frankfurt am Main, Frank Richter, schildert in diesem Heft den Alltag der dor- tigen Zivilrichter mit einer (hoffentlich nicht exponentiell) ansteigenden Zahl von Reisesachen, auch während und gerade wegen der Corona-Lage. HeMi 2/2020 3
TITELTHEMA BLICK IN DIE GLASKUGEL: BESCHLEUNIGT DIE KRISE DIE DIGITALISIERUNG DER JUSTIZ? Nach einem halben Jahr Corona ist es wahrschein- sind, auch bei künftigen Krisen besser abfangen. lich noch zu früh für endgültige Antworten auf die Dieser Aspekt betrifft zudem personalwirtschaft- durch die Krise aufgeworfenen grundsätzlichen liche Fragen, denn der hohe Personaleinsatz im Fragen, wie z. B., ob es bei der Digitalisierung Bereich elektronisch unterstützter Massenverfahren einen Corona-Schub in die Zukunft geben wird. ist langfristig weder haushaltsökonomisch sinnvoll Die Momentaufnahme zeigt noch keine pande- noch trägt er – in Anbetracht der darin enthaltenen miegesteuerten Fortschritte bei den Großthemen vielfältigen inhaltlichen Redundanzen – zu einer elektronischer Rechtsverkehr und E-Akte, sondern Förderung des Rechtsstaates und der qualifikati- erfreuliche, aber lediglich auf bestimmte Aspekte onsentsprechenden Verwendung richterlicher Ar- der richterlichen Tätigkeit beschränkte Vorwärtsbe- beitskraft bei. wegungen, z. B. in den Bereichen Verhandlungs- führung und Referendarausbildung per Videokon- Corona ist schon jetzt für die Staatshaushalte ein ferenz. Kostenfaktor und wird die Spielräume für Neuein- stellungen in Zukunft enger machen. Personalkos- ten lassen sich bei ausgeschöpften verfassungs- rechtlichen Grenzen der Besoldungspolitik aber nur dann senken, wenn der vom Justizgewähr- leistungsanspruch und vom Rechtsstaatsprinzip geforderte Personalbedarf durch eine gegenüber dem anwaltlichen Bereich konkurrenzfähige bzw. sogar überlegene digitale Infrastruktur nachhaltig verringert werden kann. Johannes Schmidt Jetzt auch in Weiß erhältlich. Ob die Viruskrise zu einem Motor der Digitalisie- rung wird, muss die Zukunft zeigen, denkbar ist dies aber zumindest. Eine IT-Infrastruktur, die ortsunabhängige Dezernatsarbeit und ortsunab- hängiges Verhandeln ermöglicht, stärkt die Resili- enz der Justiz gegen künftige Krisen. Sie führt vor allem zu einer Verbesserung der Arbeitsplatzattrak- tivität im Vergleich zu juristischen Berufen, in denen ein echtes Arbeiten im Homeoffice ohne ständigen physischen Aktentransport möglich und bald viel- leicht sogar rechtlich erzwingbar ist. Eine auf die Möglichkeiten und Bedürfnisse moderner IT-ge- stützter Rechtsdienstleister abgestimmte Verfah- rensführung könnte Belastungsspitzen durch Mas- senverfahren, die im Bereich Stornierungsklagen unmittelbar durch die Pandemie ausgelöst worden 4 HeMi 2/2020
TITELTHEMA MODERNISIERUNG DER JUSTIZ AKZEPTANZBASIERTER DIGITALER KULTURWANDEL DURCH MITWIRKUNG, ENTLASTUNG, TRANSPARENZ, ERGONOMIE UND RÜCKSICHT Im Jahr 2022 kommt der verpflichtende elektro- Veränderungsbereitschaft kann durch Mitwirkung nische Rechtsverkehr und im Jahr 2026 die ver- erzielt werden. Gegenwärtig erfolgt diese als pflichtende elektronische Aktenführung. Für die Gruppenbeteiligung in Gremien auf Leitungsebe- deutsche Justiz ist das ein Bruch mit der seit der ne, durch IT-Referenten und Personalvertretungen frühen Neuzeit gepflegten, eng mit ihrer modernen sowie über den zentralen IT-Gremienbeirat und Entstehung verknüpften Papieraktenkultur. Die ana- den runden Tisch mit den Rechtsanwaltskammern. loge Welt der Justiz beruht im Wesentlichen heute Nötig wären aber auch Praxisbeiräte an den Ge- auf der Aktenordnung aus dem Jahr 1934. Papier richten, die sich aus Berufsträgern, IT-Spezialisten war und ist immer noch das Leitmedium einer auch und vielleicht sogar Vertretern der Computer- und in der Justiz stark vertretenen bürgerlichen Kultur Softwareindustrie zusammenfinden, um eine un- und Zivilgesellschaft. Allerdings ist Papier nicht mittelbare Beteiligung der „Basis“ sicherzustellen. auf ewig Voraussetzung einer geordneten Rechts- pflege und guter Rechtsprechung und droht – bei Veränderungsbereitschaft sollte auch durch Ent- fortschreitender Digitalisierung anderer Lebensbe- lastung geweckt werden, indem die Bereitschaft, reiche – sogar zu einem Hindernis zu werden. neue technologische Wege zu gehen, durch Frei- kreuze, ausdrücklich positive Berücksichtigung in Beurteilungsrichtlinien und ggf. Zulagen im Geschäftsstellenbe- reich positiv gewürdigt wird. Auf der anderen Seite muss die Di- gitalisierung selbst für spürbare Entlastung zwecks Burn-out-/ Bore-out-Vermeidung sorgen. Dies setzt voraus, dass der Fo- kus auf der Rationalisierung al- ler Abläufe liegt, denn „aus der Digitalisierung überholter Ge- schäftsprozesse wird schlechte Software, sonst nichts.“ (Köbler u. a. DRiZ 2020, 308). Akzeptanz wird ferner ohne Transparenz nicht zu errei- chen sein. Die Volldigitalisie- rung scheint wie eine dunkle, undurchschaubare Wolke über Dabei ist bei den Kolleginnen und Kollegen einer- manchen Kolleginnen und Kollegen zu schweben. seits eine große Offenheit in Bezug auf sinnvolle Teilweise ist sogar Hoffnung vorhanden, sich dem digitale Verbesserungen der Dienstausübung Ganzen vor der Pensionierung nicht mehr stellen vorhanden, zum anderen zeigen sich aber auch zu müssen. Solchen Wissens- und Vertrauensdefi- Gleichgültigkeit, Zurückhaltung und Skepsis, die ziten kann nur durch Ehrlichkeit und Offenheit bei man nicht als rückwärtsgewandte Technikfeind- der Information begegnet werden. Dies bedeutet lichkeit abtun sollte. Um Neugier und Gestaltungs- eine allgemeine regelmäßige Information zum Di- willen zu wecken, bedarf es vielmehr eines akzep- gitalisierungsfortschritt (z. B. in einem monatlichen tanzbasierten digitalen Kulturwandels, der auf den Rundschreiben „eJustice-monthly“), aber auch zu fünf Prinzipien Mitwirkung, Entlastung, Transpa- möglichen Stockungen oder gar Misserfolgen und renz, Ergonomie und Rücksicht (METER) beruht. Rückschritten. Es gilt, den Trial-and-Error-Charak- 6 HeMi 2/2020
TITELTHEMA ter der Pilotversuche herauszustellen, um Fehlerto- bedeutet aber auch, dass der Rationalisierungs- leranz zu erzeugen. Auf der anderen Seite müssen diskussion mit dem nachgeordneten Bereich nicht konkrete und sichtbare Vorteile für die richterliche ausgewichen werden darf. Soweit Digitalisierung in Zeiteffizienz aufgezeigt werden. manchen Bereichen zur Folge hat, dass bestimmte menschliche Tätigkeiten durch Maschinenleistung Ergonomie bedeutet, dass der gewohnte Komfort ersetzt werden können, müssen alternative Ein- von hochwertigen Privatgeräten und Anwender- satzbereiche geplant und kommuniziert werden. software auch in der dienstlichen Umgebung ge- Die Justizausbildung sollte dabei frühzeitig auf zu- währleistet bzw. sogar übertroffen werden sollte. kunftsfähige Aufgaben umgestellt werden. Das Augenmerk muss auch auf Design, Gewicht und Haptik sowie einer intuitiven Benutzerführung Gelingt der digitale Kulturwandel, haben elek- liegen. Hier bieten sich breite Anwendungsmög- tronischer Rechtsverkehr und elektronische Akte lichkeiten für z. B. Smartpens, Convertibles oder – vorbehaltlich der Lösung nicht geringer tech- sogar Schreibtischprojektoren (z. B. HP Sprout). nischer Herausforderungen – eine glänzende Zu- kunft vor sich, die von einer leistungsfähigen und Schließlich gilt es, Rücksicht aufeinander zu neh- ergonomischen Ausstattung geprägt sein wird, men. Dies bedeutet, dass man sich den unter- den Schutz der Justizdaten vor unbefugtem Zugriff schiedlichen Digitalkompetenzen stellen sollte. gewährleistet, die Unabhängigkeit der Justiz als Dabei muss sowohl dem digitalen Erfahrungs- und dritter Staatsgewalt garantiert und nicht zuletzt von Erwartungshorizont der jüngeren Kolleginnen und den Bediensteten angenommen werden wird. Kollegen als auch der Lebensleistung derjenigen, die näher an der Pensionsgrenze stehen, Rech- Johannes Schmidt nung getragen werden. Das kann auch eine Digi- talisierung der zwei Geschwindigkeiten bedeuten, bei der in den letzten zehn Dienstjahren auf Wunsch auf eine Volldigitalisierung des Arbeitsplatzes ver- zichtet wird. Insbesondere für Menschen mit Be- hinderungen muss es zudem maßgeschneiderte Lösungen geben, die den individuellen Einschrän- kungen spezifisch Rechnung tragen. Rücksicht Nicht minder stolz wurde das neue Handbuch „Digitalisierung“ vorgestellt. HeMi 2/2020 7
TITELTHEMA eJUSTICE DIE SUCHE NACH DER SCHRIFT Die Prüfung der Formanforderungen im elek- heißt, dass alle verwendeten Zeichen der Schriftart tronischen Rechtsverkehr ist zuweilen und je- eingebettet sind. Beides genügt den Anforderun- denfalls auf den ersten Blick nicht simpel. Das gen der ERVB 2019. Nicht ausreichend wäre hin- Hochreck der Zulässigkeitsprüfung ist gegen, wenn hinter der Schriftart angezeigt wird: aber ganz sicher die Frage, ob die Vo- „Schriftart nicht eingebettet“ oder wenn hinter der raussetzungen der Bekanntmachungen jeweiligen Schriftart kein Klammerzusatz aufgeführt zum elektronischen Rechtsverkehr ist: (ERVB) eingehalten sind. Grob vereinfacht ist es nach den gem. § 5 ERVV anwendbaren ERVB 2019 not- wendig, dass eine bei Gericht eingereichte PDF-Datei aus sich heraus und alleinste- hend verwendbar ist, insbesondere ohne dass ein Internetzugang erforderlich ist. Außerdem dürfen keine weiteren Dateien Praktisch problematisch sind die grafisch beson- oder aktiven Inhalte eingebettet sein. Der nahelie- ders gestalteten Briefköpfe von Rechtsanwalts- gende Grund ist die IT-Sicherheit, zudem sind in kanzleien und Behörden mit nicht selten exotischen einzelnen Bundesländern die Internetzugänge aus Schriftarten, die nicht eingebettet werden. Es er- dem Justiznetz erheblich beschränkt, sodass ein scheint zwar zunächst naheliegend, dass dies wohl Nachladen von Inhalten oder von Schriftarten teil- kaum die Unzulässigkeit eines Rechtsbehelfs recht- weise auch technisch nicht möglich wäre. fertigen könnte, weil das Aussehen des Briefkopfs keine rechtliche, sondern allenfalls ästhetische Die von den ERVB 2019 geforderte Einbettung von Relevanz hat. Andererseits sprechen der Wortlaut Schriftarten lässt sich beim Öffnen einer PDF-Datei der ERVV/ERVB und deren Sinn und Zweck eher für im Reiter „Schriften“ überprüfen. Steht hinter der eine restriktive Haltung der Justiz hinsichtlich die- dort angezeigten Schriftart „eingebettet“, bedeutet ser Merkmale. In einigen Bundesländern – so auch dies, dass die PDF-Datei die gesamte Schriftart in Hessen – sind die Internetzugänge aus dem enthält. „Eingebettete Untergruppe“ Justiznetz aus guten Gründen der IT-Sicherheit erheblich beschränkt, sodass ein Nachladen von Inhalten oder Schriftarten teilweise technisch nicht möglich ist. Daher kann es sein, dass eine nicht eingebettete Schriftart an einem Justizarbeits- platz vollständig unleserlich oder aber sogar gar nicht dargestellt wird. Aus diesem Grund dürften Ausnahmen vom Erfordernis der voll- ständigen Einbettung (wie etwa ein Einbet- tungserfordernis nur für wesentliche Inhalte des Schriftsatzes) nicht ohne Weiteres denkbar sein, denn der juristische Ent- scheider weiß nicht, was er nicht sieht. Herausfordernd ist diese (neue) Formprüfung bereits deshalb, weil sie selbstver- ständlich nur am PC, nicht an einer Papierakte durchführbar ist. Sehr lesenswert ist hierzu eine der bundesweit ersten Ent- scheidungen vom LAG Frankfurt Und dann noch in Helgas Küchenschürze ... 8 HeMi 2/2020
TITELTHEMA eJUSTICE am Main (Beschluss vom 7. September 2020 – 18 das Problem der nicht eingebetteten Schriftarten Sa 485/20). Sympathisch ist ferner ein nicht minder dürfte dennoch bestehen bleiben. lesenswertes Urteil des LG Mannheim (Urteil vom 4. September 2020 – 1 S 29/20). Danach komme es Für Einreicher sind fast alle Probleme mit den ERVB für die Rechtsfolge von Verstößen gegen die ERVV übrigens leicht zu umschiffen: Nahezu sämtliche grundsätzlich auf eine Abwägung zwischen dem Formvoraussetzungen werden bereits dadurch er- Justizgewährungsanspruch des Einreichers einer- füllt, dass nicht einfach irgendeine PDF-Datei ein- seits und der Art und Schwere des Formverstoßes gereicht wird, sondern ein Dokument im Format andererseits an. Dem Bundesverfassungsgericht PDF/A. In diesem Fall muss nur zusätzlich die Text- dürfte diese Relativierung gefallen (s. auch BVerfG, erkennung sichergestellt werden. Beschluss vom 22. Oktober 2004 – 1 BvR 894/04), Henning Müller Aktuelles aus dem Hessischen Landtag Den Hessischen Landtag haben seit der letzten rechtspolitischen Ausschusses und im Innenaus- Ausgabe der Hessischen Mitteilungen einige kon- schuss nahm die Opposition die Landesregierung troverse Justizthemen beschäftigt. Das alles be- hierzu unter Feuer. Um diese Frage kreisen auch herrschende Thema war dabei die Gutachteraffä- mehrere dringliche Berichtsanträge und Kleine An- re bei der Generalstaatsanwaltschaft. Sowohl im fragen von SPD und FDP (Drs. 20/3629, 20/3668, Plenum als auch in mittlerweile vier Sitzungen des 20/3670, 20/3679 und 20/3668). CDU: Die Be lastun Die L kritis che Staats g insb eson inke an zeigen waltschaften dere der : SPD: urde n f e rner zzeit d e r gegen , bei d enen e mit Str Die a nach uch vom PD w aten hen Besch s um G afan- halti d e r S m a L s is c chen D ä ftigte d ewa Fixie g kr Richterb Von m Th e r hes es öffe lt r it en zu in de . ie Thema nstes geht, ntl Beri ungen w isierte R und Hes Frag irme 714) e w ar zud i- chts antr ar Gege echtsla en s rbild s c h . 2 /3 0 CDU (D iner kleinen e Them Sper e ll t (Drs rs. 20/3 Anfrag m ag n Ano a Fixier s der L stand e bei ge st belastu 581). D ed iz ge n ie Meh er rd u IN onen nung in ngen oh KEN zu es in Just fläche g der Justiz r- ne r m ndeck d u rc h (Drs Unte i c en die . 20/ „Marb urger M de Einführun 3177 rbringun hterlich der hä odells g des ). gssi e us “ im B tuat einem lichen Gewa ereich i- Berich lt wird abgefr ts in agt (Drs antrag der S . 20/26 PD 96). FDP: Die FD P immer machte schli wichtig e nach d er werd ßlich die er e hessis Amtsangem nde Frage g ch es einer u en R-Besold senheit der hrun en- FDP matik der m un infü er E ist Geg te ll e n proble Gegenstan te d die au fassenden K g zum Them ch die Forderu leinen Anfra a SPD: nd b e i d usti z san- Eine S eren Art is t besetz bande ge, hsta in der J Bericht ge „ U n s, Gesprä an besoldun ng uns Sac d beson inen Anfra llen im Hes - c gs eres V er- Der Justice eiteren /3053). le der K ngsleiters te Justiz “ mitzus hen mit eige politischen e von eines w rs. 2 0 d e r pre hatte (D chen, zum ner Sti d D (D u Abteil Ministeriu m Gegen mme stan der SP rs. 20/2 s en sisch /3693). 923). stand trag 20 (Drs. HeMi 2/2020 9
10 JAHRE ZIT JUBILÄUM 10 JAHRE ZIT – EIN KURZES PORTRÄT In einer Hausmeisterwohnung der Staatsanwalt- zuständigen Ansprechpartner zu haben. Das erste schaft Marburg nahm alles seinen Anfang. Vor große Verfahren, das wir geführt haben, war ein knapp zehn Jahren wurde dort die Zentralstelle Kinderpornografieverfahren. Da ging es um den zur Bekämpfung der Internetkriminalität (ZIT) bei Betrieb eines entsprechenden Boards, damals der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main noch im Clearweb, also im normalen Internet. Das eingerichtet. Zunächst nur mit zwei Oberstaats- Verfahren sorgte bundesweit für Schlagzeilen und anwälten als Dezernenten und fernab des Haupt- endete mit zahlreichen Verurteilungen. hauses. Aus dieser Hausmeisterwohnung in Mar- burg sind längst repräsentative Räumlichkeiten HeMi: Die ZIT sitzt heute in Frankfurt. Das war in der Frankfurter Innenstadt geworden und aus aber nicht immer so. Wo hat sie denn ihre Ar- zwei Oberstaatsanwälten 14 Dezernenten. beit aufgenommen? LEITENDER OBERSTAATSANWALT May: Das war ganz lustig. Als die Zentralstelle 2010 geschaffen wurde, hatte man zwar an alles ANDREAS MAY IM INTERVIEW ZUR gedacht, aber nicht an Räumlichkeiten. Wir sind zu- GESCHICHTE DER ZIT UND IHRER nächst in der leer geräumten Hausmeisterwohnung KÜNFTIGEN AUSRICHTUNG: des Amts- bzw. Landgerichts in Marburg unterge- kommen. Der Kollege Franosch und ich mussten HeMi: Herr May, die ZIT feiert dieses Jahr ihr uns damals einen Internetanschluss und ein Te- 10-jähriges Bestehen. Sie sind von Beginn an lefon teilen, dafür hatten wir aber eine Küche und dabei. Können Sie uns die Anfänge beschrei- ein Bad. Ich denke gern an diese besonders dy- ben? namische Zeit zurück, weil wir damals wahnsinnig viele Freiheiten hatten, uns zu entfalten. Die Materie May: Los ging es am 1. Januar 2010. Damals war 2010 noch neu und es herrschte so eine Art wurde die ZIT als Außenstelle der Generalstaats- Goldgräberstimmung. Man konnte viel entwickeln, anwaltschaft Frankfurt errichtet. Zuvor hatten der z. B. neue Ermittlungstechniken in Zusammenarbeit Kollege Rainer Franosch in Frankfurt und ich in Gie- mit dem BKA ausprobieren, und wir mussten die in ßen Sonderdezernate für Internetkriminalität. Diese diesem Bereich bis dahin kaum vorhandene Recht- wiederum waren daraus entstanden, dass wir bei- sprechung schaffen. de zuvor für Kinderpornografie zuständig waren und in dem Bereich viel mit Internetermittlungen Nach einem Jahr sind wir von Marburg nach Gie- zu tun hatten. Die Generalstaatsanwaltschaft war ßen umgezogen und seitdem gewachsen. Gießen der Ansicht, dass es sich bei Cyberkriminalität um hatte allerdings zwei Nachteile für die ZIT. Die ein spezifisches Wachstumsfeld handelt und man Räumlichkeiten waren dort relativ begrenzt, sodass daher das staatsanwaltschaftliche Spezialwissen wir durch unser Wachstum irgendwann an Grenzen bündeln sollte. So wurde dann die Zentralstelle für gestoßen sind. Außerdem war die Nachwuchsge- Internetkriminalität mit zwei Dezernentenstellen ge- winnung sehr schwierig. Dies deshalb, weil die ZIT schaffen. Wir unterscheiden uns von den übrigen nahezu durchgängig aus abgeordneten Staatsan- Zentralstellen, die vorrangig mit Koordination und wälten besteht und Gießen von der Lage für die Support befasst sind, dadurch, dass wir auch eige- wenigsten Staatsanwälte attraktiv war. Insofern ar- ne große Ermittlungsverfahren führen. Dies ist auch beiteten überwiegend abgeordnete Staatsanwälte nötig, um unserer Aus- und Fortbildungsfunktion aus Gießen und Marburg für die ZIT, was für die gerecht zu werden. dortigen Staatsanwaltschaften personell schwer zu stemmen war. Hinzu kam die für uns glückliche Entwicklung des Bundeskriminalamts. Das BKA baute im Jahr 2010 2019 sind wir nach Frankfurt umgesiedelt. Wir sind seine Ermittlungseinheiten im Bereich Cybercrime nun in einem eigenen sehr großzügigen Gebäude enorm aus. Cyberverfahren richten sich zu Be- in der Nähe des Haupthauses der Generalstaats- ginn fast ausschließlich gegen unbekannte Täter anwaltschaft untergebracht. Dies bietet für uns an einem ubiquitären Tatort, nämlich dem Inter- den Vorteil, dass die ZIT nunmehr einen attraktiven net. So war man bei den operativen Einheiten des Standort hat und über die räumlichen Kapazitäten BKA froh, mit unserer Zentralstelle einen originär verfügt, personell wachsen zu können. 10 HeMi 2/2020
10 JAHRE ZIT HeMi: Wie ist die ZIT aufgebaut? modell der Landesregierung mit Strafverfolgungs- behörden und NGOs, also Nichtregierungsorga- May: Am Anfang mussten der Kollege Franosch nisationen. Außerdem werden wir auch in diesem und ich alle Bereiche abdecken, wir waren sozusa- Bereich der operative Ansprechpartner für das gen All-in-one-Staatsanwälte. Das ist schon lange BKA sein. ganz anders. Heute haben wir mehrere Arbeits- gruppen mit unterschiedlichen Zuständigkeiten. HeMi: Wie hat sich der Bedarf für diese Einheit in den letzten Jahren entwickelt, was sind die Aktuell besteht die ZIT aus vier Teams mit jeweils Prognosen für die Zukunft? einem Arbeitsgruppenleiter und mir als Leitendem Oberstaatsanwalt. Die Arbeitsgruppenleiter sollen May: Momentan sind wir in einer guten personellen perspektivisch alle feste Dezernenten, also Ober- Situation. Sollte das NetzDG in Kraft treten, werden staatsanwälte, sein. Wir haben momentan verteilt Tausende von Verfahren auf uns zukommen. Wir auf die Arbeitsgruppen zehn abgeordnete Staats- werden dann wahrscheinlich im nächsten Jahr mit anwälte und einen Oberstaatsanwalt. Insgesamt Hatespeech-Verfahren des Bundeskriminalamts stehen uns aber 23 Stellen zu, d. h., elf Stellen sind überhäuft werden. Die bereits bewilligten Dezer- momentan unbesetzt, davon drei OStA-Stellen. nentenstellen zur Hatespeech-Bekämpfung wer- Eine dieser drei ist aktuell ausgeschrieben. Zehn den wir dann unbedingt benötigen, damit wir unse- der unbesetzten Dezernentenstellen haben wir re Ermittlungen effizient führen können. in diesem Haushaltsjahr ausschließlich zur Hate- speech-Bekämpfung bekommen. Man kann sagen, unser Bedarf hat sich durch un- sere Flexibilität immer marktorientiert entwickelt. HeMi: Wo liegen die Tätigkeitsschwerpunkte Das bedeutet, wir haben uns immer wieder an den der ZIT bzw. der einzelnen Arbeitsgruppen? Entwicklungen der kriminellen Szene orientiert und dann mit unserer eigenen Struktur darauf reagiert. May: Ein Team ermittelt ausschließlich im Kernbe- Als beispielsweise das Thema Darknet irgendwann reich Cyberkriminalität. Die Arbeit in diesem Team aufkam, sind in diesem Bereich neue Dezernen- erfordert sehr viel technisches Know-how und sehr tenstellen geschaffen worden. Letztlich haben wir gute Kenntnisse im Bereich der Telekommunikati- immer geschaut: Welche neuen Ermittlungsfelder onsüberwachung. In diesem Team weist praktisch können wir erschließen und wie viel Personal brau- jedes Verfahren internationale Bezüge auf und chen wir zur Bearbeitung? Mit diesen Stellen sind dementsprechend ist das Team sehr stark ver- wir dann vom Ministerium auch immer in ausrei- knüpft mit Rechtshilfe. Wir sind daher sehr froh, chendem Maß versorgt worden. eine Dezernentin zu haben, die komplette Rechts- hilfebefugnisse hat. HeMi: Schafft es die Justiz durch solche Spe- zialisierungen, mit der sich im Internetzeitalter Das zweite Team beschäftigt sich ausschließlich mit wandelnden Kriminalität umzugehen und eine Kinderpornografie-Ermittlungen. Das ist ein Feld, effektive Strafverfolgung zu gewährleisten? das leider große Wachstumszahlen zu verzeichnen hat. Wir nehmen an, dass mit dem – aktuell noch May: Wir können natürlich nicht jede Form von Inter- umstrittenen – Inkrafttreten des Netzwerkdurchset- netkriminalität abdecken. Das lässt sich mit keinem zungsgesetzes (NetzDG) diese Zahlen noch weiter Personalzuwachs der Welt abbilden. Es funktioniert ansteigen werden. daher nicht, jegliches Ermittlungsverfahren aus dem Bereich an uns als Zentralstelle abzugeben. Das dritte Team beschäftigt sich ausschließlich mit Wir müssen vielmehr dafür sorgen, dass die staats- Darknet-Ermittlungen. Da geht es um die Verlage- anwaltschaftlichen Kollegen vor Ort die Grundtech- rung von normaler Kriminalität in das Darknet, z. B. niken der Internetermittlungen kennen, dass sie Waffen- und Drogenhandel, Handel mit gefälschten z. B. wissen, wie ein Online-Betrug ermittelt wird. Ausweisen, Identitäten und gestohlenen Daten aller Wir können da zwar im Einzelfall gern Unterstützung Art. bieten, aber wir brauchen eine entsprechende flä- chendeckende Grundqualifikation der Staatsan- Das vierte Team wurde geschaffen aufgrund der waltschaften. Wir haben unsere Aus- und Fortbil- Koalitionsvereinbarungen der Landesregierung. dungskonzepte ständig geändert und angepasst, Damals wurde festgelegt, dass wir die zentrale Be- um für diese Grundqualifikation Sorge zu tragen, arbeitungsstelle für Ermittlungen im Bereich Hate- aber das ist ein wirklich schwieriges Feld. speech sind. Zur Bekämpfung von Hatespeech gibt es in Hessen ein ganzheitliches Kooperations- HeMi 2/2020 11
10 JAHRE ZIT Wir selbst haben mit dem BKA einen technisch gibt, müssten in den Katalogen auch die Taten ste- extrem starken Kooperationspartner mit sehr gro- hen, bei deren Vorliegen eine solche Online-Durch- ßem Know-how. Was unsere Arbeit schwierig suchung sinnvollerweise im Zuge der Ermittlungen macht, sind die rechtlichen Rahmenbedingungen. vorgenommen wird. Bei uns muss alles wahnsinnig schnell gehen, sonst sind die Daten in aller Regel nicht mehr vorhanden. HeMi: Sie hatten noch die internationalen Ko- Wir brauchten ein viel schnelleres Rechtshilfesy- operationspartner der ZIT erwähnt, welche sind stem, auch wenn der Austausch mit unseren inter- das? nationalen Partnern sehr gut funktioniert. May: Wir führen viele bilaterale Verfahren mit Frank- HeMi: Welche Verbesserungsmöglichkeiten se- reich oder den Niederlanden. Ein Beispiel für die hen Sie? erfolgreiche Zusammenarbeit mit den Niederlän- dern ist das Verfahren „Wall Street Market“, ein May: Wir würden eine schnelle Umsetzung der Großverfahren um Drogenhandel und Untreue, in E-Evidence-Richtlinie begrüßen, d. h. einen un- dem Anklage vor dem Landgericht Frankfurt am glaublich unkomplizierten schnellen Zugriff auf Main erhoben ist. Daten, die im Ausland liegen, damit wir die Daten hier verwerten können. Das zweite Stichwort ist die Wir haben auch einen ganz engen Austausch mit Vorratsdatenspeicherung. Diese müsste praktisch Europol und Eurojust und sind oft dort vertreten, um anwendbar sein. Da fehlen entscheidende Punkte Verfahren und Verfahrenskomplexe zu besprechen. aus unserer Sicht. Im Bereich Cybercrime haben Auf internationaler Ebene ist unser allerwichtigster wir es überwiegend mit Computerbetrügereien, Da- Partner das FBI. tendelikten und gewerbsmäßigem Betrug zu tun. Keines der Datendelikte ist aber Katalogtat nach HeMi: Herr May, wir danken Ihnen für dieses in- §§ 100 a, 100 b, 100 g Abs. 2 StPO. Da hat der formative Gespräch. Gesetzgeber lediglich den Katalog des großen Lauschangriffs benutzt und der ist für unsere Ermitt- Interview geführt vom Redaktionsmitglied lungen unbrauchbar. Wenn man uns Instrumentari- Christine Schröder en wie beispielsweise eine Online-Durchsuchung 10 JAHRE ZIT DAS DARKNET – ZWISCHEN MYTHOS UND REALITÄT Staatsanwalt Dr. Sebastian T. Müller1 der University of Cambridge. Ziel dieser Erfindung war ursprünglich ein freier Internetzugang ohne Ein wiederkehrendes Thema der ZIT ist das staatliche Überwachung. Dabei hatten die Gründer Darknet. Egal ob Kinderpornografie, Waffen oder keineswegs kriminelle Absichten; vielmehr lag der Drogen: Glaubt man der Presse, ist das Darknet Fokus auf freier politischer Meinungsäußerung. ein einziger Sündenpfuhl und Hort der Kriminalität. Aber was versteckt sich wirklich dahinter? Was ist Neben dem Licht der freien Meinungsäußerung eigentlich dieses ominöse Darknet, über das jeder machten sich aber auch schnell Schatten im Tor- spricht? Und wie wird dort eigentlich ermittelt? Netzwerk breit. Schon bald nutzten nämlich nicht nur politisch Verfolgte und Oppositionelle das ver- 1. Die Anfänge der ZIT schlüsselte Netz, sondern auch Kriminelle. Insbe- Die Idee des Darknets ist so alt wie das Internet sondere im Bereich der Kinderpornografie entwi- selbst. Obwohl das sog. Tor-Netzwerk nur einen ckelte sich ein florierender Handel. Ungestört von Teil des Darknets darstellt, wird es doch oft syno- staatlicher Überwachung konnten sich Pädophile nym verwendet. Die Wurzeln des berühmten Tor- austauschen und ein weitverzweigtes Netzwerk Netzwerks finden sich in den frühen 2000ern an aufbauen. Während die Strafverfolgungsbehörden sich anfangs bereits mit dem regulären Internet 1 Der Autor ist als Staatsanwalt abgeordnet zur Generalstaatsan- schwertaten, war das Tor-Netzwerk nahezu un- waltschaft Frankfurt am Main – Zentralstelle zur Bekämpfung der durchdringbar. Internetkriminalität (ZIT). Der Beitrag gibt ausschließlich die per- sönliche Auffassung des Autors wieder. 12 HeMi 2/2020
10 JAHRE ZIT Diesen Umstand wollten die beiden Marburger Deutlich tiefer verborgen liegt hingegen das Oberstaatsanwälte Andreas May und Rainer Fra- Darknet. Der Zugang zum Darknet ist nur mittels nosch nicht tatenlos hinnehmen. Gemeinsam eines speziellen Browsers möglich und die Kom- mit dem Bundeskriminalamt begann die ZIT am munikation im Netzwerk erfolgt verschlüsselt. Das 1. Januar 2010 mit ihren Ermittlungen im Darknet. Tor-Netzwerk leitet seinen Namen von der Zwie- Nach den ersten Erfolgen nahm das Projekt schnell beltaktik der Server ab; im Englischen wird daraus Fahrt auf. Bereits nach einem Jahr verlegte die „The Onion Router“ – kurz: Tor. ZIT ihren Sitz nach Gießen und bildete damit eine offizielle Außenstelle der Generalstaatsanwalt- schaft. Immer neue Stellen wurden geschaffen und schließlich kam im Sommer 2019 der Umzug nach Frankfurt am Main. Mit nunmehr 14 Staatsanwälten ist die Spezialeinheit so groß wie nie zuvor. Unter- teilt in vier Teams soll die ZIT jetzt noch effektiver werden. Während sich das Team Cyber der Hacker im klassischen Sinne annimmt, ermittelt das Team Kipo (Kinderpornografie) gegen Pädophile im In- ternet. Seit Herbst des vergangenen Jahres wurde zudem das Team Hatespeech massiv ausgebaut. Spätestens seit den Reaktionen auf den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Lübcke und den Anschlag in Hanau sind die Folgen von öffentlichen Hassreden im Fokus der Öffentlichkeit. Als viertes Team komplettiert die Arbeitsgruppe Darknet den Ermittlerkreis. 2. Tor-Netzwerk – die trockene Theorie Zum Verständnis des Darknets sind einige tech- nische Begrifflichkeiten erforderlich. Diese sollen hier vereinfacht dargestellt werden. Im technischen Die technische Besonderheit liegt darin, dass die Sinne ist das Darknet ein Teil des Internets. Letzte- Anfragen des Users nicht direkt an den Empfän- res unterteilt sich in drei Bereiche: ger geleitet werden, sondern mindestens drei Ser- verschnittstellen passieren. Dadurch können die Datenströme nur schwer nachvollzogen werden. Anders als in Clearweb und Deep Web lautet die Internetadresse dann nicht auf .de oder .com, son- dern stets auf .onion. Der Zugang zum Tor-Netzwerk ist aber keinesfalls kompliziert oder anspruchsvoll. YouTube-Anlei- tungen ermöglichen theoretisch auch Laien einen schnellen Zugang ins Darknet. Der Tor-Browser selbst kann kostenlos auf seriösen Internetseiten heruntergeladen werden. An der Spitze des Eisberges findet sich das sog. Clearweb. In diesem können User frei zugängliche Inhalte ansteuern: Suchmaschinen, Wikipedia oder Nachrichtenseiten. Erste Zugangsbeschränkungen enthält aber bereits das sog. Deep Web. Hierunter wird jeder Bereich des Internets verstanden, der zwar ganz gewöhnlich über eine Internetadresse (URL) erreicht werden kann, aber eine Zugangs- berechtigung voraussetzt. Dies umfasst beispiels- weise die Mitgliederseite eines Sportvereins oder browserbasierte E-Mail-Konten. Fast 90 % des In- ternets entfallen auf das Deep Web. HeMi 2/2020 13
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10 JAHRE ZIT 3. Das Darknet als krimineller Untergrund des Geldes. Die Rückverfolgung von Kryptozah- Im Phänomenbereich Cybercrime wird von einer lungen ist jedoch nicht immer einfach. Bankenan- Underground Economy gesprochen, also einem fragen und Kontoauswertungen sind nicht möglich. digitalen Schwarzmarkt; dieser kann in allen drei Deshalb hilft oft nur akribische Kleinarbeit. In der Bereichen stattfinden. Ein Teil dieser Underground Vergangenheit war dies oftmals von Erfolg gekrönt: Economy findet auch im Darknet statt. In diesem Eines der wohl aufsehenerregendsten Ermittlungs- geschützten Umfeld findet sich aber nicht nur verfahren der ZIT stand im engen Zusammenhang Kinderpornografie wieder, sondern auch Waffen- mit dem rechtsextremistisch motivierten Anschlag und Drogenhändler haben längst die Vorzüge am Münchner Olympia-Einkaufszentrum. Dort er- der sicheren Verschlüsselung für sich entdeckt. schoss ein 18-Jähriger am 22. Juli 2016 neun Men- In entsprechenden Darknet-Shops können illegale schen und nahm sich im Anschluss daran selbst Waren erworben werden, wie gefälschte Ausweis- das Leben. Die Ermittlungen zeigten schnell, dokumente, Falschgeld, Drogen und Waffen. Ne- dass der Täter sowohl Waffe als auch Munition im ben dem Verkauf von Waren hat sich ein breites An- Darknet erworben hatte. Im länderübergreifenden gebot von „Dienstleistungen“ etabliert. Hier können Austausch konnte die Verkaufsplattform ausge- User etwa Hacker-Angriffe in Auftrag geben, ohne macht werden. Aufgrund umfangreicher Vorermitt- selbst über die nötigen technischen Kenntnisse zu lungen durch die ZIT und das Zollfahndungsamt verfügen. Im Fachjargon ist dann von „crime as a konnte der Verkäufer bereits am 16. August 2016 in service“ die Rede. Marburg festgenommen werden. Im Juli 2017 gelang es der ZIT, in enger Zusammenarbeit mit dem Bundeskri- minalamt und internationalen Strafver- folgungsbehörden, das Missbrauchs- netzwerk „Elysium“ zu zerschlagen. Auf dieser Plattform tauschten mehr als 87.000 User kinderpornografische Bilder aus und verabredeten sich teilweise zum Kindesmissbrauch. Aktuell verhandelt die ZIT vor dem Land- gericht Gießen gegen die Betreiber des (Darknet-)Drogen-Shops „Chemical Re- volution“. Die entsprechenden Foren sind intuitiv gestaltet und legalen Plattformen sehr ähnlich. Oft werden Obwohl Hessen mit der ZIT über eine entspre- ein Bewertungssystem und sogar ein Treuhandser- chende Zentralstelle verfügt, tragen auch die land- vice angeboten. So soll sichergestellt werden, dass gerichtlichen Staatsanwaltschaften eine erhebliche die angebotenen Waren auch wirklich geliefert wer- Verfahrensbelastung. Im Bereich der leichten und den. Durch positive Bewertungen können Verkäu- mittleren Internetkriminalität führen sie die Ermitt- fer ihren internen Status erhöhen und mehr Kunden lungen. anlocken. Zahlungen erfolgen zumeist über sog. Kryptowährungen, insbesondere Bitcoins. 5. Ausblick – wie geht es weiter? Es steht fest, dass Internetkriminalität kein vorü- 4. Ermittlungen im Darknet – ein aussichtsloses bergehendes Phänomen ist. Im Kampf gegen die Unterfangen? kriminellen Strukturen zählen Innovation, Schnellig- Nun stellt sich die Frage, wie in einem anonymen keit und eine internationale Ausrichtung. Eine stär- Umfeld überhaupt ermittelt werden kann. Das Ziel kere Vernetzung von nationalen wie internationalen von Ermittlungen im Darknet ist stets der Weg in Strafverfolgungsbehörden wird zukünftig die Er- die Realität, also der Sprung aus dem Tor-Netz- mittlungsarbeit prägen. Im Wettlauf mit der Technik werk in die Wirklichkeit. Hinter jedem Pseudonym werden komplexere Ermittlungen erforderlich sein. („Nickname“) versteckt sich eine real existierende Die hessische Justiz ist hier Vorreiter und das not- Person. Dabei kommen neben technischen Ermitt- wendige Rüstzeug ist vorhanden. lungsansätzen klassische Methoden zum Einsatz. Durch Observationen, Scheinkäufe und verdeckte Ermittler gelingt es, die wahren Identitäten der Täter aufzuklären. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist die Spur HeMi 2/2020 15
TITELTHEMA GEGENSTANDPUNKT ABSENKUNG DER VORAUSSETZUNGEN FÜR DIE EINSTELLUNG INS RICHTERAMT Am 4. Februar 2020 hat der Richterwahlausschuss Von dieser Neuregelung wurde auch bereits des Landes Hessen die Einstellungsvorausset- Gebrauch gemacht, wie VorsRiLG Dr. Katrin zungen abgesenkt: Burckhardt, im HMdJ als Referatsleiterin in der Personalabteilung tätig, berichtet:1 Der Richter- wahlausschuss habe bislang 22 Einstellungen in Bewerberinnen und Bewerber für die Einstel- der hessischen Justiz zugestimmt, bei denen die lung in das Richterverhältnis auf Probe oder neuen Voraussetzungen den Kandidaten zugut- kraft Auftrags müssen seit Februar 2020 in egekommen seien. Fünf Männer und 17 Frauen Hessen grundsätzlich in der ersten Prüfung seien so für die hessische Justiz gewonnen worden und der zweiten Staatsprüfung in der Summe (Stand 21. Oktober 2020). Fünf Bewerber aus dem mindestens 16 Punkte erreicht haben, wobei neu erschlossenen Notenkorridor seien bislang ab- der Wert von 8 Punkten in der zweiten Staats- gelehnt worden. prüfung nicht unterschritten werden darf. Im Einzelfall ist eine Einstellung auch ab- Insgesamt zeigen diese aus dem HMdJ berichte- weichend von diesen Notenwerten möglich, ten Zahlen, dass die Absenkung der Einstellungs- sofern in der zweiten Staatsprüfung ein Wert voraussetzungen eine bereits seit Längerem anhal- von 7,5 Punkten nicht unterschritten wird und tende Tendenz fortsetzt: So brachten im Jahr 2013 besondere Umstände, die beispielsweise in noch unter 4 % der Eingestellten nur ein „befrie- der Person eines Bewerbers oder der kon- digend“ in der zweiten Staatsprüfung mit, im Jahr kreten Stellen- bzw. Bedarfssituation begrün- 2014 waren es ca. 10 %, im Jahr 2015 bereits 27 %, det sein können, dies rechtfertigen. im Jahr 2016 mehr als 32 % und im Jahr 2017 sogar 44 % (s. dazu die detaillierte Aufstellung in HeMi 1/2017, S. 7–12, und 1/2018, S.24–25). Damit sind die seit dem Jahr 2001 geltenden Vo- raussetzungen herabgesetzt worden, wonach bis- Die weitere Entwicklung der Personalsituation in lang in der ersten Prüfung und der zweiten Staats- diesen wirtschaftlich unruhigen Zeiten bleibt abzu- prüfung jeweils mindestens 8,5 Punkte oder aus warten. Die Redaktion der Hessischen Mitteilungen beiden Staatsexamina eine Summe von 17 Punk- wird in der nächsten Ausgabe ausführlich darüber ten erforderlich war, wobei der Wert von 8 Punkten berichten. in der zweiten Staatsprüfung nicht unterschritten werden durfte. Luise Bendrick 1 Die Redaktion bedankt sich herzlich bei Dr. Katrin Burckhardt für die Zurverfügungstellung der Informationen. EINSTELLUNGSSACHE Was macht für Juristen einen attraktiven Beruf auf dem Arbeitsmarkt, was auch für den Bereich aus? Selbstbestimmtes Arbeiten, Identifikation mit der Justiz gilt. den Inhalten, hohes Gehaltsniveau, ausgeglichene Work-Life-Balance, Sicherheit des Arbeitsplatzes, Derzeit werden bundesweit Richterinnen und Rich- Familienfreundlichkeit, moderne technische Aus- ter gesucht. Das in der Justiz gebotene Gesamt- stattung, gesellschaftliches Ansehen …? Jeder paket aus Arbeitsbelastung und Besoldungsniveau mag diese Frage für sich selbst beantworten. Wenn scheint für Spitzenjuristen nicht mehr so recht at- man denn nach bestandenen Examen überhaupt traktiv zu sein; es fehlt an qualifizierten Bewerbe- die Wahl hat. Die individuelle berufliche Lebenspla- rinnen und insbesondere Bewerbern. Im „Rennen nung wird beeinflusst von Angebot und Nachfrage um die besten Köpfe“ starten die Bundesländer 16 HeMi 2/2020
GEGENSTANDPUNKT daher „Einstellungsoffensiven“, es wird viel geredet und geschrieben. Festzustellen ist: Da tut sich was. Es gibt ausreichend junge Juristen mit gu- Die Thematik ist mittlerweile aus dem rein justiz- ten Abschlüssen. Die Länder können aber internen Bereich in die gesamtgesellschaftliche nicht mehr durchgehend alle davon für die Wahrnehmung diffundiert, die „verzweifelte Suche Justiz gewinnen. Der Wettbewerb um hoch- des Staates nach Nachwuchsrichtern“ wird auch in qualifizierte Kandidaten mit Unternehmen der allgemeinen Presseberichterstattung beschrie- und großen Anwaltskanzleien wird härter. ben (so zuletzt etwa Jung, FAZ vom 15.10.2020, S. Die Länder müssen ein attraktives Angebot 15). Zudem steht der Justiz ein Generationswech- aus guter Besoldung, modernen Arbeitsplät- sel bevor. Altersbedingt werden bis zum Jahr 2030 zen und flexiblen Einsatzmöglichkeiten für rund 40% der heute aktiven Richterinnen und Rich- Nachwuchsjuristen machen. Ein stetiges Ab- ter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte aus dem senken der Einstiegsvoraussetzungen für Ju- Dienst ausscheiden (s. Rebehn, DRiZ 9/2020, 282). risten in die Justiz wäre keine kluge Lösung. Nicht nur in Hessen, sondern in vielen Bundeslän- Marco Rech, DRB-Präsidiumsmitglied dern sind vor diesem Hintergrund die Vorausset- und Besoldungsexperte zungen für die Einstellung ins Richteramt auf Probe bereits abgesenkt worden. Dieser Tendenz steht der Deutsche Richterbund sehr kritisch gegenüber gen bei der Qualitätssicherung der Perspektive von und äußert die Sorge um die hohe Qualität der Ju- Constanze Zanner entgegen. Sie ist richterliches stiz. Mitglied des Richterwahlausschusses in Hessen, der sich in der Vergangenheit mit einem immer ein- Was spricht für die Beibehaltung des „Doppelprä- geschränkteren Bewerberfeld auseinandersetzen dikats“, welche Argumente gibt es dagegen? Wir musste. stellen die verfassungsgerichtlichen Anforderun- Charlotte Rau BEIBEHALTUNG DES „DOPPELPRÄDIKATS“ ALS EINSTELLUNGSVORAUSSETZUNG INS RICHTERAMT? PRO: KONTRA: Ob die Alimentation ihre qualitätssichernde Funkti- Das neue Notenquorum ist ein wichtiger Schritt zur on erfüllt, zeigt sich … auch daran, ob es in dem Erweiterung des Bewerberspektrums für den hes- betreffenden Land gelingt, überdurchschnittlich sischen Justizdienst gewesen. Ob die Examensno- qualifizierte Kräfte für den höheren Justizdienst te auf 8,0 Punkte oder 7,5 Punkte anzuwerben. Gradmesser für die fachliche Qualifi- lautet, ist nicht nur auf Fleiß kation der eingestellten Richter und Staatsanwälte und Wissen zurückzufüh- sind vorrangig die Ergebnisse in der ersten Prüfung ren, sondern zu einem gu- und der zweiten Staatsprüfung. Sinkt – auch im ten Teil auch vom Glück Vergleich zu den Ergebnissen aller Absolventen im abhängig. Somit muss Vergleichszeitraum – das Notenniveau über einen ich vehement der Auf- Zeitraum von fünf Jahren in erheblicher Weise und/ fassung widersprechen, oder werden die Voraussetzungen für die Einstel- durch die Absenkung lung in den höheren Justizdienst spürbar herabge- des Notenquorums ge- setzt, kann man in der Regel davon ausgehen, dass rate der hohe Quali- die Ausgestaltung der Besoldung nicht genügt, um tätsstandard der Justiz die Attraktivität des Dienstes eines Richters oder in Gefahr. Es ist viel- Staatsanwalts zu gewährleisten (vgl. BVerfGE 139, mehr so, dass der Bewer- 64 ). Das Gleiche gilt, wenn in grö- berpool erweitert wurde und ßerem Umfang Bewerber zum Zuge kommen, die nunmehr auch Kandidaten nicht in beiden Examina ein Prädikatsexamen („voll- eine Chance erhalten, denen befriedigend“ oder besser) erreicht haben. das besondere Quäntchen Glück verwehrt blieb, die dies BVerfG, Beschluss vom 04. Mai 2020 – 2 BvL 4/18, jedoch durch Zusatzqualifika- DRiZ 2020, 316 ff., Rn. 88. tionen oder besondere per- HeMi 2/2020 17
AKTUELLES sönliche Leistungen wieder wettmachen können. auf der menschlichen Ebene in hohem Maße und Auch Leistungen im Referendariat werden jetzt stellt sicher, dass auch gereifte Persönlichkeiten stärker berücksichtigt, etwa persönliche Empfeh- ihren Weg in die dritte Gewalt finden. Auch Men- lungen der Ausbilder für eine Tätigkeit geeigneter schen, die besondere persönliche Herausforde- Kandidaten im Justizdienst. Insbesondere die Ein- rungen gemeistert haben und daran offensichtlich zelausbilder haben meist ein verlässliches Bild von gewachsen sind – sei es durch einen Migrationshin- der Leistungsfähigkeit der Kandidaten. Dies könnte tergrund, besondere familiäre Verpflichtungen oder auch Bewerber ermuntern, die vielleicht die bislang vergleichbare charakterlich bildende Erlebnisse –, gültige Notenschwelle nur knapp verfehlt und seit- haben nun eine Chance, diese persönlichen Quali- dem Berufserfahrung erworben haben. Gerade für fikationen in die Waagschale zu werfen. die Fachgerichtsbarkeiten hat Berufserfahrung eine große Bedeutung, da deren spezifische Inhalte teil- Im Jahr 2020 hat dies zu einer erfreulichen Erweite- weise weder im Studium noch im Referendariat rung des Bewerberfelds geführt. Der Richterwahl- zum Lehrstoff gehören. ausschuss kann nun seiner verfassungsmäßigen Aufgabe in befriedigender Weise nachkommen, Besonders ist zu begrüßen, dass das Kriterium der nämlich der Auswahl der am besten geeigneten persönlichen Eignung für den Justizdienst durch Kandidaten für den Justizdienst aufgrund ihrer das abgesenkte Notenquorum eine Aufwertung er- fachlichen und persönlichen Eignung. fährt. Jetzt können auch die Lebenserfahrung der Kandidaten und besondere persönliche Leistungen Constanze Zanner wie etwa ehrenamtliches Engagement hinreichend Richterin am Amtsgericht Frankfurt am Main, berücksichtigt werden. Dies bereichert die Justiz richterliches Mitglied des Richterwahlausschusses RECHTSSTAATLICHE RESSOURCEN AM LIMIT REISESACHEN BEIM AMTSGERICHT FRANKFURT AM MAIN Die Deutschen sind Reiseweltmeister, jetzt gegen eine Provision von mindestens 25 % des An- auch beim Klagen … spruchs für ihre Kunden durch, ein offenbar gutes Geschäft für beide Seiten. 3.000 Zivilklagen im Monat September, so sieht die aktuelle Statistik des Amtsgerichts Frankfurt Die Regulierungspraxis einiger Fluggesellschaften, am Main im Zivilprozess aus. Dies ist jedoch kein insbesondere solcher im Billigsegment, führt lei- singuläres Problem eines Monats, sondern bildet der dazu, dass die Ansprüche häufig im Klageweg eine kontinuierliche Entwicklung in den letzten drei durchgesetzt werden müssen. Erst im gerichtlichen Jahren ab. Während 2017 noch etwas über 5.000 Verfahren werden teilweise Anerkenntnisse abge- Klagen in „Reisesachen“ eingingen, waren es 2019 geben oder die Airlines lassen Versäumnisurteile bereits knapp 15.000. Also eine Verdreifachung in gegen sich ergehen. Diese Praxis ist für Service- drei Jahren. einheiten von Gerichten sowie für Richterinnen und Richter sehr arbeitsintensiv, und sehr viel mit Jura Hintergrund dieser Entwicklung ist die Professiona- haben solche Verfahren häufig auch nicht zu tun. lisierung im Kundenbereich durch Legal-Tech-Un- Sicherlich gibt es auch komplizierte Verfahren, in ternehmen bei einer hohen Anzahl an verspäteten denen es um Fragen des Wetters und einzelner Flügen am Frankfurter Flughafen. Nach der Euro- Störungen im Betriebsablauf geht, jedoch ist in päischen VO 261/2004 sind Flüge ab drei Stunden vielen Fällen die mangelnde Zahlungsmoral von Verspätung und annullierte Flüge ausgleichspflich- Fluggesellschaften der eigentliche Grund für die tig durch Zahlung einer pauschalen Ausgleichs- gerichtliche Auseinandersetzung. leistung. Kluge und innovative Legal-Tech-Un- ternehmen haben seit einiger Zeit erkannt, dass Man sollte meinen, seit „Corona“, also ab März Massenverfahren auch bei kleinen Streitwerten für 2020, hätte doch alles viel besser werden müssen, Unternehmen und Verbraucher attraktiv sein kön- denn geflogen wird ja aktuell recht wenig. Aber nen. Jetzt setzen diese Dienstleister Ansprüche dem ist nicht so, denn nunmehr hat ein weiteres 18 HeMi 2/2020
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