INNOVATIO TRADITIO ET - 10 JAHRE INTERDISZIPLINÄRE FORSCHUNG - UNI ROSTOCK

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INNOVATIO TRADITIO ET - 10 JAHRE INTERDISZIPLINÄRE FORSCHUNG - UNI ROSTOCK
Traditio et
Innovatio
Sonderheft der Universität Rostock 2018

10 Jahre
Interdisziplinäre
Forschung
INNOVATIO TRADITIO ET - 10 JAHRE INTERDISZIPLINÄRE FORSCHUNG - UNI ROSTOCK
Liebe Leserinnen und Leser,
    nach zehn Jahren Interdisziplinärer Fakultät Bilanz zu ziehen, heißt, mit dem Blick zurück den Weg
    nach vorn zu finden. Mit dem vorliegenden Heft Traditio et Innovatio soll dazu an einige Highlights
    der interdisziplinären Zusammenarbeit in den letzten Jahren erinnert werden.

    Mit der Interdisziplinären Fakultät beschritt mein Vorgänger Thomas Strothotte 2007 zusammen
    mit vielen Mitwirkenden und der Zustimmung der Gremien einen ungewöhnlichen Weg, um mit der
    breit aufgefächerten Universität mit wenigen Experten in den einzelnen Fachgebieten sichtbare
    und effektive Schwerpunkte zu bilden. Diese sollten in einer Anschubfinanzierung mit Unterstüt-
    zung des Landes Mittel für Promotionsstipendien erhalten und so diese Profillinien weiter stärken.
    Dieses deutschlandweit einmalige Modell einer virtuellen Fakultät war forschungsorientiert über
    die Fachgrenzen in Form von Doppelmitgliedschaften vernetzt mit zunächst 3 Profillinien: Leben-
    Licht und Materie (LLM), Altern des Individuums und der Gesellschaft (AGIS) und Maritime Systeme
    (MTS). Nach meinem Amtsantritt habe ich mich sehr für die Fortsetzung und den weiteren Ausbau
    dieser Interdisziplinären Fakultät zusammen mit ihrem Gründungsdekan Prof. Dr. Udo Kragl ein-
    gesetzt und zur Integration der Geistes- und Kulturwissenschaften wurde die vierte Profillinie Wis-
    sen-Kultur-Transformation (WKT) gegründet.

    Warum dieser Weg? Unsere Universität ist mit ihren 9 Fakultäten ungewöhnlich breit aufgestellt.
    Dabei ist sie gleichzeitig kein Dickschiff, sondern eher ein schlanker Klipper. In einer Disziplin
    gibt es nicht gleich zehn Lehrstühle, sondern oft nur einen. Will man wissenschaftliche Exzellenz
    erreichen, ist Fokussierung geboten. Großen Universitäten mag die Fokussierung auf gleichzei-
    tig viele Themen gelingen, denn sie verfügen über zahlreiche Lehrstühle in einem Bereich. Klei-
    nen Universitäten mit engem Fächerangebot gelingt dies ebenfalls, dann aber zumeist nur bei ein
    oder zwei Themen. Jedoch bei einer fachlich breit aufgestellten und dennoch schlanken Univer-
    sität? Eine Fokussierung auf ein Thema müsste zwangsläufig dazu führen, dass die Breite der Fä-
    cherpalette eben gar nicht genutzt werden könnte – und viele Disziplinen außen vor blieben. In
    unserer globalisierten Welt sind Internationalität, Interdisziplinarität und Diversität der Schlüs-
    sel zum Erfolg. Das Entstehen von solchen Netzwerken kann man aber nicht dem Zufall über-
    lassen. Mit einer Institutionalisierung entsteht ein starkes Gefüge um miteinander vernetzte
    Schwerpunkte – eine fokussiert vernetzte Vielfalt –, die wir mit der INF realisieren, stärken und zu
    Erfolgen führen möchten. Längst sind die Profillinien zu starken und auch erfolgreichen Depart-
    ments geworden.

2                                                                    Traditio et Innovatio – Zehn Jahre Interdisziplinäre Fakultät 2017
INNOVATIO TRADITIO ET - 10 JAHRE INTERDISZIPLINÄRE FORSCHUNG - UNI ROSTOCK
Editorial

                      Beheimatet in ihren Mutterfakultäten sollten die Mitglieder der INF einen Blick über den Tellerrand,
                      besser noch einen Sprung in fremde Gewässer wagen und mit der Mitgliedschaft in dieser zweiten
                      Fakultät zumindest in Tandems und gerne auch in größeren Verbünden an den Grenzen der eige-
                      nen Fächerkulturen forschen. An Grenzen entstehen ganz neue Erkenntnisse. Der für das eigene
                      Fach kompetente Blick erkennt in der Betrachtung des Partnerfachs bis dahin ungeahntes Potenzi-
                      al. Eine gemeinsame, für alle verständliche Sprache zu finden – dies ist eine besondere Herausfor-
                      derung. Dazu bietet die INF einen Rahmen mit besonderen Anreizen.

                      Diese Anreize lagen ganz konkret zunächst in Promotionsstipendien, von denen für die zunächst
                      drei, dann vier Departments jeweils 10 bis 14 vergeben wurden, immer unter der Auflage einer in-
                      terdisziplinären Betreuung. Wodurch auch gleich gewährleistet war, dass an den Fächergrenzen
                      und Überschneidungszonen geforscht wurde und sich so der Dialog der Fächerkulturen quasi auto­
                      matisch entspann. Mittlerweile hat der Anreiz Früchte getragen. Gut 120 Hochschullehrerinnen
                      und -lehrer sind nun Mitglieder der Fakultät – auch ohne den Anreiz der Finanzierung von Promo­
                      tionsstellen. Denn mittlerweile ist klar, dass durch Interdisziplinarität wirklich Neues und Span-
                      nendes entsteht. Und dies wird auch durch die Förderinstitutionen im Lande mit Spitzenförderung
                      in Sonderforschungsbereichen, Graduiertenkollegs und kollaborativen BMBF- und EU-Großprojek-
                      ten belohnt.

                      Dieses Heft ist also den Leistungen der INF gewidmet. Und natürlich den eigentlichen Leistungs­
                      trägern, den Mitgliedern der Fakultät. Zu denen sich hoffentlich noch viele gesellen mögen, die sich
                      für Interdisziplinarität begeistern können.

                      Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.

                      Ihr

                      Wolfgang Schareck
                      Rektor der Universität Rostock

Universität Rostock                                                                                                                  3
INNOVATIO TRADITIO ET - 10 JAHRE INTERDISZIPLINÄRE FORSCHUNG - UNI ROSTOCK
Inhalt

                                         29

                                     8

Einleitung                               Department
                                         Maritime Systeme
 6 Zehn Jahre Interdisziplinäre
   Fakultät                              29 Rostock auf dem Weg zum Zentrum
                                              für interdisziplinäre Küstenforschung

Department                               33 Erfolge und Erfahrungen für die
Leben, Licht und Materie                      nachhaltige Entwicklung der Ostsee
 8 10 Jahre Department                        und ihrer Küste
   Leben, Licht und Materie (LL&M)       38 Rund um die Ostsee gemeinsam
10 Die Form macht den                         für neue maritime Wirtschaftskonzepte
   Unterschied                                forschen
12 Lernen, den Herzmuskelzellen          40 Phosphor – ein wichtiges
   zuzuhören
                                              Element in allen Lebens- und
14 Kleinste Teilchen mit                      Forschungsbereichen
   großer Wirkung
                                         44 Ausbildung von Experten für
17 Auf der Suche nach dem idealen
                                              den Küstenraum
   Abschreckmedium
19 Nano-Design lässt Zellen              47 Von der Theorie in die Anwendung
   auf Implantaten besser                49 Vom Verstehen zur nachhaltigen
   anwachsen
                                              Nutzung
22 Impressionen aus dem
                                         52 Neue Methoden und Technologien
   Forschungsbau LL&M
                                              in der Forschung für Nachhaltigkeit
                                              an der Küste nutzen

4                                                        Traditio et Innovatio – Zehn Jahre Interdisziplinäre Fakultät 2017
INNOVATIO TRADITIO ET - 10 JAHRE INTERDISZIPLINÄRE FORSCHUNG - UNI ROSTOCK
74

                                                     54

              Department                                  Department
              altern des Individuums und                  Wissen – kultur –
              der Gesellschaft                            transformation
              54 Altern des Individuums und               74 Deutungsmacht
                 der Gesellschaft
                                                          77 Sexualisierte Gewalt gegen Kinder
              56 fast care                                   und Jugendliche
              57 SFB ELAINE                               79 Übersetzen des Wissens –
              58 Studie im Interaktiven Labor                das Wissen der Übersetzung
                 zur Echtzeit-Ganganalyse                 82 Erzähltechniken der Antike
              60 Situationsadaptive Navigations-          85 Andere Transformationen.
                 assistenz für Demenzpatienten auf           Aus den Digital Humanities
                 Basis kausaler Modelle
                                                          86 Schluss mit dem Verzetteln!
              61 Das Projekt SiNDeM
                                                          88 Qualifikation im Department
              63 insideDEM
                                                          89 Corinna Lüthje
              64 Nutzung von Wearables in der
                 Demenzassistenz                          89 Anke Walter
              66 Fachkräftemangel und der Übergang
                 in die Rente
                                                          Sonstiges
              68 Macht der Erzählung
                                                           2 Editorial
              70 Demenz in einer alternden
                 Gesellschaft                             90 Impressum

              72 Analyse von demografischen
                 Ereignissen mit Gesundheitsbezug
              73 Ausblick

Universität Rostock                                                                              5
INNOVATIO TRADITIO ET - 10 JAHRE INTERDISZIPLINÄRE FORSCHUNG - UNI ROSTOCK
Einleitung

       Zehn Jahre
       Interdisziplinäre
       Fakultät
       Herausforderungen einer kleineren Universität
       zum Vorteil nutzen

       Was bedeutet Interdisziplinarität? Man nähert sich die-       Prinzip enorm effizient: „In its normal state, (…) a scien-
       ser Frage vielleicht durch deren Umkehrung: Was ist           tific community is an immensely efficient instrument for
       Disziplinarität und welche Bedeutung hat sie für den          solving the problems or puzzles that its paradigms de-
       wissenschaftlichen Fortschritt? Gewiss scheint: Die Auf-      fine“ (Kuhn, 1970). Eigentlich also kein Anlass, eine in-
       spaltung der Wissenschaften in einzelne Disziplinen er-       terdisziplinäre Vermengung zu fordern oder gar zu för-
       laubte erst deren immens produktive Entwicklung und           dern. Dennoch entstehen durch Spezialisierung zwei
       die Lösung spezifischer Fachprobleme. So haben sich           Herausforderungen: eine allgemeine, eher erkenntnis-
       die universitären Fakultäten in ihrer heutigen Breite         theoretische – und eine speziell für kleine Universitä-
       und Vielfalt entwickelt. Eine Breite im Übrigen, die die      ten sich herausschälende, gewiss im Wesentlichen wis-
                                                                                     senschaftsstrategische. Zunächst zur
                                                                                     allgemeinen, die wiederum der Episte-
                                                                                     mologe Kuhn vielleicht etwas pointiert
                                                                                     aufgreift, wenn er denn bemerkt, dass
Die Aufspaltung der Wissen­schaften                                                  dem wissenschaftlich tätigen Menschen
                                                                                     keine (gedankliche) Alternative zur Ver-
in einzelne Disziplinen erlaubte erst deren                                          fügung stehe, solange sie oder er sich nur
immens produktive Entwicklung und                                                    in dem eigenen Feld bewege. Betriebs-
die Lösung spezifischer Fachprobleme.                                                blindheit also als mögliches Risiko star-
                                                                                     ker Spezialisierung, selbst wenn man es
                                                                                     so apodiktisch nicht sehen mag. Und das
                                                                                     spezifische Problem der kleineren Uni-
                                                                                     versität? Bei großer Breite der Fächer er-
       Universität Rostock trotz ihrer vergleichsweise gerin-        gibt sich folgerichtig, dass die einzelne Disziplin nur von
       gen Größe in exemplarischer Weise abbildet. Beispiel-         Wenigen, bisweilen nur von einem Lehrstuhl überhaupt
       haft sei nur erwähnt, dass sie als erste Volluniversität in   vertreten wird. Das stellt in der derzeitigen Förderland-
       Deutschland bereits seit 1951 zunächst eine, heute nun-       schaft, in der kollaborative Großprojekte gefordert wer-
       mehr sogar zwei technische Fakultäten aufweist – eben         den, eine große, bisweilen unlösbare Herausforderung
       neben den klassischen Geisteswissenschaften, den Na-          dar: Wie sollen mit sieben, fünf oder gar nur einer Person
       turwissenschaften, den Staatswissenschaften und der           ein thematisch fokussierter Sonderforschungsbereich,
       Medizin. Somit finden sich in Rostock Experten, die eine      ein vernetztes BMBF-Projekt, ein EU-Projekt gestemmt,
       enorm breite methodische Palette abdecken, jeweils mit        ja überhaupt erst personell unterfüttert werden? Vor
       ihren fachspezifischen Eigenarten und Herangehens-            zehn Jahren nun hat die Universität Rostock diese He-
       weisen. Spezialisierung geht also in die Tiefe. Und ist im    rausforderung auch strukturell angenommen und auf

6                                                                           Traditio et Innovatio – Zehn Jahre Interdisziplinäre Fakultät 2017
INNOVATIO TRADITIO ET - 10 JAHRE INTERDISZIPLINÄRE FORSCHUNG - UNI ROSTOCK
Gründungsakt der
Interdisziplinären
Fakultät am 11. Oktober 2007
mit damaligem Minister Henry Tesch,
Rektor Prof. Dr. Thomas Strothotte und
Gründungsdekan Prof. Dr. Udo Kragl.

Interdisziplinarität gesetzt und so die Interdisziplinä-   me Fragestellungen zu definieren. Diesen Rahmen gab
re Fakultät gegründet, damit sich über Fächergrenzen       und gibt die Interdisziplinäre Fakultät – zunächst ganz
hinweg kritische Massen für Forschungsschwerpunkte         konkret mit Promotionsstipendien, formaler Depart-
bilden können. Und man kann selbstbewusst behaup-          mentbildung (vier an der Zahl sind es nun), mit Work-
ten: Die intensivierte interdisziplinäre Zusammenar-       shops und auch informellen Treffen zu Bier oder Wein
beit schafft Neues durch Fachgrenzen überschreitendes      oder auch Tee, je nach Vorliebe. Kommt man so ins Ge-
Denken. Neue und unerwartete Erkenntnisse, vielleicht      spräch, gelingt so die gemeinsame Zielsetzung, wird es
sogar dereinst einen Paradigmenwechsel, jedenfalls         enorm spannend.
aber ganz konkret kollaborative Großprojekte.
                                                           Und die Früchte solcher spannender Interaktion ern-
Und wozu brauchte es nun eine Interdisziplinäre Fakul-     ten wir nun seit einigen Jahren. Beispielhaft seien ge-
tät? Die einzelnen Disziplinen waren ja nun da und konn-   nannt: der rezent eingeworbene SFB 1270 Elaine (den
ten auch so schon untereinander interagieren. Auch hier    Departments Leben, Licht und Materie [LLM] und Al-
kann man Kuhn bemühen: „Because (…) the group knows        tern des Individuums und der Gesellschaft [AGIS] wohl
well which problems have already been solved, few sci-     gleichermaßen zuzuordnen) und vorher der SFB 652
entists will easily be persuaded to adopt a viewpoint      Starke Korrelationen [LLM], die Graduiertenkollegs
that again opens to question many problems that had        Deutungsmacht bzw. Kulturkontakt [Wissen-Kultur-
previously been solved.“ Es braucht also Überzeugung,      Transformation; WKT] und die Küstenforschungspro-
Anreize, sich aus dem sicheren Terrain der Fachspezi-      jekte SECOS, BACOSA und PADO, sowie das Graduier-
alisierung auf das Abenteuer, aber auch die Schwierig-     tenkolleg Baltic Transcoast [Maritime Systeme]. Diese
keiten des interdisziplinären, tellerrandüberschreiten-    und weitere aktuelle Erfolge beleuchten die folgenden
den Blicks einzulassen. Denn die Disziplinen sprechen      Seiten, die hoffentlich Lust auf noch mehr Interdiszip-
verschiedene Sprachen und es braucht Zeit für das ge-      linarität machen.
genseitige Verstehen. Und noch mehr Zeit, gemeinsa-                                    Rüdinger Köhling, Dekan INF

Universität Rostock                                                                                                  7
INNOVATIO TRADITIO ET - 10 JAHRE INTERDISZIPLINÄRE FORSCHUNG - UNI ROSTOCK
Department Leben, Licht und Materie

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                                                             op zieht in den Fors
                       ochleistungs-        Elektronenmikrosk
+++ Einzigartiges H

         10 Jahre Department Leben,
         Licht und Materie (LL&M)
         Forschung im Grenzgebiet zwischen Natur-, Ingenieurs-
         und Lebenswissenschaften

         Die Anfänge                                               Wo stehen wir heute
         Grenzübergreifend denken, forschen und neue Part-         Nach 10 Jahren sehen wir, dass sich LL&M entlang dieser
         nerschaften eingehen – diesem Motto hat sich das De-      Linie zu einer aktiven Forschungsplattform entwickelt
         partment LL&M von Beginn an verschrieben. Dabei war       hat, die – ausgehend von einem DFG-Sonderforschungs-
         die Geburtsstunde im Jahre 2007 eine Herausforde-         bereich, einem DFG-Transregio und weiteren Projekten –
         rung, galt es doch, mehrere Forschungsverbünde der        eine Reihe koordinierter Vorhaben trägt bzw. mit ih-
         Universität unter einem Dach zu vereinen. Der Senat       nen zusammenarbeitet. Ein Highlight ist das im Jahre
         und das Konzil befassten sich in lebhaften Diskussio-     2015 bezogene Gebäude für Projekte des Departments.
         nen mit der Ausgestaltung von Profillinien, wie sie zu-   Dieser Forschungsbau, über das Bildungsministerium
         nächst hießen, und beschlossen, Science and Techno-       durch LL&M beantragt und finanziert im Bund-Länder-
         logy of Life, Light and Matter (LL&M) als eine tragende
         Forschungssäule zu etablieren. LL&M hatte zum Ziel,
         Wissenschafts- und Technikdisziplinen der Photonik,
         Katalyse und Engineering, regenerativen Medizin und
         Simulationstechniken miteinander zu verknüpfen. Da-
         mit waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
         aus fünf Fakultäten der Universität sowie den Leibniz-
         Instituten für Atmosphärenphysik (IAP), für Katalyse-
         forschung (LIKAT) sowie für Ostseeforschung (IOW)
         aufgerufen, dem Forschungsstandort ein sichtbare-
         res Profil zu geben. Das Spektrum der Fragestellungen
         reichte von grundlegenden Problemen wie dem Zusam-
         menspiel von Licht und Materie über die Entwicklung
         chemischer und biologischer Wirkstoffe bis zu biome-
         dizinischen Applikationen. Fokus war die Auswirkung
         von mikroskopischen – das heißt vor allem von mole-
         kularen – Effekten auf makroskopische Systeme. Somit
         stand die Erforschung von atomaren und molekularen
         Eigenschaften im Vordergrund, um mit den Erkennt-
         nissen beispielsweise neue Materialien für technische
         oder biomedizinische Aufgaben zu entwickeln und de-
         ren Funktionalität zu steuern.

  8                                                                       Traditio et Innovatio – Zehn Jahre Interdisziplinäre Fakultät 2017
INNOVATIO TRADITIO ET - 10 JAHRE INTERDISZIPLINÄRE FORSCHUNG - UNI ROSTOCK
Programm Forschungsbauten an Hochschulen, stellt den           Das Department
Wissenschaftlern weitere 2500 m² hervorragend ausge-                bündelt die
statteter Labors zur Verfügung. Fünf Kompetenzzent-          Kompetenzfelder:
ren konnten inzwischen eingerichtet und nach entspre-       Photonik, Katalyse,
chenden Antragstellungen mit zum Teil einzigartigen        Medizin und Simula-
Großgeräten ausgestattet werden, siehe Seite 22 dieses      tionstechnologien.
Magazins. Die folgenden Beiträge illustrieren exempla-
risch gegenwärtige Aktivitäten und geben Einblicke in
die Forschungsinfrastruktur.

Nicht weniger wichtig sind das Graduiertennetzwerk         weiter bündeln und ausbauen. Die sich in Vorbereitung
LL&M, die regelmäßigen Hausversammlungen, Tagun-           befindenden koordinierten Forschungsvorhaben (Phy-
gen und Seminare. Sie tragen dazu bei, die gemeinsame      sik-SFB im Forschungsbereich zu Licht & Materie, DFG-
Sprache weiterzuentwickeln und dem wissenschaftli-         GRK Ladungstransfer in Hybridsystemen, DFG-Forscher-
chen Nachwuchs das Forschen an der Schnittstelle zwi-      gruppe Photokatalyse, etc.), der Ausbau mit weiteren
schen den Disziplinen zu erleichtern.                      erstklassigen Methoden und Geräten sowie die Nach-
                                                           wuchsförderung sind wichtige Elemente, LL&M im in-
                                                           ternationalen Wettbewerb nachhaltig gut aufzustellen
Wo möchten wir                                             und dazu beizutragen, den Standort Rostock als wis-
in 10 Jahren stehen                                        senschaftlichen Leuchtturm weiterzuentwickeln. Eine
                                                           besondere Herausforderung sehen wir in einer für das
Interdisziplinäre Forschung zwischen den Natur-, Le-       Department nachhaltigen Berufungspolitik der Univer-
bens- und Ingenieurswissenschaften gerät zunehmend         sität mit dem Ziel, gemeinsam mit den Fakultäten fach-
in den Fokus internationaler Anstrengung. Um auch          liche Defizite zu identifizieren und so alle Kernbereiche
weiterhin sichtbar zu bleiben, müssen wir unsere Ex-       von LL&M kompetent zu besetzen. Damit geht eine dy-
pertisen, wie z. B. die Funktionalisierung auf der Nano-   namische Ausgründungskultur mit ersten vielverspre-
meter-Skala, die (Photo-)Katalyse, Wechselwirkungs-        chenden Beispielen einher. In einem zukünftig anzu-
prozesse biologischer Systeme und Quanteneffekte,          siedelnden Technologiezentrum könnte zudem ein
                                                           interdisziplinärer Wissens- und Technologiepark mit
                                                           hoher Ausstrahlkraft entstehen. Anwendungsfragen
                                                           wie die Umwelt- und Gesundheitsverträglichkeit von
                                                           Partikelemissionen, nachhaltige Technologien mittels
                                                           Photokatalyse oder die Biosensorik rücken dabei zu-
                                                           nehmend in den Vordergrund, beruhen sie doch unmit-
                                                           telbar auf in LL&M stark erforschten Vorgängen an mik-
                                                           ro- und nanostrukturierten Grenzflächen.

                                                           Mit den folgenden Ausführungen nehmen wir Sie mit auf
                                                           einen kurzen Ausflug in die Welt des Departments LL&M.
                                                           Wir wünschen eine angenehme Lektüre!

                                                                              Karl-Heinz Meiwes-Broer, Leiter LL&M
                                                                                    Susanne Radloff, Koordinatorin

                                                                                                       Der Forschungsbau
                                                                                                       des Departents LL&M
                                                                                                       auf dem Südstadt-
                                                                                                       Campus

Universität Rostock                                                                                                          9
INNOVATIO TRADITIO ET - 10 JAHRE INTERDISZIPLINÄRE FORSCHUNG - UNI ROSTOCK
Department Leben, Licht und Materie

       Die Form macht
       den Unterschied
       Die Kombination von Ultrakurzpulslasern und Pulsformung eröffnet
       neue Bearbeitungsmöglichkeiten für Materialoberflächen

       Ultrakurze Laserblitze mit Längen von nur einigen Fem-       len Fällen von der exakten zeitlichen Pulsform ab. Zum
       to- oder Pikosekunden (10 -14 bis 10-12 s) legen in dieser   Beispiel kann man in Gläsern oder Kunststoffen beson-
       Zeitspanne eine Entfernung von lediglich tausendstel         ders feine Löcher erzeugen, wenn die Energie in meh-
       Millimetern zurück, wohingegen Licht in einer Sekunde        reren direkt aufeinanderfolgenden Pulsen mit anstei-
       300.000 km weit kommt! Treffen solche Laserpulse auf         gender Amplitude angeboten wird. Um die Pulsform
       die Oberfläche eines Festkörpers, werden Atome oder          frei gestalten und optimieren zu können, nutzt man
       Moleküle freigesetzt, idealerweise ohne dass zusätz­         aus, dass ultrakurze Laserpulse nicht aus Licht einer
       liche Wärme entsteht. Dies ist die Grundlage für ‚kaltes‘    scharfen Wellenlänge bestehen, sondern automatisch
       Schneiden oder Abtragen, ein Verfahren, das sich gegen-      umso mehr Farben besitzen, je kürzer der Puls ist. Bei
       wärtig stürmisch von einer Nischentechnologie zu einer       der Pulsformung wird nun das Spektrum mit einem Git-
       universellen Methode entwickelt. Die kurze Pulsdauer         ter aufgefächert und durch eine schaltbare Flüssigkris-
       geht mit einer extrem hohen Spitzenleistung einher, wo-      tallmaske geleitet. Im Ergebnis entstehen Pulse, denen
       mit sich bei geringem Wärmeeintrag Material wirksam          man nahezu jeden beliebigen zeitlichen Intensitäts-
       abtragen lässt – ein ideales Werkzeug für die Mikrome-       verlauf aufprägen kann. So ergibt sich ein riesiger Pa-
       chanik, für mikroskopisches Bohren und Schneiden. Die        rameterraum für neuartige Gestaltungen von Material-
       Abbildung 1 zeigt eine solche, durch ultrakurze Laser-       oberflächen.
       pulse erzeugte Mikrolandschaft.
                                                                    In der Arbeitsgruppe Angewandte Laserphysik von Rigo
       Da die Lichtenergie im Brennpunkt so kurz wirkt, dass        Peters werden im LL&M Verfahren entwickelt, um mit-
       die Wärme nicht in das unbestrahlte Gebiet rundum ab-        hilfe von Ultrakurzpulslasern und der Pulsformung
       fließt, garantiert dieses glatte und präzise Schneidkon-     Oberflächen auf der Mikro- oder Nanometer-Skala zu
       turen. Es gibt auch zahlreiche chirurgische Anwendun-        strukturieren. Es lässt sich zum Beispiel einstellen, ob
       gen. So kann ein Ultrakurzpulslaser winzige Löcher in die    bestimmte biologische Zelltypen eine Implantatober-
       Herzwand bohren, um Muskeln, deren Blutgefäße irrepa-        fläche besiedeln oder meiden, was für die Funktionsfä-
       rabel verstopft sind, mit sauerstoffreichem Blut zu ver-     higkeit eines Implantats entscheidend sein kann. Die
       sorgen. Das sie umgebende Gewebe wird geschont. Eine         elektronenmikroskopische Aufnahme in der Abbildung
       andere Anwendung betrifft die „Operation am geschlos-        2 zeigt das Beispiel einer laserstrukturierten Oberflä-
       senen Auge“ ohne thermische Schädigung von Nachbar-          che, die Besiedlungstests mit MG-63 Osteoblasten-Zel-
       gewebe.                                                      len unterzogen wurde.

       Darüber hinaus können durch das Zusammenspiel von            Für die Pulsformung wird eine Bearbeitungsanla-
       ultrakurzen Zeiten und höchsten Intensitäten auf der         ge, bestückt mit Ultrakurzpulslasern der neuesten
       bestrahlten Fläche Mikro- und Nanostrukturen ent-            Generation, mit einem Pulsformer kombiniert. Die
       stehen, mit denen sich Oberflächeneigenschaften ver-         Charakterisierung der gefertigten Strukturen und
       ändern und steuern lassen. Das Ergebnis hängt in vie-        Oberflächen erfolgt in Kooperation mit den Kompe-

10                                                                         Traditio et Innovatio – Zehn Jahre Interdisziplinäre Fakultät 2017
Abbildung 1: Konfokalmikroskopische
                                                                  Aufnahme einer mittels Femtosekundenpulsen
                                                                  strukturierten Titanoberfläche.

                             Abbildung 2:
               Elektronenmikroskopische
       Aufnahme einer laserstrukturierten
      Oberfläche mit Osteoblasten-Zellen.
       Susanne Stählke, Zellbiologie, UMR

tenzzentren „Intersurf“ sowie „Mikroskopie und Spek-   tonisch so zu verändern, dass sie spezielle Funktio-
troskopie“. Dabei kann auf umfangreiche Erfahrungen    nen übernehmen. Um dieses Ziel zu erreichen, wur-
zurückgegriffen werden, die im Zuge der gemeinsa-      de von einem Konsortium aus Wissenschaftlern und
men Arbeiten im Landesexzellenzprojekt „Neuarti-       Unternehmen der Region unter der Federführung von
ge Verfahren und Produkte durch Einsatz ultrakurzer    Rigo Peters der Wachstumskern „MikroLas – Surfaces
Laserpulse in der Materialbearbeitung“ und dem in-     shaped by photonics“ initiiert, welcher vom BMBF von
terdisziplinären Verbundprojekt „REMEDIS – Höhere      2017 bis 2020 mit einer Gesamtsumme von 7 Mio. € ge-
Lebensqualität durch neuartige Mikroimplantate“ ge-    fördert wird. Er vereint innovative Technologien ver-
sammelt wurden. Wesentliche Prozesse während der       schiedenster Forschungsbereiche der Ultrapräzisi-
Wechselwirkung von Laserpulsen mit Materie und der     onsbearbeitung und entwickelt sie gezielt für die
sich anschließenden Dynamik sind noch unverstanden     industrielle Fertigung und die Realisierung prototypi-
und Gegenstand aktueller Forschung im Institut für     scher Anwendungen weiter. Die Grundlage bilden da-
Physik und dem Department LL&M. Dazu dient unter       bei zeitlich geformte, ultrakurze Laserpulse und deren
anderem ein neues Ultrakurzpuls-Lasersystem im For-    Kombination mit Atmosphärendruckplasmen. Wäh-
schungsbau, an dem dünne Folien mit intensiven Pul-    rend erstere Bearbeitungsgenauigkeiten und Struktur-
sen bestrahlt und die Entstehung und Entwicklung der   größen von wenigen 100 Nanometern in einer kalten
dabei auftretenden Plasmen in Beugungsexperimen-       Bearbeitung ermöglichen, erlauben Atmosphären-
ten mit höchster Zeitauflösung analysiert werden.      druckplasmen die flächige Funktionalisierung und Ak-
Hier kommen die Erfahrungen zum Tragen, die im DFG-    tivierung sowie, in Kombination mit ultrakurzen Laser-
Sonderforschungsbereich 652 am Institut für Physik     pulsen, die gezielte Beschichtung oder Strukturierung
gesammelt wurden.                                      von Oberflächen mit lateralen Abmessungen bis hin-
                                                       unter in den Mikrometerbereich.
Die Erkenntnisse sollen nun dazu genutzt werden,
technische und medizinische Oberflächen rein pho-                              Rigo Peters, Stefan Lochbrunner

Universität Rostock                                                                                              11
Department Leben, Licht und Materie

       Lernen, den
       Herzmuskelzellen
       zuzuhören
       Nanosonden zur Charakterisierung einzelner
       Herzschrittmacherzellen

                                                                                                               Abbildung 1:
                                                                                                               Phasenkontrast-
                                                                                                               mikroskopie von
                                                                                                               Herzschrittmacher-
                                                                                                               zellen.

       Es ist eine der größten Hoffnungen der Medizin: Tis-       aus Hautzellen von Patienten hergestellt werden kön-
       sue-Engineering. Gemeint ist die Kultivierung in der Pe-   nen. Abgesehen von ihrer zukünftigen Nutzung als „ech-
       trischale, also z. B. gezüchtetes Herzgewebe. Der Weg      te“ Herzschrittmacher (im Gegensatz zum künstlichen
       dorthin erscheint noch weit, aber Wissenschaftler aus      Schrittmacher), könnten patientenspezifische Herz-
       Rostock tragen mit ihrer Grundlagenforschung einen         schrittmacherzellen in der Petrischale individualisierte
       Teil dazu bei. Projekte im Department konzentrieren        Wirkstofftests ermöglichen. Während einfache Misch-
       sich auf impulsgebende Schrittmacherzellen. Von die-       kulturen aus von Stammzellen abgeleiteten Herzmus-
       sen wird die Herzkontraktion durch einen elektrischen      kelzellen bereits erhältlich sind, fehlen bisher Verfah-
       Impuls ausgelöst. Um bei der Gewinnung der Zellen          rensweisen zur Herstellung von reinen Kulturen der
       nicht auf Menschen oder Tiere zurückgreifen zu müssen,     beiden anderen Zelltypen (Hauptkammer- und Vorhof-
       haben die Biologen die Erzeugung solcher Schrittma-        zellen). Darum wird es entscheidend sein, Technologien
       cher-Zellen mittels gezielter Programmierung von kul-      zu entwickeln, die den Erfolg der Stammzellenprogram-
       tivierten Stammzellen benutzt und weiterentwickelt.        mierung zuverlässig überwachen. Die Wissenschaftlerin-
       [Jung2014, Yavari2017]                                     nen und Wissenschaftler im Forschungsbau setzen auf
                                                                  die Erforschung der Nanostruktur einzelner Schrittma-
       Reprogrammierung etablieren                                cherzellen und ihrer elektrischen Aktivität. Die Ergebnis-
                                                                  se könnten einen Schlüssel zur Überwachung der erfolg-
       Diese sogenannten induzierten pluripotenten Stamm-         reichen Spezialisierung, auch Differenzierung genannt,
       zellen („iPSCs“) sind ethisch unbedenklich, da sie z. B.   in den jeweils erwünschten Herzmuskelzelltyp liefern.

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Mit der Nanosonde ‚abhören‘
Im Raster-Ionen-Leitfähigkeits-Mikroskop (SICM) des
Kompetenzzentrums Intersurf (Infobox Seite 22) tastet
eine Nanopipette als Sonde lebende Herzschrittmacher-
zellen ab (Abbildung 2). Bei dieser Methode dient ledig-
lich der Ionenstrom als Wechselwirkungssignal, sodass
man die Zell-Nanostruktur sowie ihre Änderungen ohne          Abbildung 3:
einzuwirken verfolgen kann. In Abbildung 3 ist das Er-        Quasi-3D-Darstellung
gebnis der Ionenstrommessung des Höhenprofils einer           einer SICM-Morphologie einer
Schrittmacherzelle gezeigt. Einige Ausläufer der spin-        Schrittmacherzelle. L.Groß
nenförmigen Zelle befinden sich an der Oberfläche, an-
dere bewegen sich frei im Medium. Im SICM lässt sich das
zeitliche Verhalten der Zellhöhe oder des Ionenstroms         Medikamententests
an definierten Orten auf der Zelle erfassen. Es werden die    in der Petrischale
Signale im Bereich von wenigen Hertz bei Höhen- bzw.
Stromamplituden im Bereich von Mikrometern bezie-             Das Verständnis der Nanostruktur und die Verfügbarkeit
hungsweise wenigen 100 Pikoampere beobachtet. Diese           der Zellen im Labor können in einem zweiten Schritt ge-
ersten Untersuchungen zeigen, dass Schrittmacherzel-          nutzt werden, um die Reaktion der Zelle als lokalen Sen-
len charakteristische dreidimensionale Strukturen mit         sor für Vorgänge in deren direkten Umgebung zu nutzen.
typischen Fortsätzen aufweisen. Auch der zeitliche Ver-       Anwendungsbeispiele wären die Wirkstoffentwicklung
lauf des Schlags von einzelnen Zellen kann mit der Na-        oder die Überwachung von Wasser-, Medium- bzw. Luft-
nopipette abgeleitet werden, siehe auch die Abbildung         qualität. Die Detektionsmethoden würden die oben ge-
auf S. 23, unten. Einer der nächsten wichtigen Schritte ist   nannte lokale Detektion von Ionenströmen und den Lu-
die hochaufgelöste Strukturabbildung der drei verschie-       mineszenznachweis umfassen.
denen Herzmuskelzelltypen. Das Kontraktionsmuster
soll dann mit dem jeweiligen Ort auf der Zelle (z. B. auf     Ein gemeinsames langfristiges Ziel ist es daher, eigene
den Fortsätzen bzw. dem Zellkörper) in Korrelation ge-        Testverfahren für die Schrittmacherzellen zu entwickeln.
bracht werden.                                                Da diese Zellen des Herzens eigenständig ein rhythmi-
                                                              sches elektromechanisches Signal aufweisen, sind die
                                                              Schrittmacherzellen ausgezeichnete Kandidaten, um
Abbildung 2: Schema des Raster-Ionen-Leitfähigkeits-          über elektromechanische Ableitungen die biologische
Mikroskops, Elektronenmikroskopische Aufnahme einer           Auswirkung von unmittelbaren Umgebungseinflüssen
Nanopipette. R. Lange                                         zu untersuchen. So könnte die Schlagfrequenz der Herz-
                                                              schrittmacherzellen als Antwort auf Umgebungseinflüs-
                                                              se dienen. Interessant ist dabei, die Wirkung von Medi-
                                                              kamenten, Nanoteilchen, elektromagnetischen Feldern
                                                              oder Temperaturschwankungen aufzudecken.

                                                                                             Sylvia Speller, Robert David

                                                              Referenzen
                                                              Jung J. et al. 2014;
                                                              Stem Cell Reports Vol. 2 (Issue 5): p592
                                                              Yavari A. et al. 2017;
                                                              Nature Communications (8:1258).

Universität Rostock                                                                                                         13
Department Leben, Licht und Materie

       Kleinste Teilchen
       mit groSSer Wirkung
       Einfluss von Abgaspartikeln auf lebende Organismen

       Luftverschmutzung durch Feinstaubpartikel ist für eine        lichen gesundheitlichen Auswirkungen der Emissi-
       Zunahme von frühzeitigen Todesfällen verantwort-              onen eines Schiffsdieselmotors werden im Kompe-
       lich und ruft kurz- und langzeitige Gesundheitsbeein-         tenzzentrum Massenspektrometrie (CC MS, siehe Box
       trächtigungen wie Asthma oder Krebs hervor. Partikel-         auf Seite 26) und in Zusammenarbeit mit dem Lehr-
       emissionen von Schiffsdieselmotoren rücken dabei in           stuhl für Kolbenmaschinen und Verbrennungsmoto-
       den letzten Jahren verstärkt in den Fokus. Die mög-           ren untersucht. Ein Einzylinder-Viertaktforschungs-

                                                           B
       C

        A
                                                  D

                                          E

       Abbildung 1: Konzept der experimentellen Untersuchungen zur biologischen Wirkung von Schiffsemissio-
       nen. (A) Das durch die Verbrennung unterschiedlicher Treibstoffe (Schweröl: Heavy Fuel Oil, HFO und Diesel:
       DF) entstehende Aerosol wird verdünnt (B), umfassend analysiert (C) und unter realistischen Bedingungen
       mit Lungenzellkulturen in Kontakt gebracht (D). Die biologische Reaktion wird schließlich auf mehreren
       funktionellen Ebenen erfasst (E).

14                                                                          Traditio et Innovatio – Zehn Jahre Interdisziplinäre Fakultät 2017
motor (80 kW) wird mit Schweröl (HFO, von Heavy Fuel                 aufbau ist auf 37 °C temperiert und auch die Luftfeuch-
Oil, 1.6% Schwefelgehalt) sowie mit Dieselkraftstoff                 tigkeit entspricht den Bedingungen in der menschlichen
(DF, weniger als 0,001% Schwefel) betrieben. Für ei-                 Lunge. Auf diese Weise können wir die Verhältnisse im
nen Test (ISO 8178–4 E2) simuliert der Schiffsmotor so-              menschlichen Atmungstrakt gut simulieren. Nach der
wohl ein Hafenmanöver als auch Kreuzen auf offenem                   Inkubation erfolgt eine umfassende biologische Ana-
Meer. Mit verschiedenen Methoden untersuchen die                     lyse, die unter anderem Auswirkungen des Aerosols auf
Wissenschaftler das emittierte Verbrennungsaerosol                   Zelltoxizität, Genexpression und RNA-Synthese, Verän-
auf die physikalischen und chemischen Eigenschaften.                 derungen der Proteine in den Zellen sowie Stoffwech-
                                                                     selvorgängen (Metabolismus) beinhalt. Jeweils drei
Exposition von Lungenzellkulturen                                    Messzyklen werden für jeden Kraftstoff durchgeführt
                                                                     und gegen gefiltertes Abgas abgeglichen, um die Wir-
Parallel zu der Abgascharakterisierung werden Lungen-                kung der Teilchenemission herauszuarbeiten. Ein Über-
zellkulturen für vier Stunden direkt an ihrer Oberfläche             blick über das experimentelle Konzept der Kampagne
dem Partikel-Luft-Gemisch ausgesetzt. Der Versuchs-                  ist in Abbildung 1 gezeigt. Fast alle gemessenen anor-
                                                                                            ganischen und vor allem organi-
                                                                                            schen Bestandteile der Partikel
                                                                                            sind bei HFO höher konzentriert
                                                                                            (Abbildung 2). So ist zum Beispiel
                                                                                            die Toxizität durch Polyzyklische
              Vanadium                                                                      Aromatische Kohlenwasserstof-
                      Nickel                                                                fe (angegeben als PAH-toxicity
        Σ PAH-toxicity                                                                      equivalence factor) bei HFO-Par-
     equivalence factor
    Benz[a]anthracene-                                                                      tikeln 10-mal höher. Insgesamt
             7,12-dione                                                                     sind auch weit mehr verschiedene
         Dotriacontane
                                                                                            Spezies in HFO-Partikeln zu fin-
                Chrysene                                                                    den. Eine bemerkenswerte Aus-
            Pentacosane                                                                     nahme stellte die bei Diesel er-
                                                                                            höhte Fraktion des elementaren
                   Zinc
        17α (H),21β (H)-                                                                    Kohlenstoffs bzw. des sogenann-
         Hopan (Hopan)                                                                      ten „black carbon“-Gehalts der
          Benz[a]pyrene                                                                     Partikel dar.
                      Σ PAH
          Organic Matter
 Particulate Mass (PM)
                                                                                           Abbildung 2: Konzentrations-
           1-Nitropyrene                                                    HFO (1:100)    verhältnis (links) und absolute
                                                       *                    DF (1:40)
                  Pyrene                                                                   Konzentration (rechts) wichtiger
             Σ Alkylated                                                                   partikelgebundener Schadstoffe,
           phenanthrens                                                                    emittiert aus dem mit Schweröl
             Σ n-alkanes
                                                                                           (HFO) und Diesel (DF) betriebenen
             Nonadecane                                                                    Schiffsmotor. Schwerölpartikel
Black Carbon (optical)                                                                     enthalten mehr toxische Metalle
                                                                                           und karzinogene Polyaromaten
      Elemental Carbon
                                                                                           als die Dieselemissionen, welche
                           10     10       10    10 10 10 10 10 10 10
                               -1   0       1      2       -3   -2     -1     0   1   2

                            Conc. ratio in exposure Concentration in expo-                 höhere Anteile an elementarem
                              aerosol HFO / DF       sure aerosol (µg/m )
                                                                       3
                                                                                           Kohlenstoff (Ruß) aufweisen.

Universität Rostock                                                                                                              15
Department Leben, Licht und Materie

                                                                                               Eintrag in
                                                                                               das Meerwasser
                                                                                             Die Ergebnisse legen nahe, dass ein
                                                                                             einfacher Wechsel von HFO zu De-
                                                                                             stillatkraftstoffen allein das Pro-
                                                                                             blem der Schiffsdieselemissionen
                                                                                             nicht lösen kann, da auch das Die-
                                                                                             selabgas negative Auswirkungen
                                                                                             im vergleichbaren oder sogar leicht
                                                                                             größeren Maßstab auf die Zellkul-
                                                                                             turen aufweist. Daher wird an der
       Abbildung 3: Links: Die starke Freisetzung von Laktathydrogenase (LDH)                Einführung von Abgasreinigungs-
       aus der Zellkultur nach Exposition mit Dieselpartikeln (DF) legt eine höhere          maßnahmen mittelfristig kein Weg
       akute Zelltoxizität im Vergleich zu den Schwerölpartikeln (HFO) nahe. Rechts:         vorbeiführen. Allerdings können
       Auf stärkere chronische Effekte durch HFO-Partikel, beispielsweise durch              beispielsweise Wäscher zur Entfer-
       oxidativen Stress ausgelöst, weisen ausgwählte Gene der Transkriptoom­                nung von Schwefeldioxid aus dem
       regulation hin.                                                                       Abgas zu einem Eintrag von Schad-
                                                                                             stoffen in das Meerwasser führen.
       Biologische Wirkung                                             Solche anthropogenen Belastungen wie auch Einträge
                                                                       durch industrielle Produktion oder Landwirtschaft hin-
       der Abgase                                                      terlassen dann deutliche Signale im Wasser und den Se-
       Überraschenderweise zeigen Dieselpartikel ähnlich               dimenten der Ostsee. In den Sedimenten halten sich die
       hohe und teilweise sogar größere Beeinflussungen der            Einträge teilweise über viele Jahre. Das zeigen langjäh-
       Gene und Proteine auf als HFO-Partikel. Dies zeigt sich         rige Untersuchungen am Leibnitz-Institut für Ostsee-
       beispielsweise in Abbildung 3 links, in der die höhe-           forschung. In Messungen des Meerwassers sind hohe
       re Freisetzung von Laktatdehydrogenase (LDH) aus der            Konzentrationen von Insektiziden aus der Gruppe der
       Zellkultur für die DF-Partikel auf eine höhere akute Zell-      Hexachlorcyclohexane zu sehen. Deren Einsatz ist seit
       toxizität der DF-Partikel im Vergleich zu den HFO-Parti-        etwa 40 Jahren verboten. Seit den 1990er Jahren sind
       keln hinweist.                                                  deutliche Abnahmen in der marinen Umwelt nachzu-
                                                                       weisen. Geringste Spuren von Rückständen lassen sich
       Chronische Effekte, die z. B. durch oxidativen Stress ver-      mithilfe der GC-Massenspektrometrie identifizieren, ei-
       ursacht werden, können – wie die Transkriptomregu-              ner Methode, die mehrfach im Umfeld von LL&M einge-
       lation ausgewählter Gene zeigt (Abbildung 3 rechts) –           richtet ist. An Feinstaub gebundene Schadstoffe werden
       durch HFO-Partikel stärker induziert werden. Das zeigt,         über die Atmosphäre herangeführt und gebunden in die
       dass eine Partikelfiltration für die Schiffsemissionen aus      Ostsee eingetragen. Darunter sind die ökologisch wich-
       beiden Kraftstoffen wünschenswert wäre, um Gesund-              tigen Polyzyklischen Aromatischen Kohlenwasserstof-
       heitseffekte zu minimieren.                                     fe (PAK) aus Schiffsemissionen. Für diese Substanzgrup-
                                                                       pe erwarten wir in Zukunft durch neue Abgaswäscher
       Die biologischen Daten zeigen umfassende Verände-               (Scrubber) veränderte Eintragswege. Die Untersuchung
       rungen im zellulären System. Allerdings sind die mikro-         der Effektivität und Optimierung von Scrubbern ist der-
       skopischen Mechanismen der Interaktionen zwischen               zeit Ziel eines interdisziplinären Forschungsantrags.
       Nanoteilchen und biologischen Systemen nicht aufge-
       klärt – eine wichtige Aufgabe für zukünftige Untersu-                                                   Ralf Zimmermann,
       chungen in LL&M.                                                                        Johannes Passig, Detlef Schulz-Bull

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Auf der Suche nach
dem idealen
Abschreckmedium
Interdisziplinäre Forschung an ionischen Flüssigkeiten
Die Wärmebehandlung und insbesondere das Abschre-            gen. Daraus resultiert eine nur mittelmäßige Abkühl-
cken (rasches Abkühlen) heißer Bauteile von Temperatu-       wirkung und eine aufwändige anschließende Bauteilrei-
ren im Bereich von ca. 500 bis 1000 °C ist meist ein zent-   nigung. Die dritte große Gruppe der Abschreckmedien
raler Bestandteil in der Fertigung metallischer Bauteile.    stellen Gase dar. Sie kühlen besonders gleichmäßig,
Das Abschrecken wird in der Regel durch Eintauchen der       aber auch relativ langsam ab. Darüber hinaus ist der
Bauteile in Flüssigkeitsbäder vorgenommen. Dies mag          Aufwand einer Gasabschreckung vergleichsweise hoch.
auf den ersten Blick trivial erscheinen, ist aber hoch-
komplex und besitzt einen enormen Einfluss auf spä-
                                                             Das ideale Abschreckmedium
tere Eigenschaften eines Bauteils, wie Festigkeit oder
Geometrieänderungen. Dabei werden drei wesentliche           Ein ideales Abschreckmedium müsste demnach bei
Anforderungen an den Abschreckvorgang gestellt: Er           Raumtemperatur flüssig sein, aber beim Kontakt mit
muss schnell, gleichmäßig und mit möglichst geringem         dem heißen Bauteil nicht verdampfen. Hier fällt das
Aufwand realisierbar sein.                                   Augenmerk auf ionische Flüssigkeiten (IL), also auf
                                                             schwer verdampfbare Salze mit Schmelztemperaturen
Verschiedene Abschreckmedien                                 von weniger als 100 °C. Diese Systeme werden auch in
                                                             Rostock, im Umfeld vom LL&M in den Arbeitsgruppen
Es kommen verdampfende und nichtverdampfende                 Kragl, Ludwig, Köckerling und Verevkin, seit einigen
Flüssigkeiten, bezogen auf die Eintauchtemperatur,
oder Gase zum Einsatz. Verdampfende Flüssigkeiten,
insbesondere Wasser, werden am häufigsten verwen-
det. Die Vorteile sind eine hohe Abschreckgeschwindig-
keit und eine einfache Anwendung. Einen großen Nach-
teil verdampfender Abschreckmedien stellt die Bildung
einer wärmeisolierenden Dampfschicht an der Probeno-
berfläche, der Leidenfrost-Effekt, dar. Diesen Effekt
kann man beim Kochen beobachten, wenn Wasser auf
eine heiße Herdplatte trifft und dieses nicht sofort voll-
ständig verdampft, sondern sich für mehrere Sekunden
auf einer dünnen Dampfschicht tanzende Tropfen bil-
den. Diese zunächst isolierende Dampfschicht reißt auf
einem Bauteil ungleichmäßig auf und versursacht somit
eine ungleichmäßige Abschreckung. Salz- oder Metall-         Abbildung 1: Ionische Flüssigkeiten, hier durch Num-
schmelzen als nichtverdampfende Abschreckmedien              mern markiert, zeichnen sich durch unterschiedliche
ermöglichen eine gleichmäßigere Abschreckung, müs-           thermische Stabilitäten aus. Die drei für die Abschre-
sen aber mit hohen Aufwand betrieben werden, da ihre         ckungsversuche genutzten Systeme sind hervorgehoben.
Schmelztemperaturen deutlich oberhalb von 200 °C lie-        Christin Neise, Dissertation Rostock, 2016

Universität Rostock                                                                                                   17
Department Leben, Licht und Materie

                                                                                        Abbildung 2: Zeitlicher Verlauf
                                                                                        der Abschreckung einer Stahlprobe
                                                                                        (850 °C) in ionischer Flüssigkeit
                                                                                        (links oben: Blasensieden mit
                                                                                        hohem gleichmäßigem Wärme­
                                                                                        übergang) und Leitungswasser
                                                                                        (links unten: zunächst aus­geprägter
                                                                                        isolierender Dampffilm, Pfeile
                                                                                        zeigen Zusammenbruch des
                                                                                        Dampffilms, dadurch lokal ungleich-
                                                                                        mäßige Abkühlung).
                                                                                        Rechts der Versuchsaufbau.
                                                                                        Dissertation. M. Österreich,
                                                                                        Universität Rostock, 2017

       Jahren im DFG-Schwerpunktprogramm SPP1191: Io-           liche Hochgeschwindigkeitsvideoaufnahmen ermögli-
       nische Flüssigkeiten wissenschaftlich intensiv unter-    chen ein tieferes Verständnis der Vorgänge während der
       sucht. Technische Anwendung finden sie als Lösemit-      Abkühlung.
       tel, Katalysator, Schmiermittel oder Elektrolyt.
                                                                Vielversprechende
       Intensive Interdisziplinäre                              Ergebnisse
       Forschung
                                                                Es zeigt sich, dass mithilfe von IL sowohl schnelle,
       Die prinzipielle Anwendbarkeit ionischer Flüssigkei-     als auch gleichmäßige Abschreckungen mit reduzier-
       ten als Abschreckmedien in der Wärmebehandlung me-       tem Leidenfrost-Effekt möglich sind (Abbildung 2).
       tallischer Werkstoffe wurde erstmalig im Rahmen eines    Dreidimensionale Bauteilvermessungen und Simula-
       durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförder-      tionen belegen, dass Abschreckungen in IL zu einer
       ten Projektes an der Universität Rostock untersucht.     deutlich geringeren Geometrieänderung führen als in
       Durch enge Zusammenarbeit des Lehrstuhls für Werk-       herkömmlichen Medien. Durch Zugabe geringer Men-
       stofftechnik, des Lehrstuhls für Technische Chemie und   gen Wasser lässt sich die Abschreckgeschwindigkeit
       der Arbeitsgruppe Polymerphysik im Department LL&M       sogar noch erhöhen. Zwei der untersuchten Flüssigkei-
       konnten in Verbindung mit dem Kompetenzzentrum           ten sind auch bei wiederholten Abschreckungen sta-
       °CALOR (siehe Infobox Seite 28) viele Fragestellungen    bil und weisen nahezu keine Alterungserscheinungen
       dieses neuen Anwendungsgebietes für IL detailliert un-   auf. Aufgrund der vielversprechenden Ergebnisse er-
       tersucht werden. Nach umfangreichen Tests zur ther-      folgte eine Patentanmeldung für dieses neue Anwen-
       mischen Stabilität wurden mehrere IL ausgewählt, um      dungsgebiet. In einem nächsten Schritt sollen die Vor-
       diese für die Abschreckung von Probebauteilen zu ver-    teile ionischer Flüssigkeiten an realen Bauteilen unter
       wenden (Abbildung 1). Alle ausgewählten Flüssigkeiten    industriellen Bedingungen untersucht werden. Ein
       besitzen eine Schmelztemperatur unterhalb der Raum-      Wermutstropfen besteht in dem noch hohen Kosten-
       temperatur. Experimentell (Abbildung 2) wurden ihre      aufwand für temperaturstabile IL.
       Abschreckeigenschaften ermittelt und mit denen von
       herkömmlichen Abschreckmedien verglichen. Zusätz-                             Olaf Keßler, Christoph Schick, Udo Kragl

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Nano-Design lässt
Zellen auf Implantaten
besser anwachsen
Einfluss von elektrischen Feldern und Oberflächenladungen
auf die Zellvitalität

In Deutschland werden jährlich rund 210.000 Hüftim-         flächen ist eine gewebestimulierende Bioaktivität not-
plantate eingesetzt. Die Erhöhung der Lebensdauer           wendig, welche spezifische zelluläre Reaktionen an der
von Implantaten ist eine der großen Herausforderun-         Grenzfläche hervorruft.
gen in der Medizintechnik. Ebenso wichtig wie die Dau-
er ist auch die schnelle und erfolgreiche Integration der   Mikroskopisch betrachtet erstreckt sich der Kontakt
künstlichen Implantate. Für das Anwachsen der mineral-      von lebenden Zellen mit Oberflächen (Abbildung 1)
bildenden Knochenzellen (Osteoblasten) auf den Ober-        über einen Abstand von mehreren zehn Nanometern –

Abbildung 1: Adhärierende Zelle auf einer chemisch modifizierten Materialoberfläche mit Ladungsträgern (rot).
Sowohl die Zellmembran (braun) als auch die Adhäsionsrezeptoren der Zelle (orange) stehen unmittelbar mit der
Oberfläche in Kontakt. Die Nanopipette eines Ionen-Leitfähigkeitsmikroskopes dient zur Feststellung lokaler
elektrischer Felder. AG Speller

Universität Rostock                                                                                                  19
Department Leben, Licht und Materie

       gemessen von der Grenzschicht des Elektrolyten am         Topographie. Dazu gibt es folgende Erklärung: Osteo-
       Festkörper bis zur Zellmembran. Der Prozess des An-       blasten weisen aufgrund der Zusammensetzung ihrer
       wachsens, also die Besiedlung der Biomaterialoberflä-     Plasmamembran sowie ihrer sphärischen Hülle aus Hy-
       che durch Knochenzellen, ist in Etappen gegliedert. Er    aluronsäure eine negative Oberflächenladung von ca.
       beginnt mit der Adhäsion, gefolgt von der Migration       -15 mV auf [Re2016]. Folglich sind positive Ladungs-
       entlang chemischer Gradienten oder topographischer        träger auf der Materialoberfläche, die durch chemische
       Strukturen der Oberfläche. Diese Prozesse werden          Modifikation mit Aminogruppen erreicht werden kön-
       maßgeblich durch spezifische Adhäsionsrezeptoren          nen, dann attraktiv für die Zellen. Die verstärkte Zellad-
       der Zellen gesteuert.                                     häsion lässt sich mit elektro­statischen Wechselwirkun-
                                                                 gen erklären.
       Das Anheften
       von Zellen unterstützen                                   Das Zellverhalten observieren
       Die Adhäsion von Osteoblasten kann durch eine Viel-       Kürzlich gelang uns der Nachweis, dass die topogra-
       zahl von Parametern der Grenzschicht beeinflusst wer-     phisch bedingte „contact-guidance“ durch eine posi-
       den. Am bekanntesten ist wohl der Effekt der „con-        tiv geladene Plasmapolymerschicht aufgehoben wird.
       tact-guidance“ (gemeint ist die Ausrichtung der Zellen    Für diese Versuche wurden mikrometertiefe Graben-
       entlang einer Materialstruktur), bei der die Zelle ihre   strukturen auf Titan mit einer Plasmapolymerschicht
       Adhäsionsfläche in topographische Mikrostruktu-           „verhüllt“ (Abbildung 2). Obwohl die Zellen normaler-
       ren (z. B. Gräben) der Oberfläche einpasst (Abbildung     weise eine eindeutige parallele Ausrichtung entlang
       2). Mikro- und Nanotopographien weisen gelegent-          der Gräben aufweisen, wachsen sie nunmehr „orien-
       lich unphysiologische scharfe Kanten auf, die mit lo-     tierungslos“ – allein durch eine 25 Nanometer „dicke“
       kalisierten elektrischen Feldern verbunden sind, ohne     Schicht, die wenig Einfluss auf die Mikrostruktur der
       dass eine äußere Spannung angelegt wird. Anderer-         Gräben hat. Beschichtungen von Proteinen mit ei-
       seits können Zellen auf molekularen Lagen mit posi-       ner Oberflächenladung im leicht negativen Bereich
       tiv geladenen Endgruppen, z. B. Aminen, beschleunigt      konnten diesen Effekt nicht gleichwertig induzieren
       sehr große Zellflächen ausbilden, unabhängig von der      [Mö2017].

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Abbildung 2: Zellwachstum
                      auf Mikro-­Grabenstrukturen.
                      links: Deutlich ist die parallele Aus­
                      richtung der Zellen entlang
                      der Grabenkanten zu sehen.
                      rechts: Durch eine positiv geladene,
                      lediglich nanometerdicke Plasma-
                      polymerschicht kann diese „contact-
                      guidance“ aufgehoben werden. Plas-
                      mabeschichtung: INP e. V. Greifswald,
                      Birgit Finke; Korrelative Mikroskopie
                      [Mö2017]: Rasterelektronenmikros­
                      kopie, EMZ, UMR, Marcus Frank, in
                      Kombination mit Auflicht-Fluoreszenz-    Abbildung 3: Simulation des Verhaltens einer Knochen-
                      mikroskopie                              zelle (Osteoblast) auf einer gleichmäßigen Anordnung
                      Rot: Aktinfilamente, Blau: Zellkern;     von Mikrosäulen. Dargestellt ist die relative Aktivierung
                      Henrike Rebl.                            von Actin-Filamenten in der Zelle.

Die Zellreaktion auf elektrische Felder könnte mit der         dynamische und mechanische Effekte (Abbildung 3)
Nanostruktur der Zelle zusammenhängen. Daher un-               [Tr2017].
tersuchen wir mit dem Ionen-Leitfähigkeits-Mikro-
skop wechselwirkungsfrei die Änderung der lokalen              Im durch die DFG geförderten Sonderforschungsbereich
elektrischen Felder der lebenden Zellen (Abbildung 1).         1270 „Elektrisch aktive Implantate“ (ELAINE) werden
Diese elektrische Ladung ist vermutlich neben der geo-         neben dieser viele weitere Fragestellungen untersucht
metrischen Struktur ausschlaggebend dafür, wie gut             und fließen u.a. in die Behandlungen von Bewegungs-
die Knochenzellen die Implantatoberfläche anneh-               krankheiten mit Hirnstammelektroden und den Kiefer-
men. Eine wichtige wissenschaftliche Fragestellung             aufbau nach Kieferresektion ein. Insbesondere werden
besteht in der Wirkung veränderlicher elektromagne-            technologische Aspekte verfolgt, um schließlich eine
tischer Felder, beispielsweise von Wechselspannung             energieautonome, rückkopplungsgesteuerte Stimula-
oder Licht.                                                    tionsplattform zu entwickeln. Diese Studien sind mit
                                                               dem Kompetenzzentrum „Surfaces and Interfaces“ (In-
Modellierung über                                              terSurf) des Departments LL&M eng verknüpft (Infobox
                                                               CC InterSurf Seite 22).
mehrere Größenskalen
Eine Herausforderung auf theoretischer Ebene ist die                                 J. Barbara Nebe, Ursula van Rienen,
computerbasierte Berechnung des Kontaktes einer le-                                                        Sylvia Speller
benden Zelle mit einem Implantatmaterial. Die Abläu-
fe finden auf verschiedenen räumlichen Skalen statt
und schließen biochemische Prozesse ein, die zum               Referenzen:
Teil auf molekularer Ebene geschehen. Diese Vorgän-            Moerke C. et al. (2017); ACS Applied Materials &
ge lassen sich in Zellen nur mittelbar beobachten. Um          Interfaces, 10461
die beteiligten Prozesse besser zu verstehen, werden           Rebl H. et al. (2016); Material Science and Engineering
sie numerisch modelliert und auf Rechnern simuliert.           C 69 1116
Entsprechende Multiskalenmethoden berücksichti-                Truong D. et al. (2017); Finite Elements in
gen interagierende elektrische, chemische, thermo-             Analysis & Design, submitted 2017.

Universität Rostock                                                                                                         21
Department Leben, Licht und Materie

       Impressionen
       aus dem
       Forschungsbau
       LL&M

       Kompetenzzentrum InterSurf
       InterSurf umfasst Aktivitäten rund um Wechselwirkungen an Oberflächen und in Grenzflächen.

       Ziel ist es, „aktive“ Grenzflächen und Strukturen zu verstehen und zu entwerfen, die in einer gewünschten Weise auf
       Auslöser aus der lokalen Umgebung, wie Kräfte, elektronische Potentiale und Licht reagieren. Solche Systeme können
       in Bezug auf Aufgaben in der Medizin und der Energieversorgung genutzt werden.

       Projektfelder                                               • Ralf Ludwig, Physikalische Chemie
       • Struktur und Dynamik molekularer Grenzflächen             • Karl-Heinz Meiwes-Broer, Cluster und
       • Energietransport durch Molekülkristalle                     Nanostrukturen
       • Oberflächenstrukturen für Zellwachstum und                • Detlef Behrend, Materialien für die Medizintechnik
          Differenzierung                                          • Boris Hage, Experimentelle Quantenoptik
       • Einfluss von elektrischen Feldern auf zelluläre           • Robert David, Gustav Steinhoff, kardiale
          Prozesse                                                   Stamm­zelltherapie
       •	Auslösen und Monitoring von Prozessen                    • Jürgen Kolb, Bioelektrik
          in lebenden Zellen über Nanosonden
                                                                   Instrumente
       Akteure                                                     • Rasterionenleitfähigkeits- und Kraftmikroskope
       • Sylvia Speller, Ingo Barke, Oberflächen- und Grenzflä-      (SICM, AFM)
         chenphysik                                                • Photoemissions-Elektronenmikroskopie (PEEM)
       • Barbara Nebe, Kirsten Peters, Zellbiologie                • Elektrokinetische Potentialanalyse von
       • Ursula van Rienen, Theoretische Elektrotechnik              Oberflächen
       • Rigo Peters, Angewandte Laserphysik, SLV                  • Nanoprobing und -manipulation
         Mecklenburg-Vorpommern GmbH                               • Fünf-Achsen-Ultrakurzpulslaserbearbeitung

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Nanofinger: Können wir einzelne Nanoteilchen oder gar Atome ge-
                      zielt verschieben und so Landschaften im Nanometerbereich aufbau-
                      en? Das gelingt mit einem Rastersondenmikroskop, dessen Innerstes
                      hier gezeigt wird und das über zwei Spitzen verfügt, die sich mit
                      atomarer Auflösung bewegen lassen.

                                                                                          Zellhöhe in µm

                      EKG an einer Herz-Schrittmacherzelle: Bereits eine einzige
                      Herz-Schrittmacherzelle in der Petrischale pulsiert mechanisch
                      und elektrisch. Mit Nanosonden und Fluoreszenzmethoden lässt
                      sich die Signaldynamik an verschiedenen Orten einer lebenden
                      Zelle untersuchen.

Universität Rostock                                                                    23
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