Diabetes - Ärztekammer Schleswig-Holstein
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Nr. 7/8 Juli/August 2021 74. Jahrgang Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein Diabetes Epigenetik, Telemedizin, Lebensstil Seiten 8 − 11 HIV Mobil gegen Corona Kieler Ambulanz Impfteams sind im ganzen besteht seit 30 Jahren Land unterwegs Seiten 26 − 27 Seiten 12 − 13
SCHLESWIG-HOLSTEINISCHES ÄRZTEBLATT Schleswig-Holsteins Werbeträger für Ärzte In 11 Ausgaben im Jahr informiert das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt über zentrale Themen aus dem Gesundheitswesen zwischen Nord- und Ostsee. Das Mitgliedermagazin der Ärztekammer Schleswig-Holstein erreicht neben allen Ärzten auch Entscheidungsträger aus Gesundheitswirtschaft und -politik. Anzeigenberatung unter 040 / 33 48 57 11 oder anzeigen@elbbuero.com Bismarckstr. 2 | 20259 Hamburg | www.elbbuero.com Anzeige
J U L I / AU G US T 2 0 2 1 EDITORIAL 3 Weiterbildung im Fortschritt Berufspolitisches Engagement, auch in der ärztlichen Selbstverwaltung, ist auf ganz unterschiedliche Motivationsgründe zurückzuführen: Mitwirkung in einem Berufs- verband oder einer Fachgesellschaft, standespolitische Interessenvertretung, Wunsch nach Mitgestaltung und vieles mehr. Bei mir ist es primär die Weiterbildung gewesen. Nachdem ich selber eine sehr breite, gute Weiterbildung erhalten hatte, wurde es als junger Oberarzt meine Aufgabe, mich um die Durchführung der Weiterbildung bei den jungen Kolleginnen und Kollegen zu kümmern, obwohl ich selber keine Befugnis hatte – diese war zu der Zeit noch ein rein chefärztliches Privileg. So war es ein naheliegender Schritt, mich auch auf Ärztekammerebene vertiefend in übergeordnete Weiterbildungsthemen einzuarbeiten und einzubringen. Weiterbildung nach Erhalt der ärztlichen Approbation und damit freier Ausübung der Heilkunde ist der prägendste Abschnitt in der Arztwerdung. Hier werden die ärztlichen Rollen, Haltungen und Kompetenzen vermittelt, letztere nicht allein in Prof. Henrik Herrmann ist fachlicher, sondern auch in kommunikativer, sozialer und empathischer Hinsicht. seit 2018 Präsident der Nach der Facharztprüfung werden einzelne Kompetenzen zwar weiterhin vertieft Ärztekammer Schleswig-Holstein. und spezialisiert, die ärztliche Sozialisation ist jedoch weitgehend abgeschlossen. In dieser Zeit ist das Zusammenwirken von Weiterzubildenden und Weiterbildern am stärksten ausgeprägt, die Atmosphäre des Vermittelns und Lernens beeinflusst das weitere ärztliche Wirken. Dazu benötigen wir eine neue Weiterbildungskultur, geprägt von Vertrauen, Ehrlichkeit und Transparenz, die wir nur gemeinsam umsetzen können. Der bisherige Weiterbildungsweg konnte den rasanten medizinischen Fortschritt, die Komplexität und Spezialisierung nicht mehr widerspiegeln. Deshalb wurde es höchste Zeit für eine neue kompetenzbasierte Weiterbildungsordnung, die Inhalte vor Zeiten und Flexibilität vor starre Vorgaben stellt. Dies ist für alle Beteiligten »Wir benötigen eine neue Weiterbildungs- eine große Herausforderung – für die Weiterzubildenden, die kontinuierlich die entsprechenden Kompetenzen aufbauen, für die Befugten, die kontinuierlich die Kompetenzen nicht nur vermitteln, sondern auch im eLogbuch bestätigen, für die Ärztekammern, die kontinuierlich den Weiterbildungsprozess begleiten. Unser ehrenamtlicher Weiterbildungsausschuss tagt wöchentlich, um die Umsetzung der kultur, geprägt von Vertrauen, Ehrlichkeit neuen Weiterbildungsordnung zu ermöglichen, Befugniskriterien zu definieren und viele Fragen zu beantworten. Dafür bedanke ich mich, ebenso bei den hauptamtlichen Mitarbeiterinnen der Ärztekammer. Seit einem Jahr sammeln wir Erfahrungen mit unserer neuen Weiterbildungsordnung in Schleswig-Holstein, die wir kontinuierlich weiterentwickeln – eine von der gesamten Ärzteschaft getragene Aufgabe, die unserer Profession, der nächsten und Transparenz.« Ärztegeneration und letztlich den Patienten zugutekommt. Freundliche Grüße Ihr Prof. Henrik Herrmann Foto: ÄKSH Präsident
4 I N H A LT J U L I / AU G US T 2 0 2 1 118 36 39 26 16 24 34 Inhalt NAC HRICHT EN 6 Kliniken spüren abnehmende Inzidenz 6 Auszeichnung für pädiatrischen Termine 41 Mehr Adipöse in Schleswig-Holstein 6 Weiterbildungsverbund 21 Strahlentherapie für Reinbek 6 Neuer Vorsitzender für die LVGSH 22 ME D I Z I N U N D KU N ST 42 Weniger Antibiotika-Verordnungen 7 Palliativausweis hilft Notärzten 24 Wie eine Kieler Ärztin Fallada- Kurz notiert 7 Mundgesundheit interdisziplinär 25 Manuskripte entdeckte 42 Kieler HIV-Ambulanz: T I TE LTHEM A 8 Rückblick auf 30 Jahre 26 Spagat zwischen Urlaub und Corona 28 AN Z E I G E N 44 Diabetes: Epigenetik und Telemedizin 8 Interview: Prof. Jörg Barkhausen 30 Interview: Prof. Henriette Kirchner 11 Treatfair schafft Klinik-Transparenz 32 T E L E F O N VE R Z E I CH N I S/I MPRESSUM 50 E-Rezept: Das müssen Ärzte beachten 34 Fotos: UKSH / Christian Wyrwa WKK / di / UKSH GES UN DHEIT S P O LIT IK 12 Medienpreis für Organspendebeitrag 35 Mobile Impfteams schließen Lücken 12 Titelbild: Adobe Stock Ocskay Mark KV zum Impfen: „Wir sind gut“ 14 P E R S O N A LI E N 3 6 Digitale Termine statt Warteliste 15 Neue Notfallambulanz für Kiel 16 Modellprojekt KULT-SH startet 17 FORTBILDUNGEN 39 Generalversammlung der ÄG Nord 18 Videotipps für Medizinstudierende 39 Interview: Dr. Svante Gehring 19 Online-Fortbildung am UKSH Sanierung am UKSH geht weiter 20 auch für niedergelassene Ärzte 40
J U L I / AU G US T 2 0 2 1 I N H A LT 5 42 Festgehalten von Dirk Schnack Das Glück der Forscherin Prof. Johanna Preuß-Wössners Forschungsinteresse gilt einem ihrer Vorgänger als Direktorin der Kieler Rechtsmedizin: Prof. Ernst Gustav Ziemke weist nicht nur einen interessanten Lebenslauf auf, sondern war vor fast 100 Jahren auch Gutachter für den Untersuchungshäftling Rudolf Ditzen, alias Hans Fallada. Bei der Suche nach alten Akten stieß Preuß-Wössner auf unbekannte Manuskripte des heute weltbe- kannten Schriftstellers. Daraus ist inzwischen ein Buch geworden: „Lilly und ihr Sklave“.
6 NEWS J U L I / AU G US T 2 0 2 1 Kliniken zwischen Lockdown und Lockerung Daumen hoch bei den Mitarbeitern der B2 am WKK. Auch in anderen Kliniken in Schleswig-Holstein herrschte im Juni Entspannung. N ach der langen Anspannung war in vie- ter der Pflege und der Physiotherapie an- „Das ist ein tolles Gefühl. Wir sind jetzt len Krankenhäusern in Schleswig-Hol- strengend und belastend ist“, sagte etwa der nicht mehr von den anderen Teilen des stein in den vergangenen Wochen ein Ärztliche Direktor der Klinik Manhagen, Hauses abgetrennt, sondern die Türen öff- wenig Erleichterung bei den Mitarbei- Prof. Jörg Braun, der auch Infektiologe ist. nen sich“, sagte Stationsleiterin Ute Glinde- tern zu spüren. Zahlreiche Kliniken mel- Er machte deutlich, dass die derzeitige Situ- mann. Die Station war zu Beginn der zwei- deten wegen sinkender Inzidenzzahlen die ation zwischen Lockerungen und dem er- ten Pandemiewelle zur Infektionsstation Rückkehr in den Regelbetrieb und eine Lo- forderlichen Schutz der Patienten ein Spa- umgewandelt worden. Mit der Auflösung ckerung der Besucherregeln. Zugleich wa- gat für den stationären Sektor ist. In Man- wurden im vergangenen Monat wieder Ka- ren sich die Verantwortlichen in den Kran- hagen waren nach Angaben des Hauses im pazitäten für die Behandlung anderer inter- kenhäusern bewusst, dass die Zahlen auch vergangenen Monat „weit über 90 Prozent“ nistischer Erkrankungen in Dithmarschen in Schleswig-Holstein wieder steigen könn- der Mitarbeiter vollständig geimpft. frei. Vorher stand allerdings eine umfang- ten und dass weiterhin Vorsicht geboten ist Erleichterung herrschte u. a. auch bei reiche Reinigung und Desinfektion an. – ein Grund sind die Virusvarianten. den Mitarbeitern auf der Station B2 der WKK-Geschäftsführer Dr. Martin Blümke „Gerade die Varianten werden uns ver- Westküstenkliniken (WKK) in Heide, die warnte zugleich vor Nachlässigkeiten bei mutlich noch Kummer bereiten, weswegen nach acht Monaten als COVID-Station mit den Schutzmaßnahmen: „Die Schließung z. B. die Maskenpflicht in der Klinik konse- insgesamt 310 dort behandelten Patienten der COVID-Station ändert nichts an unse- quent beibehalten wird, auch wenn das Ar- im Juni zur Behandlung allgemein-inter- ren anderen Schutzmaßnahmen.“ beiten mit Maske gerade für die Mitarbei- nistischer Patienten zurückkehren konnte. (PM/RED) Adipositas auf dem Vormarsch Neue Strahlentherapie für Reinbek D I ie Zahl der adipösen Menschen in Schleswig-Hol- n Reinbek soll eine neue Strahlentherapie entstehen, auf die sich das Kran- stein ist innerhalb von fünf Jahren um mehr als kenhaus St. Adolf Stift und die angrenzende Radiologische Allianz verstän- 30.000 auf zuletzt über 300.000 gestiegen. Diese digt haben. Die Allianz, ein Zusammenschluss von 15 niedergelassenen Zahlen nannte die Barmer in ihrem Arztreport. Da- Ärzten, investiert 18 Millionen Euro in einen Neubau auf einem klinikeige- nach wurden 10,4 Prozent der schleswig-holsteinischen nen Grundstück, das ihr in Erbpacht überlassen wird. Im geplanten Neubau Bevölkerung wegen Adipositas (BMI über 30) von einem über drei Geschosse sind eine ambulante Radiologie, eine nuklearmedizini- Haus- oder Facharzt behandelt. 2014 betrug dieser An- sche Behandlung und eine Strahlentherapie und -diagnostik von Patienten teil 9,4 Prozent. Frauen erhalten die Diagnose häufiger geplant, die in Abstimmung mit den Klinikärzten und niedergelassenen On- als Männer. Schleswig-Holsteins Barmer-Chef Dr. rer. kologen stattfinden soll. Bislang fahren Reinbeker Patienten laut Mitteilung oec. Bernd Hillebrandt verwies auf die gesundheitlichen des St. Adolf Stiftes für Strahlentherapien nach Hamburg oder Lübeck. In Folgen sowie auf gesellschaftliche Ausgrenzung, die fett- den Neubau wird außerdem ein histologisches Labor einziehen. Derzeit wer- leibige Menschen nach seiner Beobachtung erfahren. Er den die Bauanträge für den Neubau gestellt, mit der Realisierung rechnen die Foto: WKK hält es für eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, das Er- Partner im kommenden Jahr. Zur Radiologischen Allianz zählen insgesamt nährungswissen von Kindern zu fördern. (PM/RED) 15 Standorte in und um Hamburg. (PM/RED)
J U L I / AU G US T 2 0 2 1 NEWS 7 Weniger Antibiotika KURZ NOTIERT Ärztehaus für Jevenstedt Ein neues Ärztehaus in Jevenstedt (Kreis Rendsburg- Eckernförde) erhält eine Förderung in Höhe von 750.000 Euro aus öffentlichen Mitteln. Diese Zusage gab das In- nenministerium des Landes Schleswig-Holstein. Ziel ist der Erhalt der ärztlichen Grundversorgung in der 3.000 Einwohner-Gemeinde. Diese hat die inzwischen ge- schlossene Bankfiliale vor Ort erworben und will sie für Foto: AOK den Betrieb von zwei Arztpraxen umbauen. Zwei Ärztin- nen, die dort ihre Praxen eröffnen möchten, konnten be- Verordnung von Medikamenten: Antibiotika sind rückläufig. reits gewonnen werden. (PM/RED) A ntibiotika-Verordnungen sind in Schleswig-Holstein stark rückläufig. Im vergangenen Jahr betrug der Rückgang gegenüber 2019 24,6 Prozent, teilte die AOK Nordwest mit. 2020 waren für alle GKV-Versicherten in Stellenwert der Versorgung steigt Schleswig-Holstein rund 740.000 Antibiotika-Verordnungen ausgestellt Bei einer Landtagsdebatte über die Gesundheitsversor- worden, ein Jahr zuvor waren es noch 981.000. gung hat Landesgesundheitsminister Dr. rer. pol. Heiner Der Rückgang ist nicht allein pandemiebedingt, sondern lässt sich schon Garg (FDP) seine Hoffnung geäußert, dass die Pandemie seit 2013 beobachten. Damals hatte es noch 1,25 Millionen Verordnungen in dazu beitragen wird, den Stellenwert und das Interesse Schleswig-Holstein gegeben. AOK-Vorstandschef Tom Ackermann will ei- an einer guten Gesundheitsversorgung dauerhaft zu er- nen zunehmend kritischeren Umgang insbesondere bei den Verordnun- höhen. Zu lange hat Gesundheitspolitik nach seiner An- gen für Kinder beobachtet haben. „Das ist eine positive Entwicklung, um der sicht ein „Nischendasein gefristet“. Dass Schleswig-Hol- Neubildung von Resistenzen entgegenzuwirken“, so Ackermann. (PM/RED) stein bislang vergleichsweise gut durch die Pandemie ge- kommen ist, führte Garg u. a. auf „ein sehr leistungsstar- kes Gesundheitssystem mit hoch qualifiziertem Perso- nal“ zurück. (PM/RED) © Matthias Tunger | getty images Großhansdorf investiert Die Lungenclinic Großhansdorf hat Pläne für einen Neubau des Bettenhauses vorgestellt. Das Haus rechnet mit einer öffentlichen Förderung in Höhe von 69 Milli- onen Euro. Ziel ist ein 2025 fertiggestelltes neues Betten- haus, das im laufenden Klinikbetrieb entstehen soll. An- stelle des früheren Schwimmbads mit Physiotherapie ist ein Forschungsgebäude geplant. Anfang 2022 erfolgt hier sowie am westlichen Ende des bestehenden Bettenhau- ses der erste umfangreiche Abriss, um Platz für den Neu- bau zu schaffen. Nach Fertigstellung des Neubaus wird Da kommt Freude auf! im letzten Schritt das bestehende Bettenhaus abgerissen. (PM/RED) Ein bisschen Arbeitserleichterung kann viel bewirken. Daher wird es Zeit, über eine Praxissoftware nachzudenken, die alle nötigen Funktionen bietet und trotzdem einfach zu bedienen ist. Welche Einsame Norddeutsche Software das ist? Na, medatixx: modern, funktional und mit Der Lockdown hat bei den Menschen Spuren hinter- Gute-Laune-Potenzial! lassen. Im März fühlten sich 46 Prozent der Norddeut- Damit auch Sie von einer effizienten Arbeitsweise profitieren schen, die von der TK befragt wurden, stark belastet – können, haben wir ein passendes Angebot geschnürt: Sie erhalten ein Jahr zuvor waren dies 40 Prozent. Wichtigste Belas- die Praxissoftware medatixx mit drei Zugriffslizenzen und die tungsfaktoren waren fehlende persönliche Treffen mit Online-Terminbuchung x.webtermin für 99,90 €* statt 144,90 €. Verwandten und Freunden (93 Prozent), Angst, dass sich Sparen Sie also ein Jahr lang jeden Monat 45,00 €. Angehörige oder Freunde mit Corona infizieren könnten Sichern Sie sich das Gute-Laune-Angebot unter (63 Prozent), Kita- und Schulschließungen (57 Prozent) sowie Stress am Arbeitsplatz (56 Prozent). 44 Prozent der gute-laune.medatixx.de Norddeutschen fühlten sich einsamer als zuvor, bundes- * mtl./zzgl. MwSt. Mindestvertragslaufzeit 12 Monate. Die Aktion endet am 30.09.2021. weit sind dies nur 38 Prozent. Hinweise auf eine grund- Angebotsbedingungen siehe shop.medatixx.de. sätzliche Verschlechterung des Gesundheitszustands lie- fert der jüngste TK-Gesundheitsreport jedoch nicht. Anzeige (PM/RED)
8 T I T E LT H E M A J U L I / AU G US T 2 0 2 1 Jeden Tag mehr als 1.000 neue Patienten DIABETES Epigenetik und Telemedizin sind die Themen zweier Lübecker Wissenschaftlerinnen, mit denen sie Schleswig-Holstein beim Deutschen Diabetes Kongress vertreten haben. Vorgestellt wurden auch neue Erkenntnisse über den Einfluss von Diabetes auf die Krebsentstehung. A ktuell gibt es mindestens acht Mil- gung (1.001 Erwachsene zwischen 18 und das das Wechselspiel zwischen Genen und lionen Betroffene mit Diabetes in 70 Jahre, Befragung im April 2021) gaben Umwelteinflüssen untersucht und dessen Deutschland“, erklärte Prof. Moni- an, seit Beginn der Corona-Pandemie zu- aktuelle Erkenntnisse Kirchner bei der vir- ka Kellerer, Präsidentin der Deut- genommen zu haben. Im Schnitt liegt die tuellen 55. Jahrestagung der DDG vorge- schen Diabetes Gesellschaft (DDG), Gewichtszunahme bei 5,6 kg, bei den Be- stellt hat. zu Kongressbeginn, etwa 95 Prozent fragten mit ohnehin höherem Gewicht und „Die menschlichen Gene haben sich von ihnen mit einem Typ-2-Diabetes. BMI über 30 sind es sogar 7,2 kg. Über- in den letzten 100 Jahren kaum verändert. Pro Tag kämen weit mehr als 1.000 Neu- durchschnittlich häufig haben die 30- bis Epigenetik wiederum ist flexibel und dy- erkrankte hinzu, bis zum Jahr 2040 wer- 44-Jährigen (48 Prozent) Gewicht zugelegt. namisch und reagiert schnell auf Umwelt- de sich die Zahl der Diabeteserkrankun- „Corona befeuert damit die Adipositas-Pan- einflüsse und den individuellen Lebensstil. gen voraussichtlich auf zwölf Millionen be- demie“, bilanzierte Ernährungsmediziner Deswegen spielt die Lebensweise, also wie laufen. „Das ist eine gewaltige Herausforde- Prof. Hans Hauner. wir uns ernähren und bewegen, eine gro- rung für unser Gesundheitssystem. Schon Und die wiederum wirkt sich auf die ße Rolle bei der Diabetesentstehung“, er- heute müssen pro Jahr mehr als 21 Milliar- starke Zunahme von Typ-2-Diabetes aus läutert die Forscherin im Interview (Seite den Euro für Diabetes und seine Begleiter- – bei der jetzigen und bei späteren Gene- 11). Das betreffe heute jeden Einzelnen per- krankungen ausgegeben werden – das Leid rationen. Die Zusammenhänge und wel- sönlich und morgen die Nachkommen, so Foto: Adobe STock Aunging der Betroffenen ist damit noch gar nicht chen Einfluss Lebensstilfaktoren auf die Kirchner: „Eltern sollte klar sein, dass sich berücksichtigt.“ Entstehung von Diabetes haben können, ihr Lebensstil auf die kommende Generati- Kurz nach dem Kongress hat die Tech- untersucht Ernährungswissenschaftle- on auswirkt; epigenetische Muster können nische Universität München weitere be- rin und Genetikerin Prof. Henriette Kirch- über Mutter oder Vater weitergegeben wer- denkliche Zahlen veröffentlicht: Rund 40 ner mit ihrem Team an der Universität Lü- den.“ Dies beziehe sich insbesondere auf Prozent der Teilnehmer einer Onlinebefra- beck. Epigenetik heißt das Forschungsfeld, die Entwicklung von Typ-2-Diabetes.
J U L I / AU G US T 2 0 2 1 T I T E LT H E M A 9 Bisherigen Erkenntnissen zufolge nur we- org/10.1111/pedi.13133), die wesentlichen Er- Zu den erwachsenen Patienten: Einer Aus- nig mit Genetik oder Epigenetik zu tun hat kenntnisse lauten: wertung der Universität Ulm zufolge lei- Typ-1-Diabetes, die häufigste Stoffwechse- Große Akzeptanz: Von den circa 3.800 det inzwischen knapp jeder fünfte statio- lerkrankung im Kindesalter. Nach aktuel- Videosprechstundenterminen wurden näre Patient über 20 Jahre an Diabetes (doi: len Schätzungen leben in Deutschland etwa nahezu alle wahrgenommen. 10.3238/arztebl.m2021.0151). Analysiert 32.000 Kinder und Jugendliche bis 19 Jahre Bessere Werte: Für die gesamte Kohorte wurden Fallzahlen zwischen 2015 und 2017, mit der autoimmun bedingten Erkrankung. zeigte sich nach einem Jahr eine signifi- mehr als 18 Prozent der jeweils rund 16,5 Die Erkrankungsrate steigt jedes Jahr um kante und klinisch relevante Absenkung Millionen stationär aufgenommenen Pati- drei bis vier Prozent, besonders kleine Kin- des HbA1c. enten hatten eine Haupt- oder Nebendiag- der sind von dem Zuwachs betroffen. „Wo- Entlastung und Zufriedenheit: Insbeson- nose Diabetes. Diabetes kommt im Kran- ran das liegt, wissen wir nicht“, sagt DDG- dere Mütter wurden in der Therapie ent- kenhaus nahezu doppelt so häufig vor wie Präsident Prof. Andreas Neu aus Tübingen. lastet, signifikant steigende Therapiezu- in der Gesamtbevölkerung – ein deutliches „Es gibt zwar Antikörper und andere Mar- friedenheit der Eltern. Indiz für die hohe Morbidität. Unabhän- ker, die eine Vorhersage und Risikoabschät- gig vom Aufnahmegrund haben Menschen zung hinsichtlich der Diabetesentstehung mit Diabetes einen schlechteren Verlauf erlauben, bislang fehlen jedoch wirkungs- im Krankenhaus; die Krankenhaussterb- volle Strategien, die einen Ausbruch der Er- lichkeit ist bei Diabetikern um 32 Prozent krankung verhindern könnten.“ höher als in einer vergleichbaren Gruppe Manchmal ist der Auslöser ein Infekt, in ohne Diabetes. Von den rund 3,1 Millionen anderen Fällen findet sich keine bestimm- Krankenhausfällen mit Diabetes im Jahr te Ursache, wenn ein bisher gesundes Kind 2017 waren laut Studie mehr als 2,8 Milli- oder ein Jugendlicher plötzlich an Diabe- onen an einem Typ-2-Diabetes erkrankt. tes Typ 1 erkrankt. Wie allerdings moder- „Auffällig war, dass die Verweildauer und ne Diabetestechnologien Behandlungser- Sterblichkeit unter den Krankenhausfällen gebnisse verbessern können, wird seit Jah- mit Diabetes höher lag als bei denjenigen ren in der Kinderdiabetologie unter Beweis ohne Diabetes“, erklärt Prof. Reinhard W. gestellt. Die meisten jungen Patienten mit Holl aus Ulm. „Das verdeutlicht den erheb- Typ-1-Diabetes tragen ein Gerät zur konti- lichen stationären Versorgungsbedarf von nuierlichen Glukosemessung (CGM) und immer älter werdenden multimorbiden Di- eine Insulinpumpe bei sich. Die Daten von abetespatienten.“ CGM-Systemen, Blutzuckermessgeräten Mit dem Alter zunehmende Beschwer- und Insulinpumpen können unkompliziert den wie Herzkreislauferkrankungen, Nie- über eine App in eine Software hochgela- renschäden oder Demenz sind Folgen den und direkt statistisch vorausgewertet des Typ-2-Diabetes. Verantwortlich hier- sowie grafisch aufbereitet werden. Neue te- für sind neben den Stoffwechselstörun- lemedizinische Möglichkeiten, wie sie un- gen häufig chronische Entzündungsreakti- ter anderem in der Kinder- und Jugendme- onen. Dafür typische Entzündungsboten- dizin am UKSH in Lübeck seit mehreren Dr. Simone von Sengbusch vom UKSH, stoffe beeinträchtigen Organe oft so stark, Jahren angeboten werden, können die The- Campus Lübeck, begrüßt die fortschrei- dass sie nicht mehr ausreichend auf Insulin rapie weiter optimieren. tende Digitalisierung in der Diabetologie. reagieren. In einer aktuellen Untersuchung Die von Dr. Simone von Sengbusch ge- haben Wissenschaftler des Deutschen Di- leitete „Virtuelle Diabetesambulanz für abetes-Zentrums (DDZ) bei über 400 Pro- Kinder und Jugendliche“ (ViDiKi), eine Ab April 2020 wurde die Studie fortge- banden 74 Biomarker gemessen, die ein vom Innovationsfonds geförderte Stu- führt und bezog auch neu erkrankte Kin- breites Spektrum an Entzündungsprozes- die zur Erprobung der Videosprechstunde, der ein. „Unsere ‚ViDiKi 2.0‘-Studie ende- sen abdecken (doi.org/10.2337/db20-1054). wurde bereits vor der Corona-Pandemie te im März 2021 und fand damit komplett Damit lässt sich das Risiko für diabetesbe- erfolgreich getestet: Die Studie wurde von während der Corona-Pandemie statt“, er- dingte Komplikationen besser bestimmen. April 2017 bis März 2020 mit 240 Kindern läutert von Sengbusch. Die Ergebnisse Bereits zuvor hatten die Forscher im und Jugendlichen in Schleswig-Holstein sollen in Kürze veröffentlicht werden. Ob Rahmen der Deutschen Diabetes-Stu- und Hamburg durchgeführt (das Schles- die Videosprechstunde in die Regelver- die fünf Subgruppen von Diabetes mit un- wig-Holsteinische Ärzteblatt berichte- sorgung überführt wird, entscheidet der terschiedlichem Verlauf identifiziert: die te). Alle Teilnehmer erhielten über ein Jahr Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA). schwere Autoimmun-Diabetes (SAID), der monatliche Videosprechstunden durch ihr Für die Kinderdiabetologin ist klar: „Die schwere Insulinmangel-Diabetes (SIDD), Studienteam als ergänzende Leistung zur jungen Patientinnen und Patienten wer- der schwere insulinresistente Diabetes Regelversorgung in ihrer Diabetesambu- den darauf nicht mehr verzichten wollen. (SIRD), der moderate adipositasbeding- lanz. Danach konnten die Studienteilneh- Das Diabetesmanagement ist mit der Vi- te Diabetes (MOD) sowie der moderate al- mer noch bis zum Ende des Versorgungs- deosprechstunde für Familien und The- tersbedingte Diabetes (MARD). zeitraums weiter Telemedizin nutzen, im rapeuten viel einfacher geworden. Letzt- Die aktuelle Studie zeigt, dass sich die- Schnitt waren das zweieinhalb Jahre. endlich ist genau das die moderne Medi- se Subgruppen nicht nur hinsichtlich Al- Foto: UKSH Im vergangenen Oktober hat die Ober- zin, die zur hochdigitalisierten Therapie ter und Stoffwechseleigenschaften unter- ärztin die Ergebnisse veröffentlicht (doi. passt.“ scheiden, sondern auch bezüglich der Bio-
10 T I T E L T H E M A J U L I / AU G US T 2 0 2 1 marker der Entzün- sellage kann direkt dung. Die höchsten Einfluss auf eine Tu- Blutspiegel wurden in morzelle nehmen und der Subgruppe SIRD den weiteren Verlauf beobachtet, die durch auf molekularer Ebe- ausgeprägte Insulinre- ne bestimmen.“ sistenz gekennzeich- Weitere Studien net ist; die Subgruppe müssten unter ande- SIDD, die vor allem rem ergründen, wie durch Insulinmangel der systemische Stoff- geprägt ist, wies die wechsel mit dem Tu- niedrigsten Biomar- morstoffwechsel zu- ker-Spiegel auf. „Es sammenhängt und wird noch einige Jah- ob der Stoffwechsel re dauern, bis wir aus das Tumorwachstum diesen Erkenntnissen nicht nur beschleu- eine konkrete Emp- nigen, sondern auch fehlung für die Dia- initiieren kann. „Ge- betestherapie ableiten nauso wichtig ist, können, aber die Er- Menschen mit Dia- gebnisse sind für Dia- betes über ihr erhöh- betes-Komplikationen und ihr Verständnis und zu Tumoren führen“, erklärte der Mo- tes Krebsrisiko aufzuklären und ihnen Prä- äußerst relevant“, sagt Dr. Christian Herder lekularbiologe. Darüber hinaus laufen so- ventions- und Früherkennungsangebote aus dem DDZ. Zukünftige Studien müss- wohl bei Übergewicht als auch bei Diabetes aufzuzeigen“, betont Herzig. Früh erkannt ten untersuchen, inwieweit Unterschiede die oben beschriebenen chronischen Ent- seien viele Krebsarten und ihre Vorstufen in den Profilen der entzündungsbezogenen zündungsprozesse in verschiedenen Orga- mittlerweile gut behandelbar. Biomarker die Unterschiede zwischen den nen ab, die ebenfalls das Tumorwachstum Auch über die Zusammenhänge zwi- Diabetes-Subgruppen hinsichtlich ihres Ri- beschleunigen können. Auch bestimmte schen Diabetes und COVID-19 ist inzwi- sikos, diabetesbedingte Komplikationen zu Fettgewebshormone, die bei Übergewicht schen mehr bekannt; sie waren ebenfalls entwickeln, erklären können. vermehrt aus dem Fettgewebe freigesetzt Thema beim virtuellen DDG-Kongress. Di- Diabetiker haben ein höheres Risiko für werden, spielen bei der Tumorprogression abetiker haben ein höheres Risiko für ei- eine Krebserkrankung, von der in Deutsch- eine Rolle. In Studien konnte gezeigt wer- nen schweren COVID-19-Verlauf. Meta- land jährlich etwa 510.000 Menschen neu den, so Herzig, dass das Fettgewebshor- analysen haben gezeigt, dass männliches betroffen sind. Epidemiologische Untersu- mon Leptin den Fettstoffwechsel in Brust- Geschlecht, Alter über 65 Jahre, hohe Blut- chungen haben eine klare Risikobeziehung krebszellen verändern und dadurch die Tu- glukosespiegel zum Zeitpunkt der Einliefe- zwischen Übergewicht und Tumorerkran- moraggressivität sowie die Metastasierung rung ins Krankenhaus, die chronische Be- kungen der Gebärmutter, der Speiseröhre, steigern kann. „Das bedeutet, die Körper- handlung mit Insulin sowie bestehende Be- der Leber, der Bauchspeicheldrüse und des umgebung in einer bestimmten Stoffwech- gleiterkrankungen wie Herz-Kreislauf-Er- Darms aufgezeigt, wie Prof. Stephan Her- krankungen oder Nierenerkrankungen als zig, Direktor des Helmholtz Diabetes Cen- Risikofaktoren für einen schweren CO- ters München, während des Kongresses er- VID-19-Verlauf gelten. Andererseits zeig- läuterte. Je nach Studie findet man ein bis zu vierfach höheres Risiko zum Beispiel für Info ten die Analysen, dass eine dauerhafte Met- formintherapie mit einem reduzierten Risi- Leberkrebs. „Bei Menschen mit Typ-2-Di- In Deutschland gibt es nach Angaben der ko für einen schweren COVID-19-Verlauf abetes kann man von einem bis zu 1,7-fach Deutschen Diabetes Gesellschaft rund einherging. erhöhten Risiko für bestimmte Tumorar- 1.100 diabetologische Schwerpunktpra- Darüber hinaus gibt es erste Erkennt- ten ausgehen“, so Herzig. „Das sind Brust-, xen, 4.266 Diabetologen, 5.050 Diabe- nisse, dass auch eine SARS-CoV-2-Infekti- Darm-, Harnblasen- und Bauchspeichel- tesberater, etwa 8.570 Diabetesassisten- on eine Diabeteserkrankung auslösen kann. drüsenkrebs, bei einer entsprechenden fa- ten, 3.520 Wundassistenten sowie 300 Verschiedene Studien haben gezeigt, dass miliären Vorbelastung gilt auch ein erhöh- stationäre Einrichtungen mit einer An- bei bis zu 15 Prozent der hospitalisierten tes Risiko für Darmkrebs.“ erkennung für Typ-1- und Typ-2-Diabe- Patienten mit COVID-19 in der Folge ein Die Gründe für diese Risikobeziehung tes (Stand 2/21). Ein Hausarzt betreut im neu aufgetretener Diabetes diagnostiziert sind vielfältig: Menschen mit Prädiabetes Schnitt etwa 100 Patienten mit Diabe- wurde. Ganz offensichtlich infizieren die und einem unerkannten Typ-2-Diabetes tes, davon zwei bis fünf Typ-1-Diabetiker. Coronaviren die Beta-Zellen der Bauch- weisen häufig eine Insulinresistenz auf, die Rund die Hälfte der Typ-2-Diabetiker speicheldrüse und beeinträchtigen deren ihr Körper mit einer vermehrten Hormo- wird ohne Medikamente (Ernährungs- Funktion. Ob sich der Zuckerstoffwechsel Foto: Adobe sTock dizain nausschüttung zu kompensieren versucht. umstellung, Gewichtsabnahme, Schulung nach abgeklungener Infektion wieder nor- Insulin fördert aber auch das Zellwachstum. und Bewegung) behandelt, 40 bis 50 Pro- malisiert oder aber der Diabetes chronifi- „Somit können Körperzellen mit einem ge- zent erhalten blutzuckersenkende Tab- ziert, darüber gibt es noch keine abschlie- netischen Defekt, der eine entgleiste Zell- letten, mehr als 1,5 Millionen werden mit ßenden Erkenntnisse. teilung bewirkt, noch schneller wachsen Insulin behandelt. Uwe Groenewold
J U L I / AU G US T 2 0 2 1 T I T E L T H E M A 11 „Schaltfehler im Erbgut“ INTERVIEW Die Ernährungswissenschaftlerin und Genetikerin Prof. Henriette Kirchner untersucht mit ihrem Team am Center of Brain, Behavior and Metabo- lism der Universität Lübeck, welchen Einfluss Lebensstilfaktoren auf die Entste- hung von Diabetes haben. Unser Autor Uwe Groenewold befragte sie. Frau Prof. Kirchner, warum erkrankt eine denz für Diabetes so stark zunimmt, ohne Person an Diabetes? Sind es die Gene oder dass sich die Gene verändert haben. trägt eher die ungesunde Lebensweise zur Entstehung bei? Können Sie das an einem Beispiel erläu- Prof. Henriette Kirchner: Im Fall tern? des Typ-2-Diabetes, also des nicht insu- Kirchner: Auswirkungen verschiedener linpflichtigen und am weitesten verbrei- Hungersnöte sind gut dokumentiert, etwa teten Diabetes, lautet die Antwort: so- die aus dem Hungerwinter 1944 in den Nie- wohl als auch. Die genetische Prädisposi- derlanden. Durch die proteinarme Mange- tion liegt für Typ-2-Diabetes zwischen 30 lernährung, der schwangere Frauen damals und 50 Prozent. Somit hat man eine bis zu ausgesetzt waren, hatten die Nachkommen 50-prozentige Chance, einen Typ-2-Diabe- ein höheres Risiko für Typ-2-Diabetes und tes zu entwickeln, wenn ein Elternteil eben- koronare Herzerkrankungen. Bei ungesun- falls betroffen ist. Allerdings wurden bis- dem Lebensstil geben diese ein wiederum lang noch keine Gene identifiziert, die ei- schlechteres epigenetisches Profil an ihre nen großen Effekt auf die genetische Verer- Nachkommen weiter – ein Teufelskreis und bung des Typ-2-Diabetes haben. wahrscheinlich ein wichtiger Grund für die Epidemie an Typ-2-Diabetes und Überge- Aber es gibt aktuelle Erkenntnisse aus der wicht. Genetik? Prof. Dr. rer. nat. Henriette Kirchner Kirchner: Neueste genomweite Asso- Ist es auch möglich, dass Genetik und Epi- ziationsstudien zeigen, dass ungefähr 450 selrelevant sind – im Muskel, im Fettgewe- genetik zusammentreffen? genetische Positionen mit Typ-2-Diabe- be, in der Leber, in der Bauchspeicheldrüse. Kirchner: Dazu gibt es inzwischen ers- tes assoziiert sind. Einige davon beeinflus- te Erkenntnisse. So wurde vor Kurzem ein sen besonders die Genexpression in den in- Was hat das mit unserer Lebensweise zu komplexes Netzwerk identifiziert, das die sulinproduzierenden Beta-Zellen und ver- tun? Genexpression eines wichtigen Bestand- mindern somit deren Funktionsfähigkeit. Kirchner: Die menschlichen Gene ha- teils des Insulinrezeptors in der Leber über Andere genetische Risikovarianten verrin- ben sich in den letzten 100 Jahren kaum einen genetischen Polymorphismus herun- gern direkt die Insulinproduktion, indem verändert. Epigenetik wiederum ist flexi- terreguliert. Diabetes, so viel scheint klar, sie die Expression des Gens für Insulin und bel und dynamisch und reagiert schnell auf ist eine Art Schaltfehler im Erbgut. Natür- wichtige Co-Faktoren beeinträchtigen. Umwelteinflüsse und den individuellen Le- lich können Genetik und Epigenetik allein bensstil. Deswegen spielt die Lebenswei- nicht vollständig erklären, wie oder warum Genetik ist die eine Seite, Epigenetik die se, also wie wir uns ernähren und bewe- Diabetes entsteht; aber sie tragen einen gro- andere. Bitte erklären Sie kurz den Zu- gen, eine große Rolle bei der Diabetesent- ßen Teil dazu bei. sammenhang. stehung. Kirchner: Es gibt eine Vererbung des Gibt es abschließend auch gute Nachrich- Diabetesrisikos, die epigenetisch vermittelt Und welchen Einfluss hat das Verhalten ten? ist. Epigenetik beeinflusst die Genexpressi- der Eltern auf die Nachkommen? Kirchner: Epigenetische Veränderun- on, also ob ein Gen verstärkt an- oder aus- Kirchner: Eltern sollte klar sein, dass gen können rückgängig gemacht werden, geschaltet wird. Epigenetische Mechanis- sich ihr Lebensstil auf die kommende Ge- das ist durch Studien in Zellkulturen und men stellen das Bindeglied zwischen Ge- neration auswirkt; epigenetische Muster Mausmodellen gut belegt. Ein diätetischer nen und Umwelt dar, weil sie je nach Art können über Mutter oder Vater weiterge- Gewichtsverlust verändert das epigeneti- der aktuellen Umwelteinflüsse die Genak- geben werden. In diesem Forschungsge- sche Muster, eine Bewegungstherapie wirkt tivität beeinflussen können. Epigenetische biet wurden in den vergangenen Jahren vie- sich auf den Muskel aus und wirkt damit Veränderungen, die Typ-2-Diabetes aus- le Erkenntnisse gewonnen, die generati- der Insulinresistenz entgegen. Foto: UKSH lösen können, finden wir bei Personen mit onsübergreifende epigenetische Vererbung Diabetes in allen Organen, die stoffwech- könnte erklären, warum die globale Inzi- Vielen Dank für das Gespräch.
12 G E S U N D H E I T S P O L I T I K J U L I / AU G US T 2 0 2 1 Mobile Teams schließen die Impflücken IMPFEN In zahlreichen Orten in Schleswig-Holstein gibt es derzeit Impfangebote in einzelnen Stadtteilen, in denen Menschen unter beengten Wohnverhältnissen leben. Bis 14. Juli sollten die Erstimpfungen abgeschlossen sein, ab 15. Juli erfolgt die zweite Impfung. Erstes Fazit: Die Angebote stoßen auf große Resonanz. Hoher Andrang zu Beginn der Impfaktion in Glückstadt. A n den vom Städteverband Schleswig- nach fünfwöchigem Einsatz mit den Er- gel kein Home-Office, weil der Platz nicht Holstein initiierten Impfaktionen stimpfungen in den Stadtteilen fertig sein, reicht oder die Arbeit es nicht zulässt. beteiligen sich auch kleinere Orte derzeit starten die Zweitimpfungen. Solche Viertel gibt es in den Städten wie Leck, Niebüll oder Glückstadt. Der Erfolg deutete sich schon zum Start Kiel, Neumünster, Lübeck und Flensburg, Nach den ersten zwei Wochen fielen der Aktion an: Am ersten Tag, dem 10. Juni, aber auch in der Provinz. Genau diese Vier- die Resümees positiv aus. „Es kom- war Glückstadt einer der ersten aufgesuch- tel sind das Ziel der gemeinsamen Initia- men nicht nur genügend Menschen, ten Orte. Ab 7:30 Uhr stellten sich dort die tive von Städteverband und Landesregie- sondern auch die aus der angestrebten Ziel- ersten Menschen für die Impfung ohne rung. Für die Quartiersimpfungen haben gruppe“, sagte der zuständige Dezernent Termin an. Ganz vorn stand Marion Bohl- Kommunen und kreisfreie Städte Viertel beim Städteverband Schleswig-Holstein, mann, die wegen einer Erkrankung Priori- benannt, die von mobilen Impfteams, von Peter Krey, auf Nachfrage des Schleswig- tätsgruppe zwei ist und bis dahin mit einem der KV gesteuert, angefahren werden – laut Holsteinischen Ärzteblattes. Impftermin keinen Erfolg hatte. In zwei Landesregierung insgesamt rund 50. Die Landesgesundheitsminister Dr. rer. Arztpraxen stand sie auf der Warteliste und Befürchtung mancher Kommunen, dass pol. Heiner Garg (FDP), der sich bei einer über die zentrale landesweite Hotline hat- Menschen aus anderen Regionen kommen Impfaktion im Rendsburger Stadtteil Mast- te sie es mehrfach vergeblich versucht. Nun und diejenigen, für die dieses Angebot ge- brook informierte, war begeistert. „Wir set- wartete sie vor den Räumen der Diakonie dacht ist, nicht zum Zuge kommen könn- zen damit ein Zeichen, dass wir Impflücken in Glückstadt Nord, damit sie an diesem ten, erwies sich als unbegründet. schließen können“, sagte Garg. Insgesamt Tag die ersehnte Impfung gegen Corona er- Viele der Menschen, die über die Akti- stellte das Land 14.000 Impfdosen zur Ver- halten konnte. Die frühere MFA wohnt in on erreicht werden, haben allen Grund, die fügung, die nur von den mobilen Teams bei einem Stadtteil mit vielen Wohnblocks, Impfung herbeizusehnen. Renate Harbe- den Stadtteilimpfungen verimpft werden zum Teil in beengten Verhältnissen. Men- cke etwa saß zum Impfstart in Glückstadt können. Laut Planung sollten sie Mitte Juli schen, die hier wohnen, haben in aller Re- stundenlang geduldig in der prallen Son-
J U L I / AU G US T 2 0 2 1 G E S U N D H E I T S P O L I T I K 13 danach noch Kinder bekommen, wann be- komme ich die zweite Impfung und muss das jetzt jedes Jahr sein?“ – klassische Fra- gen, die jedes Impfteam kennt und seit Jah- resbeginn mehrfach beantwortet hat. Nachdem das Team gestartet war, lief es in Glückstadt, die Warteschlange wurde ab- gearbeitet. Die Stadt erinnerte in den Fol- getagen über die sozialen Medien an die Impfaktion. Denn eine der Herausforde- rungen war es wie an jedem Standort, täg- lich die mitgeführte Menge an Impfdosen auf die Nachfrage abzustimmen. Obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits 1,6 Millionen Schleswig-Holsteiner ihre Er- stimpfung erhalten hatten und ein gewisser Gewöhnungseffekt mit der Gesamtsituati- on eingesetzt hatte, bleibt die Impfung für Die frühere MFA Marion Bohlmann in der Warteschlange in Glückstadt. den Einzelnen ein wichtiger Moment. Ärz- tin Lea Otte, die in Rendsburg im Einsatz ne, ohne ihre gute Laune zu verlieren. Die erhielt, spürte man in der Warteschlan- war, berichtete von der großen Freude der 60-Jährige hatte Familienmitglieder mitge- ge die Erleichterung – es ging voran. Je- Menschen, die sich dort impfen ließen. bracht, viele von ihnen haben chronische der in der Warteschlange hatte seine ei- Parallel zu den Stadtteilimpfungen star- Erkrankungen wie MS, Diabetes und Mor- gene Geschichte: etwa die Frau, die stän- tete das Land Schleswig-Holstein in den bus Crohn. dig von ihrem schon geimpften Partner in Impfzentren Lübeck, Neumünster und Hu- „Wir halten uns selbstverständlich an den Arm genommen werden musste, weil sum am 11. Juni Sonderimpfaktionen ohne alle Regeln. Aber jetzt ist es Zeit, dass wir sie grundsätzlich panische Angst vor Sprit- Impftermine für jedermann, eine Aktion, geimpft werden“, sagte Harbecke. Verständ- zen hat. „Es ist nicht die Impfung – die will die anschließend auf weitere Standorte aus- lich wäre ein „endlich“, aber das benutzte ich. Aber die Spritze…“, versuchte sie ihre gedehnt wurde. Zu diesen Sonderaktionen sie nicht. So wie Harbecke und Bohlmann Ängste zu erklären. wurde der Impfstoff von AstraZeneca ve- warteten die Menschen in einer Schlange, Ismani ist damit vertraut. Er nahm die rimpft, in Glückstadt-Nord und anderen die schnell auf fast 100 anwuchs. Ihre Ge- Ängste der Impfwilligen ernst, fragte nach Stadtteilen waren es die von BiontechPfizer duld und entspannte Haltung passte nicht den Gründen, verwies ruhig auf den kaum und Moderna. zu den Meldungen über manche aggressi- zu spürenden Impfvorgang und schaffte es Garg hatte beim Besuch in Rendsburg ven Menschen, die ihrer Enttäuschung über ohne Probleme, dass auch diese Frau sich schon mögliche weitere Aktionen im Blick: ausbleibende Impftermine Luft in Arztpra- impfen ließ – und hinterher spürbar er- Bis Ende des Sommers, so hoffte er Ende xen verschafften. leichtert und froh war. Juni, sollten möglichst auch Mitarbeiter In den Räumen der Diakonie organi- Bei den Aufklärungen erwarteten Isma- in Kindertagesstätten, Schulen und Hoch- sierte ein eingespieltes Impfteam die Abläu- ni keine Fragen, die ihm noch nicht gestellt schulen noch solche Angebote erhalten. fe. Arzt Florent Ismani und Pflegedienstlei- wurden: „Wie gefährlich ist das, kann ich Dirk Schnack terin Lisa Kliemann hatten schon bei mobi- len Impfungen in den Pflegeheimen zusam- mengearbeitet, ihnen stand an diesem Tag Krankenschwester Heike Eickhoff-Jasper aus dem Impfzentrum in Itzehoe zur Seite. Die drei wissen, worauf es ankommt: Erst müssen die Abläufe in den Räumen durch- gesprochen sein, damit es anschließend si- cher und schnell gehen kann. Weil es Ismani doch etwas zu beengt zuging, wurde kurzerhand ein angrenzen- der Raum – eigentlich eine kleine Gaststät- te – desinfiziert und für die Impfungen her- gerichtet. Die Glückstädter schafften auch das: Ordnungsamt, Feuerwehr, Menschen aus der Verwaltung und der Security arbei- teten Hand in Hand für die auf eine Woche angesetzten Impfungen, die täglich, auch am Wochenende stattfanden. Fotos: Di Als Marion Bohlmann schließlich nach vier Stunden Wartezeit die erste Impfung Arzt Florent Ismani bei der Aufklärung einer Patientin in Glückstadt.
14 G E S U N D H E I T S P O L I T I K J U L I / AU G US T 2 0 2 1 Ärzte wissen um die Leistungen der MFA ABGEORDNETENVERSAMMLUNG Mitte Juni wurde in Schleswig-Holsteins Arztpraxen auf Hochtouren geimpft. Das Thema stand auch im Mittelpunkt der jüngsten KV-Abgeordnetenversammlung in Bad Segeberg. A uf der einen Seite massive Fortschrit- insgesamt 1.530 impfenden Arztpraxen Rechts- und Haftungsunsicherheiten für te beim Impfen, auf der anderen Sei- in Schleswig-Holstein, von denen „er- die impfenden Ärzte. te immer wieder neue Probleme, die staunlich viele parallel mit drei Impf- Bis über die Grenze belastetes Personal in in den Medien bisweilen Dimensi- stoffen unterwegs sind“, wie Schliffke be- den Praxen. onen annahmen, die ihrem tatsäch- richtete. Welchen Anteil die Praxen an Schliffke sagte über die Medizinischen Fa- lichen Ausmaß nicht entsprachen: den durchgängig deutlich unter Bun- changestellten (MFA): „Wir haben gro- Schleswig-Holsteins KV-Vorstands- desdurchschnitt liegenden Inzidenzen ßen Respekt vor dem, was diese jetzt leis- vorsitzende Dr. Monika Schliffke jeden- im Norden haben, darüber spekulierte ten. Wir haben kein Verständnis, dass man falls beobachtete zwischen den realen Fort- Schliffke zwar nicht. Fest steht aber, dass sie bei Sonderzahlungen für Pflegekräfte schritten beim Impfen und der medialen die Arztpraxen die Fortschritte trotz übergangen hat und wir hoffen alle, dass sie Berichterstattung einen gewaltigen Unter- exogener Probleme ermöglichen konn- durchhalten.“ schied. Auf der einen Seite hatte innerhalb ten. Einen Teil dieser Probleme sprach Dass diese Haltung nicht nur für Haus- eines Zeitraums von einem halben Jahr je- Schliffke an: ärzte gilt, unterstrich in der anschließen- den Diskussion u. a. der in Bad Segeberg niedergelassene Vorsitzende des Berufs- verbandes der Augenärzte, Dr. Bernhard Bambas. Er machte deutlich, dass er und seine Kollegen sich von der Politik Wert- schätzung für die MFA in Form eines Bo- nus gewünscht hätten. Ähnlich hatten sich in den Wochen zuvor weitere ärztliche Or- ganisationen wie etwa die Ärztegenossen- schaft Nord geäußert. Bis zum Redaktions- schluss blieb diese Forderung auf Bundes- ebene allerdings unerfüllt. Schliffke sprach aber auch an, was gut lief: Neben der Leistung der Praxen zum Beispiel die Abstimmung zwischen den Akteuren innerhalb Schleswig-Holsteins. Schliffke hob in diesem Zusammenhang Der Vorstand der KV Schleswig-Holstein, Dr. Monika Schliffke und Dr. rer. nat. Ralph auch die Kommunikation mit dem Lan- Ennenbach , berichtete über Fortschritte und Probleme beim Impfen gegen Corona in desgesundheitsministerium hervor und Schleswig-Holstein. Ihr Urteil: „Wir sind gut.“ Unzufrieden sind Ärzte dagegen, weil den sie betonte noch einmal ausdrücklich, dass MFA im Gegensatz zu Pflegekräften ein Bonus nicht gewährt wird. die Knappheit an Impfstoffen – und damit die wesentliche Ursache von vielen Proble- der zweite Deutsche mindestens die Er- Druck und zum Teil übersteigerte Erwar- men der zurückliegenden Monate – nicht stimpfung gegen Corona erhalten.. Auf der tungshaltung der Öffentlichkeit. im Handeln von Akteuren aus Schleswig- anderen Seite bestimmen stets neue Proble- Ungeduldige und in Ausnahmefällen Holstein begründet sei. me und vermeintliche Skandale die Nach- auch aggressiv auftretende Patienten. Bei der Aufarbeitung der Probleme richten. Schliffkes Urteil über die geleiste- Fehlende Planungsmöglichkeiten als Fol- konnte ein Thema, das erst wenige Tage te Arbeit der Ärzte beim Impfen wurde von ge nicht eingehaltener Lieferungen. vor der Versammlung publik wurde, nicht der negativen Stimmung in den Medien je- Hoher Organisationsaufwand für die unerwähnt bleiben: die Vergütung für das denfalls nicht getrübt. Für die KV-Chefin Vergabe der Impftermine, weil nicht alle Ausstellen von digitalen Impfzertifikaten, steht fest: „Wir sind gut.“ Patienten Termintreue zeigten. die Mitte Juni fast ausschließlich von Apo- Diese Zwischenbilanz zog sie für die Kommunikationsfehler über die Vek- theken geleistet wurde. Fast unmittelbar, Foto: Di Impfzentren, die mobilen Teams und die torimpfstoffe. nachdem die Nord-KV auf eine nach ih-
J U L I / AU G US T 2 0 2 1 G E S U N D H E I T S P O L I T I K 15 Ohne Liste + Anrufe rer Ansicht unstimmige Relation zwischen dem Honorar für das Impfen selbst (20 Euro) und dem vom Aufwand her kaum zu vergleichenden Ausstellen des digitalen zum Impftermin Zertifikats (18 Euro) aufmerksam gemacht hatte, hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) die Absenkung dieser Vergütung auf sechs Euro angekündigt – eine erstaunliche Differenz. KV-Vorstand Dr. rer. nat. Ralph Ennenbach sprach in diesem Zusammenhang von einem „Bu- TERMINMANAGEMENT Impftermine online vergeben, benstück“, weil das Ausstellen des Impfzer- statt sie über Telefon zu vereinbaren: Mit dieser Lösung tifikats zuvor schwer an Leistungserbrin- hat sich eine üBAG in Mitteholstein viel Stress erspart. ger vermittelbar gewesen sei. „Ein fantasti- scher Bluff, wenn das vorher geplant war“, sagte Ennenbach. Lieber wäre ihm aller- sagte Lawrenz. Grund: Viele Patienten dings gewesen, wenn die unstimmige Re- kümmerten sich über mehrere Kanäle um lation durch eine Anhebung des Honorars einen Impftermin und sagten oft nicht ab. für den Impfaufwand angeglichen wor- Den Praxen erschwerte dies die Organisati- den wäre. on, weil sie oft erst, wenn sie den Patienten Unsicherheit herrschte zum Zeitpunkt telefonisch erreicht hatten und einbestellen der Versammlung noch über die Frage, wollten, erfuhren, dass dieser den Termin wie es mit dem Impfen weitergeht. Folgen- nicht mehr benötigte. de Faktoren spielen hierbei – neben den Weil die Vollstedter Praxis für die inter- Schwankungen in der Impfstofflieferung – ne Verwaltung mit dem System „Termini- eine Rolle: ko“ des Hamburgers Niko Boese arbeitet, Mitte Juni warteten noch rund eine Mil- nahm Lawrenz Kontakt zu ihm auf. Boese lion Schleswig-Holsteiner auf ihre erste bietet auch ein Programm zur Online-Ter- Impfung. minvergabe unter dem Namen „Terminico“ Die urlaubsreifen Praxisteams werden an, das sich mit einem Zusatzmodul nur für die hohe Schlagzahl der vergangenen das Impfen ergänzen lässt. Dieses Modul Monate während der Ferienzeit vermut- kann zum Beispiel von einem Webdesigner lich etwas reduzieren müssen. in die Praxis-Website eingebunden werden. Fehlende verlässliche wissenschaftliche Robert Lawrenz Für die Freischaltung reichte dann ein Tele- Studien zur Frage, ab wann eine Auffri- fonat zwischen Boese und Lawrenz. B schungsimpfung erforderlich sein wird. Neben der Lizenzgebühr in Höhe von Die vielen Unsicherheiten und Probleme is zu 800 Menschen standen in der 200 Euro für das Modul und den Stunden- könnten auch dazu führen, dass nicht jede überörtlichen Beraufsausübungsge- sätzen für die Arbeitsstunden fielen keine impfende Arztpraxis dieses Angebot auf- meinschaft (üBAG) mit Standorten weiteren Kosten für die Praxis an. Termini- rechterhält. Der Kieler Abgeordnete Wolf- in Groß Vollstedt, Nortorf und Au- co wird nach Angaben Boeses von rund 40 gang Schulte am Hülse befürchtet, dass krug zwischenzeitlich auf einer War- Arztpraxen im deutschsprachigen Raum manche Kollegen die Regelversorgung be- teliste, um sich impfen zu lassen. genutzt, von denen bis Mitte Juni erst acht droht sehen und deshalb beim Impfen aus- Zwei externe Mitarbeiterinnen wur- das Zusatzmodul für das Impfen einsetzten. steigen: „Viele werden die Faxen dicke ha- den zusätzlich benötigt, um die Termine zu Auch einige größere Unternehmen bieten ben.“ Erschwert wird die Situation weiter koordinieren. Für die Vereinbarung von 80 Lösungen für die Online-Terminvergabe. durch die mangelnde Wertschätzung für Impfterminen mussten 600 Telefonate ge- Für die Patienten ist das Einbuchen ein- die Vektorimpfstoffe. Allgemeinmediziner führt werden. fach: Auf der Praxis-Website werden sie Jörg Schulz-Ehlbeck (Neumünster) berich- Im Juni nahm der Stress am Standort auf das Modul geführt, wo sie ihre per- tete, dass er kürzlich erstmals zwei Impf- Groß Vollstedt deutlich ab, nachdem Pra- sönlichen Daten eingeben und sich für ei- dosen trotz vielfacher Bemühungen nicht xispartner Robert Lawrenz eine Online- nen freien Termin entscheiden. Pro Imp- verimpfen konnte. Terminvergabe nur für Impftermine in- fung sind dies fünf Minuten. Jeder Impfarzt Trotz solcher Probleme kamen auch stallieren ließ. Die bestehende Wartelis- schaltet für eine zweistündige Impf-Session die Abgeordneten zum Schluss auf das Po- te wurde nur noch abgearbeitet, alle wei- 24 Termine frei. Das System generiert nach sitive. Hausarzt Björn Steffensen aus Nord- teren Impfwilligen trugen sich ein, sobald der Anmeldung eine Mail, die dem Patien- friesland mahnte: „Wir erzählen nur von sie freie Termine in der Praxis fanden. Zum ten den Termin bestätigt. Stornierungen Problemen, dabei ist das Impfen ein toller Erscheinen dieser Ausgabe dürfte die War- sind genauso einfach. Wieder frei geworde- Erfolg.“ Weil die heute diskutierten Prob- teliste abgearbeitet sein. ne Termine werden nach bisherigen Erfah- leme morgen nach aller Erfahrung durch- Realisiert wurde die digitale Lösung in- rungen innerhalb einer halben Stunde von gestanden sind, empfiehlt er: Weiter imp- nerhalb weniger Tage. „Als die Priorisie- neuen Interessenten belegt – ohne weiteren fen. rung aufgehoben wurde war klar, dass et- Aufwand für das Praxispersonal. Foto: Di Dirk Schnack was in der Terminvergabe passieren muss“, Dirk Schnack
16 G E S U N D H E I T S P O L I T I K J U L I / AU G US T 2 0 2 1 KV und Klinik steuern Patienten gemeinsam VERSORGUNG Das gemeinsame Notfallzentrum der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein (KVSH) und des Städtischen Krankenhauses Kiel (SKK) ist eröffnet. Ziel ist es, die Klinik-Notaufnahme zu entlasten und die Wartezeiten zu verkürzen. N ach fast einem Jahr Umbauzeit ste- Notfallzentrum wurde diese Zusammen- samen Zentrum vereint sein. „So wird die hen die neuen gemeinsamen Räum- arbeit nun ausgebaut und „in Beton gegos- ambulante und stationäre Notfallversor- lichkeiten des Städtischen Kran- sen“. gung aus Patientensicht zu einer Einheit“, kenhauses Kiel und der Kassenärzt- Die Voraussetzungen und der An- gratulierte Landesgesundheitsminister Dr. lichen Vereinigung für die Versor- spruch an die Notfallversorgung haben rer. pol. Heiner Garg zur Eröffnung. Von gung ambulanter Notfallpatienten sich stetig weiterentwickelt, der Bau eines den 1,1 Mio. Euro Baukosten für die neuen bereit. In der sektorenübergreifen- gemeinsamen Zentrums war die logische Räumlichkeiten kamen 90 Prozent als För- den Einrichtung werden künftig Notfallpa- Schlussfolgerung dieser Entwicklungen. derung vom Land. tienten, die eigenständig in die Notaufnah- „Damit wurde die Pandemiezeit konstruk- „65 bis 70 Prozent der Patienten kom- me des SKK kommen, der ambulanten und tiv genutzt“, meinte Dr. Monika Schliff- men in der Tat zu Fuß in die Notaufnah- stationären Versorgung zugeführt. So lasse ke, Vorstandsvorsitzende der KVSH. „Das me“, sagte Dr. Malte Raetzell, Leiter Erlös- sich die Notaufnahme entlasten und die Pa- ist aber kein Status, auf dem wir uns ausru- management im SKK. Doch nicht jeder die- tienten erhalten eine ihrer Diagnose ent- hen möchten.“ ser Patienten muss zwangsläufig stationär sprechende Behandlung mit kürzeren War- Bisher laufen die Patientenströme noch behandelt werden. „Wer eine akute Harn- tezeiten. getrennt voneinander. Neben den neu- wegsinfektion mit 39 Grad Fieber hat, ist „Bereits 1999 wurde die erste Anlaufpra- en Praxisräumen im SKK entstehen der- auch ein Notfall, braucht aber in der Regel xis der KVSH auf dem Gelände des SKK er- zeit noch ein gemeinsamer Eingang und keine stationäre Versorgung“, so Schliffke. richtet. Das war die erste Anlaufstelle in das neue Gebäude der Notaufnahme. Im Ein KV-Arzt wird daher die Patienten sich- Deutschland, in der die sektorenübergrei- vierten Quartal dieses Jahres werden die ten und entscheidet, ob die Person ambu- fende Zusammenarbeit umgesetzt wurde“, Notaufnahme und die Praxisräumlichkei- lant in der Praxis oder stationär im Kran- berichtete Dr. Roland Ventzke, Geschäfts- ten nur wenige Meter voneinander entfernt kenhaus behandelt werden muss. Für die führer des SKK. Mit dem gemeinsamen und unter einem Dach in einem gemein- Diagnostik können die KV-Ärzte auch die Medizintechnik der Klinik auf kurzem Wege in Anspruch nehmen. Sollte eine sta- tionäre Aufnahme infrage kommen, müs- sen Ärzte aus dem SKK zur Sichtung hinzu- gezogen werden, um die Entscheidung zu bestätigen und die Weiterbehandlung in der Klinik einzuleiten. In den Praxisräumen kommen ein all- gemeinmedizinischer und ein kinderärztli- cher Dienst zum Einsatz. „Hierbei handelt sich um rotierende Poolärzte, die entweder niedergelassen, bei der Bundeswehr, in Kli- niken oder auch privatärztlich tätig sind“, erklärte Dennis Kramkowski, Notdienstko- ordinator der KVSH. Des Weiteren werden auch MFA über die KV angestellt. Die kommende Herausforderung be- trifft den Datenschutz und dreht sich um die Frage, wie die Notfalldaten sinnvoll zu- sammengefügt und zugänglich gemacht werden können, um eine angemessene Ver- Gemeinsame Sache: KV-Notdienstkoordinator Dennis Kramkowski, SKK-Geschäftsführer sorgung zu ermöglichen und beide Sekto- Foto: SG Dr. Roland Ventzke, KV-Vorstandsvorsitzende Dr. Monika Schliffke und der Leiter ren weiter miteinander zu verbinden. Erlösmanagement im SKK, Dr. Malte Raetzell. Stephan Göhrmann
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