WINTER 2020/21 - Hochschulzeitung der Staatlichen Hochschule für Musik Trossingen
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WINTER 2020/21 Hochschulzeitung der Staatlichen Hochschule für Musik Trossingen www.hfm-trossingen.de
Redaktion Christian Fischer, Mechtild Neininger-Hofmann Mitarbeit an dieser Ausgabe u.a. Mitteilung der Staatlichen Hochschule für Elko Baumgarten, Anne-Marie Bergfeld, Anne Fotos u.a. Musik Trossingen Bischoff, Stefan Bornscheuer, Andreas Brand, Elko Baumgarten, Ricarda Hofmann, Ralf Pfründer, Herausgeber Nicholas Daniel, Joachim Goßmann, Wolfgang Sven Reisch, Hannah Elizabeth Tilt Staatliche Hochschule für Musik Trossingen Guggenberger, Kathrin Hasselbeck, Michael Huss, titelfoto Schultheiß-Koch-Platz 3 | 78647 Trossingen Boris Kucharsky, Johanna Lingens, Hannah Willi Brodbeck +49 7425-9491-12 Monninger, Annemarie Ohlsen, Rainer Prokop, Lars rektorat@mh-trossingen.de Rapp, Sven Reisch, Rosa Reitsamer, Franziska Druck www.hfm-trossingen.de Schumacher, Sabine Vliex, Lisa Werner Hohl-Druck, Balgheim, Auflage: 1 000
Inhaltsverzeichnis Zum Geleit 04 Bewertung künstlerischer Leistung Einführung07 Quality of Arts. Eine Studie 10 Künstlerische Leistung im Studium 13 Spielregeln von Probespielen 17 Im Wettbewerb erfolgreich 22 Studium unter Corona Corona dominiert 26 Schlaglichter des AStA 28 Low Latency 31 Corona-ABC32 Digitaler Unterrichtsraum 35 Menschen und Gesichter Ausgeschieden36 Neue Professoren 38 Vielfältige Erfolge 54 Musikalischen Quellen auf der Spur 60 Aus dem Studium Orpheus 1607-2019 64 Musikdesign | Landeszentrum 67 Organisten on tour 72 Musik und Bewegung 73 Veranstaltungen76 Impressum02
4 4up Von Christian Fischer „WIR KÖNNEN DEN WIND NICHT ÄNDERN, ABER DIE SEGEL AN- DERS SETZEN.“ Aristoteles Seit bald einem Jahr liegt der Schatten der Corona- Krise über allem und jedem. Wie ein Brennglas macht diese Krise Probleme, aber auch positive Impulse in unserer Gesellschaft, unseren Beziehungen und natürlich auch in unserem Hochschulleben sichtbar. Corona erweist sich als ein Lackmustest für die Solidaritätskräfte, aber auch für die Wandlungsfähigkeit unserer Gesellschaft. Viele Künstler*innen und viele Musikstudierende sind von echten Existenzsorgen geplagt. An manchen nagt die Frage nach dem Sinn und der Zukunftstauglichkeit der Berufswahl „Musiker*in“. Die Krise hat im Verlauf des Hochschuljahres 2020 viele neue Herausforderungen gebracht und manche hier im Hause sind an ihre persönlichen Grenzen gestoßen. Es ist aber auch Bewundernswertes entstanden und geleistet worden. Bei uns allen ist die Sehnsucht nach „Normalität“ riesen- groß – allein: Macht es Sinn, sich ein „Zurück-zu…“ zu wünschen? Ist es nicht viel spannender zu fragen, was dieser fundamentale Einschnitt bei uns, in unserem Denken, im Musikleben und in unserem hochschulischen Tun positiv verändern könnte? Bringt diese Krise nicht auch echte
5 Chancen mit sich, für eine neue Wahrnehmung gerade der Notwendigkeit von Kultur (im Mangel wird deutlicher, was wirklich fehlt…), für die Notwendigkeit neuer Ideen und Formate des Unterrichtens, des Konzertierens, vielleicht auch für die Notwendigkeit einer nachhaltigeren (und umweltverträglicheren) Art der Berufsausübung als Künstler*in ? „NICHTS GEHT JEMALS VORBEI BIS ES UNS Allen Autorinnen und Autoren dieses Heftes sei ausdrücklich für Ihre investierte Gedankenkraft GELEHRT HAT, WAS WIR und Zeit gedankt. Dieses Journal, dessen 2020-Ausgabe ebenfalls der Corona-Krise zum WISSEN MÜSSEN.“ Opfer fiel, lebt von der Vielfalt Ihrer Beiträge und Pema Chödron Impulse! Wir sind gespannt, was das Jahr 2021 noch mit sich Viel Neues hat sich 2020 und Anfang 2021 an der Trossinger bringt, was an dieser Hochschule möglich sein wird an Hochschule getan, ganz abseits von Corona-bedingten Präsenzunterricht, Konzerten – und auch an Wandel. Änderungen von Verkehrswegen, Abläufen oder der Prü- fungsorganisation: Interessante neue Kolleginnen und Eine Chance dafür bringt das im Juni diesen Jahres anste- Kollegen sind berufen worden und nehmen ihre Arbeit auf. hende Hochschuljubiläum: 50 Jahre Staatliche Hochschule Ein neuer Online-Raumplaner ist eingeführt worden, der für Musik sind zu feiern. Wir wollen dies am Wochenende nebenbei vieles leistet, wie die aktuell notwendige Anwe- 17.-20.Juni begehen, ob nun in Präsenz oder „hybrid“. senheitsdokumentation, Transparenz von Raumvorplanun- WANDLUNGEN bzw. HOHENKARPFEN XXI heißen zwei der gen oder Prüfungsplänen. Das Erscheinungsbild, das Veranstaltungen. „corporate design“ der Hochschule im Web und in Printpro- Weitere Informationen finden Sie am Ende des Heftes. dukten hat einen umfassenden Relaunch erfahren, ebenso „WEGE ENTSTEHEN auch die Konzeption des PLATEAU-Journals. DADURCH, DASS Ab diesem Heft wird immer ein Schwerpunkt-Thema im Fokus stehen, das von verschiedenen Seiten und Autor*in- WIR SIE GEHEN.“ nen beleuchtet werden soll: In dieser Ausgabe geht es um Fragen rund um die Bewertung künstlerischer Leistungen, die uns Musiker*innen (aber auch Lehrenden) in verschiede- nen Situationen der Ausbildung und des Berufslebens immer Franz Kafka zugeschrieben wieder begegnet.
Bühne frei! Doch das Verständnis von Kunst und „künst- 6 lerischem“ Tun ist spätestens seit Cage, Beuys oder der Fluxus-Bewegung der 1960er Jahre so weit gestreut wie nur irgend denkbar. Schwer wird es, wenn künstlerische Leistungen bewertet werden sollen. Welche Kriterien gelten, welche Maßstäbe werden angelegt?
Über das 7 Beurteilen von Kunst Von christian Fischer In einer Musikhochschule, die in ihren Studiengängen in unzäh- ligen Prüfungen das künstlerische Potential zu bewerten ver- sucht, sollten die Grundlagen und Kriterien für die Bewertung von künstlerischen Leistungen regelmäßig diskutiert werden. Erstaunlicherweise finden sich in Wettbewerbs- und Probe- oder etwa Musikpädagoge, Musikwissenschaftlerin oder Plateau: Bewertung künstlerischer Leistung spielausschreibungen oder auch an Musikhochschulen selten Musiksoziologe etc. Dabei spielen persönliche Initialerleb- transparent einsehbare, differenzierte Bewertungskriterien nisse, Wertmaßstäbe, erfahrene Ermutigungen oder für anstehende Beurteilungen. Es werden – oft nur mündlich Ablehnungen, aber auch der innere Umgang mit dem – eher grundsätzliche Punkte benannt wie: technische Vor-anderen-Musizieren eine Rolle. Früher oder später Beherrschung, rhythmische Präzision, Intonation, künstleri- erleben alle Musiker, dass Musizieren auch eine zutiefst sche Gestaltungskraft, Stilsicherheit, Persönlichkeit, selbsttherapeutische Komponente hat. Ausstrahlung etc. Nachvollziehbar verschriftlicht sind diese kaum – von den in Prüfungsordnungen der Musikhochschlen Zwar ist das Erleben des eigenen künstlerischen Tuns beim festgehaltenen allgemeinen Rahmenanforderungen und kindlich-unbeschwerten „spielerischen Üben“ oder beim Benotungssystemen einmal abgesehen. Dabei drängt sich selbstvergessenen, von jeglichem (Erfolgs-)Denken befrei- natürlich die grundsätzliche Frage auf, ob und inwieweit das ten „absichtslosen Spiel“ immerhin für diese Momente frei Beurteilen von „Kunst“ angesichts dieses schwer fasslichen von Beurteilungs- oder Kriterienfragen. Doch die eigene Metiers überhaupt möglich oder sinnvoll ist. Sollte es nicht Erfahrung (inklusive Zweifel) von „Beurteiltwerden“ erlebt bei jedem Erleben von Musik oder Kunst eher um beschenkt oder erleidet irgendwann jede Musikerin: ob beim ersten oder inspiriert Werden, um innerlich berührt oder begeistert Mal Jugend-Musiziert oder bei der Aufnahmeprüfung. Werden gehen, denn um vergleichendes, einsortierendes, Ebenso aber erlebt oder erleidet die eigene Erfahrung benotendes Bewerten? (inklusive Zweifel) von „Beurteilenmüssen“ fast jede Hochschuldozentin oder Jurorin bei ihrer allerersten Das Verständnis von Kunst und „künstlerischem“ Tun ist Prüfungsabnahme oder Wettbewerbsbeurteilung. spätestens seit Cage, Beuys oder der Fluxus-Bewegung der 1960er Jahre so weit gestreut wie nur irgend denkbar. Und SCHÜLER - LEHRER - RECHT AUF TRANSPARENZ der persönliche Begriff, den Musikerinnen und Musiker von „Kunst“ für sich entwickeln, wird vermutlich das angestreb- An Musik- und Kunsthochschulen gleicht die Beziehung te musikalische Betätigungsfeld definieren, ob man also zwischen Lehrendem und Studierendem oft noch dem lieber engagierter Amateurmusiker oder professionelle „Meister-Schüler-Verhältnis“ – so hört man es immer Künstlerin auf Bühne oder im Orchester werden möchte wieder. Es scheint diese Beziehung im so wichtigen Haupt-
8 fach-Bereich oft eine besonders enge, von Respekt bis selten werden Fehlurteile oder große Skandale publik, wie Bewunderung auf der einen, sowie Empathie, hohem seinerzeit beim legendären Warschauer Chopin-Wettbewerb persönlichen Einsatz, bisweilen auch strengen Anforderun- 1980, als die Pianistin Martha Argerich ihr Jurorinnenamt gen auf der anderen Seite geprägt. demonstrativ niederlegte angesichts des Ausscheidens nach der 3. Runde des so innovativ wie exzentrisch musizierenden Dass dies bisweilen Nähe-Distanz-Probleme mit sich bringen Ivo Pogorelich. kann, ist im MeToo-Zeitalter auch an Musikhochschulen angekommen und zunehmend Thema für Klärungen durch Wettbewerbe gelten im Musikbusiness nach wie vor als Leitbilder, Transparenz- und Antidiskriminierungs-Maßnah- unabkömmlich, um neue „frische“ Namen promoten zu men. Dies verringert das Problem der fehlenden „objekti- können. Für stabile bis ehrgeizige Musikernaturen sind sie ven“ Beurteilungskriterien von künstlerischen Leistungen jedoch eher ein wichtiges Instrument des sich Vergewis- jedoch nicht automatisch. In pädagogisch „aufgeklärten“ serns des persönlichen Leistungsvermögens, des Souveräni- Zeiten sollte eine Berechtigung der Studierenden auf tätsgrades der eigenen Performance auf der Bühne oder Kenntnis und Transparenz von Bewertungskriterien selbst- eine Möglichkeit, um an gute Fördergelder zu gelangen. verständlich sein. Spannend wird es immer wieder bei der Frage nach den Während des Studiums wachsen die Musikstudierenden Bewertungskriterien. Zwar gibt es in allen Prüfungs- oder dann in die nächste Rolle hinein: Beim Unterrichten neben Wettbewerbsordnungen klare Abstimmungsregularien, die der Hochschule werden Kinder und Jugendliche womöglich das rechnerische Zusammenkommen der Ergebnisse auf erste Klassen- oder Leistungsvorspiele oder auf Jugend- beschreiben, oft auch Leitlinien zu Zielen der Ausbildung Musiziert-Wettbewerbe vorbereitet. Und angehende oder des Wettbewerbs – seltener jedoch gibt es klar Lehramtsstudierende lernen spätestens in der Fachdidaktik benannte Kriterien für die Urteilsfindung. und im Schulpraxissemester Benotungsnotwendigkeit und genormte Kriterien für schulische Leistungsbeurteilungen Vielleicht um unangenehmen Fragen abzuhelfen, werden kennen. immer häufiger Publikumspreise vergeben. Und zunehmend wird es bei vielen Musikwettbewerben eine gute Praxis, vor Hilfreich könnte es sein, dass es inzwischen auch Forschung allem den ausgeschiedenen Teilnehmern ein fachliches zum Umgang mit der Problematik von Bewertungen von Feedback durch die Jurorinnen anzubieten. Aber dies individuell-künstlerischer Leistungen an Musikhochschulen gehört – das weiß jeder, der es auf einer der beiden Seiten gibt. Hierzu sei auf den Gastbeitrag von Prof. Dr. Rosa schon mal erlebt hat – zur ganz hohen Kunst des pädagogi- Reitsamer und Rainer Prokop von der Universität für Musik schen Feingefühls. und darstellende Kunst Wien verwiesen, die am dortigen Institut für Musiksoziologie bereits seit einigen Jahren in Auch an der Hochschule für Musik Trossingen spielen die ihren „Quality of Arts“-Studien Fragen zu Bewertung von Wettbewerbe eine große Rolle: Die Verleihung des immerhin künstlerischen Leistungen oder Studienerfolgen von mit 5.000 € dotierten „Iris Marquardt-Preises“ ist ein durch Musikstudierenden untersuchen. nobles Mäzenaten-Selbstverständnis zustande gekommener Glücksfall und jedes Jahr – zusammen mit den anderen WETTBEWERB KENNT SCHON DIE EVOLUTION Hochschulwettbewerben – ein wichtiges Highlight im Hochschulleben. Über die stundenlangen „Leiden“ der Wettbewerb zwischen Menschen ist ein uraltes Phänomen großen Jury, hier breit über alle Instrumenten- und Studien- – im sportlichen Verständnis seit Olympia, im existenziellen gangskategorien gestreut „neutrale und vergleichbare Sinne als ein der Evolution immanentes Element der Beurteilungskriterien“ zu finden, sei an dieser Stelle Entwicklung der menschlichen Spezies – und unverändert rücksichtsvoll geschwiegen. ein Kennzeichen unser Leistungsgesellschaft. In vielen Marktbereichen und Branchen, aber auch von kulturför- Erfreulicherweise sind in den vergangenen Jahren unter den dernden oder staatlichen Institutionen werden Wettbewer- Musikwettbewerben vermehrt völlig neue Schwerpunktset- be als durchaus sinnvolles Instrument für Ausschreibungen zungen zu finden: Der „Junge Ohren Preis“ für Musikvermitt- oder zur Auswahl von Bewerberinnen eingesetzt. lung, der HUGO-Wettbewerb für neue Konzertformate in Feldkirch, der Musikpädagogik-Wettbewerb der Rektoren- Instrumentenspezifisch gibt es in vielen Ländern zum Teil konferenz der deutschen Musikhochschulen oder der traditionsreiche Wettbewerbe, deren Gewinner oft genug ebenfalls von der RKM ins Leben gerufene D-bü-Wettbewerb auch Karriere machen. Manchmal (vielleicht aufgrund der (für innovative und nachhaltige Konzertformate / Ende Mai großen „Hypothek“ eines 1. Preises bei einem der „großen“ 2022 übrigens von der Hochschule für Musik Trossingen Wettbewerbe?) behaupten sich aber gerade auch die auszurichten) rücken vermehrt Interdisziplinarität, Musik- Zweit- oder Drittplatzierten auf dem Musikmarkt. Eher vermittlungsarbeit, innovative Konzertformate oder
9 Nachhaltigkeit von Konzertveranstaltungen in den Mittel- punkt, und weniger die klassische „Top-Leistung“ von künstlerischen Darbietungen. NEUE PRÜFUNGSKRITERIEN? Vielleicht weist dieser Trend einen Ausweg auch aus dem Dilemma der Musikhochschulen und kann bei einer Trans- formation des dortigen Prüfungswesens helfend zur Seite stehen: Zwar müssen künstlerische Leistungen an staatli- KUNST? KUNST! chen Ausbildungsstätten unvermeidlich irgendwie bewertet und quantifiziert werden. Jedoch droht die Forderung nach der „Vergleichbarkeit“ von Prüfungen eine Öffnung hin zu „alternativen“ Kriterien wie kreative Originalität, Innova- Die Bewertung künstlerischer Leis- tion, kommunikative und Musikvermittlungsqualitäten, individueller Leistungsfortschritt o.ä. zu verbauen. tung lautet das Schwerpunktthema Womöglich ist die Zeit aber reif für Schritte weg von einem dieser Ausgabe des Hochschulma- trotz Bologna-Reform erstaunlich gleichgebliebenen Kanon von Prüfungsanforderungen mit abzudeckenden Gattungen, gazins „Plateau“. Unsere Autoren Genres oder Mindestdauern hin zu neuen, differenzierten und idealerweise mit den Studierenden diskutierten näherten sich von verschiedenen Prüfungskriterien, die hinterfragbar und transparent verfügbar sind: Prüfungsprogramme, die von den Studieren- Seiten der Fragestellung: den dramaturgisch kreativere oder interdisziplinäre Programmgestaltung herausfordern und – je nach Studien- gang – auch mündliche Vermittlung von Programmideen, Werkgeschichte und Kontextualisierungen o.ä. Schließlich Wissenschaft werden auch bei Orchesterprobespielen zunehmend durch Wie bewerten Lehrende an Musikhochschulen und Plateau: Bewertung Künstlerischer Leistung Gesprächsanteile die Musikvermittlungsfähigkeit der neuen -universitäten die musikalischen Leistungen von Orchestermusiker in den Blick genommen. Studierenden? Dieser Frage widmete sich die qualita- tive Studie Quality of Arts (QUART), die von Rosa Vielleicht kann bei Musikhochschulprüfungen auch der Reitsamer und Rainer Prokop am Institut für Musikso- individuelle Leistungsfortschritt eine größere Rolle spielen ziologie der mdw – Universität für Musik und darstel- als die bei der alles entscheidenden Abschlussprüfung „auf lende Kunst Wien durchgeführt wurde. Seite 10 den Punkt zu bringende“ aktuelle technisch-musikalische Tagesleistung. Und warum nicht darüber nachdenken, ob Studium man wieder weg gelangen kann von Bologna-Reform-getrie- Die Bewertung künstlerischer Leistungen gehört zur benen, letztlich doch nur an Schulbenotungen orientierten alltäglichen Arbeit eines Professors an einer Musik- differenzierten Notengebungen hin zu einfacheren, der hochschule. Aufnahmeprüfungen, Abschlussprüfun- Diversität und Ambivalenz von Kunst angemesseneren gen, Zwischenprüfungen etc. entscheiden über die Kategorien – wie es beim 3. Studienzyklus (den KE- oder Zukunft der Studierenden. Einschätzungen von Boris Meisterklassen-Abschlüssen) bereits praktiziert wird, bei Kucharsky und Wolfgang Guggenberger. Seite 13 denen es ja nur die Bewertungskategorien „nicht bestanden – bestanden – mit Auszeichnung bestanden“ gibt. Probespiel Probespiele für vakante Orchesterpositionen haben Ob man auch Studierende in die Prüfungskommissionen Tradition. Sie übernehnen die Funktion des sonst aufnehmen möchte, wie es bei Berufungskommissionen üblichen Bewerbungsgesprächs. Was wird dort längst der Fall ist, muss sicher diskutiert werden, könnte erwartet? Statements von Stefan Bornscheuer und aber auch ein denkbarer Baustein sein beim Bemühen um Lars Rapp. Seite 17 mehr Transparenz für die künstlerische Abschlussprüfung an Musik- und Kunsthochschulen. Wettbewerb Pars pro toto: ARD-Wettbewerb im Rampenlicht - Fra- Mut ist bei derlei Versuchen auf allen Seiten unbedingt gen und Gedanken der Journalistin Kathrin Hassel- gefragt. beck und Antworten von Nicholas Daniel. Seite 22
Der Habitus 10 steht auf dem Prüfstand Von Rainer Prokop und Rosa Reitsamer Wie bewerten Lehrende an Musikhochschulen die musi- kalischen Leistungen von Studierenden? Dieser Frage widmete sich die qualitative Studie Quality of Arts (QUART), die von Rosa Reitsamer und Rainer Prokop am Institut für Musiksoziologie der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien durchgeführt wurde. In theoretischer Hinsicht war die Untersuchung angeleitet sichtigung des Lebensalters der Bewerber*innen und führt durch eine praxissoziologische Forschungsperspektive. Diese dazu, dass Personen, die älter als 25 Jahre sind, nur selten Perspektive fokussiert auf soziale Praktiken in ihren materiel- zum Studium zugelassen werden. Die Berücksichtigung des len Verankerungen in menschlichen Körpern, Dingen und Lebensalters steht vor dem Hintergrund, dass klassische Artefakten sowie ihrer Abhängigkeit von impliziten, in den Musiker*innen üblicherweise im Alter zwischen fünf und acht Körper eingelagerten Wissensbeständen, die sich häufig Jahren mit dem Erlernen eines Instruments beginnen. Die einer Verbalisierung entziehen, und der Performativität des Lehrenden gehen bei der Feststellung der Eignung von Handelns (Reckwitz 2002). Die QUART-Studie zielte darauf Bewerber*innen für ein Instrumental- oder Gesangsstudium ab, die Bewertung von musikalischen Leistungen in ihrem folglich von einer idealtypischen Korrespondenz zwischen praktischen Vollzug zu erforschen. Zu diesem Zweck wurden künstlerischem Entwicklungsstand und biologischem Klassenabende der Studienrichtungen Gesang, Dirigieren, Lebensalter aus, die mit Verweis auf die hohen Anforderun- Klavier, Violine, Flöte und weiterer Instrumentalstudienzwei- gen auf dem Arbeitsmarkt legitimiert wird. Dies zeigt sich ge auf Video aufgezeichnet und im Rahmen von 39 Interviews etwa an den Ausführungen einer Gesangsprofessorin, die mit Lehrenden, die an einer Musikhochschule in Österreich eine Videoaufzeichnung vom Auftritt einer Studentin beim oder Deutschland unterrichten, diskutiert. Durch die Analyse Klassenabend kommentiert: der Interviews konnten einige zentrale Kriterien identifiziert werden, die alle Lehrenden für die Bewertung der musikali- Wir haben teilweise junge Begabungen, die sind 17 oder schen Leistungen der Studierenden heranziehen. Drei dieser 18. Aber die Irma ist schon 22, und da ist sie nicht mehr Kriterien sollen im Folgenden beschrieben werden so eine blutjunge Anfängerin. Sie steht an einem Punkt, wo sie eigentlich im Alter von 15, 16 stehen müsste, wenn BEHERRSCHUNG DES INSTRUMENTS sie den Beruf [Anm. der Opernsängerin] ergreifen will. Aber sie ist jetzt eben schon 22. Alle befragten Lehrenden teilen die Ansicht, dass die sehr gute Beherrschung des Instruments in handwerklich-techni- Alle befragten Lehrpersonen integrieren das Leistungsprinzip scher Hinsicht eine grundlegende Voraussetzung für die des Felds der klassischen Musik in ihre Bewertungspraxis Zulassung zu einem Instrumentalstudium ist. Die Bewertung und teilen die Auffassung, dass vor allem junge, leistungsfä- der Instrumentenbeherrschung geht einher mit der Berück- hige und wettbewerbsorientierte Studierende den Anforde-
11 DIE AUTOREN RAINER PROKOP ist Soziologe und Universitätsassis- tent am Institut für Musiksoziologie der mdw – Uni- versität für Musik und darstellende Kunst Wien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. rungen dieses Arbeitsmarkts gewachsen seien. Allerdings Plateau: Bewertung Künstlerischer Leistung Musikarbeitsmärkte und Karrieren von Musikschaf- sind eine virtuose Beherrschung des Instruments in jungen fenden, die Soziologie der Bewertung künstlerischer Lebensjahren und die performative Darstellung von Leis- Leistungen und die Soziologie der Musikausbildung. tungsbereitschaft keineswegs ausreichend, um die Zulas- sungsprüfung zu bewältigen. ROSA REITSAMER ist Professorin für Musiksoziologie und Leiterin des Instituts für Musiksoziologie der mdw KÜNSTLERISCHE PERSÖNLICHKEIT – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen u.a. die Ein zentraler Begriff, den die Lehrenden im Verlauf der Vermittlung von künstlerischem Wissen und die Gespräche immer wieder bemühen, ist Persönlichkeit. Sie Bewertung künstlerischer Leistungen; Musikarbeits- wird jenen Bewerber*innen für ein Musikstudium zugeschrie- märkte und Werdegänge von Musikschaffenden; und ben, die die erwünschten Eigenschaften wie Charisma, intersektionale Perspektiven auf Musik, Gender und Charakter, Talent, Kreativität oder die Hingabe zur Musik ver- soziale Ungleichheiten. körpern. Festgestellt werden diese Persönlichkeitsmerkmale durch die Überprüfung des Habitus. Ein Professor für LITERATUR Dirigieren bringt diese Bewertungspraxis so auf den Punkt: • HAHN, Alois (2010): Emotion und Gedächtnis, in: Schlussendlich merkt man doch bei einem Geigenspieler Paragrana 19 (1), 15–31 oder Klavierspieler, wie er oder sie sich hinsetzt oder das • HOCHSCHILD, Arlie R. (1990): Das gekaufte Herz: Instrument aufhebt. Hat sie die Ausstrahlung, hat er das Zur Kommerzialisierung der Gefühle. Frankfurt a. Talent, die Energie, die über das Rampenlicht trägt und M.: Campus dass das Publikum in Feuer ausbricht? [...] Das ist • JARVIN, Linda / SUBOTNIK, Rena F. (2010): angeboren. Das kann man nicht lernen, aber man merkt Wisdom from Conservatory Faculty: Insights on es sofort. Es ist Körperhaltung, es ist Energie, es ist Success in Classical Music Performance, in: Augenkontakt. [...] Wenn der Rohstoff ausdruckskräftig Roeper Review 32 (2), 78–87 ist, dann ist es etwas, wo ich sag, das kann was werden. • RECKWITZ, Andreas (2002): Toward a Theory of Wenn der Rohstoff blanko ist oder keine Energie aus- Social Practices: A Development in Culturalist Theorizing, in: European Journal of Social Theory 5 (2), 243–263
Rekonstrukion der die Einschätzung der Professorin, die dem Stück angemesse- 12 nen Emotionen authentisch darstellen und dem Publikum Bewertungskriterien glaubwürdig vermitteln. Wie Alois Hahn (2010) festhält, verlangt die authentische und glaubwürdige Kommunikation von Emotionen und Gefühlen „Ausdruckskompetenz“, um den Eindruck zu vermitteln, dass die eingesetzten Körperbe- wegungen, die Gestik und Mimik, Teil des eigenen „natürli- chen“ und „ungezwungenen“ Habitus sind. Zudem ist Wissen über „Ausdrucksnormen“ erforderlich, die festlegen, welche Gefühle und Emotionen als angemessen erachtet und überhaupt dargestellt werden dürfen. Bei Etta, der Gesangs- studentin, scheinen Ausdruckskompetenzen und -normen ineinander zu greifen. Aus Sicht der Lehrenden hat diese strahlt, dann Hände weg. Das wird dann fünf Jahre Studentin die Inhalte der ‚Habanera‘ intellektuell erfasst vergebene Arbeit. („sie weiß, was sie singt“) und kann diese auch authentisch darstellen, weil sie die Musik „fühlt“. Die Lehrenden sprechen Der Professor geht davon aus, dass Charisma und Talent in den Interviews häufig über das „Fühlen der Musik“, angeborene Dispositionen seien und nicht erlernt werden „Musikverschmelzung“ oder die „Hingabe zur Musik“ und könnten. Diese Persönlichkeitsmerkmale werden für den knüpfen diese Aspekte bei der Bewertung der musikalischen Lehrenden an habitualisierten Körperhaltungen und -bewe- Leistungen an die umfassende Selbstdarstellung der gungen erkennbar, wobei die Begriffe, die für die Bezeich- Studierenden. nung der erwünschten Persönlichkeitsmerkmale eingesetzt werden, und die Auswahl der Situationen, an denen sie Linda Jarvin und Rena F. Subotnik (2010) unterscheiden zwei festgemacht werden, variieren. Habitualisierte Körperhaltun- Idealtypen der Selbstdarstellung von Musiker*innen, die sie gen und -bewegungen werden dauerhaft durch musikalische, als „Look at me!“ und „Listen to this!“ bezeichnen. Musi- klassen- und geschlechtsspezifische Sozialisation erworben ker*innen, die dem Idealtypus „Listen to this!“ folgen, stellen und geben Auskunft über das Ausmaß der Verinnerlichung die Musik in den Vordergrund und verzichten tendenziell der normativen Codes des Felds der Kunstmusik, die den darauf, die Aufmerksamkeit des Publikums auf die eigene Habitus formen und prägen. Identität zu ziehen. Dieser Idealtypus wird von den befragten Lehrenden eindeutig präferiert, wie etwa das folgende Zitat KOMMUNIKATION VON EMOTIONEN UND GEFÜHLEN eines Klavierprofessors illustriert: Ein weiteres zentrales Kriterium, das alle befragten Lehrper- Sie [Anm. die Studentin] traut sich noch nicht wirklich in sonen für die Bewertung der musikalischen Leistungen den Hintergrund zu gehen als Spielerin, sondern zieht den anwenden, lässt sich mit Arlie R. Hochschild (1990) als Fokus noch zu sehr auf sich selbst und ihre Persönlich- „Tiefenhandeln“ oder „inneres Handeln“ beschreiben. keit. Ich glaube, dass wir versuchen sollen, wirklich völlig „Inneres Handeln“ unterscheidet sich von „Oberflächenhan- in den Hintergrund zu gehen und wirklich nur noch deln“ dadurch, dass ein Achselzucken, ein Seufzer oder ein Medium zu sein für ein Werk. Lächeln nicht als rein äußere performative Darstellung wahrgenommen wird, sondern als ein selbstinduziertes FAZIT „wirkliches“ Gefühl. Eine Lehrende schildert das „innere Handeln“ einer Studentin, die die ‚Habanera‘ aus Georges Dieser Beitrag stellte zentrale Kriterien vor, die Lehrende an Bizets Oper ‚Carmen‘ beim Klassenabend gesungen hat, so Musikhochschulen in Österreich und Deutschland für die Bewertung von musikalischen Leistungen einsetzen. Die Die Etta weiß genau, was sie singt, und sie fühlt auch, Rekonstruktion dieser Bewertungskriterien verdeutlichte, was sie singt. Sobald sie hundertprozentig in dieser dass im Mittelpunkt der Bewertungspraxis der Lehrenden die Geschichte drin ist, also diesen Plot erzählt, und sich da Überprüfung des Habitus steht. Die Art und Weise zu gehen, drin als handelnde Person empfindet und das auch sich zu bewegen, das Instrument aufzugreifen und zu spielen, erlebt, stimmt die Gestik [...]. Es kommt dann ganz gibt Auskunft über die Verinnerlichung der normativen Codes natürlich, dass sie die Bewegung mit den Händen macht, des Felds der klassischen Musik und der ausdifferenzierten die auch zum Inhalt passt. Wissensbestände, die für die Interpretation von Musikstü- cken erforderlich sind. Der Habitus ist sowohl Produkt als Die Bewertung der musikalischen Leistung fällt positiv aus, auch Produzent musikalischer Praktiken: Er kondensiert die weil die Studentin nicht bloß versuchte, verliebt zu erschei- musikalische Sozialisation und die Erfahrungen beim nen. Indem sie ihr Körpergedächtnis aktiviert und sich in die Musizieren im Körper als Wahrnehmungs-, Denk- und soziale Lage von Bizets Carmen hineinversetzt, kann sie, so Handlungsschemata und reproduziert die Codes des Felds.
13 Intonation, Rhythmus, Klang machen den Unterschied von Boris Kucharsky Wenn man sich nicht zu etwas bekennt, wirkt man blass und uninteressant... jedenfalls in der Musik. INTONATION gespielt werden und klingt dann sehr Plateau: Bewertung Künstlerischer Leistung brilliant. Im 2. Teil der Exposition An der Intonation läßt sich sehr viel modulieren wir jedoch nach E-Dur. erkennen. Sie ist eine der wichtigsten Jetzt ändert sich die Funktion des „Gis“ Ingredienzen einer selbstbewussten, dramatisch, da das „Gis“ kein Leitton ausgewogenen und ausdrucksstarken mehr ist, sondern der Mediant in E-Dur. Interpretation. Viele Geiger spielen Jetzt darf dieser plötzlich nicht mehr alles relativ sauber. Das heisst, sie hoch intoniert werden, sondern versuchen alles sauber zu spielen ohne diatonisch neutral. über die Funktion nachzudenken. Dies resultiert meistens in einer sehr Obwohl es sich hier um Basiswissen unbefriedigenden Interpretation. handelt, welches man sofort umsetzen könnte, halten sich nur 5-10% der von Hier ein Beispiel: Das große Mozart mir in den letzten 20 Jahren bewerte- Konzert, A-Dur KV 219, fängt mit einem ten Studenten an diese Regeln. Wer A-Dur Dreiklang an. Das „Cis“ (zwi- Doppelgriffe, Dreiklänge und Arpeggi schen dem Grundton „A“ und der diatonisch spielt und linear verlaufen- Dominante „E“) darf nicht zu hoch de Melodien leittönig und mit generell intoniert werden, da das „Cis“ die Terz, engen Halbtönen intoniert, dies die Funktion des Medianten hat. Also wirklich versteht und beliebig anwen- genau in der Mitte sein muss. Diato- den kann, ist sehr fortgeschritten. nisch, neutral und nicht leittönig. Der Leitton in A-Dur ist das „Gis“, dies darf, Ausrutscher fallen nicht ins Gewicht, bzw. soll schön hoch platziert werden. da man ganz klar die Absicht des Wenn dieser Ton auf einer schwachen Interpreten erkennen kann. Wenn man Zählzeit steht und sehr schnell ist (z.B. aber keiner genauen Vorgabe folgt, ein Vorschlag) muss er sehr hoch führt dies zu einer starken Abwertung.
14 RHYTHMUS schlechte Gewohnheiten kopiert, ohne Grundsätzlich werden Geiger primär dass die musikalisch logische und nach dem geigerischen Können und der Der Rhythmus ist das erste und gesund funktionierende Basis erkannt musikalischen Gestaltungskraft wichtigste Grundelement der Musik. Es wird. bewertet. Natürlich gilt es, diese zu geht nicht darum, einen Rhythmus verbinden, oft fehlt jedoch das oberflächlich korrekt zu spielen, es KLANG Verständnis für die Zusammenhänge. geht um Zweck, Charakter, Stil und Ausdruck. Dieser kann sehr individuell sein und, Ein Beispiel: Sehr oft spielen Studieren- ob man diesen mag oder nicht, ist oft de in einer Sonate für Klavier und Sehr oft wird ein Ton sehr aufmerksam reine Geschmacksache. Zuhörer Violine viel zu solistisch. Bach, Mozart, begonnen, aber nur selten gilt diese merken jedoch sehr schnell, wie es um Beethoven, Brahms, etc. schreiben Ihre Aufmerksamkeit auch dem Ende des die Qualität und Vielfältigkeit des Sonaten ausdrücklich für Klavier und Tones. Er wird seinem unrhythmischen Klangs steht. Wenn es einem schnell Violine, nicht umgekehrt. Hier spielen Schicksal und ausgefransten oder langweilig wird, hat der Klang seinen zwei ebenbürtige Duo-Partner. Das abgehackten Ende überlassen. Die Zweck verfehlt, den Zuhörer zu fesseln Klavier hat eine führende Rolle, die Kontur eines jeden Tones gehört aber und Ihn das Werk aus erster Hand Geige sollte sich dem Klang des genau gezeichnet und bildet die Basis miterleben zu lassen. Klaviers bei Bedarf unterordnen und für die rhythmische Prägnanz eines versuchen, den Klang und die Artikula- Werkes wie die Ziegel bei einem Der Geigenklang unterliegt drei tion des Klaviers zu imitieren. Wenn die Gebäude. Die Phrasenlänge ist mit der elementaren physischen Prinzipien: Violine dann die Melodie hat, soll sie Form vergleichbar, die generelle Kontaktstelle, Bogendruck und singen und Luft holen wie die mensch- Struktur, mit der Statik. Bogengeschwindigkeit. Diese gilt es zu liche Stimme. Diese Art von Vielfältig- variieren für Werke aus Barock, Klassik, keit im Zusammenspiel ist leider nur Auch die Pausen zwischen den Tönen Romantik oder Moderne. Für die sehr selten zu erleben. und einzelnen Phrasen werden oft Interpretation von Bach ist beispiels- vernachlässigt, obwohl gerade hier der weise ein gutes Verständnis für die Zwei weitere wichtige Eigenschaften, Schlüssel für rhythmische Genauigkeit Eigenschaften und Möglichkeiten des welche zum Teil angeboren sind, und Prägnanz liegt. Hier entsteht am Barock-Bogens wichtig. Hier wird z.B. heissen Spontaneität und Momentum. meisten Ausdruck. Z.B. wechselt viel zu oft mit dem Vibrato phrasiert. Im Konzert zählen diese sehr, wie auch Mozart sehr oft in den kürzesten Die Phrasierung ist jedoch die alleinige eine ausgeprägte Persönlichkeit, da Pausen seine Darsteller. Jede noch so Aufgabe des Bogens. auch die klassische Musik unter dem kleine Geste unterliegt bei Mozart Sammelbegriff des „Entertainments“ einem extrem differenzierten, rhythmi- In der Klassik halten wir uns noch an geführt wird. schen Verständnis. viele Regeln aus der Barock-Ära, jedoch Die Beurteilung von Studierenden findet von Unterricht zu Unterricht Alle genannten Qualitäten müssen zu- statt und von Prüfung zu Prüfung. Es ist die Aufgabe des Lehrers, die richtige sammenwachsen und eine Einheit bil- Übung, das richtige Werk und die den. Erst dann kann man von einer richtigen Vorsätze zu finden, welche dem Studierenden bei der musikali- Interpretation oder musikalischen schen Entwicklung und bei der Leistung sprechen. technischen Bewältigung des Instru- ments helfen, sie oder ihn inspirieren Sehr oft wird rhythmischen Funktionen hat sich die Violine inzwischen als und zu seinem eigenen Meister werden zu wenig oder kaum Aufmerksamkeit solistisches Instrument durchgesetzt lassen. Bei der Bewertung von Studie- geschenkt. Das Resultat sind extrem: und ein modernes set up erhalten, renden spielt das Potenzial eine grosse oft Akzente auf jedem Taktstrich, welches den Klang tragfähiger und Rolle. Wenn viel Enthusiasmus, oftmals auch halbtaktige Akzente, vielfältiger gemacht hat. Später, in der Energie, Liebe, Eifer und Ausdauer für Akzente auf Auflösungen. Akzente, weil Romantik (Tschaikowsky, Brahms, die Musik und das Instrument vorhan- es ein Abstrich ist. Rubati ,welche Ravel, Debussy, Bartók, Janáček etc.), den ist, kann und soll über einiges keinen Sinn machen und aufgesetzt bis dürfen, ja müssen Klänge gefunden hinweg gesehen werden. Das ist der verstörend wirken. Oftmals entstehen werden, die der jeweiligen Stilrichtung größte Unterschied zu Wettbewerben. solche Fehlinterpretationen bei dem und Klangsprache entsprechen. Viel zu Dort zählt Potenzial nicht. Das Ab- Versuch, große Interpreten zu kopie- oft klingen Bach, Mozart und Tschai- schlusskonzert naht, dort ist eine ren. Leider werden jedoch nur zu oft kowsky bei Prüfungen gleich. souveräne Leistung gefragt.
15 Plateau: Bewertung künstlerischer Leistung Gesunde Balance ist wichtig Objektive Kriterien gibt es nicht Von Wolfgang Guggenberger Die Bewertung künstlerischer Leistungen gehört zur alltäg- Jury begründen. Auch ein Punktesystem oder formulierte lichen Arbeit eines Professors an einer Musikhochschule. Beurteilungskriterien dienen allein der Orientierung. Ein Aufnahmeprüfungen, Abschlussprüfungen, Zwischenprüfun- Jurymitglied muss seine Entscheidung immer aufgrund einer gen etc. entscheiden über die Zukunft der Studierenden. Mischung aus Fachwissen, Erfahrung, persönlichem künstle- rischen Geschmack und Menschenkenntnis fällen. Somit ist Zuerst die „schlechte Nachricht“: Bewertungen von Prü- das reine „Abhaken“ von Standardkriterien – Rhythmus, fungsleistungen in der Musik sind aus meiner Sicht nicht Klang, Intonation, Stilgenauigkeit, Repertoire, Präsentation, objektiv, möglicherweise nicht einmal immer gerecht. Anders musikalische Reife etc. - nicht ausreichend. als im Sport, wo Hundertstelsekunden oder Millimeter messbar sind, gibt es in der Musik keine vergleichbaren Jetzt die „gute Nachricht“: Die Zusammensetzung der objektiven Systeme oder Fakten, die eine Entscheidung einer Prüfungskommissionen aus Mitgliedern, die sehr unter-
16 schiedliche Sichtweisen mitbringen, Wettbewerb ist sie allerdings nicht das sorgt meist für eine gute und gesunde einzige Beurteilungskriterium. Die Balance. Entwicklung während der Studienjahre, die Gesamtpersönlichkeit, die spezifi- Selbstverständlich gelten für Hoch- schen Stärken und beruflichen Pers- schulprüfungen die sehr hohen pektiven müssen in das Bewertungs- Qualitätskriterien eines professionellen spektrum aufgenommen werden. künstlerischen Standards, an denen wir die Leistungen der Studierenden Es bleibt die Frage, ob ein Punkte- oder messen. Ein Absolvent einer Musik- Benotungssystem die Leistungen hochschule muss sich im Studium ein ausreichend und gerecht abbilden künstlerisches und/oder pädagogi- kann? Meine Antwort lautet eindeutig: sches Level erarbeiten, das ihn Nein. befähigt, im professionellen Musikle- ben bestehen zu können. Eine ausreichende Differenzierung der Leistungen ist sicherlich nicht möglich Dennoch müssen wir als Kommissions- und die Aussagekraft für die/den mitglieder genau differenzieren, Studierenden ist nur sehr bedingt welchen Sinn bzw. welches Ziel eine befriedigend. Prüfung verfolgt. Jede Prüfungsart unterliegt unterschiedlichen Kriterien. Ein möglicher Lösungsvorschlag: Die verbale Beurteilung in schriftlicher Bei einer Aufnahmeprüfung beispiels- Form wäre komplexer und würde weise versuche ich herauszufinden, sicherlich die individuelle und konst- welches Entwicklungspotenzial in den ruktive Würdigung einer Prüfungsleis- Bewerber*innen steckt. Kandidat*innen tung besser abbilden. Zu prüfen ist mit einem Vortrag, der viele Defizite allerdings, ob dieser Aufwand über- aufweist, sind oft geeigneter, als haupt leistbar ist. Ein Kompromiss Bewerber*innen mit dem scheinbar bestünde darin, die Zeit für eine „perfekten“, makellosen Vortrag. mündliche Beratung durch die Kommis- Entscheidend sind Musikalität, sion unmittelbar nach der Prüfung Persönlichkeit, die Entwicklungsfähig- einzuplanen. Leider lässt dies der eng keit und die Formbarkeit der techni- getaktete Prüfungsplan meist nicht zu. schen Fähigkeiten. Für bestimmte Prüfungen wäre auch eine Vereinfachung durch das Prädikat Eine Zwischenprüfung soll feststellen, „bestanden“ / „nicht bestanden“ welchen Weg die Studierenden in den ausreichend. ersten vier Semestern zurückgelegt haben. Ist das Studienziel in der noch Für mich gehören Prüfungen zu den verbleibenden Zeit erreichbar? Welche schwierigen, manchmal auch belasten- Ziele sollten möglicherweise überdacht den Aufgaben des Hochschulalltags, da oder geändert werden? Welche wir die Verantwortung für oftmals Potenziale und Talente haben sich im entscheidende Weichenstellungen in ersten Teil des Studiums herauskristal- der Vita unserer Studierenden mittra- lisiert, die verstärkt gefördert werden gen. Auch wenn das fachliche Wissen sollten? und die Erfahrung, die wir im jahrelan- gen Unterricht den Studierenden Eine Abschlussprüfung ist die Bilanz mitgeben, viel wichtiger sind als das einer mehrjährigen Arbeit. Im Mittel- reine Ergebnis einer Prüfung, so dürfen punkt steht natürlich die künstlerische wir doch die Bedeutung der Kommis- Präsentation. Im Unterschied zu einem sionsarbeit nicht unterschätzen.
Top vorbereitet 17 zum Probespiel Von Lars Rapp - Solopauker des HR-Sinfonieorchesters Aktuell erhalten wir für von uns quent zu bleiben. Dadurch findet man ausgeschriebene Stellen in der Regel auch für sich selbst eine klare Linie und weit über 100 Bewerbungen. Unsere bekommt Sicherheit und Selbstvertrau- erste Aufgabe ist es also, aus der Fülle en für das Vorspiel. Einen musikalisch an Bewerbungen die vielverspre- und interpretatorisch konsequenten chendsten Kandidaten auszuwählen Vortrag können Zuhörer gut finden und und zum Probespiel einzuladen. anerkennen, auch wenn er nicht die eigenen Vorstellungen abbildet. Um diese erste Hürde zu nehmen, sollte eine Bewerbung möglichst übersicht- Natürlich spielt auch das Auftreten und lich sein. Wichtig ist eine aussagekräf- die Bühnenpräsenz eine Rolle. Grund- tige Vita, in der die wesentlichen sätzlich gilt aber: Wer nicht top Punkte klar ersichtlich sind. Eine vorbereitet ist und eine Topleistung Altersangabe hilft, sie besser einord- abruft, kann auftreten wie er will. Es nen zu können. Wenn vorhanden, wird nicht reichen. können Zeugnisse beigelegt werden. Und trotzdem: Am Ende entscheiden Plateau: Bewertung künstlerischer Leistung Ein Probespiel gewinnen kann nur, wer oft Kleinigkeiten, da das musikalische über alle Runden hinweg musikalisch Niveau insgesamt sehr hoch ist und überzeugend auftritt. Wir als Orches- dementsprechend auch die Erwar- termusiker legen nicht nur großen Wert tungshaltung der Orchestermusiker. auf die Solokonzerte, die in der ersten und zweiten Runde zu spielen sind, Es lohnt sich durchaus, sich Gedanken sondern verstärkt auch auf die gefor- zu machen über Auftreten, Ablauf des derten Orchesterstellen. eigenen Vortrags, wie möchte ich mich präsentieren. All das gibt am Ende Teilweise werden Orchesterstellen auch auch Sicherheit und lenkt das eigene schon ab der ersten Runde abgefragt. Vorspiel in geordnete, strukturierte Das entscheidet die jeweilige Fach- Bahnen. gruppe. Hier gilt es vor allem, den Charakter der jeweiligen Musik zu Für ein Orchesterprobespiel gibt es erfassen und „rüberzubringen“. Man Probespielordnungen, die den Ablauf hört und spürt schnell, wer sich mit des Probespiels genau regeln. Darin Orchestermusik eingehend auseinan- enthalten ist Beispielsweise auch, an dergesetzt hat. welchen Stellen des Probespiels abgestimmt wird, in welcher Reihenfol- Grundsätzlich gibt es natürlich nicht ge abgestimmt wird und an welchen nur die eine „richtige“ Art, Musik zu Stellen Zeit und Raum für Diskussionen interpretieren. Wie Beethoven, Brahms, sind. Die erste Runde jedes Probespiels Bartók etc. zu spielen sind, darüber findet beim Hessischen Rundfunk gehen die Meinungen sicherlich grundsätzlich hinter einem Vorhang auseinander. Wichtig finde ich in statt, sodass eine objektive Beurteilung Sachen Interpretation immer, konse- gewährleistet ist.
Schlüssel zur 18 Festanstellung Von Stefan Bornscheuer - 1. Violine des SWR-Symphonieorchesters Gibt es in einem Orchester eine vakante Position zu besetzen, 1. Runde: Pflichtstück, meistens ein klassisches Konzert, wird im Rahmen eines Probespiels ein mögliches neues und evtl. 1-2 Stellen aus dem Orchesterrepertoire Orchestermitglied ermittelt, von dem sich die Kollegen 2. Runde: Wahlstück: Oftmals ein romantisches Werk, das erhoffen, dass sie oder er sowohl den musikalischen als auch sich die Musiker selbst auswählen konnten. den sozialen und - besonders bei Führungspositionen - den 3. Runde: Bis zu 10 Stellen aus dem Orchesterrepertoire aus oftmals auch notwendigen politischen Anforderungen eines unterschiedlichen Epochen und mit unterschiedlichen Klangkörpers gerecht wird. Ein Probespiel übernimmt im Anforderungen an das Instrument - und somit auch an den musikalischen Bereich die Funktion des Bewerbungsge- Musiker. sprächs in anderen Branchen. Man hat auf eine Vakanz ca. 120 Bewerbungen, aus denen die betreffende Instrumentengruppe per Vorauswahl ca. 25-30 Bewerber zum Probespiel einlädt. Von den eingeladenen Musikern erscheinen ca. 18-20. In drei Runden werden Da der Autor dieses Artikels Geiger in einem deut- unterschiedliche Anforderungen gestellt: schen Rundfunk-Sinfonieorchester ist, wird hier die Probespiel-Thematik aus dem Blickwinkel eines Streichers geschildert. Es ist aber durchaus möglich, die für diesen Artikel relevanten Beobachtungen und Wertungen auch auf andere Instrumentengruppen zu übertragen.
19 Am Ende des Verfahrens hat man - hoffentlich - einen neuen an technischem und musikalischen Willen im jeweiligen Stil Kollegen; weiteres entscheidet sich in der Probezeit. So weit, darzustellen? Ist der Mozart noch Mozart oder schon zu sehr so gut! Beethoven? Werden weitere Anforderungen, z.B. klangliche Anforderungen bei einer Bruckner-Stelle, das korrekte forte Wie bewertet eine Jury, mal bestehend aus der Instrumen- bei Mozart, besondere dynamische und technische Anforde- tengruppe, mal aus der gesamten Orchesterbesetzung, die rungen bei Mahler umgesetzt? Oftmals gibt eben genau diese Leistungen der Bewerber? Welche Kriterien führen zum Runde 3 den Ausschlag dafür, ob und ggf. mit wem die Engagement, zur Fortsetzung des Probespiels in einer Vakanz besetzt wird. weiteren Runde, oder gar zum Abbruch des Probespiels? Bei einem Probespiel gibt es zwei Perspektiven, deren man Mit dem berühmten „Zu sauber und zu schön kann man im sich bewusst sein sollte: die der Jury und die des Bewerbers. Probespiel nicht spielen!“ kommt man in dieser Thematik Die Jury möchte durchaus bei einem Probespiel ihre vakante nicht immer weiter. Position besetzen. Es gibt auf Seiten der Jury keine Schaden- freude darüber, sollte einem Bewerber ein Fehler passieren! Dazu sollte man sich vergegenwärtigen, dass lediglich das Auf beiden Seiten des Probespiels sitzen Menschen, die im Repertoire der zweiten Runde den Neigungen des Bewerbers weiteren Verlauf aufeinander angewiesen sind: Ohne entspricht: hier kann man seine technischen und musikali- Bewerber bekommt das Orchester keine neuen Kollegen und schen Stärken präsentieren mit einem Werk, das man sich ohne die Jury bekommt keiner der Bewerber die zur Anstel- selbst ausgesucht hat und das einem Bewerber in dieser lung nötigen Stimmen. Ferner möchte das Orchester das Situation, die ihrer Natur nach kein übliches Konzert ist, auch neue Mitglied so rasch wie möglich musikalisch wie sozial emotional etwas Sicherheit geben kann. integrieren und trotz Probezeit zu einem Normalbetrieb im besten Sinne finden. In der Probezeit wird sich zeigen, wie In Runde 2 kann man die Kreativität der Bewerber begutach- sich das neue Orchestermitglied musikalisch und als ten: dynamische Vielfalt, das Repertoire an Klangfarben, Persönlichkeit in das Orchester integrieren wird. interpretatorische Fähigkeiten sowie Durchhaltevermögen (Stamina). Es gibt hier mehr Freiheiten für die Interpretation Es ist für ein Probespiel, aber auch im Berufsleben förderlich, und damit für die Bewerber mehr Möglichkeiten, sich auf das eigene musikalische Tun stets zu hinterfragen: Nicht „Ich einem sicheren Terrain - schließlich sind diese Wahlstücke mache das so!“, sondern „Wie könnte das noch besser ausdrücklich „für“ das jeweilige Instrument geschrieben - zu klingen? Dieses Pianissimo ist zwar sicher, aber kann ich profilieren und „auszutoben“. noch leiser spielen? Wieweit kann ich wirklich gehen?“; Plateau: Bewertung künstlerischer Leistung „Diese Phrasierung mag korrekt sein, gibt es noch etwas Runde 1 enthält an alle Bewerber klare Vorgaben. Für den subtileres, was trotzdem dem Text entspricht?“ Dazu kommt Musiker stellt sich hier die Aufgabe: „Ich will einerseits das Experimentieren mit Klangfarben, Instrumenten (z.B. meine Persönlichkeit und instrumentalen Fähigkeiten vor der sehr wichtig u.a. für Schlagzeuger ) oder Zubehör wie Jury darstellen können; andererseits muss ich mich stilis- Dämpfern. „Tüftler“, die musikalisch im Rahmen des vorgege- tisch an die Anforderungen halten, die das Pflichtstück an benen Textes alles „ausreizen“, sind klar im Vorteil, da sie mich stellt.“ Es ist genau dieser Rahmen, der die 1. Runde für immer nach Verbesserung suchen. Sie bleiben immer in die Bewerber - aber auch für jeden, der später in seinem Bewegung und bringen stets neues in den orchestralen Alltag Leben etwas z.B. von Mozart oder Bach spielen muss - pikant ein. macht. Klangvielfalt, Phrasierungen und Dynamik zu wählen, ohne den „klassischen“ Rahmen zu sprengen und den Für den Autor hat das Mitfiebern mit den Teilnehmern eines „stilistisch korrekten Pfad der Tugend“ zu verlassen ist keine Probespiels im Laufe der Jahre nie abgenommen. Auch nach leichte Aufgabe und wird im späteren Leben von einem fast 29 Jahren im Orchester ist ein Probespiel - egal, um Musiker immer besondere Beachtung verlangen. welches Instrument es geht - immer noch eine aufregende Angelegenheit, bei der man jedem Bewerber und jeder In der 3. Runde wird diese technische und stilistische Vielfalt Bewerberin wünscht, möglichst gut zu spielen, um am Ende auf die Spitze getrieben: Es geht hier bzgl. der instrumenta- eine große Auswahl von ihnen zur Diskussion und Abstim- len Fähigkeiten des Bewerbers nicht nur um die omnipräsen- mung zu haben. Es geht den meisten Orchestermusikern ten Anforderungen an Intonation und Rhythmus, sondern um ähnlich, denn niemand hat sein eigenes Probespiel jemals die Umsetzung komplexer musikalischer und somit techni- vergessen. scher Abläufe, die sich aus den musikalischen Absichten eines Komponisten generieren und somit zuweilen auch Der erste Eindruck, den ein Bewerber beim Betreten des weniger bequem auf dem Instrument zu realisieren sind. Saals hinterläßt, in dem das Probespiel stattfindet, sollte nicht vom musikalischen Anspruch an ein Probespiel Wie weit geht also der Bewerber, um schwierige Passagen auf ablenken. Die Musik kommt vor den Äußerlichkeiten: Es gilt, seinem Instrument zu realisieren und dabei ein Höchstmaß als Bewerber die Zuhörer der Jury mit den instrumentalen
20 und musikalischen Fähigkeiten zu Risikobereitschaft, Temperament, eigene Name bei denjenigen Teilneh- überzeugen. Für das äußere Erschei- Spielfreude oder Werktreue, um nur mern, die in einer weiteren Runde nungsbild zählt: Alles andere, was über einige zu nennen, sind für die tägliche mitspielen dürfen, dabei ist. Man muss ein normales, gepflegtes Äußeres musikalische Zusammenarbeit wichtige auf diesem Gebiet Erfahrung sammeln, hinausgeht, ist eher unwichtig. Faktoren, um zu einer gemeinsamen um einen langen Probespieltag von bis Sprache zu finden, die einen Orchester- zu 5 Stunden konditionell durchzuste- Authentisch empfundene Spielfreude klang überhaupt erst ermöglicht. hen. Am Ende gibt es lange Diskussio- wird von der Jury in oder gar trotz nen hinter verschlossenen Türen, und dieser Situation - ein Probespiel wird Wie in anderen Bereichen sind eben- wieder heißt es: Warten! niemals ein Konzert sein - gern falls in den Orchestern die Ansprüche gewürdigt. Man sollte als Teilnehmer gestiegen: Das - genauer gesagt der Aber: Ohne dieses Procedere, diesen eines Probespiels allerdings nicht oder die - Beste ist gerade gut genug. Schlüssel zu einer Festanstellung in versuchen, diese Spielfreude nur Damit wird aber auch ein erweiterter einem Orchester, geht es einfach nicht. darzustellen: Das spürt ein Orchester Entscheidungsspielraum erforderlich, sofort! der es einem Orchester erlaubt, in der Es ermöglicht einem Musiker jedoch Besetzung einer vakanten Stelle unter das Arbeiten in einem Beruf, der seiner Muss man sich am Ende eines Probe- den Kollegen zu einem möglichst Begabung entspricht, für den man das spiels für einen bestimmten Bewerber breiten Konsens zu kommen, ohne den Studium seines Instruments an einer oder eine bestimmte Bewerberin Kontakt zu Bewerbern zu verlieren, die Musikhochschule oder an einer entscheiden, wird durch die Schlussab- möglicherweise als neue Kollegen Universität irgendwo in der Welt stimmung aus vielen unterschiedlichen interessant wären. Dieser Trend ist aufgenommen und für den man mehr Meinungen, Eindrücken und Prioritäten allerdings für beide Seiten von Vorteil als ein Jahrzehnt bereits geübt hat. der vielen Orchesterkollegen eine und hilft, den Zeitdruck eines Probe- Einzige. Hier sind die Grenzen fließend, spiels zu mildern, und das zugunsten Dann lohnt es sich auch, dafür alle zur die zu einer Entscheidung eines des Orchesters und der Bewerber. Verfügung stehende Energie aufzubrin- Orchesters führen, und es kann heute gen. z.B. bei Führungspositionen durchaus Das Thema „Probespiel“ wird immer ein vorkommen, dass man, findet sich im besonderer Bereich im Orchesterleben Verlauf des Probespiels für ein festes sein: Man hat als Bewerber einen sehr Engagement keine Mehrheit, einen oder begrenzten Zeitraum, ca. 10 bis 15 mehrere Teilnehmer zur ein- oder Minuten in jeder Runde, um sein mehrwöchigen Mitwirkung im Orches- Können unter Beweis zu stellen. Man Zum Ziele der besseren Lesbarkeit ter einlädt, um diesen oder mehrere spielt in einem Saal, in dem man evtl. wurde hier auf eine geschlechter- Bewerber musikalisch näher kennenzu- noch nie zuvor gespielt hat, in einem neutrale Schreibweise (die/der lernen. Danach wird ein neuer Probe- Ort, in dem man evtl. noch nie zuvor KollegIn etc. ) verzichtet, dies mit spieltermin angesetzt. gewesen ist, vor Musikern, von denen dem Hinweis, dass heutzutage - man evtl. noch nie einen gesehen oder 2020 - das Geschlecht der Bewer- Die Prioritäten, die jeder Orchestermu- gehört hat, mit einem Pianisten oder ber statistisch belegbar für eine siker seiner Entscheidung für eine einer Pianistin, die einem gänzlich Festanstellung keine Rolle mehr Festanstellung eines Bewerbers unbekannt ist. spielt; eine Beobachtung, die der zugrundelegt mögen die gleichen sein Autor in seinen nunmehr 29 Jahren wie vor 20 Jahren oder mehr. Techni- Es gibt sehr lange Wartezeiten, bei als Orchestermitglied machen sche Beherrschung des Instruments, denen am Ende nicht klar ist, ob der durfte.
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