ISSN 0012 - 1185 NDVNachrichtendienst des Deutschen Vereins 5/2022 - für öffentliche und private Fürsorge e. V - Deutscher Fürsorgetag
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
NDV ISSN 0012 – 1185 Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e. V. 5/2022
Impressum NDV 102. Jahrgang Wussten Sie schon? 5/2022 Herausgeber In unserem Mitgliederportal können Michael Löher, Sie bereits am 1. eines Monats den Vorstand des Deutschen Vereins Schriftleitung NDV digital lesen und herunterladen. Ralf Mulot Tel. (030) 6 29 80-3 13 ! E-Mail: mulot@deutscher-verein.de MITGLIEDER Schauen Sie rein: www.deutscher-verein.de/de/ Sachbearbeitung und Anzeigen Tatjana Hally M. A. WISSEN MEHR mitgliederportal Tel. (030) 6 29 80-3 16 E-Mail: hally@deutscher-verein.de Mitgliederportal des Deutschen Vereins Mediengestaltung Barbara Schmeißner Tel. (030) 6 29 80-3 15 E-Mail: schmeissner@deutscher-verein.de Abonnementverwaltung Marie Ertmer Tel. (030) 6 29 80-5 02 E-Mail: ertmer@deutscher-verein.de Druck Kern GmbH In der Kolling 120, 66450 Bexbach Verlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e. V. Michaelkirchstraße 17/18 10179 Berlin Fax (030) 6 29 80-3 51 Internet: www.deutscher-verein.de Deutsche Bank IBAN: DE23 1007 0000 0723 3943 00 BIC (SWIFT): DEUTDEBBXXX ISSN 0012–1185 Der Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e. V. erscheint in monatlicher Folge. Die Lieferung Literatur eines Exemplares der Zeitschrift an unse- Bleiben Sie informiert! re Mitglieder ist durch den Jahresbeitrag abgegolten. Weitere Hefte für den eigenen Mit unserem Informationsservice zu Neuerscheinungen unseres Verlages für die Soziale Arbeit Gebrauch im Dauerbezug jährlich 36 Euro (inklusive Mehrwertsteuer, zuzüglich Versandkosten). verpassen Sie keine Entwicklungen Der Einzelheftpreis für Mitglieder und Nicht im Sozialrecht, der Sozialpolitik und mitglieder des Deutschen Vereins beträgt 3,30 Euro zuzüglich Porto. Anmeldungen zur der Sozialen Arbeit. Mitgliedschaft nimmt die Geschäftsstelle des Deutschen Vereins entgegen. Reklamatio- nen wegen unregelmäßiger Lieferung bitten Jetzt anmelden: wir bei der Geschäftsstelle vorzubringen. – Alle Rechte, auch das der Übersetzung, sind www.deutscher-verein.de/de/ vorbehalten. buchshop-neuerscheinungen BUCHSHOP des Deutschen Vereins
NDV 5/2022 INHALT AKTUELLES Informationen aus der Mitgliedschaft 195 Veranstaltungen des Deutschen Vereins 197 DEUTSCHER FÜRSORGETAG Dr. Irme Stetter-Karp und Michael Löher: Der Sozialstaat sichert unsere Zukunft – sichern wir den Sozialstaat! – 82. Deutscher Fürsorgetag in Essen 198 Karl-Josef Laumann: 82. Deutscher Fürsorgetag in Essen 200 Thomas Kufen: 82. Deutscher Fürsorgetag in Essen 201 Thomas Mikoteit: Verknüpfung von Arbeits- und Gesundheitsförderung im JobCenter Essen 202 Petra Kogelheide und Jana Gurk: Kinder psychisch kranker Eltern – strukturelle und praktische Erfahrungen mit der Herausforderung, die Familien zu erreichen 207 Andreas Bierod und Dogukan Orman: Die Essener Gesundheitskioske – mehr als nur ein Büdchen 211 Pascal Dick und Thomas Mikoteit: reha pro – Essen.Pro.Teilhabe 213 Stefan Behmann, Marie Berse, Werner Brosch, Sabine Decker und Sonja Sturny: Auf dem Weg zu einer inklusiven und partizipativen Gesellschaft 217 Thomas Mikoteit und Sandra Oberender: Die Jugendberufsagentur (JBA) in Essen 222 Andrea Bonhagen, Karlheinz Freudenberg, Ursula Hoffmann und Robin Rengers: Weiterentwicklung der Offenen Seniorenarbeit in Essen 227 Laura Boldorini: Sexuelle Gesundheit: Mit uns können Sie darüber sprechen! 232 Maike van Ackern und Tanja Rutkowski: Beratung und Betreuung von Sexarbeitenden am Essener Straßenstrich 235 Sabine Schmitt: Im Zeichen des Aufbruchs: die Fürsorgetage 1957 und 1969 in Essen 239 IM FOKUS Helmut Schleweis: Teilhabe in der Gesellschaft im Umbruch sichern 243 Stephan Maykus: Das Beteiligungsdilemma fordert heraus: (Selbst-)Kritische Fragen zur Demokratiebildung an pädagogische Fachkräfte 247 Thomas Klie und Bernd Mutter: Digitale Transformation, sozialer Zusammenhalt und kommunale Daseinsvorsorge 253 Barbara Heuerding: Von tatsächlichen und vermeintlichen Zusammenhängen zwischen Wirkung und Wirksamkeit 262 Marcus Rietz: Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes 268 AUS DEM DEUTSCHEN VEREIN Persönliche Nachrichten 271 193
AKTUELLES NDV 5/2022 1 Wussten Sie schon, dass ... 3.200 Teilnehmende in … beim 66. DFT 1969 in Essen nur 11 Arbeitsgruppen an 117 Orten tagten? … beim 82. DFT 2022 mehr als 2 50 Symposien 3 und Fachforen angeboten werden? … der 82. DFT vielleicht gar nicht der 82. ist?* *zur Zählung der DFT siehe NDV 2015, S. 294. Interview mit Michael Löher sätzlich bewährt, aber gerade die Krise und austauschen zu können, ist etwas hat bereits bestehende Ungleichheiten Besonderes, aber auch eine Umgewöh- und Schwächen wie durch ein Brenn- nung. Ich bin mir aber sicher, dass per- glas sichtbarer gemacht und verstärkt. sönliche Begegnungen unsere Diskus- Also gab es und gibt es Handlungsbe- sionen beflügeln und das soziale Mitei- darf. Zusätzlich stehen wir vor enormen nander insgesamt stärken werden. Transformationsherausforderungen, auf die wir mit klugen und krisenfes- ten Konzepten antworten müssen. Aus Und was ist Ihr persönliches Highlight meiner Sicht kann der DFT hierfür einen auf dem DFT? Worauf freuen Sie sich wichtigen Beitrag leisten und notwendi- besonders? ge Impulse für einen modernen und ef- Wir haben ein insgesamt spannendes fektiven Sozialstaat setzen. und abwechslungsreiches Programm Michael Löher zusammengestellt, auf das ich mich Vorstand des Deutschen Vereins für öffentliche Was wird den DFT von früheren Für- sehr freue. Ich erwarte viele wichtige und private Fürsorge e.V., Berlin sorgetagen unterscheiden? und spannende Impulse durch die Bei- Wir haben sehr besondere Zeiten, die träge und aus den Diskussionen. Beson- Der 82. Deutsche Fürsorgetag in Essen auch den DFT zu einem besonderen ders freue ich mich darauf, mit vielen steht unter dem Motto „Der Sozial- machen. In den vergangenen zwei Jah- Teilnehmenden und auch den Kollegin- staat sichert unsere Zukunft – sichern ren haben sich viele von uns nur in di- nen und Kollegen intensive Gespräche wir den Sozialstaat!“ Inwiefern muss gitalen Formaten getroffen. Das hat uns zu führen. der Sozialstaat gesichert werden? in unserer Arbeit, aber auch im Privaten Der deutsche Sozialstaat hat sich – auch einerseits vieles ermöglicht. Sich nach im europäischen Vergleich – grund- dieser Zeit wieder persönlich begegnen 194
NDV 5/2022 AKTUELLES Informationen aus der Mitgliedschaft LWL-Messe der Inklusions- Stetig aktualisierte Informationen zur seine Amtszeit fiel nicht nur der Umzug LWL-Messe der Inklusionsunternehmen des DRK-Generalsekretariats von Bonn unternehmen 2023 in am 15. März 2023 in Dortmund finden In- nach Berlin, sondern auch die Reform Dortmund teressierte unter: http://www.lwl-messe. der Arbeitsweise innerhalb der Interna- de. tionalen Rotkreuz- und Rothalbmond- Am 15. März 2023 veranstaltet der Land- Bewegung, die er entscheidend prägte. schaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) Auf internationaler Ebene setzte er sich die LWL-Messe der Inklusionsunterneh- DRK trauert um Knut Ipsen vorbehaltlos und nachhaltig für einen men erstmals in der Messe Dortmund. umfassenden wirkungsvollen Schutz Nachdem die fünfte Auflage der Messe Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) trau- des Emblems des Roten Kreuzes ein. 2020 pandemiebedingt ausfallen muss- ert um seinen früheren Präsidenten te, wollen der LWL und die Inklusions- Prof. Dr. Knut Ipsen, der im Alter von 86 Auch nach dem Ende seiner Präsident- unternehmen in der Neuauflage umso Jahren verstorben ist. „Als langjähriger schaft engagierte sich Knut Ipsen bei- engagierter auf ihr Anliegen aufmerk- Präsident hat Professor Ipsen das DRK spielhaft in der Verbreitung des hu- sam machen. Das Motto lautet „Inklusi- auf Bundesebene und darüber hinaus manitären Völkerrechts und der Rot- on entfaltet“ und geht der Frage nach, nachhaltig geprägt. National wie inter- kreuz-Grundsätze. Einen besonderen welche Chancen, Werte und Potenziale national war er eine der herausragen- Nachdruck legte er dabei immer auf die Inklusion birgt. Die Messe soll die volks- den Persönlichkeiten im Bereich des wirksame Rolle des Roten Kreuzes bei wirtschaftliche Bedeutung und die Zu- humanitären Völkerrechts. Wir sind ihm der Wahrung und der Weiterentwick- kunftsfähigkeit der Inklusionsunterneh- für sein außerordentliches Engagement lung des humanitären Völkerrechts. men zeigen. sehr dankbar. Seiner Familie gilt unsere tiefe Anteilnahme”, sagt DRK-Präsiden- „Mit dieser Messe wollen wir Inklusions- tin Gerda Hasselfeldt. BFS Service und KDA star- unternehmen bekannter machen und unterstützen. Das ist nach der dann hof- Ipsen wurde am 9. Juni 1935 in Ham- ten neue Studie zum Be- fentlich weitgehend überstandenen Co- burg geboren. 1967 wurde er zum Dok- treuten Seniorenwohnen rona-Pandemie besonders wichtig“, er- tor der Rechte promoviert. 1973 erfolg- läutert LWL-Sozialdezernent Matthias te dann die Habilitation für das Fach Das Kuratorium Deutsche Altershilfe Münning. „Außerdem wollen wir darauf Öffentliches Recht mit Schwerpunkt (KDA) und die BFS Service GmbH star- hinweisen, dass Menschen mit Behin- Völkerrecht. 1974 nahm er einen Ruf ten eine Neuauflage ihrer gemeinsamen derung das Recht auf eine qualifizierte auf den Lehrstuhl für Öffentliches Recht Marktstudie zum Betreuten Senioren- Ausbildung und Beschäftigung haben. der Juristischen Fakultät der Ruhr-Uni- wohnen. Indem sie strukturelle Daten Dieses Recht sichert ihnen Artikel 27 der versität Bochum an. Von 1979 bis 1989 erheben und auswerten, wollen sie der UN-Behindertenrechtskonvention zu.“ war Ipsen Rektor der Ruhr-Universität. Wohn- und Pflegebranche einen Über- Im Jahr 1988 wurde er Gründungsdirek- blick über die Struktur und die Heraus- Die vergangenen Jahre hätten gezeigt: tor des Instituts für Friedenssicherungs- forderungen im Betreuten Wohnen von In der Digitalisierung stecke eine gro- recht und Humanitäres Völkerrecht der Senioren zur Verfügung stellen. Ziel ist ße Chance, gesellschaftliche Themen Ruhr-Universität. Von 1991 bis 1993 war es, Branchenakteuren eine valide Pla- voranzubringen. „Daher haben wir die er der Gründungsrektor der Europa-Uni- nungsgrundlagen für neue Projekte zu jetzt startende Kampagne noch breiter versität Viadrina in Frankfurt (Oder). geben, um dieses bevorzugte Wohn- aufgestellt. Über die Sozialen Medien und Versorgungsangebot noch passge- wollen wir auf bunte und vielfältige Wei- Im Deutschen Roten Kreuz engagierte er nauer auf die zukünftigen Anforderun- se Aufmerksamkeit für die Messe und sich seit dem Jahr 1986 über seine Mit- gen auszurichten. das Thema Inklusion erzeugen. So wol- gliedschaft hinaus zunächst als Bundes- len wir neue Zielgruppen erreichen und konventionsbeauftragter. 1994 wurde er Dem Betreuten Seniorenwohnen kommt den großen Erfolg der vier vorherigen zum Präsidenten des DRK e.V. gewählt. seit Jahren eine besondere Rolle zu. Messen noch übertreffen“, so der Leiter Dieses Amt hatte er insgesamt neun Quantitativ ist es neben dem Heim die des LWL-Inklusionsamts Arbeit, Michael Jahre lang inne, bis er im Jahr 2003 bedeutendste Sonderwohnform. Auch Wedershoven. nicht mehr zur Wiederwahl antrat. In für die Zukunft werden Zuwachsraten 195
AKTUELLES NDV 5/2022 prognostiziert. Wer nutzt das Angebot die zukünftige Bedarfslage. Die Studie sierte Apps kennenlernen. Begleitend aktuell? Welche Angebotsstruktur lässt „Betreutes Seniorenwohnen. Entwick- werden bereits aktive Internethelferin- sich am besten vermarkten? Welche lungsstand und Anforderungen an eine nen und -helfer qualifiziert, Ältere an Wohnungsgrößen sind am meisten ge- zukunftsgerechte Weiterentwicklung“ ist das Thema Künstliche Intelligenz he fragt? Welche Betreuungsformen wer- 2019 im medhochzwei Verlag, Heidel- ranzuführen und dabei Vorteile und He- den angeboten? Wo liegen die Grenzen berg, erschienen (ISBN 978-3-86216-548- rausforderungen gleichermaßen zu be- der Versorgung? Welchen Herausforde- 3). leuchten. rungen müssen sich die Marktakteure zukünftig stellen? Auf diese und andere „Viele Menschen, auch Ältere, denken für Investoren und Betreiber relevanten Ältere Menschen erproben bei Künstlicher Intelligenz zunächst an Fragen soll die neue gemeinsame Stu- Science-Fiction-Filme oder an Pflegero- die Antworten geben. Neben einer aktu- Künstliche Intelligenz boter. Dabei können KI-Anwendungen ellen Strukturdatenerhebung ermittelt einen Beitrag zur Lebensqualität im Al- die neue Studie Entwicklungen und Ver- Zahlreiche Anwendungen, die auf ter leisten. Smarte Haushaltsgeräte er- änderungen der letzten fünf Jahre so- Künstlicher Intelligenz basieren, sind leichtern körperlich anstrengende Ar- wie die zukünftigen Herausforderungen bereits feste Bestandteile des Alltags beiten, Sprachassistenten vereinfachen für den Sektor des Betreuten Wohnens. geworden. Auch viele ältere Menschen den Alltag, Apps helfen zum Beispiel bei wollen die neuen Technologien ver- Sehbeeinträchtigungen“, so Dr. Regina Zur Teilnahme an der Studie werden stehen und sie eigenverantwortlich Görner, BAGSO-Vorsitzende. „Aber zu knapp 5.000 Anbieter von Betreuten nutzen. Das zeigt das Projekt „Digi- Recht möchten die Menschen wissen, Wohnanlagen direkt angeschrieben. tal souverän mit KI“ der BAGSO – Bun- wie zum Beispiel ihre Daten verwendet Weitere Akteure im Geschäftsfeld Be- desarbeitsgemeinschaft der Senio- werden. Lern- und Informationsange- treutes Seniorenwohnen können sich renorganisationen. An insgesamt 32 bote speziell für ältere Menschen sind ebenfalls an der Befragung beteiligen. Standorten in ganz Deutschland bie- deshalb wichtig.“ Die Beantwortung der Fragen wird etwa tet es Älteren die Möglichkeit, KI-Tech- 15 Minuten in Anspruch nehmen. Die nologien kennenzulernen und sich mit Das Projekt „Digital souverän mit KI“ Teilnahme an der Online-Umfrage ist den Chancen und Risiken auseinander- startete 2020 an 16 Standorten. Es ist bis zum 6. Mai 2022 möglich. Die Studi- zusetzen. Ziel ist es, Interessierten ein ein Projekt der bei der BAGSO ange- energebnisse werden am 13. Septem- Grundverständnis für Künstliche Intel- siedelten Servicestelle „Digitalisierung ber 2022 beim 3. Kongress Betreutes ligenz zu vermitteln: Sie sollen kompe- und Bildung für ältere Menschen“. „Digi- Seniorenwohnen in Leipzig präsentiert tent entscheiden können, welche Tech- tal souverän mit KI“ wird bis Ende 2022 und mit Vertretern der Politik, Investo- nologien sie nutzen möchten, und sich vom Bundesministerium für Familie, ren und Verbänden diskutiert. Anschlie- an Diskussionen über Künstliche Intelli- Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) ßend erfolgt eine zusammenfassende genz beteiligen können. aus Mitteln des KI-Zukunftsfonds geför- Veröffentlichung der Studienergebnis- dert. se. In den kommenden Wochen starten 16 neue lokale Projektpartner ihre Ange- Bereits 2018 haben die BFS Service bote. Die ausgewählten Mehrgenerati- GmbH und das KDA eine erste syste- onenhäuser, Seniorenbüros, Bildungs- matische Studie zum Betreuten Seni- einrichtungen und Freiwilligeninitiati- orenwohnen durchgeführt. Diese Er- ven bieten die Möglichkeit, KI-basierte hebung ermittelte erstmals von jeder Systeme wie Sprachassistenten und zehnten Betreuten Wohneinrichtung in smarte Haushaltsgeräte direkt auszu- Deutschland detaillierte Informationen probieren. Auf Smartphones und Tab- über die derzeitige Marktsituation und lets können die Teilnehmenden KI-ba- 196
NDV 5/2022 AKTUELLES Veranstaltungen des Deutschen Vereins Datum Veranstaltung Hinweis 11.–12.05.2022 Netzwerktreffen für kommunale Beauftragte für Menschen mit Behinderungen Weitere Informationen F 4235/22 Der Deutsche Verein bietet für die kommunalen Beauftragten für Menschen mit Behinderungen und Anmeldung unter: ein Fach- und Austauschforum an. Digitale Fachveranstaltung, M: 158,– €, NM: 158,– € Präsenz 18.–20.05.2022 Schulassistenz – alle in einem Pool? Weitere Informationen F 2335/22 Alle Kinder sollen gemeinsam und miteinander in einer „Schule für alle“ lernen – das ist das hehre und Anmeldung unter: Kernanliegen von Inklusion. Die für die Schulsysteme zuständigen Länder sind aufgefordert, ein derartiges inklusives Schulsystem flächendeckend zu schaffen. Fachveranstaltung in Präsenz, M: 135,– €, NM: 169,– € Präsenz Belegt 01.06.2022 Offene Beratung – Austausch für Fachkräfte zu grenzüberschreitenden Kindschaftskonflikten Weitere Informationen F 1742/22 Grenzüberschreitende Kindschaftskonflikte – Interdisziplinäre Beratung durch den ISD und Anmeldung unter: Digitale Fachveranstaltung, M: 25,– €, NM: 31,– € 03.06.2022 Netzwerktagung für Controller/innen Weitere Informationen F 4208/22 Diskussion aktueller Fragen der Steuerungspraxis und des Fachcontrollings sozialer Dienste und und Anmeldung unter: Organisationen. Digitale Fachveranstaltung, M: 70,– €, NM: 87,– € Belegt 28.–29.06.2022 Unterstützung - Vernetzung - Zusammenarbeit: Die Reform des Betreuungsrechts gut umsetzen Weitere Informationen F 4240/22 Die Gesetzesänderungen zur Reform des Betreuungsrechts treten am 1. Januar 2023 in Kraft. Die Akteure und Anmeldung unter: des Betreuungswesens bereiten sich auf die kommenden Veränderungen vor. Fachveranstaltung in Präsenz, M: 175,– €, NM: 220,– € Präsenz 05.-08.07.2022 Fortbildungsreihe für Mitarbeitende der Betriebserlaubnis erteilenden Behörde Weitere Informationen und Die Arbeit in den Betriebserlaubnis erteilenden Behörden der Landesjugendämter und Ministerien ist mit und Anmeldung unter: 12.-15.09.2022 besonderen Herausforderungen verbunden. Für Mitarbeitende in den Ministerien und Landesjugendämtern, (2 Module) die diese Aufgaben neu übernommen haben. F 2207/22 Fachveranstaltung in Präsenz, M: 470,– €, NM: 588,– € zzgl. Tagungsstättenkosten Präsenz 02.11.2022 Soziale Arbeit über Grenzen hinweg – Internationale Familienstreitigkeiten: Sorge- und Umgangs- Weitere Informationen F 1743/22 rechtskonflikte sowie Kindesentführungen mit Auslandsbezug und Anmeldung unter: Gegenstand der Veranstaltung sind die Herausforderungen von Sorge- und Umgangsrechtskonflikten in grenzüberschreitenden Zusammenhängen. Die rechtlichen Grundlagen werden vorgestellt, ein besonderes Augenmerk auf Fälle von Kindesentführung gelegt und insbesondere Handlungs- und Präventionsmöglich- keiten erläutert. Digitale Fachveranstaltung, M: 25,– €, NM: 31,– € 30.11.2022 Soziale Arbeit über Grenzen hinweg – Kinderschutzfälle mit Auslandsbezug und grenzüberschreitende Weitere Informationen F 1744/22 Unterbringung und Anmeldung unter: Kinderschutzfälle mit Auslandsbezug und Unterbringungen im Ausland sind häufig mit besonderen Herausforderungen für die Beteiligten Fachkräfte verbunden. Die Veranstaltung beschäftigt sich mit den rechtlichen Grundlagen, die sich aus internationalen Abkommen und dem deutschen Jugendhilferecht ergeben, sowie mit den Möglichkeiten der Kooperation mit Fachstellen im Ausland. Digitale Fachveranstaltung,, M: 25,– €, NM: 31,– € M = Mitglieder, NM = Nichtmitglieder 197
SONDERTHEMA NDV 5/2022 Dr. Irme Stetter-Karp und Michael Löher: Der Sozialstaat sichert unsere Zukunft – sichern wir den Sozialstaat! – 82. Deutscher Fürsorgetag in Essen Dr. Irme Stetter-Karp Michael Löher Präsidentin Vorstand des Deutschen Verwins des Deutschen Vereins Liebe Leserinnen und Leser, liebe Mitglieder des Deutschen sene System sozialer Sicherung und sozialer Leistungen eben- Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. so wie die sich daraus ergebenden Folgerungen für die Soziale Arbeit und das soziale Leben insgesamt. Herzlich Willkommen zum 82. Deutschen Fürsorgetag in Essen! Wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen. Die Auswir- kungen des Klimawandels, der COVID-19-Pandemie und der Seit über 140 Jahren zeigen die Fürsorgetage des Deutschen Krieg in der Ukraine machen sehr deutlich, dass ein Aufrecht- Vereins bedeutsame gesellschaftliche Entwicklungen auf und erhalten des Status quo nicht ausreicht, um diese Herausfor- sind Seismografen sozialer Veränderungen und gesellschaft- derungen gut bewältigen zu können. Der deutsche Sozialstaat licher Tiefenströmungen. Sie richten – über die Tagesaktuali- hat sich – auch im europäischen Vergleich – zwar in der Krise tät hinaus – den Blick nach vorn, benennen zukunftsträchtige grundsätzlich bewährt. Die Krise hat aber gleichzeitig bereits Themen und Umsetzungsoptionen. Fürsorgetage reflektieren bestehende Ungleichheiten und Reformbedarfe wie durch ein soziale Veränderungen in ihrer Bedeutung für das gewach Brennglas sichtbarer gemacht und verstärkt. 198
NDV 5/2022 SONDERTHEMA Wir leben also in Umbruchzeiten mit vielen Widersprüchlich- de Sozialpolitik sein und immer zusammen gedacht werden keiten. Obwohl Vieles im Gemeinwesen nach wie vor gut funk- muss. tioniert, tun sich mehr und mehr Risse auf. Soziale Ungleich- heiten vertiefen sich. Chancen hängen vielfach an der Her- Uns ist bewusst, dass drei Kongresstage nicht ausreichen, um kunft. Regionale Disparitäten wachsen. Besonders hart treffen für die vielen Herausforderungen abschließende Lösungen zu die Instabilitäten Menschen in Armut, Menschen mit einge- finden. Auch können wir nicht alle sozialpolitischen Fragestel- schränkten Bildungs- und Teilhabechancen oder mit prekären lungen aufgreifen. Aber wir können den Raum öffnen, um die Arbeitsbedingungen und leider oft genug auch Frauen. großen Fragen der Zeit anzupacken. Schließlich beginnen Ver- änderungen mit den richtigen Fragen, nicht mit bequemen Drei Tage lang wollen wir gemeinsam mit Ihnen die Zukunft Antworten. Wir laden Sie ein zum Mitdenken, Mitreden und des Sozialen und damit die Zukunft Deutschlands in den Blick Mitgestalten. nehmen. Unser Motto „Der Sozialstaat sichert unsere Zukunft – sichern wir den Sozialstaat!“ reflektiert dabei die tiefen ge- Wir freuen uns sehr, dass wir den 82. Deutschen Fürsorgetag – sellschaftspolitischen Veränderungen, die es zu gestalten gilt, trotz vieler Ungewissheiten – in Präsenz durchführen und so und formuliert zugleich den Wunsch nach einem konstrukti- den fachlichen und interdisziplinären Austausch in besonde- ven, positiven Aufbruch! rer Weise fördern können. Ihnen persönlich zu begegnen, mit Ihnen auf dem Markt der Möglichkeiten weiter zu diskutieren Wie also kann der Sozialstaat seine fundamentalen Verspre- oder beim Abend der Begegnung inspirierende Gespräche zu chen von sozialer Gerechtigkeit und Teilhabe einlösen? Wie führen, ist ein Privileg. können wir den Sozialstaat krisenfest und stabil aufstellen – inmitten tiefgreifender Veränderungen? An welchen Stellen Danken möchten wir unseren Sponsoren, die uns mit ihrem müssen Verantwortlichkeiten gesamtgesellschaftlich neu ver- Engagement unterstützen, und unseren Ausstellern, die mit handelt werden? ihren Ständen Räume der Begegnung schaffen. Unser be- sonderer Dank gilt der Stadt Essen und dem Land Nordrhein- In vier Symposien und über 40 Fachforen wollen wir gemein- Westfalen für die Gastfreundschaft, die finanzielle Unterstüt- sam mit Ihnen wichtige Impulse zur Bewältigung der anste- zung und die gute Zusammenarbeit in der Vorbereitung die- henden Aufgaben setzen. Geleitet von den Gedanken, dass ses Kongresses sowie dem Bundesministerium für Familie, der Sozialstaat nur krisenfest sein kann, wenn er gleichwertige Senioren, Frauen und Jugend für die Förderung und die Über- Lebensverhältnisse schafft; dass leistungsfähige soziale Infra- nahme der Schirmherrschaft. strukturen gute Fachkräfte brauchen; dass Bildung der Schlüs- sel für gesellschaftliche Teilhabe und ein gelingendes Leben Wir danken Ihnen für Ihr Kommen! ist und Bildungspolitik daher vorbeugende und investieren- 199
SONDERTHEMA NDV 5/2022 Karl-Josef Laumann 82. Deutscher Fürsorgetag in Essen Sehr geehrter Herr Löher, sehr geehrte Damen und Herren, Deutschland ist ein lebens- und liebenswertes Land. Ein Grund für seine auch international hohe Strahlkraft ist, dass wir Achtung und Schutz der Würde des Menschen in den Mittelpunkt unseres Handelns gestellt haben. Der Sozialpolitik kommt hierbei eine ganz entscheidende Bedeutung zu. lch bin mir sicher, dass der 82. Deutsche Fürsorgetag als eine Art Leistungsschau deutscher Sozialpolitik dies hervorra- gend verdeutlichen wird. Als nordrhein-westfälischer Sozialminister ist es mir besonders wichtig, das Augenmerk auf jene zu lenken, die schnell in Vergessenheit geraten können.Beispielhaft möchte ich behinderte und obdachlose Menschen nennen. Deshalb hat die Landesregierung die Bekämpfung der Woh- nungslosigkeit zu einem sozialpolitischen Schwerpunkt gemacht und ein entsprechendes Pro- gramm auf den Weg gebracht, um die Kommunen bei dieser Aufgabe – auch mit erheblichen finanziellen Mitteln – zu unterstützen. Weil sich ,,die soziale Qualität einer Gesellschaft auch an ihrem Umgang mit Menschen mit Behinderung“ zeigt, wie es Herr Ministerpräsident Wüst formuliert hat, haben wir uns als Lan- desregierung vorgenommen, unsere Aktivitäten in einem neuen ,,Aktionsplan NRWinklusiv“ zusammenzutragen und dies zur Richtschnur unseres politischen Handelns zu machen. lch freue mich darüber, dass der 82. Deutsche Fürsorgetag mit seinem Motto auf den Zusammen- hang zwischen Sicherung des Sozialstaats und Sicherung unserer Zukunft verweist. Wir sollten uns dies in unserer täglichen Arbeit vergegenwärtigen. Ein leistungsfähiger Sozialstaat ist auch in Zukunft ein Garant für ein lebens- und liebenswertes Deutschland. Ihr Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen 200
NDV 5/2022 SONDERTHEMA Thomas Kufen: 82. Deutscher Fürsorgetag in Essen Vom 10. bis zum 12. Mai 2022 wird Essen Gastgeberin des 82. Deutschen Fürsorgetags sein. Als Oberbürgermeister freue ich mich sehr, dass der Leitkongress des Sozialen nach über 50 Jahren wieder in meiner Heimatstadt stattfindet. Ich bin sicher, dass alle Beteilig- ten in der Messe Essen die besten Rahmenbedingungen vorfinden werden, um sich drei Tage lang über aktuelle Trends und Themen der Sozialen Arbeit auszutauschen und zu informieren. Monat für Monat bietet der Nachrichtendienst des Deutschen Vereins (NDV) ein breites Spektrum an Beiträgen und Berichten aus der Praxis und informiert über sozialpolitische Entwicklungen. Anlässlich des Deutschen Fürsorgetags stellen in dieser Ausgabe Essener Wohlfahrtsverbände und einzelne Fachbereiche der Stadt Essen ihre Dienste und Einrich- tungen sowie ihre sozialpolitischen Schwerpunkte vor. Alle Beiträge zusammen vermitteln einen hervorragenden Eindruck von der sozialen Vielfalt in Essen. Liebe Leserinnen und Leser, ich wünsche Ihnen viel Freude und spannende Erkenntnisse bei der Lektüre dieser Monatsausgabe des NDV. Sehr freuen würde ich mich natürlich auch, Sie zahlreich als Gäste des Deutschen Fürsorgetags in Essen begrüßen zu können. Mit freundlichen Grüßen Thomas Kufen Oberbürgermeister der Stadt Essen Foto: Ralf Schultheiß 201
SONDERTHEMA NDV 5/2022 Thomas Mikoteit: Verknüpfung von Arbeits- und Gesund- heitsförderung im JobCenter Essen Ein wesentlicher Erfolgsfaktor in der fachlichen Arbeit Der Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Gesundheit ist heute nicht mehr strittig. Wollen die Jobcenter ihrem Auftrag gerecht werden, muss die Schnittstelle zum Gesund- heitsbereich konsequent in der fachlichen Arbeit Berücksichtigung finden. Eine Reihe von empirischen Untersuchungen zur gesundheitlichen Situation von arbeitslosen Menschen zeigen die Folgen anhaltender Arbeitslosigkeit deutlich auf. Bundesweite Untersuchungen belegen, dass man bei rund einem Drittel aller Jobcenter-Kunden/Kundinnen von einer relevanten seelischen Erkrankung ausgehen kann. Gesundheitsförderung wird daher im JobCenter Essen als Teil des Integrationsprozesses in Arbeit verstanden und ist fest in der Regelstruktur verankert. 1. Ausgangssituation im JobCenter Essen Das JobCenter Essen beschäftigt sich seit über 15 Jahren mit Thomas Mikoteit, Dipl. oec., Abteilungsleiter im kommunalen der Gesundheit von Kunden/Kundinnen. Die aktive Verknüp- JobCenter Essen. Aufgabenbereiche: fung von Arbeits- und Gesundheitsförderung hat die Arbeit im Sicherstellung der Grundsicherung und JobCenter nachhaltig verändert. Arbeitsmarktintegration, E-Mail: thomas. mikoteit@jobcenter.essen.de Im Jahr 2005 war nicht absehbar, dass dieser Bereich einmal eine große Bedeutung für die fachliche Arbeit im JobCenter Essen haben würde. Der Gesundheitszustand von Kunden/ Kundinnen war in der Ausbildungs- und Arbeitsvermittlung 2006 stellte sich im JobCenter Essen erstmals die Frage, wel- kein prioritäres Handlungsfeld. Gesundheitliche Einschrän- chen Zusammenhang es zwischen den Ergebnissen der fach- kungen wurden bei der Beratungs- und Vermittlungsarbeit lichen Arbeit und dem Gesundheitszustand unserer Kunden/ berücksichtigt, aber Prävention und Gesundheitsförderung Kundinnen gibt und welche Auswirkungen dies auf die Ar- spielten in der täglichen Arbeit kaum eine Rolle. Letztlich war beitsabläufe haben könnte. Auslöser waren Erfahrungen mit der aktuelle Gesundheitszustand eher ein Datum, das in letz- Jugendlichen unter 25 Jahren, zu denen kein Zugang gefun- ter Konsequenz dazu führte, dass nur eingeschränkt mit den den werden konnte, die sich in Beratungsgesprächen unge- Kunden/Kundinnen gearbeitet wurde. Eine Ausnahme bildete wöhnlich verhalten oder sich allen Kontaktversuchen entzo- der Bereich der beruflichen Rehabilitation bzw. der Teilhabe gen haben. Ein erster Ansatz ergab sich aus einem fachlichen am Arbeitsleben – aber: Nicht jede vorhandene gesundheitli- Austausch des JobCenters mit der Klinik für Psychiatrie und che Einschränkung führte zu einem Rehabilitationsverfahren Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters des LVR-Klini- oder wurde überhaupt erkannt. Die Arbeitsmarktinstrumente kums und dem Gesundheitsamt der Stadt Essen. waren auf eine rein fachliche Qualifizierung oder den Erwerb von Schlüsselqualifikationen ausgerichtet, der Erhalt oder die Wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Thema gab es Stabilisierung der Gesundheit spielte keine Rolle. seinerzeit für den europäischen und deutschsprachigen Raum noch nicht. Ausgangspunkt der Essener Überlegungen war 202
NDV 5/2022 SONDERTHEMA eine US-Studie von Cook et al. (2005). Für an Schizophrenie er- ▶ Zahl der Krankenhaustage 2,5-mal so hoch; krankte langzeitarbeitslose Menschen konnte nachgewiesen ▶ Zahl der Krankenhausaufenthalte wegen psychischer Stö- werden, dass die Vermittlung in Arbeit durch eine Verknüp- rungen deutlich höher; fung von Fallmanagement und psychiatrischer Behandlung ▶ Anzahl der Psychopharmaka-Verordnungen exorbitant hö- um das 1,5-fache bzw. 2-fache gesteigert wurde. her. d) Bundesweite Untersuchungen des Institutes für Arbeits- 2. Arbeitslosigkeit und Gesundheit markt- und Berufsforschung (IAB 12/2013) zu Quantitäten zei- gen, dass man bei einem Drittel aller Jobcenter-Kunden/Kun- Heute ist der Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Ge- dinnen von einer seelischen Erkrankung ausgehen kann. Bei sundheit nicht mehr strittig. Es gibt eine Reihe von empiri- rund 60.000 erwerbsfähigen Leistungsberechtigen (eLb) im schen Untersuchungen zur gesundheitlichen Situation von ar- JobCenter Essen sind dies 20.000 Personen. Berücksichtigt beitslosen Menschen, die die Folgen anhaltender Arbeitslosig- man auch somatische Erkrankungen kann man bei gut der keit deutlich aufzeigen. Hälfte aller Kunden/Kundinnen im JobCenter Essen von rele- vanten gesundheitlichen Einschränkungen ausgehen, die auf a) Untersuchungen zur Gesundheit von Arbeitslosen (Hollede- die Beschäftigungs- und Vermittlungsfähigkeit wirken. rer 2009) belegen, dass: Die Realität im JobCenter Essen spiegelt diese Befunde wider. ▶ Arbeitslosigkeit eine starke Belastung ist = chronischer Jede Integrationsfachkraft hat eine nennenswerte Anzahl von Stress, der körperliche und seelische Erkrankungen nach Kunden/Kundinnen, die in irgendeiner Weise auffällig sind, sich ziehen kann; z.B. durch ▶ Arbeitslose im Vergleich zu Beschäftigten einen signifikant schlechteren Gesundheitszustand aufweisen. Das Krank- ▶ häufige Abbrüche oder Fehlzeiten in Maßnahmen; heitsrisiko steigt dabei mit der Dauer der Arbeitslosigkeit ▶ große Schwierigkeiten bei der Einhaltung eines strukturier- an; ten Tagesablaufs; ▶ bei Arbeitslosen ein geringer ausgeprägtes Gesundheits- ▶ schwierige soziale und familiäre Verhältnisse; verhalten sowie eine höhere Betroffenheit bei Suchtprob- ▶ Gewalt- oder Missbrauchserfahrungen; lematiken festzustellen ist; ▶ Suchtproblematiken; ▶ Arbeitslose in den deutschen Statistiken der Suchtkran- ▶ Adipositas (BMI > 30); kenhilfe überproportional vertreten sind. ▶ psychosomatische Beschwerden. b) Befunde zu den Folgen anhaltender Arbeitslosigkeit (Paul/ Diese Auffälligkeiten können Indizien für eine psychische/so- Moser 2001): matische Erkrankung sein. ▶ Minderung des Selbstwertgefühls – Arbeitslosigkeit = Miss- erfolg; 3. Die Gesundheitswelt im JobCenter ▶ Depressionen; ▶ Verlust sozialer Kontakte und Unterstützung; Essen ▶ Verlust der Lebensperspektive und Zukunftsängste; ▶ Zunahme familiärer Konflikte; ▶ Zerfall von Zeit- und Tagesstrukturen; ▶ finanzielle Probleme und Armut sind Stressfaktoren. Ein stabiler sozialer Rahmen geht zunehmend verloren – mög- Vor diesen Hintergründen ist die aktive Gesundheitsförderung liche Folgen sind z.B. soziale Desintegration, Erkrankung, bei Arbeitslosen für die Aufgabenwahrnehmung und die Ziel- Suchtgefährdung. erreichung in Jobcentern ein wichtiger Faktor geworden. Ein schlechter Gesundheitszustand verringert die Beschäftigungs- c) Vergleich der Gesundheitssituation von Beschäftigten und fähigkeit und führt zu einer Verfestigung der Langzeitarbeitslo- Arbeitslosen (BKK Bundesverband 2010). Danach ist bei Ar- sigkeit bzw. zum Langleistungsbezug. beitslosen im Vergleich zu Beschäftigten die Wollen die Jobcenter ihrem Auftrag gerecht werden, muss die ▶ Zahl der Arbeitsunfähigkeits- und der Krankengeldtage si- Schnittstelle zum Gesundheitsbereich konsequent in der fach- gnifikant höher; lichen Arbeit Berücksichtigung finden. Gesundheitsförderung 203
SONDERTHEMA NDV 5/2022 Abb. 1–2: Großer Zulauf bei den Essener Gesundheitstagen wird daher im JobCenter Essen als Teil des Integrationspro- ▶ Erkrankungen einen angemessenen Stellenwert einräu- zesses in Ausbildung oder Arbeit verstanden und ist fest in der men – zeigen, dass trotz der vorliegenden Erkrankung eine Regelstruktur verankert. Vielzahl von Beschäftigungsmöglichkeiten am Arbeits- markt vorhanden sind; Den Fachkräften des JobCenters ist es oft unmöglich, sicher ▶ Ausbau der Gesundheitsorientierung in Arbeitsmarktinst- einzuschätzen, ob eine Kundin/ein Kunde aufgrund einer Er- rumenten. krankung nicht mitarbeitet oder ob es sich eher um andere Gründe handelt (z.B. fehlende Motivation). Es werden daher Die Teilnahme an allen gesundheitlichen Angeboten ist für kompetente Partner aus dem Gesundheitssystem benötigt, Kunden/Kundinnen immer freiwillig und kann ohne Folgen um die erforderliche Fachlichkeit und die Zugänge in die rele- abgelehnt werden. vanten Netzwerke des Gesundheitssystems zu erhalten. Die Essener „Gesundheitswelt“ versteht sich als integrierter Mit den lokalen Partnern des Gesundheitswesens hat das Job- Ansatz, bei dem alle Bereiche inhaltlich verbunden, durchläs- Center Essen in den letzten Jahren ein umfangreiches Ange- sig und kombinierbar sind. Dabei werden auch die Gleichzei- bot zur Diagnostik und Versorgung von Kunden/Kundinnen tigkeit und die Wechselwirkungen zwischen somatischen und und Patient/innen mit psychischen, somatischen und/oder psychischen Erkrankungen berücksichtigt. Maßnahmeange- Suchterkrankungen entwickelt. In Abhängigkeit von der indi- bote sind i. d. R. modular aufgebaut, sodass Kunden/Kundin- viduellen gesundheitlichen Situation der Kunden/Kundinnen nen sowohl im gesundheitlichen als auch im arbeitsmarktli- werden diese Angebote jeweils mit arbeitsmarktlichen Maß- chen Bereich die Unterstützung bekommen, die aktuell erfor- nahmen kombiniert. So konnten die Möglichkeiten zur berufli- derlich ist bzw. zu der sie aktuell in der Lage sind. chen Teilhabe von Langzeitarbeitslosen maßgeblich erweitert werden (Stadt Essen 2019). Erweitert werden diese Angebote durch: Generelle Ziele des Essener Ansatzes sind: ▶ die Beteiligung des JobCenters Essen am bundesweiten Modellprojekt „Verzahnung von Arbeits- und Gesundheits- ▶ Frühestmögliche Verknüpfung von Gesundheits- und Ar- förderung bei Arbeitslosen“. Durch die Nutzung des von beitsmarktförderung; der Krankenkassengemeinschaft zur Verfügung gestell- ▶ Prävention – Verringerung des Erkrankungsrisikos; ten Budgets ist es schnell und flexibel möglich, unterstüt- ▶ Stabilisierung und/oder Verbesserung der gesundheitli- zende Präventionsangebote gemäß § 20 SGB V für unse- chen Situation – Steigerung des individuellen Leistungs- re Kunden/Kundinnen ohne Zugangshürden umzusetzen. vermögens; Das Modellprojekt eröffnet den Jobcentern die Möglich- ▶ Veränderungsbereitschaft fördern – Arbeitslosigkeit kann keit, den Kunden/Kundinnen auf einfache Weise gesund- i.d.R. nur dauerhaft beendet werden, wenn aktiv etwas für heitsfördernde Angebote nahezubringen und so einen gu- den Erhalt der Gesundheit und damit der Beschäftigungs- ten Einstieg in weiterführende Angebote und Prozesse zu fähigkeit getan wird (Sensibilisierung, Motivation); finden oder nach einer Therapie weiter an einer Stabilisie- rung zu arbeiten; 204
NDV 5/2022 SONDERTHEMA ▶ die Essener Gesundheitstage. Der Gesundheitstag, der alle Im Bereich der seelischen Gesundheit zeigte sich bei den un- zwei Jahre im Essener Gruga-Park durchgeführt wird, tersuchten Kunden/Kundinnen eine deutliche Unterversor- verbindet die Elemente Event, Motivationsaufbau und gung bei psychiatrischen und psychotherapeutischen Be- Prävention. Durch aktives Mitmachen können Kunden/ handlungen. Viele waren vor der Teilnahme an der Maßnah- Kundinnen gemeinsam mit ihren Kindern eigene Erfahrun- me nicht in einer Therapie. Darüber hinaus nahmen 33 % der gen sammeln und grundlegende Dinge erlernen – z.B. Kunden/Kundinnen Psychopharmaka ein, die aber bei weni- Bewegung tut gut – gesundes Essen schmeckt, und es ger als 50 % ausreichend dosiert waren bzw. 21 % nahmen die macht Spaß, es selbst oder mit anderen zuzubereiten. verordnete Medikation nicht regelmäßig ein. Körperliche und seelische Krankheiten kommen selten allein – viele Jobcenter-Kunden/Kundinnen weisen weitere Vermitt- lungshemmnisse auf, wie z.B. fehlende Schul- und Berufsab- schlüsse, fehlende Tagesstruktur, soziale Isolation. Oft ist es daher eher unwahrscheinlich, dass eine Integration in den 1. Arbeitsmarkt gelingt. Um diesen Personen dennoch eine Teil- habe am (Arbeits-)Leben zu ermöglichen, ist der 2. Arbeits- markt (Soziale Teilhabe) bzw. 3. Arbeitsmarkt (Sozialer Arbeits- markt) ein wichtiger Faktor in der fachlichen Arbeit. Die Erfolgswahrscheinlichkeit aller Interventionen hängt am Ende maßgeblich davon ab, ob es den Kunden/Kundinnen ge- lingt, das Erlernte in den Alltag zu integrieren und wahrnehm- Abb. 3: Bewegung tut gut bare Veränderungen in der Lebenssituation zu erreichen. Auch diese Aspekte sind in der fachlichen Arbeit zu berücksichtigen, z.B. über die Verknüpfung mit dem Arbeitgeberservice, der Die ersten beiden Durchläufe wurden von den Kunden/Kun- passende Arbeitsplätze akquiriert, oder durch die Unterstüt- dinnen sehr positiv aufgenommen. Dies lässt sich aus den Be- zung der Kunden/Kundinnen bei einem Umzug aus dem „Mi- sucherzahlen von 10.000 im ersten und 15.000 Besuchern im lieu“. zweiten Durchlauf ableiten, aber auch aus den Rückmeldun- gen einer begleitenden Kundenbefragung. 5. Link – die Essener Gesundheitswelt im 4. Wirkungsforschung Internet Begleitende Evaluationen in den verschiedenen Angebotsbe- reichen konnten belegen, dass JobCenter-Kunden/Kundin- nen mit den medizinischen und arbeitsmarktlichen Interven- tionen erreichbar und in den Arbeitsmarkt integrierbar sind (Stadt Essen 2019). Im Detail: ▶ Die Inanspruchnahme des medizinischen Versorgungssys- tems durch Kunden/Kundinnen ist gestiegen, verbunden mit deutlichen gesundheitlichen Verbesserungen, Integra- tionserfolgen bzw. dem Verbleib in Maßnahmen. ▶ Die Eintrittsschwelle in das Gesundheitswesen konnte sig- nifikant gesenkt und die Wahrscheinlichkeit für eine nach- haltigere Integration in den Arbeits- und Ausbildungsmarkt erhöht werden. Broschüren und Filme zu den Essener Angeboten sind zu fin- den unter: www.essen.de/arbeitundgesundheit. Dennoch ist festzuhalten, dass sich die Akquisition von Kun- den/Kundinnen für die Angebote sehr aufwendig gestaltet. Im Durchschnitt ist ein Faktor von 2 bis 3 erforderlich, um einen Platz zu belegen. 205
SONDERTHEMA NDV 5/2022 6. Die Essener Gesundheitswelt auf dem Hollederer, Alfons (Hrsg.) (2009): Gesundheit von Arbeitslosen 82. Fürsorgetag in Essen fördern! Ein Handbuch für Wissenschaft und Praxis, Frankfurt am Main. Ausführliche Darstellung der Essener Gesundheitswelt auf IAB Forschungsbericht (2013): Menschen mit psychischen Störungen im SGB II. Von Michael Schubert, Katrin Parthier, Peter Kupka, Ulrich dem 82. Deutscher Fürsorgetag – 11. Mai 2022 Fachforum Ge- Krüger, Jörg Holke, Philipp Fuchs, IAB Forschungsbericht 12/2013 sundheitsförderung bei Arbeitslosen, 10:30–12:30 Uhr. – aktualisierte Fassung vom 4. November 2013. Paul, Karsten/Moser, Klaus (2001): Negatives psychisches Befinden als Wirkung und als Ursache von Arbeitslosigkeit: Ergebnisse einer Metaanalyse, in: Zempel, Jeannette/Bacher, Johann/Moser, Klaus Literatur (Hrsg.): Erwerbslosigkeit. Ursachen, Auswirkungen und Inter- ventionen, Opladen, S. 83–110. BKK Bundesverband (Hrsg.) (2010): BKK Gesundheitsreport 2010: Gesundheit in einer älter werdenden Gesellschaft, Essen. Bellwinkel, Michael (2011): Aktuelle Entwicklungen in der Gesund- heitsförderung von Arbeitslosen, in: Bellwinkel, Michael/Kirschner, Cook, Judith A./Lehman, Anthony F./Drake, Robert/McFarlane, W.: Evaluation von Projekten zur Gesundheitsförderung, Bremer- William R./Gold, Paul B./Left, H. Stephen et al. (2005): Integration of haven, S. 219–230. psychiatric and vocational services: a multisite randomized, controlled trial of supported employment, American Journal of Stadt Essen (2019): Arbeitslosigkeit und Gesundheit als kommuna- Psychiatry 162 (10), 1948–1956. les Arbeitsfeld. Praktische Ansätze, Erfahrungen und Perspektiven aus der Stadt Essen, Bochum, ISBN 978-3-88139-211-2. Anzeige Besuchen Sie uns beim DEUTSCHEN FÜRSORGETAG 2022 10. – 12. Mai Essen am Stand C15 Wir freuen uns auf Sie! www.neue-caritas.de www.lambertus.de 125 JAHRE caritas neue POLITIK / PRAXIS / FORSCHUNG 206
NDV 5/2022 DEUTSCHER FÜRSORGETAG Petra Kogelheide und Jana Gurk: Kinder psychisch kranker Eltern – strukturelle und praktische Erfah- rungen mit der Herausforderung, die Familien zu erreichen Psychische und/oder Suchterkrankungen eines Elternteils wirken sich unmittelbar auf die gesamte Familie aus. Als Leidtragende sind vor allem die Kinder zu identifizieren. Der Artikel greift die Fragestellung hinsichtlich der Bedarfe des Familiensystems auf und stellt daraus resultierende Gelingfaktoren und Handlungsmöglichkeiten dar. Wissenschaftler, Politiker und Fachkräfte haben sich in den letzten Jahren intensiv und auch mit vielfältigen Folgewirkun- gen mit den Themen Kinder psychisch und suchterkrankter Petra Kogelheide, Eltern, psychisch und suchterkrankte Eltern und ihre Kinder, Psychologische Psychotherapeutin, ist psychisch und suchterkrankte Eltern und ihre psychisch kran- Institutsleiterin des Jugendpsychologi- ken Kinder beschäftigt. Die Art dieser Aufzählung verdeutlicht schen Instituts (JPI) Essen. bereits, dass dieses Thema immer noch ein hilfesystemspezi- fisches ist. Der unterschiedliche Blick auf die Betroffenen der Familie – Eltern(teile) und/oder deren Kinder, der unterschied- liche sozialgesetzbuchbedingte Ansatz der Hilfen, aber auch Jana Gurk, die Haltung und Handlungsschwerpunkte der Fachkräfte im M.Sc. Psychologin, Fachstelle Elternschaft und seelische Erkrankung (ElsE). Gesundheitssystem und im Jugendhilfesystem differieren im- mer noch sehr. Unterschiedliche Abrechnungssysteme sowie Datenschutzbestimmungen tragen mit dazu bei. Am ehesten ist der systemische Blick auf die ganze Familie in der Jugend- hilfe verankert. In der Medizin – und gerade auch in den Praxen der niedergelassenen Ärzte – liegt der diagnostische Blick so- zahlen insgesamt je nach Studie zwischen wie die Wahl der Behandlungsmethoden eher ausschließlich 9 und 61 % (Lenz 2005, 20014; Mattejat/Remschmidt 2008). am Patienten orientiert. Die Dunkelziffer wird in der Fachliteratur durchgängig als sehr Der Blick auf Zahlen ist mittlerweile fast schon müßig. Hoch- hoch beschrieben. Auswirkungen der elterlichen Krankheit für rechnungen für die Bundesrepublik Deutschland stammen die Kinder können z.B. Störungen der Eltern-Kind-Beziehung immer noch aus dem Jahr 2002 (Schone/Wagenblass 2010, bedeuten, familiäre Disharmonien, soziale Isolation, einge- 12). Epidemiologische Studien zeigen, dass jeder 4. Schüler im schränkte objektive Lebensbedingungen (wie z.B. verstärkte Laufe eines Jahres erlebt, dass ein Elternteil eine psychische Armut, engere Wohnverhältnisse), aber Folgen sind sehr häu- Störung hat (Brockmann/Lenz 2016, 17). Aufgrund des Feh- fig auch Schuldgefühle, Hilflosigkeit, Überforderung, Nicht- lens präziser Daten in Deutschland schwanken die Prävalenz Gesehenwerden und vieles mehr. 207
DEUTSCHER FÜRSORGETAG NDV 5/2022 Das kindliche Erkrankungsrisiko ist zum einen von der Art der Schweden, Norwegen und Finnland wird dies bereits so um- psychischen Störung des Elternteils abhängig, aber auch stark gesetzt (Pihkala et al. 2011). beeinflusst durch psychosoziale Risikofaktoren, die zu einer Summation oder auch zu einer Multiplikation führen (Matte- Zur verbesserten Identifikation muss bereits in den Ausbil- jat et al. 2000). dungsinhalten für Psychiater, Psychologen, Psychotherapeu- ten in der Erwachsenenpsychiatrie wie auch in der Kinder- Nicht alle Kinder psychisch erkrankter Eltern erkranken jedoch und Jugendlichentherapie mehr Wissen zu den Auswirkungen selbst. Der Blick auf die Ressourcen und die protektiven Fak- psychischer Erkrankungen auf die Kinder vermittelt werden, toren weist in Studien mit erwachsenen Kindern psychisch er- aber darüber hinaus ebenfalls in den Ausbildungen von Heb- krankter Eltern darauf hin, dass z.B. das Verstehen des elter- ammen, Pädiatern, Hausärzten, Sozialarbeiterinnen, Erziehe- lichen Verhaltens ein wesentlicher schützender Aspekt ist. rinnen, Lehrkräften, Juristinnen und vielen weiteren Berufs- Eigene Wahrnehmungen, die in keinen eigenen Bedeutungs- gruppen, die mit Familien und mit Kindern arbeiten. kontext gestellt werden können, verunsichern und ängstigen die Kinder, mangelnde Aufklärung erhöht die Wahrscheinlich- Wesentlich für das Gelingen von wirksamen Hilfemaßnahmen keit von Fehlattributionen und Schuldgefühlen (Sollberger et sind grundsätzlich eine gute Vernetzung der verschiedenen al. 2008). beteiligten Fachdisziplinen und im weiteren Verlauf eine gute, wohlwollende und respektvolle Zusammenarbeit. Bislang Ein großes Problem stellt die Tabuisierung der elterlichen Er- sind solche Strukturen immer noch zu selten. Von verschiede- krankung dar. Sie verhindert die mögliche Ressourcenmobili- nen Behandelnden wird oftmals der Wunsch nach einer zent- sierung bei den Kindern, z.B. dadurch, dass Eltern ihre Kinder ralen Anlaufstelle geäußert, in der eine Vernetzung von Hilfen nicht in die Hilfeangebote vor Ort bringen. Scham und Angst, erfolgen kann. dem Kind zu schaden, aber auch zu der eigenen Erkrankung zu stehen und sich vor der Anstrengung der Auseinanderset- In Essen wurden in den letzten sechs Jahren umfangreiche zung mit dem familiären Thema zu schützen, verkomplizieren Erfahrungen mit diesen Aspekten gesammelt, und es wurde den Weg zu den Hilfeangeboten. Hier gibt es eine erschweren- sowohl der Wunsch nach einer zentralen Anlaufstelle von al- de Wechselwirkung: Besteht eine Tendenz zur Tabuisierung, len in der Kommune beteiligten Akteuren formuliert als auch werden die Kinder von sich aus keinerlei externe Personen um der Bedarf nach einer strukturierten Vernetzung erkannt. Nach Unterstützung bitten – fehlt den Fachkräften die Information zahlreichen Vorgesprächen, Workshops, Veranstaltungen und über die Familiensituation, wird eine sinnvolle Unterstützung Vorträgen, überwiegend durch Psychiatriekoordinator (Ge- erschwert. sundheitshilfe) und Institutsleiterin der städtischen Familien- beratungsstelle (Jugendhilfe) gemeinsam konzipiert und an- Erfreulicherweise haben die Forschung sowie ein überpar- geboten, flankiert durch die Frühen Hilfen sowie Fachkräf- teilicher Konsens in den letzten Jahren bewirkt, dass der Fo- te des Jugendamtes, wurde ein fachbereichsübergreifendes kus nicht nur auf die Betroffenen in den Familien gelegt wur- Gremium („ElsE“, Elternschaft und seelische Erkrankung) kon- de, dass ein Bewusstsein für die Belastungen bei psychischer zipiert und regelhaft umgesetzt, um das Thema Kinder psy- und Suchterkrankung entwickelt wurde, dass finanzielle Mit- chisch kranker Eltern in Essen umfassend und nachhaltig be- tel auf Landesebene bereitgestellt wurden und sogar die Er- arbeiten zu können, Kooperationen und Vernetzung zu or- kenntnisse in die Reform des SGB VIII Eingang gefunden ha- ganisieren, die bestehenden Angebote und die Entstehung ben, um den Familien niederschwellige und unkomplizierte neuer Angebote und Netzwerke zu fördern und weitere Bedar- Hilfen zu ermöglichen. fe zu identifizieren und Hilfen umzusetzen (Kogelheide 2019). Die beschriebenen Faktoren – das Schubladendenken in den Zeitgleich wurde nach Möglichkeiten gesucht, die von psychi- Hilfesystemen, die Tabuisierung des Themas, die Angst vor scher oder Suchterkrankung betroffenen Elternteile besser zu Stigmatisierung seitens der Betroffenen – führen jedoch nach erreichen als mittels einer Komm-Struktur, und es wurden flä- wie vor dazu, dass die Menschen in den Hilfeangeboten oft chendeckend in allen Erwachsenenpsychiatrien Sprechstun- nicht ankommen. den eingerichtet. Zur Verbesserung der Identifikation von Kindern mit psychi- Der von den in den Gesamtprozess involvierten Fachkräf- schen Erkrankungen müssen die Einrichtungen der Erwach- ten deutlich formulierte Wunsch nach einer zentralen, koor- senenversorgung regelhaft fragen, ob die Patient/innen Kin- dinierenden Anlaufstelle ist nach einer mit Landesfördermit- der haben, wer die Kinder versorgt und wie es ihnen geht. Die teln unterstützten Vorbereitungsphase von knapp einem Jahr möglichen Belastungen der Kinder, aber auch die Ressourcen, im November 2021 in der Einrichtung der Fachstelle „Eltern- sollten screeninghaft an dieser Stelle abgefragt werden. In schaft und seelische Erkrankung – ElsE“ gemündet. ElsE, El- 208
NDV 5/2022 DEUTSCHER FÜRSORGETAG ternschaft und seelische Erkrankung, ist ein neues, koordinie- beitsgemeinschaft für die Planung und Koordinierung psy- rendes Angebot in der Stadt Essen, um die besonderen Belan- chosozialer Einrichtungen in Essen), das Praktikernetzwerk ge und Bedarfe von Kindern psychisch erkrankter Eltern sowie „KipskE“, die Kontakte zum Landesjugendamt, zum Famili- der gesamten Familie verstärkt in den Blick zu nehmen, Ange- enministerium NRW sowie die Kommunale Gesundheitskon- bote sowie Vernetzungen und Kooperationen zu fördern und ferenz. Die gute Vernetzung trägt zudem zu einem verbesser- das Thema in den Fokus der Öffentlichkeit zu bringen. Weite- ten Bewusstsein der professionellen Helfer/innen bei der sys- re zentrale Aufgaben der Fachstelle sind die oben beschriebe- temischen Sichtweise bei. Fachpersonen erhalten durch eine ne Überwindung des Schubladendenkens bzw. die kommu- breite Öffentlichkeitsarbeit, Workshops sowie Schulungen ein nikative Arbeit an den Grenzen zwischen den Hilfesystemen, breites Wissensspektrum im Umgang mit dem System Fami- die Enttabuisierung bzw. Entstigmatisierung des Themas, die lie in den unterschiedlichen Hilfesystemen und lernen die Ar- Vernetzung aller Fachkräfte innerhalb der Kommune, die Ver- beit der unterschiedlichen Professionen kennen. Hier konnten netzung mit Hochschule, Politik und überregionalen Instituti- bereits schon Fortbildungen für Ärztinnen/Ärzte, Pflegeperso- onen sowie Mitwirkung in den entsprechenden Gremien. nal und Therapeut/innen in der Kinder- und Jugendpsychiat- rie des LVR Klinikums Essen sowie im Kamillushaus angeboten Die Fachstelle ist seitens des Jugendamtes mit einer Psycho- werden. Ein Fachtag für Schulsozialarbeiter/innen sowie wei- login in Vollzeit besetzt. Eine weitere Stelle mit dem Schwer- tere Fachvorträge beim Tag der Frauengesundheit oder zum punkt Public Health – finanziert durch die Gesundheitshil- Thema Depression sind bereits in Planung und terminiert. fe – soll zeitnah die Fachstelle erweitern. Diese interdiszipli- Durch die Zusammenarbeit und den Austausch sollen Schnitt- näre Zusammenarbeit stellt einen weiteren wichtigen Aspekt stellen herausgearbeitet und „Mischfinanzierungen“ machbar gelungener Kooperation zwischen den Ämtern dar. Mit Krea- werden. tivität und Überwindung von Widerständen, gepaart mit ho- her Fachlichkeit, können interne und externe Strukturen un- Mit Hilfe von Öffentlichkeitsarbeit sollen zudem niederschwel- terschiedlicher Hilfesysteme modifiziert und erweitert wer- lig Familien angesprochen werden mit dem Wissen „Ich darf den. Um möglichst tragfähige Zuständigkeiten für gelungene auch als Mutter/Vater psychisch krank sein und ich darf mir interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den Hilfesyste- Hilfe holen“. Hier konnte sich die Fachstelle beim Tag der of- men zu schaffen, wird vor allem ein gutes Netzwerk benötigt. fenen Tür im Kamillushaus, der Mode-Heim- und Handwerk- Wie bereits erwähnt, sind betroffene Familien häufig in zwei messe sowie bei der Nacoa Aktionswoche (National Associati- parallelen Versorgungssystemen angebunden, die neben un- on for Children of Alcoholics), mit der Schaufenstergestaltung terschiedlichen Leistungserbringern auch einen unterschied- einer Buchhandlung sowie einer Lesung in der Stadtbiblio- lichen Blick auf das Familiensystem mit sich bringen. Betrof- thek präsentieren und auf das Thema aufmerksam machen. fene Eltern werden in der Regel in der Erwachsenpsychiatrie Neben der Enttabuisierung und Entstigmatisierung durch Öf- oder in der Eingliederungshilfe angebunden, dagegen die Kin- fentlichkeitsarbeit sind Printmedien und Onlinewerbung wei- der innerhalb der Jugendhilfe bzw. der Kinder- und Jugend- tere wichtige Schritte, um Zugänge für betroffene Eltern und psychiatrie. So besteht ein bedeutender Aspekt in der Um- ihre Angehörigen zu schaffen. Neben den regulären, altbe- setzung der Fachstelle v.a. darin, das System Familie auch währten Flyern wird derzeit an modernen Produkten wie Graf- „systemisch“ zu betrachten. Postuliert wird dies ebenfalls in fitis, innovativen Logos und „Else to go“-Krisenkärtchen mit diversen Forschungsergebnissen, die zusammenfassend posi- Notfallnummern in Essen gearbeitet, um auch Kinder und Ju- tive Resultate in der Umsetzung von Angeboten erwähnen, die gendliche zu erreichen. Bei den Angebotsstrukturen sind An- auf das Gesamtsystem Familie abzielen und nicht nur punktu- gebote im Sinne von „Niederschwelligkeit“ und hin zu einer ell ausgelegt sind (u.a. Schrappe 2018). aufsuchenden Struktur auszubauen und weiterzuentwickeln. Als Ziel der Fachstelle ElsE ist es unabdingbar, dass sich bei- Neben den bereits genannten wichtigen Themenfeldern wie de Versorgungssysteme kennenlernen, sich vernetzen und Öffentlichkeitsarbeit, Herstellung von Printmedien, Netzwerk- Kooperationen zwischen den Hilfesystemen gefördert wer- arbeit und Angebotsentwicklung befasst sich die Fachstelle den. Den Gelingfaktor für wirksame Hilfeleistungen zwischen ebenfalls mit Themen der Datenerhebung innerhalb der Stadt den unterschiedlichen Systemen bildet die Stärkung des Aus- Essen, um mit Fragebögen den Bedarf von Fachpersonen so- baus der Netzwerkorientierung. Netzwerke und verbunde- wie von Eltern zu ermitteln. In Deutschland sind ca. 3 bis 4 Mil- ne Kooperationen stellen wichtige Ressourcen für ein dauer- lionen Kinder betroffen, die mit mindestens einem Elternteil haftes Engagement dar. Durch die Vorstellung der Fachstelle zusammenleben, der psychisch und/oder suchterkrankt ist und Teilnahme an diversen Arbeitskreisen und Gremien konn- (u.a. Lenz/Brockmann 2013). Wenn man diese Zahl auf die ten bereits schon tragfähige und aktive Vernetzungen regional Stadt Essen skaliert, sind schätzungsweise 23.000 bis 25.000 und überregional geknüpft werden. Hierzu zählen u.a. inter- Kinder in der Stadt Essen betroffen. Eine statistische Erhebung kommunale Fachaustausche, Arbeitskreise der AG Plako (Ar- zur Ermittlung konkreter Zahlen ist in Planung. 209
Sie können auch lesen