Denkmalpflege in Baden-Württemberg - 1 | 2016 45. Jahrgang - Landesamt für Denkmalpflege Baden-Württemberg
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Denkmalpflege 1 | 2016 in Baden-Württemberg 45. Jahrgang N A C H R I C H T E N B L AT T D E R L A N D E S D E N K M A L P F L E G E
Inhalt 1 Editorial 37 Dendrochronologie Vom Jahrring über den Kalender 3 Pfahlbauten in zu Baudatum und Dorfplan Südwestdeutschland Oliver Nelle Archäologische Anfänge und neue Wege der Forschung und Denkmal- 43 Anthrakologie und Ausschnitt der Busenwand aus Bodmann-Ludwigshafen, die in pflege Baumarchäologie der Großen Landesausstellung zu Helmut Schlichtherle Untersuchungen von Holzkohlen sehen sein wird. Foto: RPS-LAD. als Teil des Holzerbes 11 Älteste Wandmalereien nördlich Oliver Nelle der Alpen Zur Rekonstruktion der Bilder für 49 „Das Gedächtnis des Sees“ die Präsentation auf der Großen Ausstellungsprojekt vermittelt virtuellen Landesausstellung 2016 Zugang zu den Pfahlbausiedlungen Helmut Schlichtherle Hornstaad Eberhard Schlag 18 Von der Entdeckung in die Ausstellung 52 Forschung, Schutz und Vermittlung Nassfundkonservierung für die Große Fünf Jahre UNESCO-Welterbe Landesausstellung „Pfahlbauten“ „Prähistorische Pfahlbauten um Ingrid Stelzner / Saskia Betz / Kati Bott die Alpen“ Denkmalpflege Sabine Hagmann in Baden-Württemberg 24 Unverzichtbar im Alltag Textilhandwerk bei den 55 Quartierbrunnen, Lehmgruben N A C H R I C H T E N B L AT T DER LANDESDENKMALPFLEGE spätneolithischen Pfahlbauern und Erdkeller Johanna Banck-Burgess Erste Grabungsergebnisse vom 1/ 2016 45. Jahrgang Pforzheimer Rathaushof Herausgeber: Landesamt für Denkmal- 28 Jungsteinzeitliche Maske aus Thomas Künzel / Folke Damminger pflege im Regierungspräsidium Stuttgart. Bad Schussenried „Riedschachen“ Berliner Straße 12, 73728 Esslingen a.N. gefördert vom Ministerium für Finanzen am südlichen Federsee 62 Rezensionen und Wirtschaft Baden-Württemberg – Ein sensationeller Fund Oberste Denkmalschutzbehörde. 64 Mitteilungen Verantwortlich im Sinne des Presserechts: Helmut Schlichtherle Präsident des Landesamtes für Denkmal- 72 Neuerscheinungen pflege Prof. Dr. Claus Wolf 33 5000 Jahre alte Pfahlbaufunde Schriftleitung: Dr. Irene Plein Dokumentation und Visualisierung 73 Ausstellung Stellvertretende Schriftleitung: Grit Kolter- mann von 3-D-Messdaten Redaktionsausschuss: Nicole Ebinger-Rist / Helmut Schlichtherle / 74 Personalia Dr. Andrea Bräuning, Dr. Dieter Büchner, Markus Steffen Dr. Andreas Haasis-Berner, Dr. Dörthe Jakobs, Daniel Keller, Dr. Clemens Kieser, Dr. Claudia Mohn, Dr. Karsten Preßler, Dr. Anne-Christin Schöne, Dr. Elisabeth Stephan Produktion: Verlagsbüro Wais & Partner, Stuttgart Lektorat: André Wais / Tina Steinhilber Gestaltung und Herstellung: Hans-Jürgen Trinkner, Rainer Maucher Druck: Süddeutsche Verlagsgesellschaft, Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm-Donautal Postverlagsort: 70178 Stuttgart Erscheinungsweise: vierteljährlich Auflage: 26 700 Dieser Ausgabe liegt eine Beilage der Denkmalstiftung Baden-Württemberg Das für diese Zeitschrift verwendete bei. Sie ist auch kostenlos bei der FSC-zertifizierte Papier LumiSilk Geschäftsstelle der Denkmalstiftung liefert Papier-Union, Ehingen. Bankverbindung: Baden-Württemberg, Charlottenplatz 17, Landesoberkasse Baden-Württemberg, 70173 Stuttgart, erhältlich. Des Weiteren Nachdruck nur mit schriftlicher Geneh- Baden-Württembergische Bank Karlsruhe, liegen eine Beilage der Förderstiftung migung des Landesamtes für Denkmal- IBAN DE02 6005 0101 7495 5301 02 Archäologie in Baden-Württemberg so- pflege. Quellenangaben und die Über- BIC SOLADEST600. wie eine Beilage des Archäologischen lassung von zwei Belegexemplaren an Verwendungszweck: Landesmuseums Baden-Württemberg die Schriftleitung sind erforderlich. Öffentlichkeitsarbeit Kz 8705171264618. zur Pfahlbauausstellung bei.
Editorial Liebe Leserinnen und Leser, im April wird die Große Landesausstellung „Prähis- torische Pfahlbauten um die Alpen“ des Landes Ba- den-Württemberg in Bad Schussenried und Bad Buchau eröffnet, die das Landesamt für Denkmal- pflege im Regierungspräsidium Stuttgart gemein- sam mit dem Archäologischen Landesmuseum in Konstanz kuratiert. Das kommende halbe Jahr wird damit für die Landesdenkmalpflege schwer- punktmäßig im Zeichen der Unterwasser- und Feuchtbodenarchäologie stehen, und so wird Ih- nen auch diese Ausgabe des Nachrichtenblatts ei- nen Einblick in die Geschichte und den aktuellen Stand dieses Zweiges der Forschung in Baden- Württemberg geben. Dieser verfügt hier über eine 160-jährige Tradition, seit im Sommer 1856 die ers- ten Pfahlbauten des Bodensees in Wangen-Hinter- horn, Gemeinde Öhningen, am Untersee entdeckt gewissermaßen in Sichtweite einer der wichtigs- wurden. Mittlerweile sind allein auf der deutschen ten Fundstellen am Untersee. Hier sind naturwis- Seite des Bodensees und in Oberschwaben über senschaftliche Forschergruppen bestehend aus Ar- 100 weitere Fundstellen hinzugekommen. Ergänzt chäobotanikern, Archäozoologen, Geologen und werden sie von zahlreichen Überresten prähistori- Dendrologen unter einem Dach mit auf Feucht- scher Feuchtbodensiedlungen im gesamten zirkum- boden- und Unterwasserarchäologie spezialisier- alpinen Raum, die unsere Kenntnisse über die ne- ten Archäologen versammelt. Eine besondere He- olithischen und bronzezeitlichen Kulturen vom 5. rausforderung stellt dabei die Konservierung nas- bis zum 1. Jahrtausend v. Chr. bis heute entschie- ser Hölzer und anderer organischer Überreste dar, den erweitert haben und immer noch für Überra- die hier direkt vor Ort vorbereitet und dann von schungen sorgen, wie die zahlreichen Aufsätze der den Restauratoren des Landesamts für Denkmal- Fachkollegen in der vorliegenden Ausgabe des pflege im Regierungspräsidium Stuttgart in unse- Nachrichtenblatts eindrücklich bezeugen. Die her- ren Werkstätten in Esslingen vorgenommen wird. vorragenden Erhaltungsbedingungen von organi- So hervorragend die aus den Pfahlbausiedlungen schem Material im feuchten Milieu unter Sauer- gewonnenen Erkenntnisse für die Erforschung un- stoffabschluss sorgen dafür, dass uns in vielen Fäl- serer Vergangenheit auch sind, so unspektakulär len jahrgenaue Datierungen vorliegen und wir so sind für den Laien ihre Überreste im Gelände. Nicht die überlieferte Sachkultur dieser frühen Siedler in als in den Himmel aufragende Kirchtürme, pittores- einen größeren historischen Kontext stellen kön- ke Fachwerkhäuser, römische Grenzanlagen oder nen. Zum Teil lassen sich sogar genauere Aussagen keltische Burgen präsentieren sie sich dem Betrach- zum jungstein- und bronzezeitlichen Alltag, zu ter. Im Gegenteil: Im feuchtschlammigen Milieu Wirtschaftsweise, Hausbau, Ernährung und Klei- der Seeuferränder und der Moore finden sich die dung, aber auch zur Innovations- und Besiedlungs- antiken Bohlenwege, Wandreste und Pfähle, die geschichte sowie zur Ökologie treffen als über sich vom Unkundigen auf den ersten Blick nicht manche Epochen mit schriftlicher Überlieferung. von jüngeren Stegresten unterscheiden lassen. Die Diese Erkenntnisse wären mit rein geisteswissen- Funde zeigen sich den Ausgräbern nicht als spek- schaftlich-antiquarischen Methoden niemals zu takuläre goldene Grabbeigaben oder kunstfertig gewinnen gewesen. Deshalb bindet die Landes- verzierte Terra sigillata, sondern als unscheinbare, denkmalpflege schon seit den 1970er Jahren mit grob gemagerte Keramikscherben, graubraune, Unterstützung der Deutschen Forschungsgemein- wasserdurchtränkte Klumpen organischen Mate- schaft, der Fritz Thyssen Stiftung und der Europä- rials, unverzierte Werkzeuge aus Stein und Bein ischen Union naturwissenschaftliche Spezialisten und große Mengen von Tierknochen. Nicht zuletzt eng in ihre Untersuchungen der Pfahlbau- und diese Diskrepanz zwischen dem herausragenden Feuchtbodensiedlungen ein, was 1991 schließlich wissenschaftlichen Erkenntnispotenzial der Quel- in die Gründung der Arbeitsstelle des damaligen len und ihrer fehlenden unmittelbaren Wirkung Landesdenkmalamts in Hemmenhofen mündete, auf den Betrachter erfordert eine konsequente Ver- Denkmalpflege in Baden-Württemberg 1 | 2016 1
genforschung zu Erosion und Erosionsschutz ent- lang der Seeufer betrieben. Langfristig angelegte Konzepte zum Schutz der bedrohten Moorland- schaften im Federseegebiet werden nicht nur dazu beitragen, die archäologischen Quellen zu schüt- KLOSTER SCHUSSENRIED zen, sondern auch dem Naturschutz zugutekom- FEDERSEEMUSEUM BAD BUCHAU men und helfen, die oberschwäbische Landschaft 4.000 JAHRE zukünftigen Generationen zu erhalten. Ich hoffe sehr, dass Sie die hier versammelten Auf- sätze dazu anregen, die Große Landesausstellung samt ihrem Begleitprogramm zu besuchen und Sie so die Chance nutzen, sich vor Ort ein eigenes Bild von der 4000-jährigen Pfahlbaugeschichte und den Möglichkeiten unserer modernen, interdiszipli- när arbeitenden und international vernetzten Lan- 16. 4. – 9. 10. 2016 desdenkmalpflege zu machen. Praktischer Hinweis Die Große Landesausstellung „4000 Jahre Pfahl- bauten“ findet vom 16. April bis 9. Oktober 2016 in Bad Buchau und Bad Schussenried statt. Das Landesamt für Denkmalpflege bietet während der Ausstellung vom 1. Juni bis 9. Oktober, jeweils Mittwoch bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, Gelegenheit, den Archäologen bei der Arbeit im Olzreuter Ried über die Schulter zu schauen. Dort wird eine stein- zeitliche Moorsiedlung untersucht. Die Fundstelle liegt im Gemeindegebiet von Bad Schussenried und ist vom Kloster Schussenried in 40 Gehminu- ten, von Parkplätzen in 25 Gehminuten zu errei- Eine gemeinsame Ausstellung des Archäologischen Landesmuseums Baden-Württemberg und des Landesamts für Denkmalpflege im Regierungspräsidium chen. Stuttgart. In Zusammenarbeit mit dem Federseemuseum Bad Buchau und den Staatlichen Schlössern und Gärten Baden-Württemberg. Kloster Schussenried BÜRO211.DE Unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Dr. h. c. Joachim Gauck. Neues Kloster 1 pfahlbauten2016.de 88427 Bad Schussenried mittlungsarbeit der Landesdenkmalpflege, um in Federseemuseum Bad Buchau der Öffentlichkeit das Bewusstsein für die Bedeu- August-Gröber-Platz tung der Pfahlbau- und Feuchtbodensiedlungen 88422 Bad Buchau für die menschliche Geschichte zu wecken und zu Informationen und Buchung von Führungen: erhalten. Die Erhebung der prähistorischen Pfahl- www.pfahlbauten2016.de bauten aus dem Alpenraum in den Rang eines +49 (0)7583-92 69 110 Weltkulturerbes der Menschheit durch die info@pfahlbauten2016.de UNESCO 2011 trägt dieser Bedeutung Rechnung. Öffnungszeiten der Ausstellung: Die UNESCO fördert seitdem die nationale und internationale Zusammenarbeit der mit dem Dienstag bis Sonntag sowie Feiertage 10 bis Gegenstand befassten Forschungs- und Denk- 18 Uhr malpflegeinstitutionen und trägt so zu einem gro- Für Besucher, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln ßen Teil zum nachhaltigen Schutz und zur Erhal- anreisen, gibt es einen regelmäßigen Shuttlebe- tung dieser „Archive der frühen Menschheitsge- trieb zwischen den Ausstellungsorten. Für private schichte“ bei. Durch die auf diese Weise mögliche PKW stehen jeweils kostenfrei Parkplätze zur Ver- enge Zusammenarbeit von natur- und geisteswis- fügung. senschaftlichen Experten aus dem In- und Ausland werden nicht nur zukunftsweisende konservato- rische Methoden entwickelt und erprobt, es wird durch die Einbindung des Limnologischen Instituts der Universität Konstanz und des Seenforschungs- Prof. Dr. Claus Wolf instituts in Langenargen ausdrücklich Grundla- Präsident des Landesamtes für Denkmalpflege 2 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 1 | 2016
Pfahlbauten in Südwestdeutschland Archäologische Anfänge und neue Wege der Forschung und Denkmalpflege Die als „Pfahlbauten“ bekannten Ufer- und Moorsiedlungen bieten einzigartige Einblicke in das Leben jungstein- und bronzezeitlicher Bevölkerungsgruppen. Nirgends in Europa kann die Entwicklung der Zivilisation, ihrer Technik, Wirt- schaft und Umwelt so genau verfolgt werden wie an den Seen des Alpenvor- landes. In Seesedimente und Torf eingebettet erhielten sich selbst organische Materialien über die Jahrtausende und bieten vielfältige Ansatzpunkte für mo- derne naturwissenschaftlich-archäologische Untersuchungen. Das Landesamt für Denkmalpflege hat in Baden-Württemberg seit 35 Jahren besondere An- strengungen unternommen, um die Feuchtbodenfundstätten am Bodensee und in Oberschwaben zu erfassen, fachlich zu betreuen und die Forschung voranzubringen. Dabei sind hervorragende Funde geborgen und umfangreiche archäologische Ergebnisse erzielt worden. Helmut Schlichtherle Forschungspioniere und erste ckelte, kamen sie in nationalsozialistisches Fahr- Wissenschaftler wasser. Die letzten großen Ausgrabungen am Fe- dersee waren 1937 mit umfangreicher Propa- Die Entdeckung prähistorischer Pfahlbauten am ganda der NSDAP verbunden und im Rahmen des Zürichsee im Winter 1853/54 führte zu einer fie- Reichbundes für Deutsche Vorgeschichte ideolo- berhaften Suche nach weiteren Fundstätten in den gisch ausgerichtet. Alpenrandseen, an der sich schon bald auch ba- Die Staatliche Denkmalpflege, der es in Württem- dische und württembergische Forscher erfolgreich berg noch an einer geeigneten rechtlichen Grund- beteiligten. Sie hoben zahlreiche Funde aus dem lage fehlte, war weitgehend ausgebootet. Oskar Schlamm des Bodensees und den Mooren Ober- Paret vom Landesmuseum Württemberg und schwabens, darunter vor allem in erstaunlicher Fri- seine ehrenamtlichen Mitarbeiter in Oberschwa- sche über Jahrtausende erhalten gebliebene or- ben versuchten durch Grunderwerb, den flächen- ganische Materialien wie Holzgefäße, Nahrungs- greifenden und zerstörerischen Ausgrabungen der vorräte und Textilien. Zudem stießen sie auf Universität und des Reichsbundes entgegenzu- umfangreiche, aus Siedlungsabfällen und Bau- wirken. Schließlich mussten sie aber tatenlos zu- schutt bestehende „Kulturschichten“, erste Haus- sehen, wie die letzte Parzelle in der spätbronze- grundrisse mit substanziell erhaltenen Holzfußbö- zeitlichen „Wasserburg Buchau“ ausgegraben den und riesige Pfahlfelder, die der Forschung und die komplett freigelegte Steinzeitsiedlung noch lange Zeit große Rätsel aufgaben. Taubried im Winter 1937/38 offen liegen blieb und In den 1920er Jahren kam es am Federsee bei Bad durch Frost zerstört wurde. Buchau zu ersten groß angelegten Forschungs- grabungen, mit denen sich das neu gegründete Ur- Schwierige Zeiten nach dem geschichtliche Forschungsinstitut der Universität Zweiten Weltkrieg Tübingen an die Spitze der internationalen Pfahl- bauforschung setzte. Am Bodensee folgte Nach ideologischem Missbrauch und Jahren des 1929/30 eine Ausgrabung in einem leergepump- Krieges stagnierte die südwestdeutsche Pfahlbau- ten 22 m × 22 m großen, doppelwandigen Holz- forschung nach 1945 lange Zeit und damit auch kasten, einem Caisson im Flachwasser. Die For- die denkmalpflegerische Betreuung der schwer zu- schungen führten am Federsee jedoch zur raschen gänglichen Fundstätten unter Wasser und im Zerstörung wichtiger Fundplätze und gerieten in Moor. Große Mengen im Bodensee freigespülter eine ideologische Sackgasse. Mit Hans Reinerth, Funde wurden nur zögerlich als Alarmsignale fort- der sich zum bedeutendsten Ausgräber entwi- schreitender Erosion von Siedlungsarealen erkannt. Denkmalpflege in Baden-Württemberg 1 | 2016 3
bung durchführte. Sein Nachfolger Hartwig Zürn, Landeskonservator im Staatlichen Amt für Denk- malpflege Stuttgart, untersuchte 1962 einen wei- teren Siedlungsausschnitt mit einer für ihre Zeit vor- bildlichen Ausgrabung. Am Federsee versuchte Ernst Wall im Verbund mit verschiedenen Natur- wissenschaftlern, Anschluss an neue Forschungs- methoden zu gewinnen. Der Zerstörung großer Teile des Moores und darin enthaltener archäolo- gischer Stätten durch Entwässerung, Landwirt- schaft und Aufforstung konnte er jedoch nicht ent- gegenwirken. Mit neuem Elan Es war deshalb höchste Zeit, als 1979 das Landes- denkmalamt Baden-Württemberg sein „Projekt Bodensee-Oberschwaben“ begründete, das den Denkmalbestand im Flachwasser des Bodensees und in den Feuchtgebieten Oberschwabens erhob (Abb. 1). Durch Begehungen, Bohrungen und Son- dagen wurden die Pfahlbaufundstätten im Ge- lände wieder identifiziert und neue Entdeckungen gemacht (Abb. 2). Im tieferen Wasser kamen Taucharchäologen zum Einsatz (Abb. 3). In Ober- schwaben konnte vor allem in den trockenen Som- mermonaten mit moorarchäologischen Methoden 1 Pfahlbausiedlungen in Auch der Baggerung von Jachthäfen und der da- gearbeitet werden (Abb. 4). Oft nur wenige Qua- Baden-Württemberg und mit verbundenen Vernichtung bedeutender Fund- dratmeter umfassende Grabungsschnitte dienten im benachbarten Thur- stellen ab 1960 wusste die Denkmalpflege in den der exemplarischen Entnahme archäologischer gau. Stationen der Welt- Zeiten des Wirtschaftswunders noch nichts ent- Funde sowie der Bergung naturwissenschaftlichen erbeliste sind rot hervor- gegenzusetzen. Die Kenntnis der Fundstätten war Probenmaterials. Ziele waren die Datierung und gehoben. zu ungenügend, Wasserbauverfahren gingen kulturelle Zuordnung der Fundstätten und eine nicht über den Schreibtisch der Denkmalpfleger erste Einschätzung des Erhaltungszustands der ein- und taucharchäologische Methoden waren noch zelnen Stationen. 2 Auf der Suche nach nicht entwickelt. In den Mooren Oberschwabens verschollenen Pfahlbau- schritt die Entwässerung und damit die Austrock- Eine Arbeitsstelle für das feuchte ten, v. li.: 1 Wangen 1981; 2 im Gnadensee nung der prähistorischen Fundstätten voran. Kulturgut 1982; 3 Vermessung Einzig in Ehrenstein bei Ulm, wo in der Talaue der durch das Spiegeleis bei Blau 1952 ein hervorragend erhaltenes Steinzeit- Es war ein entscheidender Schritt, als 1981 in Hem- Hegne 1983; 4 Nussdorf dorf durch Baggerungen zum Vorschein kam, ging menhofen am Bodensee eine Arbeitsstelle vor Ort 1982. es mit Oskar Paret weiter, der eine Rettungsgra- installiert werden konnte (Abb. 5). Der Umgang 4 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 1 | 2016
mit feucht konservierten Geschichtsquellen erfor- dert ein hohes Maß an Spezialisierung, den siche- ren Umgang mit Techniken der Unterwasserar- chäologie und eine intensive Zusammenarbeit von Archäologen und Naturwissenschaftlern. Die Ar- beitsstelle vereinigte deshalb Arbeitsplätze für Ar- chäologen und spezielle Ausstattungen für Tauch- und Moorarchäologie mit naturwissenschaftlichen Laboratorien für Dendrochronologie, Archäobo- tanik und Sedimentologie/ Pedologie. Vor diesem Hintergrund war es vor allem möglich, Drittmittel für die Forschung einzuwerben. Denkmalpflege unter Wasser Die Arbeitsstelle bot zugleich die Basis, eine auf die Moore und Seen ausgerichtete Denkmalpflege aufzubauen. Es gehörte zu ihren ersten Aufgaben, deutschen wie schweizerischen Ufers von anhal- 3 Dokumentation unter das Kulturgut unter Wasser in der Regionalpla- tender Bedeutung ist. Wasser mit Plexiglasplat- nung zu verankern, die mit dem „Bodenseeufer- ten und wasserfestem plan“ 1983/84 Bestandskraft erhielt. Massive Ein- Projekte zum nachhaltigen Schutz von Millimeterpapier in Bod- man 1995. griffe in Pfahlbausiedlungen konnten seitdem ver- Pfahlbausiedlungen hindert werden. Zudem gelang es, im Verbund mit Wasserbehörden und Kommunen, Bojenfelder Schnell wurde klar, dass der Denkmalbestand in umzulegen sowie allfällige Veränderungen der den Seen und Mooren in besonderer Weise ge- Ufer und Hafenerneuerungsarbeiten archäologie- fährdet ist. Erosionsvorgänge in der Flachwasser- verträglich zu gestalten. Im Bemühen um die Er- zone des Bodensees legen Pfahlfelder und Kultur- haltung der Unterwasserdenkmale entwickelte schichten frei, Wasserbaumaßnahmen greifen in sich eine fruchtbare Zusammenarbeit mit dem die Denkmale ein und bestehende Hafenanlagen Amt für Archäologie des Kantons Thurgau, das für haben nicht selten weitere Erosionsfolgen (Abb. 6). die Pfahlbaufundstätten am Südufer des Boden- In den Mooren Oberschwabens liegen die Fund- sees zuständig ist. Gemeinsam mit dem Kantons- horizonte nahe unter der heutigen Oberfläche und archäologen Hansjörg Brem ließ sich die erforder- sind durch Grundwasserabsenkung von der Aus- liche öffentliche Aufmerksamkeit für das bedrohte trocknung bedroht (Abb. 7). Kulturerbe im internationalen Gewässer besser ge- Die beobachteten Zerstörungsvorgänge machten winnen, sodass in grenzüberschreitenden Projek- es notwendig, Methoden des nachhaltigen Schut- ten denkmalpolitische wie forschungsstrategische zes von Fundstätten im Gelände zu entwickeln. Ab Ziele erreicht werden konnten, zum Beispiel eine 1980 konnten in Abstimmung mit dem Natur- Kooperation mit dem Limnologischen Institut der schutz „Landesmittel zum Erwerb archäologisch Universität Konstanz und dem Institut für Seen- bedeutsamer Flächen“ im Federseegebiet konzen- forschung in Langenargen, die für eine Bewah- triert werden. Zahlreiche Parzellen des Moorge- rung der Pfahlbaufundstätten im Flachwasser des bietes ließen sich erwerben, doch erst die Aus- Denkmalpflege in Baden-Württemberg 1 | 2016 5
4 Untersuchungen auf weisung neuer Schutzgebiete und die Durchfüh- jekten, die mit Förderung der Deutschen For- der Halbinsel im Schre- rung beschleunigter Flächenumlegungsverfahren schungsgemeinschaft, der Fritz Thyssen Stiftung ckensee 1979: 1 Bohrun- ermöglichte schließlich die Wiedervernässung be- und der Europäischen Union durchgeführt wur- gen; 2 Vegetationsunter- deutender Areale. Die Maßnahmen wurden im den, sollen hier die wichtigsten Unternehmungen schiede zeigen alte Gra- Rahmen von EU-LIFE-Projekten vom Naturschutz- herausgestellt werden: bungsstellen; 3 Profil mit referat des Regierungspräsidiums Tübingen in en- Ab 1983 erfolgten im Rahmen eines zehnjährigen drei Kulturschichten. ger Abstimmung mit der Denkmalpflege durchge- Schwerpunktprogramms der Deutschen For- führt. schungsgemeinschaft Ausgrabungen in den jung- Im Flachwasser des Bodensees wurde in Zusam- steinzeitlichen Pfahlbausiedlungen von Hornstaad menarbeit mit den Wasserbehörden 1986 begon- am Untersee und in der bronzezeitlichen „Sied- nen, Geotextil und Kiesabdeckungen auf erosions- lung Forschner“ am Federsee (Abb. 9). Sie brach- gefährdeten Siedlungsflächen auszubreiten ten tiefgreifende Einsichten in große Siedlungs- (Abb. 8). Fragen des Erosionsschutzes ließen sich ausschnitte und eine Weiterentwicklung der Unter- im Rahmen eines von der EU und den Schweizer suchungsmethoden. In Hornstaad ließen sich Kantonen geförderten INTERREG-IV-Projektes 2008 erstmals klare Befunde für Pfahlhäuser mit indivi- bis 2011 aufgreifen und in einem vom Bundes- duell vom Grund abgehobenen Fußböden beob- ministerium für Bildung und Forschung geförder- achten. Ein Siedlungsbrand im Jahre 3909 v. Chr. ten ReWaM-Projekt seit 2015 weiter verfolgen. gab die Möglichkeit, genauer zu erkunden, was sich an Hausrat, Nahrungsvorräten und Küchen- Rettungs- und Forschungsgrabungen abfällen, aber auch an Geräten für die Wald- und am Bodensee und in Oberschwaben Landwirtschaft, Fischerei und Jagd in einzelnen Ge- bäuden befand. Die genaue Beobachtung der In besonders akuten Fällen sind Rettungsgrabun- Fundverteilungen gibt näheren Aufschluss über gen unumgänglich. Da diese aber umfangreiche die Siedlungs- und Sozialstruktur. Botanische, zoo- 5 Das Zentrum der archäologische Auswertungsarbeiten und natur- logische und bodenkundliche Untersuchungen er- neuen Pfahlbauforschung wissenschaftliche Begleituntersuchungen erfor- laubten eine detaillierte Rekonstruktion des Natur- am Bodensee: die 1981 dern, ist es notwendig, solche Rettungsaktionen raumes und der Wirtschaftsflächen im Siedlungs- begründete Dienststelle zugleich in drittmittelgeförderte, wissenschaftliche umland. Die „Siedlung Forschner“ am Federsee in Hemmenhofen. Projekte einzubinden. Aus einer Vielzahl von Pro- ergab einen umfassenden Einblick in die Baustruk- turen einer mehrphasigen, mit Palisaden und Holz- wehrmauer stark befestigten Dorfanlage zwischen 1767 und 1481 v. Chr. Federseemoor In den 1980er bis 1990er Jahren gelang im nörd- lichen Federseemoor die Entdeckung einer neuen Siedlungslandschaft mit sechs gut erhaltenen jungsteinzeitlichen Siedlungen. Hier ließ sich erst- mals in Oberschwaben ein neues Siedlungsschema erkennen, das wir heute als „endneolithisches Stra- ßendorf vom Typ Seekirch“ bezeichnen (Abb. 10). Für solche ab etwa 3300 v. Chr. erstellte Dorfanla-
Sipplingen entwickelte sich zum chronologischen Rückgrat der Kulturentwicklung am Bodensee. Für die früh- und spätbronzezeitliche Besiedlung des Bodensees ließen sich durch taucharchäologi- sche Untersuchungen in Bodman-Schachen, Kon- stanz-Egg, Öhningen-Orkopf und Unteruhldingen- Stollenwiesen Siedlungsgrundrisse erkunden. Nun bestanden kleinere, offene Anlagen neben stark mit Palisaden und auch Holzwehrmauern befes- tigten Siedlungen. Für Letztere zeichnet sich eine strategische Positionierung nach verkehrsgeogra- fischen Gesichtspunkten ab. Württembergisches Westallgäu gen mit relativ langen Häusern konnten seitdem Am Degersee (Gemeinde Tettnang) sind neue weitere Beispiele von Oberschwaben bis in die jungsteinzeitliche Pfahlbausiedlungen entdeckt Westschweiz entdeckt werden. Vor allem aber ge- und ab 2008 sondiert worden. Im Rahmen eines lang auch der Nachweis gleichzeitig existierender 2014 begonnenen, internationalen D-A-CH-For- Haufendörfer mit Kleinhäusern, die wirtschaftlich schungsprojektes können hier grundlegende Er- spezialisiert waren. kenntnisse zur Siedlungs-, Vegetations- und Seen- In den Torwiesen von Bad Buchau konnte ab 1997 geschichte des Westallgäus gewonnen werden. ein Moordorf des Endneolithikums vollständig er- graben und interdisziplinär untersucht werden. Bohlenwege, Räder, Einbäume und Umfangreiche, durch die DFG geförderte Aus- andere Verkehrsmittel wertungsarbeiten geben erstaunlich detaillierte Auskunft über die wirtschaftlichen und sozialen Mit der Erkundung der Siedlungen verband sich Verhältnisse des 3283 bis 3279 v. Chr. errichteten am Federsee die Entdeckung zugehöriger Boh- Dorfes. Im Umfeld der Siedlung erschlossen sich lenwege und Zugangsbrücken. Zudem konnten durch systematische Beobachtung von Baumaß- mehrere hölzerne Wege nach Bad Buchau festge- nahmen fünf weitere Siedlungen unterschiedlicher stellt und datiert werden, die hier von der Jung- Zeitstellung. steinzeit bis in die Eisenzeit die ehemalige Insel Bei Oggelshausen am Federsee gelang schließlich über das Moor erreichten. Damit erschlossen sich der Nachweis letzter Pfahlhäuser in der frühen Ei- die ältesten Straßenbauwerke des Landes. Mit der senzeit. Sie standen im Zusammenhang mit sta- Entdeckung von jungsteinzeitlichen Holz-Schei- tionären Fischfanganlagen und waren saisonal in benrädern im Federseemoor und im Olzreuter Ried Betrieb. kamen zudem wertvolle Zeugnisse des frühen Fahrzeugbaus zum Vorschein. Sie gehören zu ein- Oberschwäbische Kleinseen achsigen Wagen mit rotierender Achse und mit ihrer Datierung um 2900 v.Chr. zu der noch immer In oberschwäbischen Kleinseen konnten jungst- kleinen Gruppe weltweit ältester Radfunde. Die Be- einzeitliche Siedlungen auf Inseln und Halbinseln deutung der Verkehrsmittel für die prähistorischen erkundet werden. Sie lagen zu verschiedenen Zei- Siedler wird auch durch zahlreiche Einbaumfunde ten am Schreckensee, im Steeger See bei Aulen- am Federsee greifbar. Zehn seit 1984 entdeckte 6 Erosion in der Pfahl- dorf, im Olzreuter See und im Königsegger See, Boote gaben Auskunft über ihre unterschiedliche baustation Sipplingen. aber auch in den verlandeten Seen des Schorren- Konstruktion und Datierung. Die Wellen legen stein- riedes bei Bad Waldsee-Reute, des Musbacher Rie- Über die Alpen waren die Pfahlbausiedler zu Fuß zeitliche Hölzer und Kul- des und des Oggelshauser Riedes. Hier wurden vor unterwegs. Funde von Schuhen aus Gehölzbast in turschichten frei. allem kleinere Siedlungsausschnitte untersucht. Ober- und Untersee In Sipplingen am Bodensee gelang es, seit 1982 laufende Bergungsmaßnahmen und Einzelunter- suchungen der Taucharchäologie durch For- schungsgrabungen zu ergänzen und die mehr als 15 Pfahlbausiedlungen umfassende Geschichte der Bucht nachzuzeichnen. Die Stratigrafie von
Die archäologischen Funde führten zudem zu ei- ner klareren Umschreibung der in den südwest- deutschen Pfahlbauten vertretenen Kulturgruppen sowie zur Entdeckung und Beschreibung neuer Re- gionalgruppen, von deren Existenz man bisher nichts wusste. Die zeitlich präzisen, vielfach jahr- genauen Informationen zu den zirkumalpinen Pfahlbausiedlungen stellen einen weltweit einma- ligen archäologischen Korpus dar. Er umfasst ins- gesamt mehr als 30 verschiedene archäologische Kulturen, von denen allein 12 auch in den baden- württembergischen Pfahlbauten vertreten sind. Die erhobenen Daten sind für die relative und ab- solute Chronologie der Jungstein- und Bronzezeit in Europa von grundlegender Bedeutung. Häuser und Siedlungsmuster Mit der Dendrochronologie gelingt es vor allem, die vielphasigen Pfahlfelder am Bodensee zu ana- lysieren und in einzelne Siedlungs- und Bauphasen aufzulösen. So können im Gewirr der Pfähle gleich- zeitig geschlagene Hölzer erkannt und einzelnen Häusern zugewiesen werden. Auch in den ober- schwäbischen Moorsiedlungen lassen sich Haus- fußböden und andere Bauhölzer chronologisch ordnen. Damit ergeben sich die Grundrisse zahl- reicher Häuser und ganzer Siedlungsanlagen. Es wird für die Jungsteinzeit am Bodensee eine Ent- wicklung von relativ regellos errichteten Siedlun- gen zu Reihenhaussiedlungen und schließlich Stra- ßendörfern sichtbar. In Oberschwaben spielten von Anfang an Zeilendörfer eine große Rolle, die 7 Entdeckungen im den Pfahlbausiedlungen von Allensbach und Sipp- sich bis zur Einführung des Straßendorfschemas nördlichen Federseeried: lingen lassen erkennen, wie Fußbekleidungen in behaupten konnten. Die stark befestigten Sied- 1 Fußboden der Schus- der Steinzeit aussahen. Auch die Funde von Trage- lungen der Bronzezeit zeigen am Federsee in Tra- senrieder Kultur „Hart- gestellen in Hornstaad und Sipplingen geben dition des Donauraums eine wenig gegliederte, öschle“ 1984; 2 Siedlung heute ein genaueres Bild davon, wie man im Sied- haufenartige Bebauung, während die Häuser am der Goldberg-III-Gruppe lungsumland und auf Fernverbindungsrouten mit Bodensee strikt in Reihen oder Zeilen errichtet wur- „Grundwiesen“ 1991; 3 endneolithischer Hausbe- „Rucksäcken“ unterwegs war, in denen man exo- den. Damit ähneln sie bronzezeitlichen Pfahlbau- fund in den „Stockwie- tische Objekte wie Schmuckschnecken aus dem siedlungen der Schweiz und Oberitaliens. sen“ 1993. Mittelmeer, Jade aus den Westalpen oder Feuer- steine aus Süd- und Mittelitalien transportierte. Siedlungsdynamik Chronologie und Kulturentwicklung Die Dendrochronologie erschließt die Baugeschich- te einzelner Siedlungen in großer Detailgenauig- Im Zuge der zahlreichen Geländeaktivitäten kamen keit. Die Errichtung, Reparatur und der Neubau mehr als 100 000 Holzproben in das Dendrochrono- von Gebäuden und Siedlungsumwehrungen kön- logische Labor in Hemmenhofen. Damit gelang es, nen jahrgenau verfolgt werden. Zudem ergeben Bauhölzer jahrgenau zu datieren. Zusammen mit sich aus den Jahresringen wertvolle Informationen stratigrafischen Beobachtungen konnte so erst- zu den Wäldern des Siedlungsumlandes, die als mals eine präzise datierte Kultur- und Siedlungs- Bauholzquellen dienten. Dies gibt tiefe Einsicht in abfolge in den südwestdeutschen Seen erarbeitet die Dynamik des Siedlungsbaus und der Siedlungs- werden. Sie ermöglicht direkte chronologische Ver- verlagerung, die häufig an der Tagesordnung war. gleiche mit den umfangreichen Ergebnissen der Einzelne Dörfer waren nur etwa zehn Jahre be- schweizerischen und ostfranzösischen Pfahlbau- wohnt, länger als 80 Jahre blieb man nicht an Ort forschung sowie neuerdings auch mit oberitalie- und Stelle. Die große Siedlungsdynamik gehört zu nischen und slowenischen Siedlungen. den erstaunlichsten Ergebnissen der neuen For- 8 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 1 | 2016
schung. So bewegt und pulsierend hatte man sich das Leben der jungstein- und metallzeitlichen Be- völkerungsgruppen nicht vorgestellt. Wie weit diese in familiären Einheiten relativ autonom und wie weit im Kollektiv ganzer Siedlungsgemein- schaften mobil waren, kann in einzelnen Fällen be- reits genauer nachvollzogen werden. Die Frage, ob innerhalb eines Siedlungsterritoriums mehrfach nur der Siedlungsstandort gewechselt wurde oder ob sich die Gemeinschaften auch über größere geografische Distanzen bewegten, ist erst in weni- gen Fällen gelöst. Neuerdings kann gezeigt wer- den, dass es in einigen Zeitabschnitten zu einer koordinierten Verlagerung ganzer Siedlungsgrup- pen in Getreidekörnern und Tierknochen, die öko- 8 Einbau von Erosions- pen kam. logische Auswertung von Unkrautspektren und mi- schutz in der Pfahlbau- nutiöse Untersuchungen an Tierdung bringen die siedlung Sipplingen 2011. Landwirtschaft, Viehhaltung, Jagd und Argumente voran. Gleichzeitig zeigen solche Sammelwirtschaft neuen Analysetechniken, wie weit man mit den einzigartig erhaltenen organischen Resten der Die Ergebnisse botanischer und zoologischer Unter- Pfahlbauten in paläoökologische und paläoöko- suchungen sind so zahlreich, dass sie sich hier in nomische Fragestellungen eindringen kann. ihrer Vielfalt nur schwer zusammenfassen lassen. Ein mehrfacher Wandel des Kulturpflanzensorti- Technische Innovationen, europaweite ments, unterschiedliche Konzepte der Haustier- Kontakte haltung, wechselnde Intensität zusätzlicher Jagd- aktivitäten, umfangreiche Fischerei und Sammel- Im Verlauf der Pfahlbaubesiedlung kam es zu be- tätigkeiten sind nachgewiesen und ergeben deutenden technischen Innovationen. zusammen mit den Etappen des Kulturwandels, Die Einführung der Kupfermetallurgie im Raum klimatischen Veränderungen und Hinweisen auf um die Alpen ab etwa 3850 v.Chr., die Entwicklung wechselnde Besiedlungsdichte ein Informations- von Rad und Wagen ab circa 3200 v. Chr. und – da- geflecht zum Verhältnis von Mensch und Umwelt, mit vermutlich gekoppelt – die Einführung von das die Forschung anhaltend beschäftigt. Zur Er- Pflug-Ackerbautechniken, die Erfindung der Zinn- klärung der Phänomene werden verschiedene Mo- bronze um etwa 2000 v. Chr., das Auftauchen ers- delle zum jungstein- und bronzezeitlichen Land- ter Perlen aus Glas ab etwa 1600 v. Chr. und der 9 Die Ausgrabungen in management diskutiert. Extensiver Wald-Feldbau Beginn der Eisenmetallurgie am Ende der Bronze- der „Siedlung Forschner“ am Federsee 1983 bis mit Brandrodung (shifting cultivation) und inten- zeit um 850 v.Chr. lassen sich hier genau verfolgen. 1989 waren auch ein sive gartenbauartige Anbautechniken auf anhal- Aber auch kleinere Erfindungen wie erste Spinn- Publikumsmagnet. tend geöffneten Flächen mit Düngung (intensive wirtel und die Entwicklung von Hirschgeweihzwi- gardening) kennzeichnen die Extreme der Diskus- schenfuttern für die Beiltechnologie können in den 10 Die endneolithische sion. Pollenanalysen, Untersuchungen zur Feuer- Pfahlbauten anhand aussagekräftiger Funde nach- Siedlung „Torwiesen II“ geschichte der Landschaft, bodenkundliche For- vollzogen und technologisch erforscht werden. am Federsee mit Bauzeit schungen, die Untersuchung von Stickstoffisoto- Die Fundmaterialien erlauben vor allem auch die der einzelnen Häuser. Denkmalpflege in Baden-Württemberg 1 | 2016 9
Glossar Rekonstruktion von Fernbeziehungen und Han- amt für Denkmalpflege Baden-Württemberg (Hrsg.), delskontakten. Feuersteine kamen unter anderem Pfahlbauten. Verborgene Schätze in Seen und Moo- D-A-CH vom Baltikum, aus Westfrankreich, Süd- und Ober- ren. KulturGeschichte BW, Stuttgart 2011. Deutschland, Österreich, italien an den Bodensee, Jadebeile aus den West- A. Billamboz/ U. Maier/ I. Matuschik et al.: Die jung- Schweiz. Im Rahmen der D- alpen, Beile aus Pelitquarz aus Steinbrüchen im El- und endneolithischen Seeufersiedlungen von Sipp- A-CH-Zusammenarbeit sass, Schmuckschnecken aus dem Mittelmeer und lingen, in: I. Matuschik/ Ch. Strahm et al., Vernetzun- gibt es zwischen der DFG Atlantik, in fossiler Form auch aus dem Pariser Be- gen. Aspekte siedlungsarchäologischer Forschung, und ihren Partnerorganisa- tionen FWF (Fonds für wis- cken sowie Kupfer aus der Slowakei und den Al- Freiburg i. Br. 2010, S. 253– 286. senschaftliche Forschung, pen. Hier kann mit Rohstoffanalysen gezeigt wer- A. Billamboz/J.Köninger: Dendroarchäologische Un- Österreich) sowie SNF den, wie Europa bereits in der Steinzeit über unter- tersuchungen zur Besiedlungs- und Landschaftsent- (Schweizerischer Natio- schiedlichste Kulturräume vernetzt war. wicklung im Neolithikum des westlichen Bodensee- nalfonds, Schweiz) eine gebietes, in: Umwelt, Wirtschaft, Siedlungen im drit- Vereinbarung über gegen- Perspektiven ten vorchristlichen Jahrtausend Mitteleuropas und seitige Öffnung der jeweili- gen Förderverfahren Südskandinaviens, hg. v. W. Dörfler/J. Müller, Internat. („Lead Agency“-Verfah- Das wissenschaftliche Potenzial der Pfahlbau- und Tagung Kiel 2005, Offa Bücher 84, Neumünster 2008, ren), um die Mobilität der Moorsiedlungen ist groß. Erst etwa fünf Prozent S. 317– 334. Forschenden und grenz- ihrer archäologischen Substanz wurde in Baden- K. Steppan: Zur Ernährungswirtschaft der Goldberg III- überschreitende Projekte Württemberg mit modernen Methoden erforscht. Gruppe im nördlichen Federseeried aus archäozoo- zu erleichtern. Die archäologischen und naturwissenschaftlichen logischer Sicht, in: Varia Neolithica III. Beiträge zur Ur- „Stichprobenserien“ sind angesichts einer nach- und Frühgeschichte Mitteleuropas 37, hg. v. H.- Pedologie weislich mehr als 3500 Jahre umfassenden Sied- J. Beier/ R. Einicke, Langenweißbach 2004, S. 201– (Griech. πέδον pédon „Bo- lungsgeschichte noch immer lückenhaft. Viele Fra- 212. den“ und λόγος lógos „Lehre“). Wissenschaft, die gen zur Umwelt-, Wirtschafts- und Klimageschich- H. Brem/H. Schlichtherle: „Nasse Denkmäler“ – Chan- sich mit der Entstehung te der Pfahlbaubesiedlung, aber auch der Kultur- cen und Probleme des Kulturgutes unter Wasser. in: und Entwicklung der Bö- und Sozialgeschichte in den einzelnen Fundregio- Was haben wir aus dem See gemacht? Kulturland- den befasst. Sie trägt u. a. nen, vor allem aber der Interaktion der Siedel- schaft Bodensee. Arbeitshefte 10 Landesdenkmalamt zum Verständnis paläoöko- gebiete um die Alpen sind noch immer offen. Baden-Württemberg, Stuttgart 2001, S. 19–30. logischer Verhältnisse im Der 2011 verliehene UNESCO-Titel bietet gute An- B. Dieckmann/ U. Maier/ R. Vogt: Hornstaad – zur in- Umfeld archäologischer Fundplätze bei. satzpunkte, um die seit den 1970/80er Jahren so neren Dynamik einer jungneolithischen Dorfanlage erfolgreiche Forschung und Denkmalpflege im Be- am westlichen Bodensee, in: Mensch und Umwelt ReWaM-Projekt reich der Pfahlbauten in neue Projekte der interna- während des Neolithikums und der Frühbronzezeit Regionales Wasserressour- tionalen Zusammenarbeit zu führen, das Mana- in Mitteleuropa, hg. v. A. Lippert et al., Rahden/ Westf. cen-Management für den gement der Fundstätten in gesicherte Bahnen zu 2001, S. 29–51. nachhaltigen Gewässer- lenken und die notwendige Vermittlung des un- H. Schlichtherle (Hrsg.): Pfahlbauten rund um die Al- schutz in Deutschland“ sichtbaren Welterbes für ein breites Publikum vor- pen. Sonderheft Archäologie in Deutschland, Stutt- (ReWaM). Eine durch das anzubringen. Die Landesausstellung 2016 mar- gart 1997. Bundesministerium für Bil- kiert hier einen weiteren Schritt. D. Planck et al.: Siedlungsarchäologische Untersu- dung und Forschung (BMBF) geförderte Maß- chungen im Alpenvorland. Bericht der Römisch-Ger- nahme. ReWaM ist Teil des Literatur manischen Kommission 71, 1990, S. 23– 405. BMBF-Förderschwerpunk- Die Untersuchungen der Arbeitsstelle Hemmenhofen tes „Nachhaltiges Wasser- E. Stephan: Hunting and livestock management in des Landesamts für Denkmalpflege Baden-Württem- management“ (NaWaM) Hornstaad-Hörnle IA. Beiträge zur Archäozoologie berg in den Pfahlbausiedlungen am Bodensee und in im Rahmenprogramm und Prähistorischen Anthropologie X, Langenweiß- Oberschwaben erschließen sich aus den jährlichen „Forschung für Nachhal- tige Entwicklung“ bach, im Druck. Vorberichten in: Archäologische Ausgrabungen in Ba- (FONA3). V. Kracht/ H. Schlichtherle: Restaurierung von Habi- den-Württemberg, ab 1981 und aus den Monogra- taten und Wiedervernässung prähistorischer Feucht- fienreihen: Siedlungsarchäologie im Alpenvorland, bodensiedlungen im nördlichen Federseeried, in: Ar- Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschich- chéologie et Érosion, hg. v. H. Brem et al., Lons-le-Sau- te in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag nier 2015, S. 43–51. (14 Bände erschienen); Berichte zu Ufer und Moor- H. Brem et al. (Hrsg.): Erosion und Denkmalschutz am siedlungen Südwestdeutschlands. Materialhefte zur Bodensee und Zürichsee. Vorarlberg Museum Schrif- Archäologie in Baden-Württemberg, Konrad Theiss ten 1, Bregenz 2013. Verlag (7 Bände erschienen); Hemmenhofener Skripte, Ch. Herbig/ U. Maier: Flax for oil or fibre? Morpho- Janus Verlag (11 Bände erschienen). metric analysis of flax seeds and new aspects of flax cultivation in Late Neolithic wetland settlements in Dr. Helmut Schlichtherle southwest Germany. Vegetation History and Archae- Landesamt für Denkmalpflege im obotany 20/ 2011, S. 527– 533. Regierungspräsidium Stuttgart Staatsanzeiger für Baden-Württemberg und Landes- Dienstsitz Hemmenhofen 10 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 1 | 2016
Älteste Wandmalereien nördlich der Alpen Zur Rekonstruktion der Bilder für die Präsentation auf der Großen Landesaus- stellung 2016 Als 1990 bis 1994 die Taucharchäologen des damaligen Landesdenkmalamtes Baden-Württemberg zahlreiche bemalte und mit Lehmrelief gestaltete Wand- fragmente steinzeitlicher Pfahlhäuser aus dem Bodensee bargen, war dies eine Sensation. Vor allem in die Malereien einbezogene, fast lebensgroß geformte weibliche Brüste – erstaunlich realistisch und mit „Sexappeal“ – faszinierten die Öffentlichkeit genauso wie die Medien, die weltweit davon berichteten. Es be- durfte jahrelanger Arbeit, mehr als 2000 Fragmente aus den Kulthäusern zu sichten und in einen Kontext zu bringen. Jetzt ist der Durchbruch gelungen. Wesentliche Teile des monumentalen Wandbildes können plausibel rekonstru- iert werden. In der Großen Landesausstellung „4000 Jahre Pfahlbauten“ im Sommer 2016 in Bad Schussenried und Bad Buchau werden die Originale erst- mals in vollem Umfang gezeigt und medial zu einem Gesamtbild ergänzt. Helmut Schlichtherle Die Entdeckung Datierung der bemalten Wandfragmente waren 1 Taucharchäologen bei zahlreiche Funde von Gefäßkeramik, die eine Zu- Dokumentations- und Erste, mit weißer Kalkfarbe bemalte Wandlehm- weisung in die jungneolithische „Pfyner Kultur“ er- Bergungsarbeiten im stücke waren 1989 aus der Pfahlbausiedlung Lud- laubten. Damit korrespondierten im Zuge erster Flachwasser des Strand- wigshafen-Seehalde in Privatsammlungen auf- Laboruntersuchungen an den geborgenen Pfäh- bades von Ludwigshafen am Überlinger See im getaucht. Sie ließen erkennen, dass hier im Flach- len durch André Billamboz vorgenommene den- Frühjahr 1991. Die Ein- wasser des Strandbades Ludwigshafen ein drochronologische Datierungen für den Zeitraum satzbereiche sind zwi- einzigartiger Befund liegen musste, nämlich Teile 3867 bis 3861 v. Chr. Das hohe Alter der Funde schen den Arbeitsbooten einer mit großen Zeichen und Ornamenten be- war damit einwandfrei erwiesen. und dem Sprungturm malten Hauswand. Seitens des Landesdenkmal- Der Brandhorizont ließ sich in der Kulturschicht durch eine hellere Fär- amtes war die Arbeitsstelle Hemmenhofen für das durch zahlreiche Holzkohlen, verbranntes Ge- bung am Seegrund Unterwasserkulturgut zuständig und ging der Spur treide, angebrannte Artefakte und verkohlte Tex- kenntlich. sofort nach. Im Frühjahr 1990 konnten systemati- sche Tauchuntersuchungen beginnen (Abb. 1). Vor allem die erfahrenen Forschungstaucher Adalbert Müller, Martin Kolb, Martin Mainberger und Mi- chael Kinsky widmeten sich der technisch schwie- rigen Aufgabe. Im Zuge mehrerer Tauchkampag- nen, die bei optimalen Sicht- und Arbeitsbedin- gungen jeweils in den Wintermonaten durchge- führt wurden, ließen sich die stratigrafischen Ver- hältnisse klären und 55 qm des Seebodens genau untersuchen. Es stellte sich heraus, dass hier die Reste abgebrannter Pfahlhäuser in einer Kultur- schicht eingebettet lagen, die im Flachwasser und Badebetrieb der Erosion und damit einer fortlau- fenden Abspülung und Zerstörung ausgesetzt war. Die Kulturschicht bildete die unterste Lage einer ganzen Kulturschichtabfolge, die sich weiter see- wärts noch erhalten hatte. Entscheidend für die Denkmalpflege in Baden-Württemberg 1 | 2016 11
fähr der bekannten Länge eines jungneolithischen Pfahlhauses im Bodenseegebiet. Auch die Orientie- rung der Fundstreuung passt gut in das bekannte Bild der jungneolithischen Reihenhaussiedlungen am Bodensee, bei denen die Häuserreihen ufer- parallel ausgerichtet waren. In Sipplingen ließen sich mehrere Gebäude der entsprechenden Sied- lung durch ihre Pfahlstellungen genauer identifi- zieren. Dort kann die Lage der bemalten Wandteile ganz am seewärtigen Rand eines großen, etwa 80 bis 100 Häuser umfassenden Dorfes gut nachge- 2 Der kleine „Unterwas- tilien gut erkennen und wurde unter Wasser sorg- zeichnet werden (Abb. 3). In Ludwigshafen ist ein serstaubsauger“ im Ein- fältig Quadratmeter für Quadratmeter freigelegt Teil der Siedlung bereits der Erosion zum Opfer ge- satz, ein mit Unterdruck und dokumentiert. Vor allem aber markierten zahl- fallen, doch ist auch hier festzustellen, dass das arbeitender Schlammhe- reiche Fragmente im Feuer ausgehärteter Lehm- Haus mit Bemalung am seewärtigen Rand einer ber beim Einsatz in Sipp- wände, die wie ein Teppich über die Fläche aus- großen Ansiedlung lag. Die Gebäude waren nicht lingen. gebreitet waren, den Horizont des Brandes. Auch größer als die anderen Häuser der Siedlungen, diese Wandlehmstücke wurden eingemessen und aber ihre Ausstattung mit Bildern und Lehmrelief systematisch geborgen. Hierzu kam eine von der machte sie zu etwas Besonderem. Züricher Taucharchäologie entwickelte und am Bo- In Ludwigshafen zeigen Eckstücke mit Farbresten, densee übernommene Dokumentationstechnik dass die fragmentierten Wandbilder auf einer zur Anwendung. Die freigelegten Funde wurden Innenwand des Gebäudes angebracht waren. Wie unter Wasser pro Quadrat mit Plexiglasplatte und bereits beschrieben, war der Lehmverputz dieser Fettstift im Maßstab 1:1 gezeichnet. In ähnlicher Wand im Zuge einer Brandkatastrophe angeziegelt Weise kam die Plexiglasplatte auch bei der Doku- und stückweise herabgestürzt. Die Wand war also mentation der Profile zur Anwendung. Im Gra- nicht als Ganzes umgefallen, was ihre Rekon- bungsbüro ließ sich davon mithilfe einer optischen struktion erheblich erleichtert hätte, sondern in Einrichtung eine Verkleinerung herstellen. Diese tausend Stücke zersplittert, wobei die einzelnen Pläne wurden in der weiteren Folge der Auswer- Teile in einer unregelmäßigen Streuung zur Abla- tung dann digitalisiert. Probleme bereitete die Frei- gerung kamen. Die Position einzelner Motive auf legung und Bergung der zum Teil recht fragilen der Wand lässt sich somit im Fundniederschlag nur Wandlehmstücke, die bei Berührung leicht aus- unscharf erkennen. einanderbrachen oder zerbröselten. Nach ersten Bereits zu den ersten Funden gehörten Teile aus- schmerzlichen Verlusten entwickelte Michael gesprochen realistisch aus Wandlehm geformter Kinsky einen kleinen „Unterwasserstaubsauger“, weiblicher Brüste. Abdrücke des hölzernen Wand- mit dem die Freilegungsarbeiten berührungsfrei aufbaus an ihrer Unterseite machten deutlich, dass und sehr effektiv ablaufen konnten (Abb. 2). auch sie Teil der Bilderwand waren. Vor allem aber Es war nicht allein Zufall, sondern das geschulte zeigen auch hier Farbaufträge, dass sie in die Ma- Auge der Taucher, das 1992 auch in der Pfahl- lereien eingebunden waren. In welcher Weise, ließ bausiedlung Sipplingen zur Entdeckung von Frag- sich allerdings erst im Zuge weiterer Auswer- menten bemalter Lehmwände führte. Auch sie ge- tungsarbeiten erkennen. Zunächst war nur klar, hörten zu einer Siedlung der älteren Pfyner Kul- dass es sich um Reste einer monumental bemalten tur. Ihr Erhaltungszustand war indessen weniger und mit weiblichen Brüsten versehenen Wand han- gut. Dafür boten sich andere Funde und Erkennt- delte, auf der unterschiedliche Zeichen und Mus- nisse, die den Befund von Ludwigshafen ergänzen terungen aufgebracht waren (Abb. 4). Auch in und auf die weiter unten noch eingegangen wird. Sipplingen gab es Hinweise auf die Existenz weib- Bis zum heutigen Tage sind dies die einzigen Fund- licher Brustreliefs. Einzelne unbemalte weibliche orte neolithischer Wandmalereien im gesamten zir- kumalpinen Bereich der Pfahlbausiedlungen. Auch im weiteren europäischen Neolithikum sind die Malereien in ihrer „Vollständigkeit“ einmalig. Erste Erkenntnisse 3 Die Lage der Häuser mit bemalten Wänden Die Fundstreuung der bemalten Wandfragmente (rot) in der Siedlung Sipp- von Ludwigshafen zeichnete die Lage einer Haus- lingen B, 3857 bis wand nach, die von Südost nach Nordwest etwa 3817 v. Chr. 8 m lang gewesen sein muss. Dies entspricht unge- 12 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 1 | 2016
Brüste aus Wandlehm waren bereits seit der Ent- deckung der Pfahlbauten im 19. Jahrhundert be- kannt, doch nie zuvor waren Wandmalereien ge- funden worden. Hier lagen in Ludwigshafen und Sipplingen also ganz außergewöhnliche Befunde vor, die tiefere Einblicke in die ansonsten kaum er- schlossene rituelle Sphäre der Ufersiedlungen ver- sprachen. Angesichts der allgemein großen Ver- zierungslosigkeit und geradezu Bilderfeindlichkeit, durch die sich die jungneolithischen Fundkom- plexe Mitteleuropas auszeichnen, war es dabei schnell klar, dass hier eine Bildkomposition mit tie- ferem rituellem und religiösem Sinngehalt vorlie- gen musste. Wie aber ließ er sich aus den zahllo- sen Fragmenten wieder erschließen? Weitere Funde, ritueller Kontext Die besondere Bedeutung der Wandmalereien wird durch weitere Funde unterstützt. Im Brand- schutt von Ludwigshafen fanden sich außerge- wöhnlich fein gefertigte Textilien und ein „an- thropomorphes Gefäß“, das durch aufgesetzte die für spezielle Anlässe auch weiteren Gruppen- 4 Teile der bemalten Brüste und Arme eine menschliche Gestalt erhielt. mitgliedern zur Verfügung standen. Es kann sich Wand in Ludwigshafen. Ein direkter Zusammenhang mit den gemalten aber auch um Gebäude kollektiver Nutzung ge- Malereifragmente in wei- großen weiblichen Gestalten ist hier evident und handelt haben, wobei aber längst nicht alle Ein- ßer Kalkfarbe und plas- tisch geformte Brüste. lässt sich so auch auf andere „gynaikomorphe“ wohner des Dorfes gleichzeitig darin Platz finden Gefäße mit herausmodellierten Brüsten übertra- konnten. Möglicherweise waren es Männer- oder gen (Abb. 5). Im weiblichen Gefäß aus dem Kult- Frauenhäuser, wie man sie weltweit bei vielen Ge- haus von Ludwigshafen haftet noch sein ehemali- sellschaften findet, vielleicht auch Versammlungs- ger Inhalt aus Birkenteer. Dieser universelle Kleb- orte von Clangruppen, sodass sie jeweils nur ei- stoff wurde in einem Trockendestillierverfahren ner bestimmten Gruppe der Dorfgemeinschaft zu- unter Hitzeeinwirkung gewonnen, war also sozu- gänglich waren. Vielleicht spielten sie bei Festen sagen der erste „Kunststoff“ der Steinzeit. Dass und Übergangsritualen wie zum Beispiel bei Ge- der von intensiven Düften begleitete Prozess rät- burt und Tod oder beim Übergang ins Erwachse- selhafter Umwandlung von Birkenrinde in nenalter eine Rolle. Jedenfalls ist davon auszuge- schwarze Klebemasse im keramischen Leib einer hen, dass die in ihnen verwahrten Bilder und be- Frau vonstatten ging, lässt die magische Konno- sonderen Objekte eine wichtige rituelle Funktion tation des Vorganges erkennen und unterstreicht hatten und als Traditionselemente und kulturelle die rituelle Bedeutung des Kulthauses. In Sipplin- Wissensspeicher dienten. gen fand sich mitten in den bemalten Wandfrag- menten der Hornzapfen eines gewaltigen Au- Schwierige Zusammensetzung erochsen, also eines wilden Stieres. In Ludwigsha- 5 Gynaikomorphe fen lag im Umfeld des bemalten Hauses der Schnell stellte sich heraus, dass die bemalten Gefäße aus Ludwigs- Halswirbel eines großen Wildrindes, auch hier viel- Wandteile von Sipplingen für eine umfassendere hafen und Sipplingen. leicht als Rest eines abgetrennten Bukraniums. Rekonstruktion nicht geeignet waren. Die Hoff- Vom Rumpf getrennte Rinderschädel, vor allem Bu- nungen lagen also ganz auf den Funden von Lud- kranien von wilden Stieren, sind in der Jungstein- zeit mehrfach in rituellen Zusammenhängen nach- gewiesen und verdeutlichen auch am Bodensee die Sonderstellung der bemalten Häuser. Die Frage, welche Bedeutung die mit Malereien ausgestatteten Häuser tatsächlich hatten, ist nicht klar zu beantworten. In ihrem Umfeld liegen auch ganz reguläre Funde wie Kochtöpfe, Steingeräte und Fischnetze. Es kann sich also um Wohnhäuser von Familienoberhäuptern mit besonderer rituel- ler Funktion oder von Ritualisten gehandelt haben, Denkmalpflege in Baden-Württemberg 1 | 2016 13
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