KOSMOS - Alexander von Humboldt-Stiftung
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HUMBOLDT Nr. 112 / 2021 KOSMOS Forschung – Diplomatie – Internationalität LISH ENG ON: EXTREMER AUFSTIEG SI VER SE Aus dem Arbeiterhaushalt A PLE VER in die Wissenschaft NO TUR EXTREME KOSTEN Wer am Ende für Gewalt bezahlen muss #ProgressDiversity Weshalb Wissenschaft mehr Vielfalt braucht
HUMBOLDTIANER*INNEN PERSÖNLICH DIVERSITÄT ALS SELBSTVERSTÄND LICHKEIT: Serge Fobofou inmitten seiner Kolleg*innen an der Harvard Medical School auf einem Bootsausflug in Boston IN DEN USA FRAGT MICH NIEMAND, WO ICH HERKOMME Ich bin in Kamerun geboren und aufgewachsen. In Papier oder so schwarz wie Tinte sind. Nur die Pigmen- Deutschland lebe ich seit 2011. Wenn mich hier jemand tierung unserer Haut ist unterschiedlich. Aber die sollte fragt, woher ich komme, kann das ehrliches Interesse sig- keine Rolle spielen. nalisieren. Wenn diese unschuldige Frage aber auf Stereo- Leider muss ich sagen, dass vielen Menschen gar nicht typen basiert oder dadurch ausgelöst wird, dass ich anders bewusst ist, dass „schwarz“ mit negativen kulturellen aussehe, kann die Botschaft mitschwingen, dass ich nicht Zuschreibungen verknüpft ist. Zum Beispiel werden in hierher gehöre. Und das verletzt vor allem mein Gefühl Filmen Engel weiß dargestellt und der Teufel gewöhnlich der Zugehörigkeit. schwarz. Solche Zuschreibungen wirken sich auch auf Ich bin 2018 als Feodor Lynen-Stipendiat nach Har- die Realität aus. Wir sollten nach Alternativen suchen, vard in die USA gegangen. Spitzenforschung und inno- die die Realität angemessener beschreiben. So wird in vative Start-ups arbeiten dort eng zusammen. Hautfarbe den USA auch von „kaukasischer“ oder „europäischer“ und Herkunft spielen überhaupt keine Rolle. Diversität Abstammung gesprochen oder es werden Zuschreibun- und Internationalisierung sind eine absolute Selbstver- gen wie „afro-amerikanisch“, „afrikanisch“, „asiatisch“ ständlichkeit. In Deutschland fällt mir auf, dass wenige oder „Latino“ benutzt. Professor*innen aus dem Ausland stammen. An der Basis, Unsere multikulturelle und diverse Welt ist ein Segen. unter den Studierenden, ist durchaus Diversität vorhanden, Diese Diversität in allen Bereichen der Gesellschaft zu an der Spitze aber sitzen zumeist Einheimische. Als Bewer- verankern, endlich Rassismus und Diskriminierung hin- ber an einer amerikanischen Uni muss ich sogar darlegen, ter uns zu lassen – das wird nicht nur die Wissenschaft wie ich zur Kultur der Vielfalt und Inklusion beitragen voranbringen, sondern die Welt insgesamt friedlicher werde. In den USA fragt mich auch niemand, woher ich machen. Aus dem Englischen von MAREIKE ILSEMANN komme, es sei denn, ich habe vorher betont, dass ich kein Amerikaner bin. Die Menschen haben verinnerlicht, dass Amerikaner*innen jede Hautfarbe haben können. Aber DOKTOR SERGE ALAIN FOBOFOU auch in den USA ist natürlich nicht alles perfekt. Man TANEMOSSU promovierte in Chemie am denke nur an den strukturellen Rassismus, gegen den sich Leibniz-Institut für Pflanzenbiochemie in Halle die Bewegung Black Lives Matter richtet. und an der M artin-Luther-Universität Halle- Meiner Meinung nach ist es grundsätzlich ein Problem, Wittenberg. Serge Fobofou war Feodor Lynen- Menschen nach ihrer Hautfarbe zu kategorisieren. Auch Forschungsstipendiat an der Harvard Medical als Merkmal für Diversität. Es fängt schon damit an, dass School, USA. Heute ist er Leiter einer Foto: privat die Begriffe „schwarz“ und „weiß“ unzutreffend sind. Es Forschungsgruppe am Institut für Pharma gibt schlicht keine Menschen, die so kalkweiß wie ein Blatt zeutische Biologie der TU Braunschweig. HUMBOLDT KOSMOS 112/2021 3
EDITORIAL INHALT Foto: Henning Mack Liebe Leser*innen, gemischte Teams sind produktiver und kreativer, auch in der Forschung. Aus Gegensätzen und unterschiedlichen Perspektiven entstehen am Ende oft die besten Ideen. 06 Warum ich Ihnen mit diesen Selbstverständ- lichkeiten komme? Weil von Diversität zwar viel geredet wird, aber die Vielfalt immer mehr abnimmt, je weiter es nach oben geht in den Karriereetagen der Wissenschaft – in Deutsch- land, aber auch in vielen anderen Ländern. Weil uns als Humboldt-Stiftung das Thema Diversität wichtig ist, haben wir ihm diese Kosmos-Aus- gabe komplett gewidmet. Wer sich international umschaut, stellt fest, dass Diversität von Land zu Land oft ganz Unterschiedliches meint. Geht es um Geschlechter, soziale Herkunft, Fächer, 03 HUMBOLDTIANER*INNEN PERSÖNLICH Ethnien, Behinderungen oder Alter? In den USA fragt mich niemand, wo ich h erkomme So verschieden die Definitionen sind, so unterschiedlich sind die Herausforderungen. 06 NACHGEFRAGT Das zeigen die Analysen in diesem Heft ebenso Humboldtianer*innen erzählen ihre persönliche wie die persönlichen Geschichten aus unserem Geschichte Netzwerk. Wir wollen das Thema über dieses Heft hin- austragen und starten dazu eine Kampagne auf Twitter. Lassen Sie uns diskutieren! Wir freuen uns, wenn Sie Ihre Meinung oder eigene Geschichte teilen unter #ProgressDiversity. Erstmals in diesem Heft benutzen wir den sogenannten Genderstern, um alle Geschlechter zu adressieren. Auch hierzu sind wir an Ihrer Meinung interessiert. TITELFOTO Getty Images / Flaming Pumpkin Viel Spaß beim Lesen und bleiben Sie gesund! GEORG SCHOLL Chefredakteur 4 HUMBOLDT KOSMOS 112/2021
Illustration: Humboldt-Stiftung / Martin Rümmele, Fotos: Adobe Stock (Früchte), Humboldt-Stiftung / Elbmotion MACHEN SIE MIT 12 24 SCHWERPUNKT 12 Ein Hoch auf die Vielfalt 24 FORSCHUNG HAUTNAH Eine Weltreise auf den Spuren der Diversität Die versteckten Kosten der Gewalt 16 Bloß keine Monokultur in der deutschen Wissenschaft 26 DEUTSCHLAND IM BLICK Gastkommentar des Wissenschaftsjournalisten Aufsteigen schwer gemacht Jan-Martin Wiarda 30 NACHRICHTEN 21 „Wir können nicht einfach sagen, die Welt ist halt so!“ Interview mit Stiftungspräsident Hans-Christian Pape 32 GESICHTER AUS DER STIFTUNG Wer hinter den Kulissen dafür sorgt, dass alles läuft IMPRESSUM HUMBOLDT KOSMOS 112 HERAUSGEBERIN Alexander von Humboldt-Stiftung PRODUKTION & GRAFIK Raufeld Medien GmbH DRUCK Bonifatius GmbH, Paderborn CHEFREDAKTION Georg Scholl (verantwortlich), Nina Koch (Projektleitung), REDAKTIONSANSCHRIFT Teresa Havlicek Daniel Krüger (Kreativdirektion), Alexander von Humboldt-Stiftung REDAKTION Ulla Hecken, Mareike Ilsemann, Carolin Kastner (Artdirektion) Redaktion Humboldt Kosmos Lena Schnabel ERSCHEINUNGSWEISE 2 × jährlich Jean-Paul-Straße 12, 53173 Bonn, Deutschland ÜBERSETZUNGEN INS ENGLISCHE AUFLAGE DIESER AUSGABE 44 000 presse@avh.de, www.humboldt-foundation.de Dr. Lynda Lich-Knight ISSN 0344-0354 HUMBOLDT KOSMOS 112/2021 5
NACHGEFRAGT WAS KANN SIE AUFHALTEN, HERR GUCK? neu zu erfinden. Man baute dort eine neue, interdisziplinäre Life Science auf – ich dachte, dort werde ich alt. Doch dann entstand der Kontakt zum Erlanger Max-Planck-Insti- tut für die Physik des Lichts, wo ich seit 2018 Direktor bin. Vorbehalte wegen des Rollstuhls sind mir in dieser ganzen Zeit nie begegnet, eher Unwissenheit und Übervorsicht. Ein einzi- ges Mal ist der Rollstuhl in den Vordergrund Kürzlich war der 30. Jahrestag meines Unfalls. gerückt: Im Chemiepraktikum während mei- Ich sitze nun schon fast doppelt so lange im nes Vordiploms gab es Bedenken, ich könnte Rollstuhl, wie ich laufen konnte. Ich war in der mir etwas über die Beine kippen und nicht elften Klasse, als der Unfall passierte. Nach schnell genug reagieren können. Stattdes- einem halben Jahr im Krankenhaus konnte ich sen sollte ich pro Labortag eine Theorieprü- zurück zur Schule, mein Abitur machen. Wäh- fung machen, 20 insgesamt. Ich habe mich rend meines Physikstudiums bin ich in die damals an den Behindertenbeauftragten der USA nach Austin, Texas, gegangen; ursprüng- Uni gewandt, dann durfte ich das Praktikum lich für ein Jahr, aber ich bin da hängen geblie- machen. Die Wissenschaft erlebe ich als ide- ben. Dort habe ich mich zur Biophysik hin ori- ale Umgebung für Diversität. Forschung hin- entiert und begonnen zu erforschen, wie sich terfragt permanent die gängigen Denkmuster. biologische Zellen mit Laserstrahlen einfan- Das sorgt für Offenheit und macht es leichter, gen lassen. Wie und warum verformen sich alle einzuschließen, schräge Vögel und bunte Zellen, insbesondere Krebszellen? Das ist bis Hunde inbegriffen. PROFESSOR DR. heute mein Forschungsthema. Für mich ist klar: Durch das Leben im JOCHEN GUCK ist Nach fünf Jahren wurde es in den USA Rollstuhl habe ich gelernt zu erkennen, Direktor am Max- zunehmend unangenehm. George W. Bush was wirklich wichtig ist und was nur auf- Planck-Institut für die war Präsident, nach 9/11 wurde das Klima ins- hält. Was andere denken und für normal Physik des Lichts, Erlan- gesamt deutlich unfreundlicher und aggressi- halten? Die Frage stelle ich mir nicht. Mein gen, und Professor für ver. Also bin ich als Postdoc nach Leipzig. Dort Normal sieht ohnehin anders aus. Genauso Biologische Opto blieb ich fünf Jahre, bis mir das Cavendish wenig interessiert mich, was gerade popu- mechanik an der FAU Laboratory in Cambridge eine eigene For- läre Forschungsthemen sind. Ich habe immer Erlangen-Nürnberg. schungsgruppe anbot. Zurück nach Deutsch- gemacht, was mich selbst interessiert hat. Zuvor forschte er mit land bin ich 2012 gewechselt, als ich mit einer Und das war dann schlussendlich das, was einer Humboldt-Profes- Humboldt-Professur an die Technische Uni- gesucht wurde – woran aber niemand sonst sur an der Technischen versität Dresden kam. Dresden war dabei, sich gearbeitet hat. Text TERESA HAVLICEK Universität Dresden. 6 HUMBOLDT KOSMOS 112/2021
NACHGEFRAGT finde ich es richtig, zumindest vorübergehend Maßnahmen zur Frauenförderung anzuwen- den. So haben wir bei uns an der Universität zum Beispiel die erforderliche Zugangsnote etwas gesenkt, um mehr Frauen an die Uni zu bringen. Das soll etwaige Nachteile wäh- rend ihrer Schulzeit ausgleichen. Genderpa- rität ist ein hehres, aber fernes Ziel. Ich bin immer gern in die Schule gegan- gen. Meine Eltern haben nie zwischen Jun- gen und Mädchen unterschieden. Neues zu lernen, ist für mich ein inneres Bedürfnis. Meine Maxime lautet, dass frau zumindest alles versuchen muss um weiterzukommen. Mir ist immer meine Zielstrebigkeit zugute gekommen, und dass ich mich von nichts FRAU MEKONNEN, abschrecken lasse. Ich bin stolz, als erste Frau in Äthiopien 2009 den Professorinnentitel WIE WURDEN SIE DIE erhalten zu haben. Frauenförderung ist für mich als Role Model mehr als eine Herzens- ERSTE PROFESSORIN angelegenheit. Deshalb habe ich als Lehrstuhl- inhaberin die Verantwortung für das Gender Office der Naturwissenschaftlichen Fakultät ÄTHIOPIENS? der Universität Addis Abeba übernommen. Meine Tür ist bei dem Thema immer offen. „Bleibt dran! Versucht alles! Seid flexibel, hart- näckig und, wenn es nicht anders geht, auch Als ich 1988 für meine Dissertation nach diplomatisch! Gebt nicht auf!“, lautet meine Deutschland ging, war das für eine Frau aus PROFESSORIN DR. Botschaft an die Frauen. Äthiopien absolut ungewöhnlich. Mädchen YALEMTSEHAY Wenn es in meiner Macht liegt, mache ich durften in die Schule gehen, das ja; aber Frauen MEKONNEN lehrt Zell- ihnen den Weg frei. Bei Stellenbesetzungen in die Forschung? „Eine verheiratete Frau mit und Humanphysiologie würde ich eine exzellente Frau einem exzel- Familie gehört ins Haus“, war die traditionelle am College of Natural lenten Mann durchaus vorziehen. Dabei ist Vorstellung. Und ich ließ sogar meine halb- Sciences der Addis wichtig zu wissen, dass in Äthiopien und Illustration: Humboldt-Stiftung / Martin Rümmele wüchsigen Kinder bei meinem Mann zurück. Ababa University, anderen Ländern Afrikas Frauenförderung Zum Glück haben er und meine Familie mich Äthiopien. Von 2001 bis nicht nur etwas mit ideellen Werten wie Viel- immer unterstützt. 2002 war sie als Georg falt, Geschlechtergerechtigkeit und individu- Inzwischen ist einige Zeit vergangen Forster-Forschungs eller Selbstbestimmung zu tun hat. Teilhabe und seitdem hat sich in Äthiopien, was Bil- stipendiatin an der an höherer Bildung ist schlichtweg eine gesell- dung und Karriere für Frauen betrifft, viel Martin-Luther-Univer schaftliche Notwendigkeit. Wir brauchen gut getan. Mittlerweile sind 30 Prozent der sität Halle-Wittenberg. ausgebildete Frauen in qualifizierten Beru- Studienanfänger*innen Frauen. Leider bre- fen, um unser Land technologisch und gesell- chen viele ihr Studium mit der Eheschließung schaftlich weiterzuentwickeln. Frauen sind ab. Da geht so viel Potenzial verloren! Deshalb unsere Zukunft! Text MAREIKE ILSEMANN 8 HUMBOLDT KOSMOS 112/2021
WIE STEINIG WAR DER WEG IN DIE HÖHEN DER MATHEMATIK, FRAU PYAKUREL? Ich bin in dem kleinen Dorf Kalika 3 aufge- wachsen. Es liegt auf einer Ebene im Himalaja, rund 70 Kilometer östlich von Nepals Haupt- stadt Kathmandu. Vom Dorf aus blickt man auf das Gebirgsmassiv Jugal Himal; ins Tal hinunter erstreckt sich ein Wald zum Fluss Sunkoshi. Wir lebten völlig abgeschnitten von der Außenwelt. Es gab weder Strom noch eine Verkehrsanbindung. Wenn ich abends lesen wollte, musste ich mir mit einer Kerosinkerze behelfen. Es war wahrlich nicht vorherzuse- lassen. Doch das sollte nicht die letzte Hürde hen, dass ich einmal eine akademische Kar- PROFESSORIN DR. gewesen sein. riere machen würde. URMILA PYAKUREL Zur weiterführenden Schule waren es zwei Meine Eltern Mana Maya und Devi Nath forscht und unterrichtet Stunden Fußweg in die Berge. Hinaufzustei- Pyakurel bauten Gemüse, Reis und Hirse am Central Department gen war anstrengend, der Abstieg aber lebens- an. Wir hatten zehn Ziegen, fünf Büffel und of Mathematics der gefährlich, vor allem, wenn es regnete. Ich war drei Kühe sowie vier Ochsen für den Pflug, Tribhuvan University in ab der vierten Klasse jedes Jahr Klassenbeste. die Kaluwa, Bichya, Tare and Phurke hießen. Kathmandu, Nepal. Sie In der achten Klasse durfte ich als einzige*r Wir lebten von dem, was die Farm hergab. war von 2017 bis 2019 Schüler*in aus meinem Bezirk an einer Stu- Nur manchmal verkauften wir etwas Ghee Humboldt-Forschungs dientour nach Japan teilnehmen. Zum ersten oder Ziegenfleisch, um Kleidung oder Medi- stipendiatin an der TU Mal war mein Vater beeindruckt. Von da an kamente zu kaufen. Als jüngstes von zwölf Bergakademie Freiberg. ermutigte und unterstützte er mich. Nur als ich Kindern blieb mir die Hofarbeit erspart. Aber an die Universität wollte, musste ich noch ein- samstags, wenn keine Schule war, hütete ich mal kämpfen. Wieder hätten es meine Eltern im Wald die Kühe und Ziegen. lieber gesehen, wenn ich geheiratet hätte. Dies- Illustration: Humboldt-Stiftung / Martin Rümmele Dann saß ich den ganzen Tag am Fluss und mal hat sich mein Cousin für mich eingesetzt. gab mich meinen Tagträumen hin. Ich war Die Mathematik faszinierte mich schon als ungefähr elf oder zwölf Jahre alt und spürte Schülerin. Einen besonderen Ansporn bekam eine große Dunkelheit in meinem Leben. Ich ich auch vom Mathelehrer. Nicht, dass er mir wollte weg, weiter zur Schule gehen und die etwas beibringen konnte; er strafte mich mit Welt sehen. Aber zu dem Zeitpunkt waren Missachtung: Ein Mädchen, das gut in Mathe meine Eltern auf der Suche nach einem Jun- ist, das konnte nicht sein. Damit hat er mich gen für mich. Kinderehen waren damals noch erst recht motiviert. Heute ist die Mathematik üblich. Doch meine Brüder überzeugten mei- mein Leben. Es hätte nicht besser laufen kön- nen Vater, mich weiter zur Schule gehen zu nen. Text MAREIKE ILSEMANN HUMBOLDT KOSMOS 112/2021 9
NACHGEFRAGT geforscht. Ihnen geht es ähnlich wie meinem Mann. In Berlin hat sich aber eine queere rus- sische Diaspora entwickelt, in der die natio- nale Identität, Traditionen und Feste gelebt werden können – ohne die eigene sexuelle Identität leugnen zu müssen. Im Kontakt mit anderen russischen Migrant*innen wäre das schwieriger. Besonders beeindruckt hat mich die Geschichte einer Frau, die aus Angst vor ihrer Familie geflohen war. Sie hatte große Sorge, ihre Bedrohung gegenüber den deut- schen Behörden nicht ausreichend nachwei- sen zu können, weil sie es nicht gewagt hatte, sich in Russland zu outen. Solche Nöte haben HERR MOLE, viele queere Frauen: Sie erleben Diskriminie- rung oft innerhalb der Familie, versteckt hin- ter verschlossenen Türen, anders als beispiels- WIE ERGEHT ES weise politische Aktivist*innen, die öffentlich verfolgt werden. QUEEREN MENSCHEN Ich selbst lebe seit meinem Studium in Cambridge offen schwul. Ich hatte dadurch nie Probleme. Akademiker in Großbritan- IM EXIL? nien zu sein, ist eine ziemlich liberale Ange- legenheit. Auch als Humboldtianer war meine sexuelle Orientierung kein Thema. Während meines Forschungsaufenthalts in Berlin haben Schon als Kind habe ich mich gefragt, wie mein Mann und ich selbstverständlich die Menschen in unterschiedlichen Gesellschaf- PROFESSOR DR. gleichen Stipendienzulagen bekommen wie ten zusammenleben und warum in anderen RICHARD C. M. MOLE Hetero-Paare. Ländern manches so anders ist, als ich es aus vom University College Natürlich geht es queeren Aka d emi Großbritannien kenne. Das brachte mich zur London, Vereinigtes ker*innen nicht überall so wie mir. Viele Sozialwissenschaft. Auf mein heutiges For- Königreich, war 2011/12 suchen daher Jobs in liberalen Ländern. Was schungsthema kam ich durch meinen Mann: und 2016 Humboldt- wir in unseren akademischen Diskussionen Illustration: Humboldt-Stiftung / Martin Rümmele Warum verlassen queere Menschen – also Les- Forschungsstipendiat in aber nicht vergessen dürfen: Die Hürden, um ben, Schwule, Bi-, Trans- und Intersexuelle – Berlin. Ein dabei ent- freiwillig migrieren zu können, sind sehr ihre Herkunftsländer? standener Aufsatz hoch. Es braucht sehr gute Qualifikationen, Mein Mann ist Peruaner. Als wir uns wurde 2020 von der außerdem ein gewisses Kapital. Darüber in London kennenlernten, fragte ich, ob er British Association for verfügen längst nicht alle Menschen. Diese peruanische Bekannte in der Stadt habe. Er Slavonic and East Euro- werden leicht übersehen. Ihre Geschichten sagte, nein, das wolle er nicht – aus Angst, sie pean Studies aus höre ich beispielsweise bei meinen Forschun- könnten ähnlich homophob sein, wie er es in gezeichnet. gen zur Situation im Exil nicht. Deshalb ist es Peru erlebt hat. In Berlin habe ich dann zur wichtig, dass auch in den Heimatländern Situation queerer russischer Migrant*innen geforscht wird. Text TERESA HAVLICEK 10 HUMBOLDT KOSMOS 112/2021
FRAU OMBAKA, WIE IST ES ALS ALLEINERZIEHENDE FORSCHERIN? Meine Geschichte begann vor vier Jahren. In meinem Leben geschahen drei Dinge gleich- zeitig: An der Uni in Kenia bot man mir einen neuen Job an, ich erhielt ein Stipendium der Humboldt-Stiftung und stellte fest, dass ich schwanger war. Was sollte ich tun? In Abspra- che mit der Stiftung beschloss ich, erst den Job anzunehmen, das Kind zu bekommen und das Stipendium mit Baby später anzutreten. Es waren Zwillinge, die ich 2017 zur Welt brachte. Leider verstarb das Mädchen nach versprach man mir sofort anzurufen, falls einem Monat auf der Intensivstation. Aber Die Kenianerin mein Sohn weinte. Ich starrte den ganzen ich wollte an meinem Plan festhalten. „Bist DOKTORIN LUCY Tag aufs Handy. Es wurde immer später. Nie- Du verrückt? Du hast gerade ein Kind verlo- OMBAKA ist Chemike- mand meldete sich. Beim Abholen nahm ich ren und willst nach Deutschland?“, hörte ich rin an der Technical ein gut gelauntes Kind entgegen, das sich den aus meinem Umfeld. Ich wusste aber, dass das University of Kenya in ganzen Tag an den lustigen weißen Gesich- Stipendium die Chance meines Lebens war. In Nairobi, Kenia. 2016 tern erfreut hatte. Kenia unterrichtete ich zwar an einer Hoch- erhielt sie das Georg Einen Kindergartenplatz zu bekom- schule, konnte aber keine eigene Forschung Forster-Forschungs men war dann schon schwieriger. Aber wir betreiben. stipendium zugespro- haben es geschafft. Als Alleinerziehende hat Was ich mir da vorgenommen hatte, chen, das sie 2018 am man nicht viel Zeit zum Arbeiten. Ich habe wurde mir klar, als ich spätabends am Flug- Institut für Technische gelernt, sehr effektiv zu arbeiten, wenn mein hafen Frankfurt strandete. Ich, mutterseelen- Chemie der Leibniz Uni- Sohn betreut wird. Natürlich haben es meine allein, mit einem fünfzehnmonatigen Klein- versität Hannover männlichen Kollegen leichter. Sie widmen sich kind auf den Rücken gebunden. Der Flug war antreten konnte. ihrer Forschung und die Frauen kümmern Illustration: Humboldt-Stiftung / Martin Rümmele sechs Stunden verspätet, der letzte Zug nach sich um die Kinder. Und auch in Kenia hätte Hannover längst weg. Ich wusste nicht, wo ich ich es leichter gehabt, weil uns meine Familie die Nacht über bleiben sollte. Mein Sohn war unterstützt hätte. übermüdet und weinte. Aber es war definitiv richtig, nach Deutsch- Ich würde mich so gerne noch mal bei land zu gehen. Mein Sohn spricht fließend jenem guten Mann bedanken, der mich Deutsch und ist der zufriedenste kleine Junge, damals ansprach, mir zuhörte und half, ein den man sich vorstellen kann. Und ich habe so Hotel zu finden und mich in ein Taxi setzte. viel gelernt. Das wird sich für mich auszahlen, Keine 48 Stunden später trat ich mein Sti- davon bin ich überzeugt. pendium in Hannover an. In der Kita der Uni Text MAREIKE ILSEMANN HUMBOLDT KOSMOS 112/2021 11
SCHWERPUNKT MACHEN SIE MIT EIN HOCH AUF DIE VIELFALT Je unterschiedlicher die Forscher*innen in einem Team sind, desto kreativer werden die Ergebnisse: Diese Erkenntnis hat sich längst durchgesetzt. Diversity ist in der Wissenschaft zum wichtigen Schlagwort geworden – und wird doch in jedem Land anders verstanden. Eine Reise um die Welt auf den Spuren der Diversität. Text KILIAN KIRCHGESSNER 12 HUMBOLDT KOSMOS 112/2021
A n dieses eine Gutachten erinnert sich Silke wiederum andere sehen es als Bestandteil von Antidiskri- Wieprecht noch bestens. Jahre liegt die minierungspolitik. Geschichte zurück; die Leiterin des Lehr- stuhls für Wasserbau und Wassermengen DIVERSITÄT STICHT GENDER – DAS KOMMT wirtschaft der Universität Stuttgart saß in der Aus- MANCHEN GELEGEN wahlkommission für ein hochdotiertes Stipendium für Gülay Çağlar rät deshalb, den Begriff zunächst einmal angehende Wissenschaftler*innen. „Auf einmal las ich da aufzuschlüsseln. Es gehe letztlich darum, die Vielfalt in den Unterlagen diesen Satz eines Gutachters. ‚Sie ist gar der Gesellschaft in einer Hochschule abzubilden: „Klas nicht schlecht‘, schrieb er über eine hochqualifizierte Kan- sischerweise taucht da die Trias Gender, Class, Race auf, didatin, ‚dafür, dass es eine schwarze Frau ist.‘ “ So absurd aber oft wird die Liste um andere Kategorien erweitert, klang ihr der Satz in den Ohren, dass sich Silke Wieprecht etwa um Behinderungen, um sexuelle Orientierung oder ihn gemerkt hat. Und das, obwohl sie durch ihr Engage- das Alter.“ Und genau da fangen die Schwierigkeiten an: ment in unterschiedlichsten Auswahlausschüssen jedes Während sich leicht statistisch erheben lässt, wie gleich- Jahr Unterlagen von vielen Dutzend Kandidat*innen liest. mäßig Frauen und Männer unter Studierenden oder For- schenden vertreten sind, fehlen in anderen Kategorien oft AN DEUTSCHEN UNIS IST DAS THEMA die Daten. Ob die Bewerberin um eine Professur Tochter NOCH RELATIV NEU von Akademiker*innen oder ungelernten Arbeiter*innen Anekdoten wie diese können fast alle erzählen, die sich mit ist, lässt sich ebenso schwer erheben wie die Frage, welche dem Thema Diversität beschäftigen. Es ist ein Thema, das Nationalität ihre Vorfahren hatten. Und noch eine Klippe an deutschen Hochschulen noch vergleichsweise neu ist. drohe in der Praxis, hat Çağlar beobachtet: Beim Bestre- Sie sei dem Begriff zum ersten Mal in organisationstheore- ben, Diversitätskriterien anzuwenden, könnten vor allem tischen Arbeiten zur Privatwirtschaft begegnet, sagt Gülay Genderfragen in den Hintergrund gerückt werden. „Man- Çağlar, Politikprofessorin am Arbeitsbereich Gender and che, die der Frauenförderung kritisch gegenüberstehen, Diversity der Freien Universität Berlin und der Hum- sehen darin eine Chance, wenn die Geschlechterdifferen- boldt-Stiftung als wissenschaftliche Gastgeberin verbun- zen nicht mehr so im Mittelpunkt der Hochschulpolitik den. „In der Wirtschaft ist der Begriff Diversity Manage- stehen“, so Çağlar. Fotos von Früchten: Adobe Stock ment gebräuchlich, der klar mit einer Verwertungslogik Diversitätspolitik sei vor allem ein Prozess, sagt sie. Und verknüpft ist“, erklärt sie. „Für Hochschulen bedeutet das: berichtet, wie sie mit ihrem Forschungsteam die Freie Uni- Je diverser die Perspektiven, desto vielfältiger und exzel- versität Berlin dabei begleitet, ein Diversitätskonzept zu lenter wird die Forschung.“ Noch sei das Verständnis von erstellen. Eine der ersten Amtshandlungen war es, sich Diversität an Hochschulen sehr unterschiedlich: Für die mit den strategischen Partner*innen der Universität welt- einen sei es eine Art Fortsetzung der Gleichstellungspoli- weit auszutauschen. „Bei unserer israelischen Partner tik, für andere ein Instrument der Internationalisierung, universität zum Beispiel tauchte die Religionszugehö- › HUMBOLDT KOSMOS 112/2021 13
„ SCHWERPUNKT das erst im Laufe seiner Tätigkeit als Dekan gelernt und durch seine Forschung zu Diversität. Entscheidend sei die Einbindung von Verschiedenheiten. Jeffrey Peck, der auch Mitglied des Board of Directors der American Friends of the Alexander von Humboldt Foundation ist, zitiert sein WAS DIVERSITÄT liebstes Bonmot zu dem Thema: „Diversity is being invited to the party. Inclusivity is being asked to dance.“ Zu Deutsch: BEDEUTET, HÄNGT „Diversität heißt, zur Party eingeladen zu werden. Inklu- sion bedeutet, auch zum Tanzen aufgefordert zu wer- DAVON AB, IN den.“ Dies seien nicht nur schöne Worte: In einer viel- fältigen Umgebung würden Ideen stärker infrage gestellt; WELCHEM LAND so komme man im besten Fall zu besseren Antworten. „Exzellenz und Diversität sind keine Gegenpole“, betont MAN SICH BEFINDET.“ Peck: „Sie bedingen einander.“ Empirisch untermauern lassen sich solche Schlüsse bei- spielsweise durch eine aktuelle Studie, erschienen in der US-amerikanischen Fachzeitschrift PNAS (Proceedings rigkeit als Differenzkategorie auf. Dabei spielte diese in of the National Academy of Sciences of the United Sta- keinem anderen der beteiligten Länder eine vergleichbar tes of America): Über drei Jahrzehnte hinweg wurden die große Rolle“, sagt Çağlar. Wie Diversität definiert wird, Karrieren tausender Doktorand*innen nachverfolgt – mit hängt also maßgeblich von den spezifischen Bedingun- eindeutigem Ergebnis: „Demografisch unterrepräsentierte gen in einzelnen Ländern ab. Student*innen bringen mit größerer Wahrscheinlichkeit Innovationen als Mehrheits-Student*innen“, schreiben die IN DEN USA IST MAN SCHON ALS KIND MIT Autoren. „Aber ihre Beiträge werden weniger gewürdigt DEM THEMA KONFRONTIERT und es ist weniger wahrscheinlich, dass sie ihnen zu aka- Am stärksten etabliert ist der Begriff in den USA. „Als demischen Positionen verhelfen.“ Amerikaner*innen ist man von frühester Kindheit an mit Eine persönlich einschneidende Erfahrung machte dem Thema konfrontiert. Die USA sind schließlich ein Ein- Jeffrey Peck als Student in Deutschland. „Dass ich als wanderungsland“, sagt Jeffrey Peck, einst Dekan an der Jude Deutsch gelernt habe, war etwas Besonderes.“ Bei der City University of New York. „Ich bin zum Beispiel in einer Diversitätsdebatte, das lernte er dabei, dürfe man nicht Ecke der Vereinigten Staaten aufgewachsen, in der es viele nur in Dualismen denken, sondern müsse unterschiedli- Immigrant*innen gibt und viele Afroamerikaner*innen.“ che Ebenen berücksichtigen – also nicht nur Mann oder Eine entscheidende Erfahrung machte er nach langen Jah- Frau, schwarz oder weiß. ren in Europa schließlich an seiner New Yorker Universi- „Diversität ist in jedem Kontext anders“, formuliert tät: „Die Tatsache, dass es eine große Heterogenität in der er das, was die Forschung Intersektionalität nennt. Jeder Gesellschaft gibt, bedeutet nicht automatisch, dass man Mensch vereint in sich unterschiedlichste Dimensionen, auch weiß, wie man mit Diversität umgeht.“ Er selbst habe die je nach Kontext eine andere Rolle spielen. In der ameri- 14 HUMBOLDT KOSMOS 112/2021
Welche Daten werden an Ihrer Institution zu Studierenden und Personal mit Blick auf Diversität erhoben? Umfrage unter 159 Hochschulen aus 36 europäischen Wissenschaftssystemen, Angaben in Prozent 88 Studierende 83 72 Akademisches 68 Personal 60 57 49 40 35 28 27 19 14 14 14 9 9 11 7 8 4 4 1 1 t r ng d d d d en ) un / is n t T+ ch ch lte ht n d at te un un un un g ch ab ru B ni le m Da A ric r u gr gr gr gr LG de ch fg es ns rg er r r er te e te te au in es ys c h e e nt nt ß in in eh iv b e i nt ge G ei hi hi t s ol H rH us w B H gs ns s fle er kl ni e n lle h G er tio un /P in ch Ic u s re b t( ch ild ra a iö s- is he tu l ig om ä ig ng B er tit ul el M uu /k on en R ir er W Quelle: European University re ök Id ch et Association 2019: Diversity, equity o le B and inclusion in European higher zi is el hn So education institutions. Results xu from the INVITED project. Et Se kanischen Debatte, sagt Jeffrey Peck, sei der Rassismus prä- Diversität die Oberkategorie, und Gender ist eine wich- gend. In Deutschland sei eine Podiumsdiskussion inzwi- tige Subkategorie.“ schen undenkbar, an der nur Männer teilnehmen; in den USA gehe es zusätzlich darum, nicht nur weiße Menschen IN CHINA IST DIE FACHWELT GESPALTEN auf der Bühne zu haben. „In Deutschland habe ich den Ein- Eine Reise ans andere Ende der Welt, von den USA nach druck, dass Diversität und Gender oft als getrennte Kate- China. „Die Genderfrage spielt in China eine Rolle, aber gorien wahrgenommen werden. Bei uns in Amerika ist nicht so ausgeprägt wie etwa in Deutschland“, sagt Liqiu Meng. Sie ist Professorin für Kartografie an der Techni- schen Universität München und eine profunde Kennerin der chinesischen Wissenschaftsszene. Meng taucht tief in die Geschichte ein, wenn es um Diversität geht. „Es gab in China 1 300 Jahre lang ein kai- serliches Prüfungssystem, mit dem der Zugang zur höhe- ren Bildung geregelt war“, sagt sie. Aufnahmeprüfungen gehören bis heute zum Standard für Hochschulstudien- gänge. Deshalb sei das Geschlechterverhältnis unter Stu- dierenden nahezu gleich, ganz ohne Quoten. „Bis zur Pro- motion bleibt es auch ähnlich ausgewogen – nur danach kommt es zu einem Knick“, so Liqiu Meng. „Weniger Frauen streben eine Professur an, was mit der traditionel- len Rollenverteilung zu tun hat.“ Eine chinesische Beson- derheit der Diversitätsthematik sieht Liqiu Meng allerdings vor allem an einer Stelle: „Die Fachwelt ist bedauerlicher- weise zunehmend in Denkschulen gespalten, die eher mit- einander konkurrieren als zusammenarbeiten“, sagt › HUMBOLDT KOSMOS 112/2021 15
SCHWERPUNKT vor allem an den Grenzen und Übergängen, „zwischen den MEINUNG Disziplinen, den fachlichen Perspektiven und zwischen den unterschiedlichen Menschen, die sie einbringen und BLOSS sich gegenseitig zuhören“. Und dann zog auch Staudinger den Vergleich zur Natur oder genauer zur Landwirtschaft: KEINE „Wenn Sie eine Monokultur betreiben, geht die Produk- tivität zurück.“ Zwei neue Chefinnen an der Spitze führender deut- MONOKULTUR scher Wissenschaftseinrichtungen, die eine beim größten Forschungsförderer, die andere bei der einzigen ostdeut- schen Exzellenzuniversität außerhalb Berlins. Zwei Ein- richtungen, die für herausragende Wissenschaften stehen, Im deutschen Wissenschaftssystem sind die und beide sagen: So, wie wir es bislang gemacht haben in Chancen nicht gerecht verteilt. Es wird Zeit, dass Deutschland, reicht es nicht mehr. Das ist bemerkenswert. Dass beiden als Gegenstück zu ihrem Ideal die Mono- sich das ändert. kultur einfällt, ist ebenfalls kein Zufall. Wer aus diverse- von JAN-MARTIN WIARDA ren Wissenschaftssystemen wie dem amerikanischen aufs deutsche schaut mit seinen Professor*innen, von denen nicht einmal zehn Prozent einen ausländischen Pass haben, von denen drei Viertel Männer sind, die mehrheitlich Aka- demikerhaushalten entstammen und kaum einer aus einer D Einwandererfamilie, wer sich dieses System von außen a passiert gerade etwas in der deutschen anschaut, wundert sich, warum das eigentlich so lange so Wissenschaft. „Diversität und Exzellenz, die mittelmäßig gut gegangen ist mit der deutschen Hoch- Begriffe sind für mich untrennbar“, sagte die schullandschaft. Und weiß aber auch: So stark, wie sich neue Präsidentin der Deutschen Forschungs- die Gesellschaften und Wissenschaftssysteme um Deutsch- gemeinschaft (DFG) Katja Becker Anfang 2020. Und sie land herum wandeln, wird das nicht mehr lange reichen. sagte es nicht irgendwie nebenbei, es gehörte zu ihren zen- tralen Botschaften nach ihrem Amtsantritt. In der Natur, VIEL REDEN, WENIG HANDELN sagte Becker, sei das genauso: „Der Regenwald entwickelt Auch lässt es sich des Eindrucks nicht erwehren, dass viele sich dynamischer als die landwirtschaftliche Monokul- zwar von Vielfalt reden und sie beschwören, aber dass sie, tur.“ Je mehr Dimensionen der Diversität in der Wissen- wenn es um Berufungsverfahren geht, um das Aufsetzen schaft zusammenkämen – bei den Wissenschaftler*innen neuer Förderlinien oder Forschungsprojekte, manchmal selbst, aber auch bei Förderformaten, Themen oder inter- gar nicht und fast nie strategisch-systematisch danach nationalen Kooperationen – „desto mehr spannende neue handeln. Vielleicht haben sie nur gelernt, das vermeint- Kombinationen und Forschungsergebnisse wird es geben“. lich Richtige zu sagen, sind in Wirklichkeit aber doch nicht Die DFG ist die größte Förderorganisation der deut- so überzeugt davon, dass mehr Diversität die Wissenschaft schen Forschung. Sie segelt selten ganz vorn, doch wenn es nicht nur moralisch, sondern auch qualitativ zu einer bes- um Standards und wissenschaftliche Verfahren geht, fol- seren macht? gen Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen meist Tatsächlich muss man unter den Professor*innen dieser ihrem Kurs. Womit klar ist: Wenn eine DFG-Präsidentin Republik nicht lange nach Stimmen suchen, die Diversität solche Ansagen macht, sind das mehr als Sonntagsreden. für ein Anhängsel der Sozialpolitik halten: nett gemeint, Das wird Konsequenzen haben. aber im Großen und Ganzen mit negativen Konsequenzen Noch ein Beispiel. Die gerade aus den USA zurückge- für die Forschungsqualität. Exzellenz, sagen sie, entstehe kehrte neue Rektorin der Technischen Universität Dres- allein durch harte, wettbewerbsorientierte Wissenschaft den, Ursula Staudinger, hat ebenfalls sofort, als sie im Amt – nicht durch das Denken in Nachteilsausgleich und Son- war, klargemacht: Diversität und Inklusion in all ihren derförderprogrammen. Facetten gelte es „nicht nur irgendwie zu tolerieren, son- Gern verweisen sie darauf, dass es kaum wissenschaft- dern zu nutzen für die Weiterentwicklung unserer Univer- liche Studien gebe, die den unbedingten Mehrwert von sität“. Die großen Sprünge in der Wissenschaft entstünden Diversität für die Produktivität in der Wissenschaft beleg- 16 HUMBOLDT KOSMOS 112/2021
ten. Dem würde übrigens wohl auch die Dresdner TU- Rektorin Staudinger kaum widersprechen. Es gebe zwar Studien, vor allem in der Unternehmens- und Organisa- tionsforschung, doch die zeigten vor allem, dass Diversi- „ tät kein Selbstläufer sei. „Es reicht nicht, Junge und Alte, Männer und Frauen nebeneinander an einen Tisch zu set- zen, vielleicht noch eine Alibi-Ausländerin dazu, und dann kommen die kreativen Ideen von selbst. Ob in Unterneh- men oder in einer Universität: Dazu braucht es eine Orga- nisationskultur, die wertschätzend ist und Innovationen fördert.“ WARTET NICHT ERST AUF STUDIEN Eine solche Kultur wird es indes sicher nicht geben, wenn ich es gar nicht erst für möglich halte, dass Vielfalt für IN CHINA MÜSSTEN akademische Institutionen mehr sein kann als eine Berei- cherung auf der menschlichen Ebene. Auch scheint mir SICH DIE die Erwartungshaltung, Studien müssten erstmal und vor allem auch für Deutschland beweisen, dass Diversität zu DENKSCHULEN mehr Exzellenz führe, irgendwie schief zu sein: Gibt es denn umgekehrt ernstzunehmende wissenschaftliche Stu- ÖFFNEN.“ dien, denen zufolge weiße Männer unter vergleichbaren Karrierevoraussetzungen und ohne das tradierte gesell- schaftliche Bias zu ihren Gunsten nachweislich die besse- ren Wissenschaftler sind? sie. „Im Talentsystem herrscht an chinesischen Univer- Ja, dass Diversität Wissenschaft besser macht, ist auch sitäten noch die Planwirtschaft.“ In Deutschland könne eine normative Aussage. Doch das gegenwärtige chancen sie als Professorin ihre Mitarbeiter*innen frei rekrutieren. ungerechte Wissenschaftssystem ist ebenfalls hoch nor- „In China dürfen Professor*innen hingegen nicht mehr mativ geprägt. Es verhindert viele Aspirationen und Ent- als eine Doktorandin oder einen Doktoranden pro Jahr faltungsmöglichkeiten, es erschwert neue Ansätze und einstellen“, erklärt Meng, die sich jahrelang als Expertin ungewöhnliche Ideen. im International Advisory Board der Humboldt-Stiftung Vielleicht braucht es gar nicht die Erkenntnis, dass sich engagiert hat. Für mehr Vielfalt müssten in China in erster praktisch alle weltweit führenden Universitäten in Ländern Linie diese in sich abgeschlossenen Denkschulen geöffnet befinden, die Diversität zu einem Kernprinzip der Wissen- werden. Spitzenuniversitäten hätten deshalb damit begon- schaft erhoben haben. Vielleicht reichen ein Stück gesun- nen, die eigenen Absolvent*innen nicht weiter zu beschäf- der Menschenverstand und persönliche Erfahrung, um tigen: Doktorand*innen müssten für die Postdoc-Zeit an zu begreifen: Erkenntnis und Fortschritt entstehen immer eine andere Uni wechseln, selbst Bachelor-Absolvent*innen und überall aus produktiven Gegensätzen und intellektu- müssten ihren Master anderswo absolvieren. eller Spannung. STÄDTER*INNEN HABEN ES AN AFRIKANISCHEN UNIS LEICHTER JAN-MARTIN WIARDA ist Anders gelagert sind die Schwierigkeiten von Universitäten Journalist, Politikwissenschaft- in Afrika bei der akademischen Vielfalt. „Bei uns ist das Foto: Boris Streubel / actionpress ler und Volkswirt. Er war Stadt-Land-Gefälle ein großes Thema“, sagt Romain Glèlè Redakteur der überregionalen Kakai. Der Biometrikprofessor aus dem Benin ist Aus- Wochenzeitung DIE ZEIT, schussmitglied der Humboldt-Stiftung und als Vorsitzen- danach Kommunikationschef der des African German Network of Excellence in Science der Helmholtz-Gemeinschaft. mit der Situation in westafrikanischen Ländern bestens Seit 2015 ist er freier Autor, vertraut. „Wer hier aus Städten kommt, hat einen besse- Journalist und Moderator. ren Zugang zu Bildung und stammt meistens aus einer wohlhabenderen Familie“, sagt er. Die Konsequenz: „Noch vor zehn Jahren waren Studierende aus ländlichen Regi- onen, die noch dazu oft schwer erreichbar sind, nicht › HUMBOLDT KOSMOS 112/2021 17
SCHWERPUNKT „ gut repräsentiert.“ Zuletzt wurde aber politisch versucht, gegenzusteuern: Studienbewerber*innen aus abgehäng- DIE GRÖSSTE ten Regionen bekamen über einige Jahre hinweg einfache- ren Zugang zu Stipendien; außerdem seien Quoten einge- SCHWIERIGKEIT BLEIBT führt worden, die geografische Faktoren berücksichtigen. Eine weitere Entwicklung der vergangenen Jahre: Frauen AUCH IN INDIEN DAS bekommen inzwischen bevorzugten Zugang zu Stipen- dien. „Über solche Anreize wird versucht, die Diversität BEGRENZTE BUDGET.“ an den Hochschulen zu vergrößern“, sagt Kakai. „Aber das geht natürlich immer nur in dem Maße, in dem der Staatshaushalt diese Ausgaben ermöglicht.“ um, der aus der Kaste der Dalits, früher als „Unberühr- VON WESTAFRIKA NACH INDIEN bare“ bezeichnet, stammte. Er hatte sich über eine unge- Die nächste Station auf der Reise ist Mumbai, Indien. rechte Behandlung durch die Universität beklagt. Ihm – der Dort arbeitet Mala Pandurang am BMN College of Home sich als Aktivist selbst für die Rechte der Dalits einsetzte – Science, einer Ausnahmeeinrichtung: Wenn sie lehrt, sit- waren das Stipendium gestrichen und das Wohnheim zen vor ihr nur junge Frauen, und auch die Professuren sind zimmer gekündigt worden. Sein Tod führte zu Protesten weitgehend weiblich besetzt. „Wir sind eine reine Frauen in ganz Indien; Medien weltweit berichteten, der Suizid universität“, sagt die Professorin für englische Literatur. Bei sei kein Einzelfall an indischen Universitäten. Nichtsdes- mehr als 40 Prozent liegt der Anteil der Frauen unter den totrotz: Mala Pandurang hält den eingeschlagenen Weg Studierenden in Indien. Dort drängen neben Genderfragen im Land für hoffnungsvoll. Quotenregelungen und ein andere Probleme in Sachen Diversität: „Es gibt ein großes neues Bildungskonzept zeigten in die richtige Richtung. sozioökonomisches Gefälle“, sagt P andurang, ehrenamt- „Die größte Schwierigkeit allerdings bleibt das begrenzte liche Vertrauenswissenschaftlerin der H umboldt-Stiftung Budget“, sagt sie. Das fehle häufig im Staatshaushalt. „Pri- in Indien. Wohlhabende Eltern können ihre Kinder weit- vate Förderer und Alumnivereinigungen bemühen sich aus öfter an Universitäten schicken als arme Familien; diese aber, zumindest teilweise dafür einzuspringen.“ › Unterschiede werden durch das Kastensystem nochmals verschärft. Zwar darf laut der indischen Verfassung von 1950 niemand aufgrund der Kastenzugehörigkeit diskrimi- niert werden, im Alltag wirkt das System aber häufig fort. 2016 sorgte ein dramatischer Fall für Schlagzeilen: An einer Universität brachte sich ein 26-jähriger Doktorand 18 HUMBOLDT KOSMOS 112/2021
Welche Unterstützungsangebote gibt es in Ihrer Institution, um Diversität unter Studierenden zu fördern? Umfrage unter 159 Hochschulen aus 36 europäischen Wissenschaftssystemen, Angaben in Prozent Beratung/Mentoring 87 Barrierefreiheit 77 Sprachkurse 70 Psychologische Unterstützung 68 Inklusive Lern- und Lehrmethoden sowie -instrumente 63 Teilzeitstudienmöglichkeiten, flexibles Kursangebot 62 Finanzielle Unterstützung 58 Affirmative/Positive Action 39 Kinderbetreuungsmöglichkeiten an der Hochschule 39 Umschulungs-/Überbrückungsangebote 39 Wohnraumvermittlung 32 Sonstige 8 Keine spezifischen Angebote 1 Ich weiß es nicht 0 Welche Dimensionen von Diversität spielen in Ihrer Institution eine Rolle? Umfrage unter 159 Hochschulen aus 36 europäischen Wissenschaftssystemen, Angaben in Prozent 92 Studierende 82 83 76 76 Akademisches Personal 71 65 61 58 55 53 52 48 46 39 39 31 20 ng t ru er/ d ) d* en un / r T+ ch lte ht n d un un g ab nd ru r g ll B le A ic u gr te re LG de gr sr rg r ch fg er i n lt u er au in es ve en te nt sh u nt eh ge G u b in k i si rH hi io r/ B la H lu fle gs e nk e G se r h /P ch un g r sc n (i iö s- is i ild ät M hn t ig m ng a tit B Et el no uu en R i ko re Id oö et le B zi el So xu Quelle: European University Se Association 2019: Diversity, equity and inclusion in European higher education institutions. Results from the INVITED project. * Alternative Bildungswege, lebenslanges Lernen HUMBOLDT KOSMOS 112/2021 19
SCHWERPUNKT „ ist: Das Humboldt-Netzwerk bezieht seine Kraft aus der Diversität und Internationalität seiner Mitglieder. Mehr als 30 000 Forschende weltweit vereint die Stiftung in ihrer bald 70-jährigen Geschichte: aktuell Geförderte und Alumni aller Fachgebiete aus mehr als 140 Ländern. Trotz- OHNE ZAHLEN BLEIBT dem wurde beispielsweise für Deutschlands höchstdotier- ten Forschungspreis, die Humboldt-Professur, zuletzt in ES BEI ABSICHTS mehreren Auswahlrunden in Folge keine Frau ausgewählt. Auch deshalb hat die Stiftung jüngst eine Genderpoten- ERKLÄRUNGEN, WEIL zial- und Bedarfsanalyse in Auftrag gegeben, bei der Daten aus 14 Ländern weltweit ausgewertet werden. Analysiert SICH KEIN FORTSCHRITT werden soll, wie hoch der Anteil von qualifizierten Frauen ist, die möglicherweise für einen Forschungsaufenthalt MESSEN LÄSST.“ in Deutschland gewonnen werden könnten und wie ihre Bedarfe aussehen. Dabei gehe es auch um Faktoren, die womöglich beeinflussen, ob sich Frauen eine Forschungs- station im Ausland vorstellen können, erklärt die Leite- rin der Studie Andrea Löther vom Kompetenzzentrum Wieder zurück nach Deutschland zu Silke Wieprecht, Frauen in Wissenschaft und Forschung am Kölner Leib- der Stuttgarter Wasserbau-Professorin, die viele niz-Institut für Sozialw issenschaften: „Spielen beispiels- Jahre Vorsitzende des Auswahlausschusses für die weise auch die Familiensituation von Bewerberinnen oder Georg F orster-Forschungsstipendien und -preise der das Wissenschaftsgebiet, auf dem sie forschen, eine Rolle?“ Humboldt-Stiftung war. „Die Schwierigkeit bei Auswahl- Ziel sei es, so Löther, mit Abschluss der Studie Ende 2021 prozessen besteht darin, dass man beispielsweise den sozi- klare Handlungsempfehlungen zu geben. alen Hintergrund der Bewerber*innen in den Unterlagen Für Jeffrey Peck aus den USA steht eine Empfehlung einfach nicht sieht“, sagt sie. Sie könne darin über die Uni- schon fest: Um größere Vielfalt in der Wissenschaft zu versitätsausbildung lesen, über Forschungsinteressen und erreichen, müssten endlich mehr Daten erhoben werden – wie Gutachter*innen über die Kandidat*innen urteilen – gerade in Deutschland, wo der Datenschutz das vielfach aber nicht, ob jemand als erste*r aus der eigenen Familie behindere. „Wenn ich Forscher*innen mit Migrationshin- studiert hat oder aus einer sozial benachteiligten Region tergrund oder aus einer ethnischen Minderheit fördern stammt. möchte, muss ich die Zahlen kennen – ansonsten bleibt Bei der Humboldt-Stiftung gibt es traditionell keine es zwangsläufig immer bei Absichtserklärungen, weil sich Quoten. Gefördert werden exzellente Forschende. Klar keinerlei Fortschritt messen lässt.“ 20 HUMBOLDT KOSMOS 112/2021
„WIR KÖNNEN NICHT EINFACH SAGEN, DIE WELT IST HALT SO!“ Exzellenz und Diversität sind kein Gegensatz, meint Hans-Christian Pape. Ein Gespräch über die Kraft der positiven Anreize und die Vielfalt im Humboldt-Netzwerk. PROFESSOR DR. HANS- CHRISTIAN PAPE ist Präsident der Alexander von Humboldt- Stiftung und leitet das Institut für Neurophysiologie der Uni- versität Münster. KOSMOS: Herr Pape, Diversität ist ein zen Diversität und diese Dynamik sind Qualitäts- traler Punkt der Stiftungsstrategie. Weshalb merkmale der Stiftung. Ohne sie wären wir ist Ihnen das Thema wichtig? nicht nur weniger gut, sondern wir würden HANS-CHRISTIAN PAPE: Diversität ist ein unsere Mission verfehlen. zentrales Merkmal unseres wissenschaft lichen Netzwerks. Sie steckt in unserer DNA. Inwiefern? Wir fördern Wissenschaftler*innen aus über Es geht um die Vielfalt der Ideen und Per- 140 Ländern dieser Erde, egal ob aus den USA, spektiven, die Vielfalt der Prägungen und Indien, Kamerun oder Peru. Wir fördern Horizonte. In der Wirtschaft ist die Korrela- Quantenphysiker und Molekularbiologin- tion zwischen Diversität und Geschäftserfolg nen genauso wie Religionswissenschaftlerin- gut belegt. Unternehmen mit einem hohen nen und Soziologen, Praktiker*innen genauso Grad an Diversität quer durch alle hierarchi- wie Theoretiker*innen und Vertreter*innen schen Ebenen sind mit hoher Wahrscheinlich- verschiedener Denkschulen oder Ansätze. Wir keit überdurchschnittlich profitabel. Gleiches investieren in zukunftsträchtige Fächer wie KI dürfte für die Wissenschaft zutreffen, deren und in lebenswichtige Anwendungen zum Bei- Erfolg im Besonderen von der Kreativität und spiel in der Medizin. Mit der gleichen Begeis- Vielfalt ihrer Träger*innen bestimmt wird. Ein terung fördern wir bewusst auch Grundlagen- anderer, mir wichtiger Aspekt hat mit Gerech- forschung. Denn wir sind davon überzeugt, tigkeit zu tun. Und dabei geht es nicht nur um dass jede wissenschaftliche Erkenntnis zur die Anteile von Männern, Frauen und diversen Foto: Humboldt-Stiftung / Mario Wezel Entwicklung der Gesellschaft beiträgt. Nicht Menschen. Hierauf mag in Deutschland aktu- zuletzt profitiert auch die wissenschaftliche ell ein – wichtiger – Fokus liegen. Ich spreche Dynamik vom Spannungsfeld der in ihren aber auch von Alt und Jung. Oder von Men- Diskursen vermittelten Wertekomplexe von schen mit Handicap und von Menschen, die Wahrheit und Nützlichkeit und damit von der soziale Ungleichheiten überwinden müssen. Diversität ihrer Protagonisten*innen. Diese Wenn wir uns in unserem internationalen › HUMBOLDT KOSMOS 112/2021 21
SCHWERPUNKT DIVERSITÄT ist ein zentrales Merkmal des Humboldt- Netzwerks. Netzwerk umhören, dann meint Diversität von Wir können uns als Humboldt-Stiftung nicht Land zu Land ganz verschiedene Dinge. Wir zurücklehnen und sagen, die Welt ist halt so. sollten Diversität als umfassende Vielfalt den- Wir wollen die besten Talente und führenden ken und uns davon leiten lassen. Und hier wol- Köpfe gewinnen. Das geht nicht, wenn wir uns len wir noch besser werden. im immer gleichen engen Segment bewegen. Wir sind eine Organisation, die Innovation Wo sehen Sie Verbesserungsmöglichkeiten? und Perspektivenvielfalt anerkennt, schätzt In unseren Preisprogrammen beispiels- und aktiv fördern möchte. Deshalb überprü- weise sind Frauen unterrepräsentiert. Auch fen wir kontinuierlich unsere Auswahl- und Forscher*innen aus Ländern außerhalb von Förderinstrumente daraufhin, wie wir Diver- Europa und Nordamerika finden sich etwa sität proaktiv noch besser fördern können. bei der Humboldt-Professur, Deutschlands höchstdotiertem Forschungspreis, kaum. Mit Quoten ließe sich der Wandel beschleu Man kann nun natürlich sagen, wir bilden mit nigen. In der Wirtschaft wird das diskutiert. unserem Netzwerk ab, wie die Repräsentanz Doch in der Wissenschaft gibt es Vorbehalte, bestimmter Gruppen in der Forschung bedau- dass dies zulasten der Exzellenz ginge … erlicherweise generell ist. Wir alle kennen die Ja, ich weiß. Und niemand, den ich kenne, „gläserne Decke“, die für viele Frauen das Ende möchte gerne für ein Stipendium oder ihrer wissenschaftlichen Aufstiegsmöglichkei- einen Preis ausgewählt werden wegen seines ten bedeutet. Wir sind auch besorgt, wenn wir Geschlechts, seiner Nationalität oder Haut- von Umfragen lesen, wonach 30 Prozent von farbe – sondern aufgrund der eigenen her 1 000 befragten im Vereinigten Königreich vorragenden Leistung! Quoten erscheinen forschenden Naturwissenschaftler*innen, die attraktiv und gehören zum möglichen Instru Foto: Humboldt-Stiftung / David Ausserhofer Minderheiten in sexueller Orientierung oder mentarium, weil sie schnell Wirkung zeigen. Identität angehören, schon Diskriminierung Aber ich sehe sie als eine Art letztes Mittel, an ihrem Arbeitsplatz erlebt haben. Diversität wenn andere Ansätze nicht wirken. in der Wissenschaft bedeutet die Wertschät- zung und Einbindung aller Gruppen – ganz Welche wären das? unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, Beispielsweise überlegen wir uns, wie wir sexuellen Orientierung oder sozialen Herkunft. Personen erreichen, die Humboldt-Qualität 22 HUMBOLDT KOSMOS 112/2021
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