Laut&leise - Verletzlichkeit Sucht beginnt im Alltag. Prävention auch - Suchtprävention Kanton Zürich

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Laut&leise - Verletzlichkeit Sucht beginnt im Alltag. Prävention auch - Suchtprävention Kanton Zürich
laut&leise
Magazin der Stellen für Suchtprävention im Kanton Zürich
Nr. 2, Juni 2021, erscheint dreimal jährlich

Verletzlichkeit

Sucht beginnt im Alltag.
Prävention auch.
Laut&leise - Verletzlichkeit Sucht beginnt im Alltag. Prävention auch - Suchtprävention Kanton Zürich
Verletzungen
Sichtbare und unsichtbare Verletzungen haben mich geprägt und mitgeformt. Mich der Verletzlichkeit anderer und meiner selbst
bewusst zu sein, eröffnet mir in meiner Arbeit als Fotografin vieles. Ich fotografiere immer auch mit einem Blick ins eigene
Innere. In dieser Auseinandersetzung sind die Bilder dieser Serie entstanden. Sie zeigen die Umwelt in meinem Alltag, gefiltert
durch das Wissen um die allgegenwärtige Verletzlichkeit. (www.anjafonseka.ch)
Laut&leise - Verletzlichkeit Sucht beginnt im Alltag. Prävention auch - Suchtprävention Kanton Zürich
Editorial

                                          Liebe Leserinnen und Leser
                                                               Die Rückmeldung eines Jugendli-                            tion ist das Angebot Femmes-Tische, das im Interview ab
                                                               chen «Vor allem die möglichen Aus-                         Seite 8 thematisiert wird.
                                                               wirkungen vom Kiffen auf die Psyche                           Unsere Präventionsangebote werden aufgrund von
                                                               sind schon krass. Das hat mich wirk-                       wissenschaftlich begründeten und fundierten Prozessen
                                                               lich zum Nachdenken gebracht», zeigt                       zusammengestellt. Unterschiedliche Lebenssituationen,
                                                               die Wirkung des besuchten Canna-                           wie eine erhöhte Gefährdung für einen risikoreichen Kon-
                                                               bis-Kurses auf. Die Cannabis-Kurse
                                                               werden von der Suchtprävention im                          Die Unterscheidung der Angebote nach
                                                               Auftrag der Jugendanwaltschaften
                                                                                                                          universeller, selektiver und indizierter
                                          im Kanton Zürich durchgeführt. Sie sind eine unterstüt-
                                          zende Präventionsmassnahme und keine Strafe für Can-                            Prävention erlaubt differenzierte Antworten
                                          nabis konsumierende Jugendliche im Alter von 12 bis 18                          auf unterschiedliche Lebenssituationen.
                                          Jahren. Dieses Angebot wird der indizierten Prävention
                                          zugeordnet. Indizierte Prävention richtet sich also, auch                       sum, ein schon problematisches Konsumverhalten oder
                                          im Sinne einer Frühintervention, an Personen mit ersten                         eine Abhängigkeit, verlangen unterschiedliche Antwor-
                                          Symptomen oder einem manifesten Risikoverhalten.                                ten. Dies berücksichtigt unser Angebotskatalog mit der
                                             Selektive Prävention setzt im Gegensatz zur universel-                       Unterscheidung zwischen universellen, selektiven und
                                          len Prävention, die sich an die Gesamtbevölkerung oder                          indizierten Präventionsmassnahmen, was gleichzeitig
                                          einzelne Segmente davon richtet, gezielt bei Risikogrup-                        eine inhaltliche Präzisierung der Angebote ermöglicht.
                                          pen an. Diese können aufgrund von empirisch bestätigten                         Die Menschen stehen dabei immer im Mittelpunkt und
                                          Risikofaktoren klar bestimmt und die Präventionsmass-                           können ein auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenes Präven-
                                          nahmen auf sie fokussiert werden. So kann, auch im Sinne                        tionsangebot erwarten.
                                          einer Früherkennung, die Entwicklung von problemati-                            n
                                          schen Verhaltensweisen und (Sucht-)Erkrankungen ver-
                                                                                                                          Fridolin Heer, Leiter der Suchtpräventionsstelle Zürcher Oberland
                                          mieden werden. Ein gutes Beispiel für selektive Präven-

                                              Impressum                                                                            Inhalt
                                              Herausgeber: Die Stellen für Suchtprävention im Kanton Zürich.
                                                                                                                               4   Meldungen
                                              Zuschriften: info@suchtpraevention-zh.ch. Redaktions- und Produktions-
                                              leitung: Brigitte Müller, muellertext.ch. Redaktionsteam: Gabriela Hofer,        7   Heftchen verschlingen
                                              Nina Kalman, Ronja Schmid, Domenic Schnoz (Vorsitz), Esther Vogler.                  Essay
                                              Redaktion Meldungen aus der Suchtprävention: Annett Niklaus, Maja                8   Nahe bei den Menschen
                                              Sidler. Mitarbeiter/innen dieser Nummer: Jana Avanzini, Raquel Paz                   Interview mit Anna Feistle über Femmes-Tische
                                              Castro, Sabine Dobler, Anna Feistle, Markus Tschannen. Fotos: Anja
                                              Fonseka. Gestaltung: Fabian Brunner. Druck: FO-Fotorotar.                       11   Vulnerable Gruppen im Fokus der Suchtprävention
Suchtprävention laut & leise, Juni 2021

                                              Abonnement, Adressänderung: www.suchtpraevention-zh.ch >                             Selektive und indizierte Prävention
                                              Über uns > Magazin laut & leise                                                 13 Alternativen zur Giesskanne
                                              Die Beiträge und die Fotos in diesem «laut & leise» geben die Meinung              Selektive Prävention in der Praxis
                                              der Autorinnen und Autoren wieder. Diese muss nicht mit der Meinung
                                                                                                                              16 Chance statt Strafe
                                              des Herausgebers, der Stellen für Suchtprävention im Kanton Zürich,
                                                                                                                                 Cannabis-Kurs
                                              übereinstimmen.
                                              Artikel, Fotos, Illustrationen sind urheberrechtlich geschützt und
                                                                                                                              17   Der Coach auf meinem Smartphone
                                              dürfen ohne Genehmigung der Redaktion nicht verwendet werden. Falls                  MobileCoach Alkohol
                                              Sie Interesse an einem Artikel haben: Anfrage bitte an Annett Niklaus           19   Die Gruppe als Ressource
                                              (annett.niklaus@uzh.ch).                                                             Kurs in Lebenskomptenzen

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Meldungen

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                                                                                             Interaktiver
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                                                                                             Alkoholisiert Velo zu fahren, kann ge-
                                                                                             fährlich sein. Alkohol verlängert die Re-
                                                                                             aktionszeit, beeinträchtigt den Gleichge-
                                                                                             wichtssinn sowie das Sehvermögen und
                                                                                             verschlechtert die Körperkoordination.
                                                                                             Der neu entwickelte Velo-Fahrsimulator
                                                                                             der kantonalen Fachstelle «Am Steuer
                                                                                             Nie» lässt mit einem fixierten Velo und
                                                                                             einer Virtual-Reality-Brille diese und
                                                                                             andere brenzlige Verkehrssituationen er-
                                                                                             leben. Eine Fahrt regt zum Hinterfragen
                                                                                             des eigenen Verhaltens an und vermit-
                                                                                             telt auf interaktive Weise Tipps für eine
                                                                                             sichere Fahrt. Gleichzeitig werden die
                                                                                             Velofahrenden an ihre Eigenverantwor-
Tabakprävention: Testkäufe                                                                   tung im Verkehr erinnert und erleben,
                                                                                             wie Unaufmerksamkeit und Substanz-
Massiv mehr Verkauf an Jugendliche                                                           konsum das Fahren beeinflussen.
                                                                                                Der Velo-Fahrsimulator wird im
Der verbotene Verkauf von Tabakpro-         personal, beim Tabakverkauf immer                Rahmen des Safety-Parcours an der
dukten an unter 16-jährige Jugendliche      einen Ausweis zu verlangen und das               Cycle Week in Zürich vom 4. bis 8. August
hat in diesem Jahr massiv zugenom-          Alter zu überprüfen. Den Ausweis zu              2021 erstmals der breiten Öffentlichkeit
men. Dies zeigen Testkäufe, die von         verlangen, ist in der Schweiz noch keine         präsentiert. Vorbeischauen und in die
Januar bis April 2021 im Kanton Zürich      Selbstverständlichkeit. Nicht selten             Pedale treten lohnt sich! Ebenfalls steht
durchgeführt wurden. In 57 Prozent der      kommt es vor, dass Kundinnen und                 dieses einzigartige Präventionsmittel ab
Testkäufe wurden Tabakprodukte an           Kunden unhöflich auf die Frage nach               August 2021 für die Gefahrensensibili-
unter 16-Jährige verkauft. Das ist deut-    dem Ausweis reagieren. Ihn dennoch               sierung an Schulen, in Betrieben oder
lich mehr als in den Vorjahren: 2019        konsequent zu verlangen, braucht Mut             bei Veranstaltungen zur Verfügung. –
wurden 15 Prozent und 2020 17 Prozent       und argumentatives Geschick vom Ver-             Aha-Erlebnis garantiert! (Am Steuer Nie)
illegale Verkäufe festgestellt. Die Test-   kaufspersonal. Die Stellen für Sucht-            Infos: amsteuernie.ch > Fahrsimulatoren >
käufe werden durch das Blaue Kreuz          prävention führen dazu Beratungen und            Velo-Fahrsimulator / cycleweek.ch
Zürich im Auftrag des kantonalen            Schulungen für Verkaufsstellen durch
Tabakpräventionsprogramms durch-            und halten Informationsmaterial bereit
geführt. Sie sind im Gesundheitsgesetz      (s. u.). Auf jalk.ch ist eine Online-Schu-
des Kantons Zürich geregelt.                lung zum Jugendschutz zu finden.
    Als einen möglichen Grund für               Wer sich mit dem durch die Pan-
den besorgniserregenden Anstieg der         demie ohnehin belasteten Personal
illegalen Verkäufe vermuten wir die         solidarisch zeigen will, der zeigt den
                                                                                                                                             Suchtprävention laut & leise, Juni 2021

Maskentragpflicht. Diese erschwert die       Ausweis beim Kauf von Tabakprodukten
Einschätzung des Alters von blossem         freiwillig. Die diesjährige Testkauf-
Auge. Trifft diese Vermutung zu, sollten    misere zeigt: Erst wenn die Ausweis-
sich die Ergebnisse der Testkäufe nach      kontrolle zur Selbstverständlichkeit
dem Wegfallen der Maskentragpflicht          wird, kann der Jugendschutz vollständig
wieder deutlich verbessern.                 umgesetzt werden. (ZFPS/PG ZH)
    Damit der Jugendschutz gewähr-          Online-Schulung: jalk-zh.ch
leistet werden kann und sich die            Beratungen: Regionale Suchtpräventionsstellen,
Verkaufsstellen vor Bussen schützen         siehe Rückseite
                                            Jugendschutzmaterial: suchtpraevention-zh.ch
können, empfehlen wir dem Verkaufs-

                                                                                                                                         4
Laut&leise - Verletzlichkeit Sucht beginnt im Alltag. Prävention auch - Suchtprävention Kanton Zürich
Zürcher Forum P&G                                                           Gesunde und nachhaltige Schule
                                          Spielen und Prävention von Spielsucht                                       Weiterbildung zur Kontaktperson
                                                                    Poker, Roulette, Sportwetten                                                             Sie wollen sich an Ihrer
                                                                    und Spielautomaten faszinie-                                                             Schule für Gesundheit
                                                                    ren sowohl offline als auch                                                              und/oder Nachhaltigkeit
                                                                    digital. Wie kann dabei ein                                                              engagieren? Bilden sie
                                                                    wirksamer Schutz der Spie-                                                               sich zur Kontaktperson
                                                                    lenden gewährleistet werden?                                                             weiter und unterstützen
                                                                    Wie können Präventions- und                                                              Sie Schulleitung und
                                                                    Behandlungsangebote die                                                                  Kollegium bei der wirk-
                                                                    Anbieter unterstützen und                                                                samen Umsetzung dieser
                                                                    auf dieser Seite Präventions-                                                            Themenbereiche. Die
                                                                    bemühungen initiieren oder                                                               Weiterbildung «Unterwegs
                                                                    verstärken? Und welche                            zur gesunden und nachhaltigen Schule» startet am 10. September
                                          Angebote gibt es für Betroffene und Angehörige? Ge-                         2021 an der PH Zürich und macht Sie fit für die Rolle der Kontakt-
                                          meinsam mit dem Zentrum für Spielsucht und andere                           person. Der Kurstag «Grundlagen zu Bildung für Nachhaltige
                                          Verhaltenssüchte, das sein 10-jähriges Wirken feiert,                       Entwicklung» steht auch bisherigen Kontaktpersonen sowie inte-
                                          beleuchtet das Zürcher Forum P&G diese Fragen. Es                           ressierten Steuergruppenmitgliedern von Netzwerkschulen offen.
                                          findet am 29. November statt. (PG ZH)                                        Anmeldeschluss ist der 23. August 2021. (PH ZH)
                                          Infos ab Herbst: gesundheitsfoerderung-zh.ch/forum                          Web: phzh.ch/weiterbildungssuche, im Suchfeld Kurstitel eingeben

                                          Neue Broschüre                                       Tagung                                                     Jugendschutz
                                          Pensionierung                                        Selbstoptimierung in der Schule                            Neu auch Tabak auf jalk.ch
                                          und Gesundheit                                                                     «Fitter, schö-               Jalk.ch, das Online-Schulungstool
                                                                  Die Pensio-                                                ner, erfolg-                 zum Jugendschutz beim Verkauf
                                                                  nierung ist                                                reicher» – vor               von Alkohol, ist ein Erfolg! Seit der
                                                                  ein grosser                                                lauter Selbst-               Aufschaltung im März 2016 haben
                                                                  Umbruch                                                    optimierung                  bereits über 16 000 User die Schu-
                                                                  und für viele                                              werden Grund-                lung absolviert und einen Nachweis
                                                                  auch mit                                                   bedürfnisse                  erlangt. In den vergangenen Monaten
                                                                  Stress und                                                 wie Schlaf,                  wurde das Angebot ergänzt. Neu
                                                                  Unsicherheit                                               Ernährung                    gibt es in den Kapiteln «Wissen» und
                                                                  verbunden.                                                 oder Bewegung                «Recht» auch Informationen zu Ta-
                                                                  Die neue                                                   zur Neben-                   bakprodukten. Die im Kapitel «Pra-
                                                                  Freiheit                                                   sache. Ist die               xis» verfügbaren Fotostorys mit All-
                                          birgt viele Chancen, aber auch die                                                 Schule mitver-               tagssituationen rund um den Verkauf
                                          Gefahr von Leere und Langeweile.                     antwortlich für den Trend? Wie kann                        von alkoholischen Getränken stehen
                                          Was können Sie tun, um diesen                        sie diesem entgegenwirken? Die Tagung                      auch für den Verkauf von Tabak.
                                                                                               «Selbstoptimierung in der Schule» widmet                      Auf der Startseite von jalk-zh.ch
Suchtprävention laut & leise, Juni 2021

                                          Umbruch gut zu bewältigen und
                                          gesund zu bleiben? Die Broschüre                     sich am 2. November diesen Fragen. Sie                     können Interessierte seit April
                                          vermittelt Tipps für eine gute                       bietet Einblicke in wissenschaftliche Er-                  zwischen den beiden Online-Schu-
                                          Vorbereitung und Gestaltung des                      kenntnisse, gibt Hinweise auf Unterrichts-                 lungen «Ich verkaufe Alkohol» oder
                                          neuen Lebensabschnitts und ent-                      materialien und liefert Umsetzungsideen.                   «Ich verkaufe Alkohol und Tabak»
                                          hält Informationen zu einem risiko-                  Anmeldemöglichkeiten und Programm sind                     auswählen. Auch der Schulungs-
                                          armen Umgang mit Alkohol und                         ab September auf der Website der Suchtprä-                 nachweis lautet entsprechend der
                                          Medikamenten. (ZFPS)                                 ventionsstelle des Mittelschul- und Be-                    Auswahl entweder auf «Alkohol»
                                                                                               rufsbildungsamts aufgeschaltet. (MBA)                      oder «Alkohol und Tabak». (ZFPS)
                                          Bestellung und Download:
                                          suchtpraevention-zh.ch/infomaterial                  Web: suchtpraevention-zh.ch/MBA                            Web: jalk-zh.ch

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Laut&leise - Verletzlichkeit Sucht beginnt im Alltag. Prävention auch - Suchtprävention Kanton Zürich
Laut&leise - Verletzlichkeit Sucht beginnt im Alltag. Prävention auch - Suchtprävention Kanton Zürich
Essay

                                          Heftchen verschlingen

                                          D
                                                  ass ich in diesem Heft regelmäs-        schwierige Zeiten im Angebot. Aber im-        nur: «Es ist gescheiter, Zeitungen zu es-
                                                  sig das Essay schreiben darf, ist       mer war ein stabilisierender Rahmen da        sen, als sie zu lesen.» Vermutlich schwä-
                                                  nicht ganz selbstverständlich.          und nie kam so viel Unglück zusammen,         chelte der Qualitätsjournalismus bereits
                                          Weder habe ich fachlich viel Ahnung von         dass es nicht mehr ertragbar war. Das         damals, in den 90ern.
                                          Sucht, noch bin ich aktuell von einer Sucht     kann sich jederzeit ändern. Nicht nur für        Zeitungspapier schmeckte mir aber
                                          betroffen. Zum Glück ist es nicht meine         mich, sondern auch bei meiner Frau oder       ohnehin nicht, genauso wenig wie druck-
                                          Aufgabe, hier als Experte Auskunft zu ge-       den Kindern.                                  frische Bücher. Erst mit zwei, drei Jahr-
                                          ben. Das macht die Lektüre aushaltbar –            Dass ich stets ohne Sucht war, stimmt      zehnten entwickelten sie eine würzige
                                          hoffe ich.                                      übrigens nicht ganz. In meiner Jugend         Note. Ich erinnere mich an einen guten
                                             Es ist hingegen meine Aufgabe, mich          kämpfte ich mit einer seltsamen Abhän-        «Konsalik» aus den frühen 70ern. Auch
                                          über Suchtthemen zu informieren. Nicht          gigkeit: Ich kaute Papier. Jetzt könnte man   lustige Taschenbücher schmecken ganz
                                          in der Rolle als Essayschreiber, sondern        sagen: «Haha, ein Kind nimmt Papier in        witzig. Meist neigte ich zum Papier bun-
                                          in der Rolle als Vater. Eltern sollten sich     den Mund. Das ist doch keine Sucht.»          ter Magazine. Meine Favoriten waren
                                          nämlich frühzeitig mit allerlei Themen
                                          auseinandersetzen, die ihre Kinder ein-         Eltern sollten sich frühzeitig mit allerlei Themen auseinander-
                                          mal betreffen könnten. Einfach um Be-           setzen, die ihre Kinder einmal betreffen könnten. Einfach
                                          scheid zu wissen, bevor die Aktualität
                                          völlig unvorbereitet über die Familie her-      um Bescheid zu wissen, bevor die Aktualität völlig unvorbereitet
                                          einbricht. Das gilt für Sucht, aber natür-      über die Familie hereinbricht.
                                          lich nicht nur: auch für Liebe, Sexualität
                                          und Töffli frisieren.                           Doch ganz so harmlos war das nicht. Ich       die uralten «Schweizer Illustrierten», die
                                             Dass ich nicht unter einer Sucht leide,      habe komplette Heftseiten gegessen, von       meine Eltern wohl nicht aufbewahrten,
                                          hat viele Gründe. Die persönlichen Vor-         morgens bis abends, über Jahre hinweg.        damit ich sie irgendwann verschlingen
                                          lieben spielen eine Rolle: Gamen finde ich       Ich war Kettenpapieresser. Dabei wusste       würde.
                                          so langweilig, dass mich weder die Play-        ich, dass das ungesund ist und ich drin-         Sucht ist komplex. Ich weiss weder,
                                          station noch der Blackjack-Tisch längere        gend damit aufhören sollte. Ich nahm es       weshalb ich anfing, Papier zu essen, noch
                                          Zeit fesseln. Zuletzt installierte ich vor      mir auch immer wieder vor. Schwor mir,        wie ich nach Jahren wieder davon los-
                                          ein paar Wochen auf Drängen meines sie-         Papier nur noch lesend und schreibend zu      kam. Bis zu diesem Essay habe ich übri-
Suchtprävention laut & leise, Juni 2021

                                          benjährigen Kindes das bekannte Smart-          würdigen. Aber ich schaffte es nicht. Kei-    gens nie jemandem davon erzählt. Vielen
                                          phone-Spiel Pokémon Go. Nach etwa 200           nen Tag hielt ich ohne Zellulose zwischen     Dank fürs Zuhören.
                                          gefangenen Viechern hatte ich es gesehen.       den Zähnen aus. Ich litt darunter, einem
                                             Bewusstseinsverändernde Substan-             unerwünschten Verlangen psychisch der-        n
                                          zen mag ich nicht, weil mein Bewusstsein        art ausgesetzt zu sein. Versuchte alles zu
                                          sich unter Veränderung grausam peinlich         verheimlichen, doch die fehlenden Seiten      Markus Tschannen ist Papablogger, Kolumnist und
                                                                                                                                        Vater von Beebers (1) und dem Brecht (7). Er twittert
                                          benimmt. Aber es sagt sich leicht: «Mein        der TV-Programmzeitschrift fielen auf.
                                                                                                                                        unter dem Namen @souslik.
                                          Suchtrisiko ist niedrig.» Das gilt vielleicht      Meine besorgten Eltern schleppten
                                          für meine aktuelle, privilegierte Situation.    mich zu einem Psychiater, der nicht helfen
                                          Klar, mein bisheriges Leben hatte auch          konnte. Der Kinderarzt wiederum meinte

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Laut&leise - Verletzlichkeit Sucht beginnt im Alltag. Prävention auch - Suchtprävention Kanton Zürich
Anna Feistle, Standortleiterin Femmes-Tische, Suchtprävention Bezirk Meilen

Nahe bei den Menschen

Fördern, Brücken bauen und Wissen vermitteln sind Ziele von Femmes-Tische. Besonders wichtig ist, dass Migrantinnen
sich kennen lernen, austauschen und vernetzen. Wie setzt Femmes-Tische diese Ziele um? Anna Feistle erzählt.
Von Brigitte Müller

laut & leise: Können Sie uns kurz erklä-    l & l: Welche Aufgaben übernehmen Sie        stärken. Wichtig ist, wie bereits erwähnt,
ren, was Femmes-Tische und Männer-Ti-       als Standortleiterin im Bezirk Meilen?       das Suchen, Ausbilden und Begleiten von
sche sind?                                  Feistle:Eine meinerwichtigstenAufgaben       Moderatorinnen. Je nach Thema über-
Anna Feistle: Es ist ein niederschwelli-    ist, Frauen aus verschiedenen Kulturkrei-    nehme ich die Schulung oder organisiere
ges Programm, das die Prävention und        sen zu finden, die sich als Moderatorin-      eine Fachperson, die fundiert Auskunft
Gesundheit bei Migrantinnen und Mi-         nen eignen. Ich bilde die Moderatorinnen     geben kann. Eine weitere Aufgabe ist, den
granten fördert. In über 20 Sprachen        aus, bin ihre konstante Ansprechpartne-      konstanten Kontakt mit Femmes-Tische
werden schweizweit Gesprächsrunden          rin und unterstütze sie mit wiederkeh-       Schweiz zu gewährleisten. Zu erwähnen
organisiert, an denen die Teilnehmenden     renden Schulungen. Meine Beziehung           ist zudem, dass Fachleute der Stellen für
                                                                                         Suchtprävention im Kanton Zürich auch
Meine Beziehung zu den Moderatorinnen ist ein Schlüssel,                                 Autor/innen von Moderationssets sind.
dass die Ziele von Femmes-Tische erreicht werden.
                                                                                         l & l: Warum braucht es ein Angebot spe-
Deshalb stehe ich stets im engen Kontakt mit ihnen, um                                   ziell für Migrantinnen?
zeitnah Fragen zu beantworten und Probleme zu klären.                                    Feistle: Der Zugang zu Migrantinnen
                                                                                         ist für Fachleute – beispielsweise aus
Fragen rund um Familie, Gesundheit und      zu den Moderatorinnen ist ein Schlüssel,     der Suchtprävention oder der Elternbil-
Integration diskutieren. Geleitet werden    dass die Ziele von Femmes-Tische erreicht    dung – teilweise schwierig. Dies, weil die
diese Runden von ausgebildeten Modera-      werden. Deshalb stehe ich stets im engen     gegenseitigen Sprachkenntnisse oft nicht
torinnen aus dem jeweiligen Kulturkreis.    Kontakt mit ihnen, um zeitnah Fragen zu      genügend sind, um komplexere Inhalte
Dieses Jahr kann Femmes-Tische sein         beantworten und Probleme zu klären.          besprechen zu können, und Migrantin-
25-Jahr-Jubiläum feiern, denn im Juni                                                    nen die Angebote, die sie in ihren Anliegen
1996 wurde die erste Diskussionsrunde       l & l: Welches sind die generellen Aufga-    unterstützen könnten, oft nicht kennen.
zum Thema Suchtproblematik durchge-         ben der Stellen für Suchtprävention für      Viele trauen sich nicht, Unterstützung
führt. Femmes-Tische erhielt in den letz-   dieses Programm?                             und Hilfe zu holen. Dank unserer Modera-
ten Jahren verschiedene Preise und ist      Feistle: Ein grosser Vorteil ist, dass wir   torinnen entsteht ein sehr niederschwelli-
mehrfach evaluiert worden. Im Kanton        schon seit Jahrzehnten mit den Gemein-       ger Zugang zu einer vulnerablen Gruppe,
Zürich wird das lizenzierte Programm in     den, Schulen, Kirchen und weiteren Ins-      die oft am Rande der Gesellschaft steht.
allen Regionen angeboten.                   titutionen vernetzt sind. Femmes-Tische      Die Gespräche werden in der Herkunfts-
                                            werden oft im privaten Rahmen durch-         sprache geführt und die Moderatorin
                                                                                                                                       Suchtprävention laut & leise, Juni 2021

l & l: Wie steht es um die Männer-Tische?   geführt, aber auch in öffentlichen Räum-     tauscht sich auf Augenhöhe mit den Mi-
Feistle: Männer-Tische sind noch nicht      lichkeiten ausgeschrieben. Mit unserem       grantinnen aus. So entsteht ein herzens-
so weit verbreitet wie die Femmes-Tische.   Netzwerk können wir solche Räumlich-         naherAustausch. In der Fachsprache wird
Wir sind daran, diesesAngebot stetig auch   keiten organisieren. So kann es sein, dass   diese Ausgangssituation als Peer-to-Peer-
für Migranten zu vergrössern. An diesen     eine Schule uns bittet, zum Thema «Wie       Ansatz bezeichnet.
Männergesprächsrunden werden ähnli-         funktionieren Schweizer Schulen?» einen
che Themen wie bei den Frauen bespro-       Femmes-Tisch bei ihnen durchzuführen.        l & l: Was möchte Femmes-Tische den Mi-
chen. Es werden aber auch zunehmend         Oder wir können ein Eltern-Kind-Zen-         grantinnen mit auf den Weg geben?
spezifische Männerthemen wie beispiels-      trum nutzen und gleichzeitig den Aus-        Feistle:Femmes-TischebietetdenMigran-
weise «Mann und Vater sein» diskutiert.     tausch mit den regionalen Institutionen      tinnen eine Plattform, sich untereinander

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Laut&leise - Verletzlichkeit Sucht beginnt im Alltag. Prävention auch - Suchtprävention Kanton Zürich
An einem Femmes-Tisch lernen sich Frauen in ähnlichen
                                          Lebenssituationen kennen und diskutieren in einem geschützten
                                          Rahmen über ihre Probleme und Sorgen. Sie erhalten Tipps und
                                          Informationen darüber, wie sie sich privat organisieren können,
                                          und über die unterschiedlichen Dienstleistungen, die bestimmte
                                          Fachstellen in der Gemeinde oder im Quartier anbieten.

                                          auszutauschen und sich zu vernetzen. Oft      Es war ein grosser Aufwand, den Kontakt       lungen nicht in ihrer Sprache übersetzt
                                          leben Migrantinnen sehr isoliert. An ei-      digital überhaupt aufzubauen, denn nicht      waren, andererseits brauchte es auch
                                          nem Femmes-Tisch lernen sich Frauen in        jede Moderatorin war Smartphone- und          eine kulturelle Übersetzung, weil sie eine
                                          ähnlichen Lebenssituationen kennen und        Computer-affin. Unter anderem mussten         andere Haltung vom Staat erwarten. Viele
                                          diskutieren in einem geschützten Rahmen       sie das Problem lösen, wie und über wel-      von ihnen sind es gewohnt, strikte Regeln
                                          über ihre Probleme und Sorgen. Sie er-        chen Kanal sie sich als Gruppe austau-        zu befolgen. Die Schweizer Mentalität von
                                          halten Tipps und Informationen darüber,       schen können.                                 Eigenverantwortung und Empfehlungen
                                          wie sie sich privat organisieren können,                                                    entspricht eher nicht ihren Gepflogenhei-
                                          und über die unterschiedlichen Dienst-        l & l: Was ist für die Migrantinnen heraus-   ten. Deshalb war es wichtig, zu erklären,
                                          leistungen, die bestimmte Fachstellen in      fordernd während der Pandemie?                wie sich sie und ihre Familie verhalten
                                          der Gemeinde oder im Quartier anbieten.       Feistle: Die Pandemie verschärfte ihre        sollen. Zudem erhielten sie teilweise aus
                                          Das Ziel ist, die Migrantinnen zu fördern,    schwierige Lage nochmals und viele Mi-        ihren Heimatländern widersprüchliche
                                          zu unterstützen und zu stärken und ihnen      grantinnen erleben prekäre Situatio-          Nachrichten, auch Fake News. Zurzeit ist
                                          Wissen, Sicherheit, Vertrauen und viel-       nen. Sie wohnen mit vielen Personen auf       das Thema Impfen relevant. Dank dem
                                          leicht sogar Freundschaften zu vermitteln.    engstem Raum, sie haben Angst um den          aufgebauten Vertrauen nehmen die Frau-
                                                                                        Job, Beziehungsprobleme haben sich ver-       en die Informationen der Moderatorin-
                                          l & l: Wie läuft eine Femmes-Tische-Ge-       schärft und finanziell reicht das Geld nicht   nen als verlässlich und sicher wahr.
                                          sprächsrunde ab?                              mehr. Zudem machen sich viele Sorgen
                                          Feistle: Zirka fünf bis acht Frauen treffen   um ihre Familien in ihren Heimatlän-          l & l: Neben der Beziehungspflege, was ist
                                          sich zu dieser organisierten Gesprächs-       dern, denen es oft noch schlechter geht.      für die Migrantinnen wichtig beim Aus-
                                          runde und unterhalten sich beispielswei-      Das «Home-Schooling» bereitete anfangs        tausch mit ihrer Moderatorin?
                                          se über das Thema «Gesund sein – gesund       grosse Schwierigkeiten, alle sollten am       Feistle: Die Moderatorinnen und die Mi-
                                          bleiben» während ungefähr zwei Stunden.       Computer arbeiten, aber oft waren weder       grantinnen erleben sich selber als kompe-
                                          Zu Beginn bringt die Moderatorin mit Hil-     ein Computer noch Computerkenntnisse          tent. Sie können sich gegenseitig bestär-
                                          fe von Bildern verschiedene Aspekte zum       vorhanden. Die Informationen von der          ken und Mut machen. Mit denvermittelten
                                          gewählten Thema ein. Nach dieser Ein-         Schule waren nur in Deutsch und oft zu        Informationen und demWissen trauen sie
                                          führung ins Thema wird die meiste Zeit        komplex, um von den Eltern verstanden         sich, für sich und ihre Familie Lösungen
                                          fürs Diskutieren verwendet. Im Gespräch       zu werden.                                    zu finden und beispielsweise bei einer
                                          werden auch konkrete Tipps und Adres-                                                       Fachstelle Hilfe zu holen. Ganz wichtig
                                          sen, wo man sich Hilfe holen kann, vermit-    l & l: Wie kann Femmes-Tische während         ist auch, dass sie Vertrauen aufbauen
                                          telt. Zum Abschluss wird es gesellig und      der Pandemie helfen?                          können, einerseits zur Moderatorin, aber
                                          die Frauen tauschen sich bei Getränken        Feistle: Allein die Erkenntnis, dass sich     auch gegenüber sich selber. Und nicht zu
                                          und Essen über Alltägliches aus.              die anderen Frauen in derselben Situa-        vergessen, dass sich die Migrantinnen
                                                                                        tion befinden, kann helfen. Die Gesprä-        wohlzufühlen beginnen in ihrer Nachbar-
                                          l & l: Was hat sich wegen der Pandemie für    che mit den Moderatorinnen waren              schaft. Dies ist einer dervielen Schritte für
Suchtprävention laut & leise, Juni 2021

                                          Femmes-Tische geändert?                       und sind für viele Migrantinnen wie ein       eine gute Integration.
                                          Feistle: So ziemlich alles! Selbstverständ-   Anker in ihrem sorgenvollen Alltag. Des-
                                          lich konnten auch die Femmes-Tische           halb war es bedeutend, dass sich unsere       l & l: Welche Themen werden in «norma-
                                          nicht mehr stattfinden. Man kann sagen,        Moderatorinnen baldmöglichst bei ihren        len» Zeiten diskutiert?
                                          die Corona-Massnahmen raubten unse-           Femmes-Tische-Frauen meldeten, um             Feistle: Innerhalb der Hauptthemen Ge-
                                          rer Methode das Herz. Es war aber wich-       sich regelmässig mit ihnen auszutau-          sundheit, Familie, Integration ist die The-
                                          tig, dass ich mit den Moderatorinnen und      schen. Zu Beginn der Pandemie war es für      menpalette sehr breit. Ich nenne einige
                                          diese mit ihrer Gruppe konstant in Kon-       Migrantinnen schwierig, die Regeln des        Beispiele: Jugend und Alkohol, Budget-
                                          takt blieb, um zu erfahren, wie es allen      Bundesamts für Gesundheit zu verstehen.       kompetenz, Liebe, Ehe, Partnerschaft,
                                          geht und wie sie die Situation meisterten.    Einerseits, weil die Regeln und Empfeh-       mehrsprachig aufwachsen und so weiter.

                                          9
Laut&leise - Verletzlichkeit Sucht beginnt im Alltag. Prävention auch - Suchtprävention Kanton Zürich
Viele Themen beschäftigen sich auch mit
Elternbildung wie «Fit für den Kinder-
garten» bis zur Berufswahl. Gerade auch
in Coronazeiten ist das Thema «Digitale
Medien» wichtig, denn viele Kinder haben
sich an mehr Bildschirmzeit zu Hause ge-
wöhnt.

l & l: Wie profitieren die Moderatorinnen
von ihrer Arbeit bei Femmes-Tische?
Feistle: Die Moderatorinnen erfüllen ihre
Aufgabe freiwillig, sie erhalten zwar eine
kleine Entschädigung, aber diese ent-
spricht mitnichten der Leistung, die sie
erbringen. Es geht ihnen vor allem um die
Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit. Öfters kann
dieArbeit für Femmes-Tische für eine Mo-
deratorin ein Sprungbrett für die berufli-
che Entwicklung sein, kommt sie doch in
Kontakt mit vielen Fachstellen. Sie erhält
selbstverständlich auch ein Arbeitszeug-
nis, das sie Bewerbungen beilegen kann.

l & l: Was macht das Programm aus Ihrer
Sicht so erfolgreich und beständig?
Feistle: Das Angebot ist für die Migrantin-
nen niederschwellig, die Veranstaltungen
werden in der Herkunftssprache geführt
und die Methode basiert auf Beziehung
und Vertrauen. Es ist ein Angebot von
Menschen für Menschen, das nachhaltig
wirkt. Für mich selber ist die Arbeit für
Femmes-Tische eine Herzensangelegen-
heit.

n
                                                              Suchtprävention laut & leise, Juni 2021

Anna Feistle ist Standortleiterin der Femmes-Tische
im Samowar Meilen. Sie ist Lehrerin, hat Soziologie
studiert und lebte selber über zwei Jahre an verschie-
denen Orten im Ausland.

Brigitte Müller, Texterin und Redaktionsleiterin
«laut & leise», stellte die Fragen.

Mehr Informationen: www.femmestische.ch

                                                         10
Selektive und indizierte Prävention – Einordnung der Begriffe und Definition

                                          Vulnerable Gruppen im
                                          Fokus der Suchtprävention

                                          Selektive und indizierte Interventionen reagieren auf Vulnerabilität und wirken gezielt. Ihr Einsatz erfordert eine klare
                                          Identifikation der Zielgruppen und ein sensibles Vorgehen. So kann eine Stigmatisierung verhindert werden.
                                          Von Sabine Dobler

                                          V
                                                  or zwei, drei Jahrzehnten hat man    innen, junge Straftäter/innen. Auch ein       konsumierende Jugendliche richteten,
                                                  Präventionsansätze in erster Linie   Kontext, in dem sich Personen aufhalten,      wurde mit einer Zunahme des Substanz-
                                                  in Hinblick auf den Zeitpunkt der    kann Anlass für selektive Präventions-In-     konsums in Verbindung gebracht (Wicki
                                          Intervention unterschieden: Primäre Prä-     terventionen geben, zum Beispiel das          et al., 2000). Die Gründe dafür ortete man
                                          vention will das Auftreten von Krankhei-     Nachtleben.                                   in der Etikettierung als «Risikopersonen»
                                          ten und Problemen verhindern. Sie richtet                                                  und im vermehrten Kontakt mit anderen
                                          sich an gesunde Personen mit oder ohne       Indizierte Prävention                         konsumierenden Jugendlichen, was eine
                                          Risikofaktoren. Sekundäre Prävention         Solche Projekte richten sich an Personen,     gegenseitigen Bestärkung im problemati-
                                          will Probleme früh erkennen und eine be-     die bereits ein Risikoverhalten zeigen,       schen Verhalten zur Folge hatte.
                                          stehende Problematikverbessern oder be-      ohne aber im diagnostischen Sinn sucht-
                                          endigen. Tertiäre Prävention will Folgen     krank zu sein. Beispiele sind etwa Jugend-    Sorgfalt und Transparenz
                                          einer Erkrankung mildern, Folgeschäden       liche und junge Erwachsene, die punktu-       Beim Erarbeiten von selektiven und
                                          verhindern, Rückfällen vorbeugen.            ell exzessiv Alkohol konsumieren, ältere      indizierten Suchtpräventionsprojekten
                                                                                       Personen mit chronisch risikoreichem          müssen Fachleute also darauf achten, die
                                          Zielgruppen definieren                        Alkoholkonsum oder Jugendliche, die we-       Zielgruppen so abzuholen und zu beglei-
                                          Heute hat sich in der Suchtprävention        gen Cannabis eine Massnahme verordnet         ten, dass Stigmatisierung und andere ne-
                                          die Unterscheidung der Ansätze nach der      bekommen. Bei diesen Ansätzen können          gative Auswirkungen vermieden werden.
                                          Vulnerabilität (Verletzbarkeit) der Ziel-    vulnerable Einzelpersonen aufgrund            Das beginnt bei einer sorgfältigen Wahl
                                          gruppen etabliert: Während sich univer-      eines Vorfalls oder über Früherkennung        von Begriffen, reicht über Transparenz als
                                          selle Prävention an alle oder an Personen    identifiziert und zu einer Teilnahme an        Grundwert, eine konsequente Ressour-
                                          einer bestimmten Bevölkerungsgruppe          einer Massnahme verpflichtet oder moti-        cenorientierung bis hin zur Handhabung
                                          richten, will die selektive Prävention       viert werden.                                 des Datenschutzes und zu strukturellen
                                          vulnerable und die indizierte Prävention                                                   Massnahmen. Der Leitfaden der Sucht-
                                          bereits klarer gefährdete Zielgruppen an-    Risiken und Nebenwirkungen                    präventionsstelle der Stadt Zürich «Stig-
                                          sprechen. Teilweise wird noch weiter un-     Die Zielsetzungen von selektiven und in-      matisierung – Zum Umgang mit Risiken
                                          terschieden zwischen «universellen» und      dizierten Präventionsmassnahmen und           und Nebenwirkungen der Suchtpräven-
                                          «zielgruppenspezifischen» Ansätzen, wo-       ihr direkter Zugang zu vulnerablen Grup-      tion» bietet dafür eine fundierte Grund-
                                          bei «universelle» Ansätze in diesem Fall     pen leuchten ein. Die betroffenen Perso-      lage.
                                          flächendeckend sind und «zielgruppen-         nen können von einem solchen Ansatz
                                          spezifische Ansätze» sich an bestimmte        besser profitieren als von einem uni-          n
                                          Bevölkerungssegmente richten.                versellen Zugang. Es reicht aber nicht,       Sabine Dobler ist Projektleiterin in der Präventions-
Suchtprävention laut & leise, Juni 2021

                                                                                       die Risikogruppen zu identifizieren und        abteilung der Stiftung Sucht Schweiz, Lausanne.
                                          Selektive Prävention                         einfach loszulegen. Die Identifikation
                                                                                                                                     Literaturhinweise:
                                          Die Zielgruppen sind gesund und zeigen       als «Risikoträger» kann psychisch belas-      • Wicki, W. et al. (2000): Präventionsforschung
                                          kein auffälliges Verhalten, aber sie haben   ten, stigmatisieren und etikettieren. Eine    bei Jugendlichen im Suchtbereich. Erkenntnisse
                                          erhöhte Risiken. Zur Identifikation wer-      Übersichtsstudie aus dem Jahr 2000 zeig-      für die Praxis. In: Bundesamt für Gesundheit
                                          den biologische, psychologische, soziale     te: Nicht immer erzielen Projekte, die sich   BAG: Suchtforschung des BAG 1996–98, Band 2/4:
                                                                                                                                     Prävention, 2–13.
                                          oder umweltbezogene Risikofaktoren he-       auf bestimmte Risikogruppen ausrichten,
                                                                                                                                     • Christa Berger, Leitfaden «Stigmatisierung – Zum
                                          rangezogen. Zielgruppen selektiver Prä-      die erwünschte Wirkung: Ein Viertel der       Umgang mit Risiken und Nebenwirkungen der
                                          vention sind beispielsweise Kinder mit       in dieser Studie einbezogenen sekun-          Suchtprävention», 2012, Herausgeber: Suchtpräven-
                                          suchtkranken Eltern, Schulabbrecher/         därpräventiven Programme, die sich an         tionsstelle der Stadt Zürich.

                                          11
Selektive Prävention in der Praxis

                                          Alternativen
                                          zur Giesskanne

                                          Alle bekommen den gleichen Inhalt serviert: Prävention nach dem Giesskannenprinzip. Setzt man jedoch auf selektive
                                          Prävention, kommen verschiedene Zielgruppen ins Spiel – und damit auch die vulnerablen Gruppen.
                                          Von Jana Avanzini

                                          D
                                                  ass nicht alle Menschen mit den        Prägungen durch Familie oder Umfeld, an      täglichen Strukturen und Taktgeber», so
                                                  gleichen Voraussetzungen ins Le-       Strukturen im Alltag, oder auch einer hö-    Berger. Chronischer Stress und eine hohe
                                                  ben starten, ist keine Neuigkeit.      heren Verwundbarkeit durch persönliche       physische Belastung – sei es zuhause oder
                                          Auch dass es Menschen gibt, die ein erhöh-     Erlebnisse, so Berger. «Es sind auf jeden    im Job – zählen zu den Faktoren, die die
                                          tes Risiko haben, an bestimmten Dingen         Fall Gruppen in unserer Gesellschaft,        Vulnerabilität erhöhen. Missbrauch und
                                          zu erkranken. Oder dass Menschen durch         die eine höhere Aufmerksamkeit verdie-       Gewalt, Armut oder chronische Krank-
                                          bestimmte Ereignisse eher Gefahr laufen,       nen», so erklärt es Gabriela Hofer von der   heiten, auch Traumata durch Krieg oder
                                          eine Sucht zu entwickeln. Risikogruppen,       Suchtprävention der Bezirke Affoltern        Flucht sind weitere Risikofaktoren.
                                          nannte man sie lange. Heute nutzt man          und Dietikon.
                                          den Begriff der Vulnerabilität, Verletzlich-                                                Wenn sich Faktoren potenzieren
                                          keit. «Es ist definitiv der sympathischere      Besonders Kinder im Fokus                    Ein bestimmtes Mass an Stress und Rück-
                                          Begriff als Risiko beziehungsweise Risi-       Die grösste Gruppe, die man als vulnerabel   schlägen vertrage der Mensch gut. «Doch
                                          kogruppen», sagt Christa Berger von der        einstuft und der in der Präventionsarbeit    es gibt bei allen den Punkt, wo es zu viel
                                          Suchtpräventionsstelle der Stadt Zürich.       verhältnismässig viel Aufmerksamkeit         wird», meint Berger. Dann dürfe man
                                                                                         zukommt, umfasst Kinder und Jugend-          nicht vergessen, dass bestimmte Men-
                                          Drei Zielgruppen                               liche aus Familien mit suchterkrankten       schen durch ihre Genetik oder durch
                                          Der Bezug zur Vulnerabilität entstand in
                                          den 1980er-Jahren durch den Psychologen
                                                                                         Vulnerabel bedeutet nicht, dass jemand bereits süchtig
                                          und Psychotherapeuten Robert S. Gordon
                                          in Zusammenhang mit seiner Einteilung          ist oder süchtig wird. Es geht lediglich darum,
                                          in unterschiedliche Zielgruppen. Gor-          damit Menschen zu bezeichnen, die eine höhere
                                          don definierte zum einen die universelle
                                          Prävention, die alle gleichermassen an-
                                                                                         Anfälligkeit haben, eine Sucht zu entwickeln.
                                          spricht – das Giesskannenprinzip. Des
                                          Weiteren sprach er von der indizierten         Eltern. «Jedes siebte Kind in der Schweiz    ihren Charakter eher anfällig sind, stär-
                                          Prävention, die das Individuum in den          ist betroffen von den Belastungen durch      ker auf Suchtmittel anzusprechen. «Es ist
                                          Fokus stellt, das bereits Suchtverhalten       Sucht ihrer engsten Bezugspersonen»,         beispielsweise bekannt, dass wir Frauen,
                                          zeigt. Und schliesslich die selektive Prä-     so Hofer. Und ebendiese Kinder seien         sowie Menschen mit indigenen und asia-
                                          vention, die spezifisch auf vulnerable          stärker gefährdet, später selbst süchtig     tischen Wurzeln Alkohol schlechter ver-
                                          Gruppen zugeschnitten ist. «Gordons Ein-       zu werden. Ein Drittel dieser Kinder ent-    tragen», sagt Christa Berger.
                                          teilung in drei Zielgruppen hat die Präven-    wickle im Leben eine Sucht. Ein weiterer        Das Umfeld oder Strukturen, in denen
Suchtprävention laut & leise, Juni 2021

                                          tionsarbeit differenziert», so Berger.         Drittel leide später an anderen Formen       man sich bewegt, können das Risiko einer
                                             «Wichtig ist bei diesen Definitionen         psychischer Erkrankungen. Und lediglich      Suchtentwicklung begünstigen oder ver-
                                          immer, dass vulnerabel nicht bedeu-            ein Drittel gehe in dem Sinne «unbescha-     hindern. Als Beispiele nennt Gabriela
                                          tet, dass jemand bereits süchtig ist oder      det» aus solchen Strukturen hervor.          Hofer die Arbeit im Gastgewerbe, wo eine
                                          süchtig werden muss», merkt Christa               Zu den vulnerablen Gruppen zählen         grössere Zugänglichkeit zu Alkohol be-
                                          Berger dabei an. Es gehe lediglich darum,      beispielsweise auch Alleinerziehende –       steht, bestimmte Berufsbranchen, in de-
                                          damit Menschen zu bezeichnen, die eine         besonders solche mit vielen Kindern.         nen Kokain dazugehört oder das Bier in
                                          höhere Anfälligkeit haben, eine Sucht zu       «Auch Erwerbslosigkeit oder der Über-        der Pause. Und doch existiert kein vorge-
                                          entwickeln. Das könne an unterschiedli-        gang in die Pension vermehrt gefährden-      zeichneter Weg in eine Abhängigkeit und
                                          chen Faktoren liegen: an Erziehung und         de Faktoren – konkret der Verlust der all-   es ist nie möglich, eine Suchterkrankung

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vorauszusehen. Selbst wenn sich Risi-          achtet, welche Informationen Müttern         nen Alkohol trinkt und für die Freunde
kofaktoren potenzieren, muss das nicht         und Vätern dabei helfen können, im All-      den Fahrdienst übernimmt. Im Gegenzug
zwangsläufig bedeuten, dass jemand ab-          tag mehr Abwechslung und Eindrücke für       erhalten die registrierten «Angels» an der
hängig wird, es erhöht sich allenfalls die     die Kinder einzubauen.                       jeweiligen Veranstaltung – der Chilbi in
Wahrscheinlichkeit.                                                                         Wetzikon zum Beispiel – alkoholfreie Ge-
                                               Brücken bauen                                tränke zu einem vergünstigten Preis. So
Hürden verhindern                              Ein Paradebeispiel für erfolgreiche se-      muss man sich bei allen möglichen vulne-
Die grosse Herausforderung bei einer se-       lektive Präventionsarbeit sei das Pro-       rablen Gruppen separat anschauen, wie
lektiven Präventionsarbeit besteht darin,      jekt Femmes-Tische, das betonen sowohl       man sie erreichen kann.
die Menschen überhaupt zu erreichen,           Gabriela Hofer als auch Christa Berger.
die man erreichen möchte. «Mit dem             Das Projekt erreicht mittlerweile in der     Das Risiko der Stigmatisierung
Giesskannenprinzip, mit Flyern, Artikeln       Schweiz jährlich über 10 000 Menschen        Dass heute der Begriff der Vulnerabilität
und Mailings erreicht man oft gerade die       in mehr als 20 Sprachen.                     verwendet wird, hat viel damit zu tun, eine
Menschen, die sich sowieso schon inter-           Femmes-Tische, oder auch Männer-Ti-       Stigmatisierung der betroffenen Gruppen
essieren, die reflektieren und sich infor-      sche, sind moderierte Gesprächsrunden        zu vermeiden. Denn Suchtprävention und
mieren», so Hofer. Man erreiche die pri-       zu unterschiedlichsten Themen, die in        Stigmatisierung seien in unheilvoller Al-
vilegierten Menschen, die Zeit haben, oft      privaten Wohnzimmern stattfinden. Mi-         lianz miteinanderverbunden, erzählt Ber-
auch einen höheren Bildungsstand und           grantinnen seien oft schwierig zu errei-     ger. Und trotzdem ist es schwierig, vulne-
die nötigen Finanzen.                          chen. Hier braucht es sogenannte Brü-        rable Gruppen nicht zu benennen, wenn
    Ein Beispiel dafür seien die klassischen   ckenbauer/innen oder Multiplikatoren.        man sie anzusprechen versuche, sagt Ga-
Elternabende, sagt Christa Berger. Um da-      «Man arbeitet beispielsweise, um Mig-        briela Hofer. Welche Begriffe man jedoch
ran teilnehmen zu können, brauche man          rant/innen anzusprechen, mit Schlüssel-      verwende, spiele dabei eine grosse Rolle.
einen freien Abend, Geld für einen Baby-       personen zusammen, die beide Sprachen        «Natürlich reicht es nicht, nur den Begriff
sitter und so weiter. Um also die Eltern       sprechen, in ihrem Kulturkreis ein gutes     zu ändern», sagt Christa Berger. Es gehe
anzusprechen, die sich den Besuch eines        Netzwerk besitzen und in ihren Commu-        darum, wie man Menschen anspreche,
                                                                                            dass man auf Augenhöhe und partizipa-
Die grosse Herausforderung bei einer selektiven                                             tiv kommuniziere, Vertrauen schaffe und
                                                                                            zuhöre. Aber auch, dass man den Benefit
Präventionsarbeit besteht darin, die Menschen überhaupt                                     eines Angebots aufzeigen könne. Denn oft
zu erreichen, die man erreichen möchte.                                                     bestehe ja kein Leidensdruck, es handelt
                                                                                            sich nicht um Menschen mit Suchtprob-
Elternabends nicht leisten können oder         nities respektiert werden», so Berger. Man   lemen. «Man muss Bedürfnisse abholen,
den Sinn darin nicht sehen, muss man           spricht dann auch von Peers – nicht nur      nicht als Expertin mit Lösungen auftau-
sie andernorts finden. Man versuche zum         bei Jugendlichen, sondern in allen Gesell-   chen für Probleme, die die Leute – noch –
Beispiel, Elternangebote auch an Arbeits-      schaftsgruppen.                              gar nicht haben. Wir müssen immer die
                                                                                                                                          Suchtprävention laut & leise, Juni 2021

plätzen bekannt zu machen oder bei sozia-         Ein weiteres Beispiel für ein erfolg-     Ressourcen und nicht die Probleme fokus-
len Diensten, die Menschen mit geringem        reiches selektives Präventionsprojekt für    sieren», führt Hofer aus.
Einkommen besuchen. Oft wird auch über         junge Erwachsene ist «be my angel to-           Bei der Pensionierung biete es sich
Angebote in Siedlungen die Hürde genom-        night». Dabei sprechen junge Erwachsene      beispielsweise sehr gut an. Da die Her-
men – allenfalls gleich mit einem Kinder-      Gleichaltrige an, die mit demAuto da sind,   ausforderungen der Pension mittlerweile
hütedienst dazu. Das Projekt Zeppelin im       und motivieren sie dazu, vor Ort gleich zu   bekannt und akzeptiert seien und da viele
Bezirk Affoltern nennt Gabriela Hofer in       verabreden, wer nach dem Ausgang wen         Menschen sich zur Pension hin finanziell
diesem Zusammenhang. Dabei werden              nach Hause fährt. Dann wird vor Ort eine     beraten lassen, können zusätzliche Ange-
Eltern bei der Förderung ihrer Kinder          schriftliche Vereinbarung unterschrie-       bote gut aufgenommen werden. Auch hier
zuhause unterstützt. Es wird darauf ge-        ben, dass diese Person an dem Abend kei-     sei es entscheidend, den Fokus im Auge

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«Angebote sind oft zu mittelschichtsorientiert, nicht nur in
                                          der Präventionsarbeit, sondern in sehr vielen Bereichen unserer
                                          Gesellschaft. Deshalb entwickeln wir neue, innovative und
                                          niederschwellige Formate, um vor Ort mit den Menschen in
                                          den Dialog zu kommen», begründet Christa Berger.

                                          zu haben, so Berger. «Es geht darum, Res-      gerade im Alter», so Hofer. Hier wird in        Der Aufbau solcher Projekte kann auf-
                                          sourcen zu stärken, zu aktivieren, und den     einigen Gemeinden nun mit aufsuchen-         wändig sein und verlangt nicht nur von
                                          Personen bewusst zu machen, dass so ein        der Altersarbeit entgegengewirkt. Dabei      Gemeinden und Sozialdiensten eine Be-
                                          Wechsel auch Chancen und Möglichkei-           werden Menschen ab einem gewissen            reitschaft, sich auf neuartige Angebote
                                          ten bietet.»                                   Alter zuhause besucht, um Bedürfnisse        einzulassen und sich ein Verständnis für
                                                                                         zu erkennen und Angebote vorzustellen.       die selektive Prävention zu erarbeiten.
                                          Das heikle Schuld-Thema                        Andere Gemeinden, wie beispielswei-          Aber es lohne sich, andere Zugänge auszu-
                                          Wichtig sei, dass man die Menschen durch       se Horgen, bauen Siedlungsassistenzen        probieren und die Ressourcen zu bündeln,
                                          die selektive Prävention nicht in eine Risi-   auf, die ihr Büro in der Siedlung selbst     damit vulnerable Menschen direkt von der
                                          ko-Schublade stecke. Denn das könne die        haben und damit Beziehungen und Nähe         Prävention profitieren können, darüber
                                          psychische Belastung noch verstärken, er-      aufbauen können. «Angebote sind oft zu       sind sich beide Fachfrauen einig.
                                          klärt Gabriela Hofer: «Wenn ich das Ge-        mittelschichtsorientiert, nicht nur in der
                                          fühl bekomme, ein Risikofaktor für meine       Präventionsarbeit, sondern in sehr vielen    n
                                          Kinder zu sein, ist das extrem kontrapro-      Bereichen unserer Gesellschaft. Deshalb
                                          duktiv. Dass ich wegen meiner Armut oder       entwickeln wir neue, innovative und nie-     Jana Avanzini ist freischaffende Journalistin und
                                                                                                                                      Co-Redaktionsleiterin des Kultur- und Satiremagazins
                                          meiner Trennung Schuld daran habe, dass        derschwellige Formate, um vor Ort mit den
                                                                                                                                      «Kultz». Sie lebt mit ihrem Partner und dem gemeinsa-
                                          meine Kinder süchtig oder krank werden         Menschen in den Dialog zu kommen», be-       men Sohn in Luzern.
                                          könnten.»                                      gründet Christa Berger.
                                              Eigentlich müssten viele der Angebote
                                          schlicht zum guten Ton gehören, so Hofer.
                                          Wie bei der Mütter- und Väter-Beratung.
                                          «Wenn etwas gesellschaftlich anerkannt
                                          ist und es alle nutzen, dann fällt die Stig-    Weitere Angebote der Stellen für
                                          matisierung weg.» Dann gebe man nie-
                                          mandem das Gefühl, dass er oder sie et-
                                                                                          Suchtprävention im Kanton Zürich
                                          was benötige, das andere nicht brauchen.        Für Eltern/Jugendliche                        eines Ereignisses. Arbeit mit
                                          Oder dass sie etwas nicht selbst können,        • Bedarfsorientierte Einzel- und              Schülergruppe(n) bezüglich
                                          die anderen aber schon. Man muss nicht            Gruppengespräche bei riskantem              Risikoeinschätzung und Konsum-
                                          immer mit den Menschen direkt suchtprä-           Konsum von Tabak, Alkohol, Canna-           verhalten.
                                          ventiv arbeiten, sagt auch Christa Berger.        bis oder Onlinemedien (Games,             • Motivierende Gruppenkurz-
                                          Bei Familien oder Kindern, die in anderen         Social Media).                              intervention «Rauschtrinken» an
                                          Zusammenhängen bereits gut begleitet                                                          Kantonsschulen oder weiter-
                                          werden, sei es durch einen Sozialdienst         Für Schulen
                                                                                                                                        führenden Schulen.
                                                                                          • Beratung und Coaching von
                                          oder schulische Zusatzangebote, kann
                                                                                            Schlüsselpersonen (Lehrpersonen,          Für Sozial- und Jugendarbeitende,
                                          es sinnvoller sein, die entsprechenden
Suchtprävention laut & leise, Juni 2021

                                                                                            SSA, SL)                                  Frühbereich und weitere Interessierte
                                          Fachleute zu sensibilisieren und Informa-
                                                                                          • Angebote zu Früherkennung und             • Kurse in Motivierender Kurzinter-
                                          tionsmaterial über diese Kanäle weiterzu-
                                                                                            Frühintervention.                            vention (Move).
                                          verbreiten.
                                                                                          • Kurse in Motivierender Kurzinter-         • Angebote zu Früherkennung und
                                          Einsamkeit – eine Knacknuss                       vention (Move) für Schulsozialar-            Frühintervention.
                                          Doch meist brauche es einen Zusatzeffort,         beitende und Schulteams.
                                                                                                                                      Kontakt zur Stelle in Ihrer Region siehe
                                          um mit allen Menschen in Kontakt zu kom-        In einzelnen Regionen zusätzlich diese      Adressen Rückseite und mehr Informa-
                                          men. So besonders auch, um die Menschen         Angebote:                                   tionen unter suchtpraevention-zh.ch
                                          zu erreichen, die unter Einsamkeit leiden.      • Gezielte Klasseneinsätze aufgrund
                                          «Einsamkeit ist eine grosse Knacknuss –

                                          15
Cannabis-Kurs

Chance statt Strafe

«Vor allem die möglichen Auswirkungen vom Kiffen auf die Psyche sind schon krass. Das hat mich wirklich zum
Nachdenken gebracht.» Rückmeldungen wie diese zeigen, dass der Cannabis-Kurs seine Spuren hinterlässt.
Von Ronja Schmid

A
        m Cannabis-Kurs nehmen 12- bis          wie beispielsweise das eigene riskante          aufhören kann. Wenn Jugendliche zum
        18-Jährige mit einer Verzeigung         Verhalten zu überprüfen: Welcher Risi-          ersten Kursteil kommen, sind sie meis-
        teil. Diese Jugendlichen sind von       kotyp bin ich? Oder sich auf dem Sucht-         tens nicht sonderlich motiviert. Während
der Polizei beim Kiffen oder mit Canna-         kontinuum einzuordnen. Kiffe ich für den        des Kurses sind sie dann aber grössten-
bis in der Tasche erwischt worden. Sind         Genuss oder bin ich eigentlich schon ab-        teils engagiert und machen aktiv mit. Den
die Jugendlichen minderjährig, leitet die       hängig? Eine weitere Aufgabe ist das Her-       Teilnehmenden wird von der Kursleitung
Polizei die Fälle an die zuständige Jugend-     ausarbeiten von Vor- und Nachteilen der         eine respektvolle und wertschätzende
anwaltschaft weiter. Diese entscheidet, ob      Substanz Cannabis. Anschliessend dis-           Grundhaltung entgegengebracht. Hinzu
die Jugendlichen am Cannabis-Kurs teil-         kutiert die Gruppe diese Fragen und die         kommen Empathie, Offenheit sowie ein
nehmen müssen oder welche weiteren              Kursleitung klärt mögliche Unklarheiten         ehrliches Interesse an den Jugendlichen.
Konsequenzen folgen werden. Möglich ist         auf. Die Teilnehmenden werden angeregt,         Die Kursleitung richtet die Aufmerksam-
auch die Zuweisung zur Einzelberatung           die Auswirkungen ihres Konsums zu re-           keit nicht primär auf einen problema-
bei einer Jugendberatungsstelle.                flektieren und über die möglichen Folgen         tischen Cannabiskonsum, sondern auf
                                                für ihre Zukunft nachzudenken. Oder             die Ressourcen und die Fähigkeiten der
Kurzintervention                                die Kursleitung fragt, ob jemand jüngere        Jugendlichen. Ermutigung ist wirksamer
Der Cannabis-Kurs gilt als Kurzinter-           Geschwister habe und was sie diesen in          als Kritik.
vention für Jugendliche, die allenfalls in      Bezug auf Cannabis raten würden. «Ich
einer schwierigen Lebensphase stehen            tue alles dafür, dass mein kleiner Bruder       Konsum dokumentieren
und denen ein Signal helfen kann, besse-        nicht mit dem Kiffen anfängt. Es ist nicht      Zwischen den zwei Kursmodulen erhalten
re Lösungen für sich zu finden. Cannabis-        gut für ihn.Ausserdem soll aus ihm einmal       die Jugendlichen die Aufgabe, ihren Kon-
bedingte Probleme, seien sie gesundheit-        etwas werden. Denn ich habe meine El-           sum zu dokumentieren und am Morgen
lich, sozial oder juristisch, können für die    tern schon genug enttäuscht», so einer der      vor dem Kurs nicht zu kiffen. Ein Jugend-
Jugendlichen und ihren Lebensverlauf            teilnehmenden Jugendlichen. Die Aufga-          licher, der normalerweise jeden Morgen
drastische Folgen mit sich bringen. Der         be der Kursleitung ist es nun, dem Jugend-      einen Joint raucht, erzählt ehrlich: «Heu-
Cannabis-Kurs umfasst zwei Module à             lichen den Widerspruch in seinerAussage         te habe ich sehr gekämpft, doch ich habe
je zweieinhalb Stunden und findet in der         aufzuzeigen: «Also, wenn ich dich richtig       es geschafft nur CBD zu rauchen.» Die
Freizeit der Jugendlichen statt. Alle 12- bis   verstanden habe, möchtest du nicht, dass        Kursleitung nimmt dazu Stellung: «Toll,
18-Jährigen aus dem Kanton Zürich kön-          dein kleiner Bruder anfängt zu kiffen. Du       dass du dir die Hausaufgabe zu Herzen
nen am Cannabis-Kurs teilnehmen, bei            weisst also, dass Kiffen nicht guttut. Trotz-   genommen hast und deinem Verlangen
einer Anmeldung durch die Jugendan-             dem kiffst du weiter. Wie gehst du damit        widerstehen konntest. Gras ohne ‹high›
                                                                                                                                                    Suchtprävention laut & leise, Juni 2021

waltschaft ist der Kurs verpflichtend. In        um?» Der Jugendliche grinst: «Tja, es ist       machende Wirkung zu rauchen, ist doch
einigen Bezirken findet parallel zum Kurs        halt schwierig, aufzuhören, wenn man            eine guteAlternative, auf die du in Zukunft
ein Elternabend statt.                          mal angefangen hat.»                            zurückgreifen kannst. Bravo!»

Aktive Auseinandersetzung                       Ressourcen stärken                              n
Der Cannabis-Kurs bietet Raum für eine          Diese Aussage zeigt, dass der Jugendli-
offene und konstruktive Auseinanderset-         che über das Gesagte nachgedacht hat. Er        Ronja Schmid macht den BSc Gesundheitsförderung
                                                                                                und Prävention an der ZHAW und ist Praktikantin
zung mit dem eigenen Cannabiskonsum.            wird vermutlich auch nach dem Kurs noch
                                                                                                bei der Suchtprävention der Bezirke Affoltern und
Die Teilnehmenden erhalten von der              weiterdenken. Im besten Fall wird er sich       Dietikon.
Kursleitung unterschiedliche Aufgaben           beweisen wollen, dass er sogar mit Kiffen

                                                                                                                                               16
MobileCoach Alkohol

                                          Der Coach auf meinem
                                          Smartphone

                                          Wie können Jugendliche mit präventiven Botschaften erreicht werden, die sie dazu motivieren wollen, weniger
                                          oder gar keinen Alkohol zu trinken? Sind solche Botschaften in Zeiten von Corona von Belang?
                                          Von Raquel Paz Castro

                                          S
                                                 eit über einem Jahr wütet eine         Fachstelle zur Prävention des Suchtmit-     Botschaften. Zum Beispiele können wei-
                                                 Pandemie. So etwas erleben die         telmissbrauchs (ZFPS) entwickelt: Beim      terführende Informationen, wie Videos,
                                                 Jugendlichen in unseren Breiten-       Programm handelt es sich um eine inter-     elegant in den Coaching-Dialog eingebaut
                                          graden zum ersten Mal. Die Schlagzeilen       aktive Coaching-App, die helfen soll, im    werden und müssen nicht erst über einen
                                          im Frühling 2021 überschlugen sich förm-      Umgang mit anderen sicherer zu werden       Link abgerufen werden. Wichtig ist, dass
                                          lich: Jugendliche wurden durch Alkohol-       und risikoreichen Alkoholkonsum zu re-      die App mit ihren digitalen präventiven
                                          exzesse und aggressives Verhalten im          duzieren. Nach einer kurzen Befragung       Botschaften auch einen Platz auf dem
                                          öffentlichen Raum vorstellig. Nicht über-     im Klassenzimmer erhalten die Teilneh-      Smartphone der Jugendlichen findet. Was
                                          raschend auch die Ergebnisse von meh-         menden ein individuelles Feedback dar-      gelingen könnte, weil die App die Jugend-
                                          reren Untersuchungen, wonach sich der         über, wie risikoreich ihr aktueller Alko-   lichen in ihrem gewohnten Kommunika-
                                          Substanzkonsum in vulnerablen Grup-           holkonsum ist, wie viel sie im Vergleich    tionsumfeld abholt.
                                          pen – wozu die Jugendlichen gehören –         zur Referenzgruppe konsumieren und
                                          besonders zuspitzte.                          wie die offiziellen Empfehlungen für den    n
                                                                                        Konsum von Alkohol für ihr Geschlecht
                                          Vorteile der Digitalisierung                  und Alter lauten. Anschliessend werden      Weiterführende Informationen und Einführungs-
                                                                                                                                    video zum Programm: www.mobile-coach.ch
                                          Die stärkste Evidenz zur Prävention von       sie für einen Zeitraum von zehn Wochen
                                          Substanzmissbrauch im Jugendalter ha-         über die Themen Alkohol, Gesundheit         Raquel Paz Castro ist Psychologin und wissenschaft-
                                          ben aktuell Programme zur Förderung           und Sozialkompetenz informiert. Im Mo-      liche Mitarbeiterin am Schweizer Institut für Sucht-
                                                                                                                                    und Gesundheitsforschung. In ihrer Arbeit beschäftigt
                                          von Lebenskompetenzen, die im schu-           bileCoach Alkohol können Teilnehmende       sie sich insbesondere mit mobiltelefonbasierten An-
                                          lischen Setting integriert sind. Doch die     selber entscheiden, ob sie sich von Marco   geboten zur Förderung von Lebenskompetenzen und
                                          Implementierung solcher Programme             oder Céline coachen lassen wollen. Dabei    Reduktion von Substanzkonsum bei Jugendlichen.
                                          muss stetig Hürden (finanzielle und per-       handelt es sich nicht um echte Personen,
                                          sonelle) überwinden. Als Ergänzung zu         sondern um digitale Berater, sogenannte
                                          den schulischen Bemühungen werden             Chatbots. Die digitalen Berater gehen auf
                                          weitere Mittel benötigt, um präventive        persönliche Motivationen für und gegen       Gesucht Mittelschulklassen
                                          Botschaften an Jugendliche zu vermit-         einen gemässigten Alkoholkonsum ein,
                                                                                                                                     Der MobileCoach Alkohol wird durch
                                          teln. Dabei spielt die Digitalisierung eine   schicken zusätzliche Informationen in
                                                                                                                                     das Nationale Programm Alkohol fi-
                                          wichtige Rolle. Die Vorteile von digitalen    Form von Videos oder Links zu weiterfüh-
                                                                                                                                     nanziert und aktuell im Rahmen einer
                                          Präventionsprogrammen liegen auf der          renden Websites und motivieren die Teil-
                                                                                                                                     Begleitstudie untersucht. Von Inter-
                                          Hand: Sie sind von überall und zu jeder       nehmenden dazu, mit der Gruppe Ideen
Suchtprävention laut & leise, Juni 2021

                                                                                                                                     esse sind Akzeptanz und Wirksamkeit
                                          Zeit abrufbar, sie können auf das Indivi-     zu teilen, wie gemässigter Alkoholkonsum
                                                                                                                                     der neuen Programmversion als App.
                                          duum und seine Lebenswelt abgestimmt          gelingen kann.
                                                                                                                                     Bei Interesse an einer Teilnahme kön-
                                          werden und da sie anonym sind, wirken
                                                                                        Als App auf dem Smartphone                   nen Lehrpersonen aus Mittelschulen
                                          sie der Stigmatisierung von vulnerablen
                                                                                                                                     das Programm noch bis Sommer 2022
                                          Jugendlichen entgegen.                        Der MobileCoach Alkohol existierte lan-
                                                                                                                                     in der eigenen Klasse durchführen.
                                                                                        ge Zeit als SMS-basiertes Programm und
                                          Coaching zum weniger Trinken                  wurde aufgrund der sich wandelnden           Bitte melden Sie sich: Schweizer Institut für
                                                                                                                                     Sucht- und Gesundheitsforschung, Raquel Paz,
                                          Der MobileCoach Alkohol für Schüler/in-       Smartphone-Nutzung zu einer App wei-         044 448 11 80, raquel.paz@isgf.uzh.ch,
                                          nen an Mittelschulen wurde unter ande-        terentwickelt. Diese Weiterentwicklung       www.isgf.uzh.ch
                                          rem in Zusammenarbeit mit der Zürcher         bietet viele Chancen für die präventiven

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