Laut&leise - Verletzlichkeit Sucht beginnt im Alltag. Prävention auch - Suchtprävention Kanton Zürich
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laut&leise Magazin der Stellen für Suchtprävention im Kanton Zürich Nr. 2, Juni 2021, erscheint dreimal jährlich Verletzlichkeit Sucht beginnt im Alltag. Prävention auch.
Verletzungen Sichtbare und unsichtbare Verletzungen haben mich geprägt und mitgeformt. Mich der Verletzlichkeit anderer und meiner selbst bewusst zu sein, eröffnet mir in meiner Arbeit als Fotografin vieles. Ich fotografiere immer auch mit einem Blick ins eigene Innere. In dieser Auseinandersetzung sind die Bilder dieser Serie entstanden. Sie zeigen die Umwelt in meinem Alltag, gefiltert durch das Wissen um die allgegenwärtige Verletzlichkeit. (www.anjafonseka.ch)
Editorial Liebe Leserinnen und Leser Die Rückmeldung eines Jugendli- tion ist das Angebot Femmes-Tische, das im Interview ab chen «Vor allem die möglichen Aus- Seite 8 thematisiert wird. wirkungen vom Kiffen auf die Psyche Unsere Präventionsangebote werden aufgrund von sind schon krass. Das hat mich wirk- wissenschaftlich begründeten und fundierten Prozessen lich zum Nachdenken gebracht», zeigt zusammengestellt. Unterschiedliche Lebenssituationen, die Wirkung des besuchten Canna- wie eine erhöhte Gefährdung für einen risikoreichen Kon- bis-Kurses auf. Die Cannabis-Kurse werden von der Suchtprävention im Die Unterscheidung der Angebote nach Auftrag der Jugendanwaltschaften universeller, selektiver und indizierter im Kanton Zürich durchgeführt. Sie sind eine unterstüt- zende Präventionsmassnahme und keine Strafe für Can- Prävention erlaubt differenzierte Antworten nabis konsumierende Jugendliche im Alter von 12 bis 18 auf unterschiedliche Lebenssituationen. Jahren. Dieses Angebot wird der indizierten Prävention zugeordnet. Indizierte Prävention richtet sich also, auch sum, ein schon problematisches Konsumverhalten oder im Sinne einer Frühintervention, an Personen mit ersten eine Abhängigkeit, verlangen unterschiedliche Antwor- Symptomen oder einem manifesten Risikoverhalten. ten. Dies berücksichtigt unser Angebotskatalog mit der Selektive Prävention setzt im Gegensatz zur universel- Unterscheidung zwischen universellen, selektiven und len Prävention, die sich an die Gesamtbevölkerung oder indizierten Präventionsmassnahmen, was gleichzeitig einzelne Segmente davon richtet, gezielt bei Risikogrup- eine inhaltliche Präzisierung der Angebote ermöglicht. pen an. Diese können aufgrund von empirisch bestätigten Die Menschen stehen dabei immer im Mittelpunkt und Risikofaktoren klar bestimmt und die Präventionsmass- können ein auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenes Präven- nahmen auf sie fokussiert werden. So kann, auch im Sinne tionsangebot erwarten. einer Früherkennung, die Entwicklung von problemati- n schen Verhaltensweisen und (Sucht-)Erkrankungen ver- Fridolin Heer, Leiter der Suchtpräventionsstelle Zürcher Oberland mieden werden. Ein gutes Beispiel für selektive Präven- Impressum Inhalt Herausgeber: Die Stellen für Suchtprävention im Kanton Zürich. 4 Meldungen Zuschriften: info@suchtpraevention-zh.ch. Redaktions- und Produktions- leitung: Brigitte Müller, muellertext.ch. Redaktionsteam: Gabriela Hofer, 7 Heftchen verschlingen Nina Kalman, Ronja Schmid, Domenic Schnoz (Vorsitz), Esther Vogler. Essay Redaktion Meldungen aus der Suchtprävention: Annett Niklaus, Maja 8 Nahe bei den Menschen Sidler. Mitarbeiter/innen dieser Nummer: Jana Avanzini, Raquel Paz Interview mit Anna Feistle über Femmes-Tische Castro, Sabine Dobler, Anna Feistle, Markus Tschannen. Fotos: Anja Fonseka. Gestaltung: Fabian Brunner. Druck: FO-Fotorotar. 11 Vulnerable Gruppen im Fokus der Suchtprävention Suchtprävention laut & leise, Juni 2021 Abonnement, Adressänderung: www.suchtpraevention-zh.ch > Selektive und indizierte Prävention Über uns > Magazin laut & leise 13 Alternativen zur Giesskanne Die Beiträge und die Fotos in diesem «laut & leise» geben die Meinung Selektive Prävention in der Praxis der Autorinnen und Autoren wieder. Diese muss nicht mit der Meinung 16 Chance statt Strafe des Herausgebers, der Stellen für Suchtprävention im Kanton Zürich, Cannabis-Kurs übereinstimmen. Artikel, Fotos, Illustrationen sind urheberrechtlich geschützt und 17 Der Coach auf meinem Smartphone dürfen ohne Genehmigung der Redaktion nicht verwendet werden. Falls MobileCoach Alkohol Sie Interesse an einem Artikel haben: Anfrage bitte an Annett Niklaus 19 Die Gruppe als Ressource (annett.niklaus@uzh.ch). Kurs in Lebenskomptenzen 3
Meldungen Unfallprävention Interaktiver Velo-Fahrsimulator Alkoholisiert Velo zu fahren, kann ge- fährlich sein. Alkohol verlängert die Re- aktionszeit, beeinträchtigt den Gleichge- wichtssinn sowie das Sehvermögen und verschlechtert die Körperkoordination. Der neu entwickelte Velo-Fahrsimulator der kantonalen Fachstelle «Am Steuer Nie» lässt mit einem fixierten Velo und einer Virtual-Reality-Brille diese und andere brenzlige Verkehrssituationen er- leben. Eine Fahrt regt zum Hinterfragen des eigenen Verhaltens an und vermit- telt auf interaktive Weise Tipps für eine sichere Fahrt. Gleichzeitig werden die Velofahrenden an ihre Eigenverantwor- Tabakprävention: Testkäufe tung im Verkehr erinnert und erleben, wie Unaufmerksamkeit und Substanz- Massiv mehr Verkauf an Jugendliche konsum das Fahren beeinflussen. Der Velo-Fahrsimulator wird im Der verbotene Verkauf von Tabakpro- personal, beim Tabakverkauf immer Rahmen des Safety-Parcours an der dukten an unter 16-jährige Jugendliche einen Ausweis zu verlangen und das Cycle Week in Zürich vom 4. bis 8. August hat in diesem Jahr massiv zugenom- Alter zu überprüfen. Den Ausweis zu 2021 erstmals der breiten Öffentlichkeit men. Dies zeigen Testkäufe, die von verlangen, ist in der Schweiz noch keine präsentiert. Vorbeischauen und in die Januar bis April 2021 im Kanton Zürich Selbstverständlichkeit. Nicht selten Pedale treten lohnt sich! Ebenfalls steht durchgeführt wurden. In 57 Prozent der kommt es vor, dass Kundinnen und dieses einzigartige Präventionsmittel ab Testkäufe wurden Tabakprodukte an Kunden unhöflich auf die Frage nach August 2021 für die Gefahrensensibili- unter 16-Jährige verkauft. Das ist deut- dem Ausweis reagieren. Ihn dennoch sierung an Schulen, in Betrieben oder lich mehr als in den Vorjahren: 2019 konsequent zu verlangen, braucht Mut bei Veranstaltungen zur Verfügung. – wurden 15 Prozent und 2020 17 Prozent und argumentatives Geschick vom Ver- Aha-Erlebnis garantiert! (Am Steuer Nie) illegale Verkäufe festgestellt. Die Test- kaufspersonal. Die Stellen für Sucht- Infos: amsteuernie.ch > Fahrsimulatoren > käufe werden durch das Blaue Kreuz prävention führen dazu Beratungen und Velo-Fahrsimulator / cycleweek.ch Zürich im Auftrag des kantonalen Schulungen für Verkaufsstellen durch Tabakpräventionsprogramms durch- und halten Informationsmaterial bereit geführt. Sie sind im Gesundheitsgesetz (s. u.). Auf jalk.ch ist eine Online-Schu- des Kantons Zürich geregelt. lung zum Jugendschutz zu finden. Als einen möglichen Grund für Wer sich mit dem durch die Pan- den besorgniserregenden Anstieg der demie ohnehin belasteten Personal illegalen Verkäufe vermuten wir die solidarisch zeigen will, der zeigt den Suchtprävention laut & leise, Juni 2021 Maskentragpflicht. Diese erschwert die Ausweis beim Kauf von Tabakprodukten Einschätzung des Alters von blossem freiwillig. Die diesjährige Testkauf- Auge. Trifft diese Vermutung zu, sollten misere zeigt: Erst wenn die Ausweis- sich die Ergebnisse der Testkäufe nach kontrolle zur Selbstverständlichkeit dem Wegfallen der Maskentragpflicht wird, kann der Jugendschutz vollständig wieder deutlich verbessern. umgesetzt werden. (ZFPS/PG ZH) Damit der Jugendschutz gewähr- Online-Schulung: jalk-zh.ch leistet werden kann und sich die Beratungen: Regionale Suchtpräventionsstellen, Verkaufsstellen vor Bussen schützen siehe Rückseite Jugendschutzmaterial: suchtpraevention-zh.ch können, empfehlen wir dem Verkaufs- 4
Zürcher Forum P&G Gesunde und nachhaltige Schule Spielen und Prävention von Spielsucht Weiterbildung zur Kontaktperson Poker, Roulette, Sportwetten Sie wollen sich an Ihrer und Spielautomaten faszinie- Schule für Gesundheit ren sowohl offline als auch und/oder Nachhaltigkeit digital. Wie kann dabei ein engagieren? Bilden sie wirksamer Schutz der Spie- sich zur Kontaktperson lenden gewährleistet werden? weiter und unterstützen Wie können Präventions- und Sie Schulleitung und Behandlungsangebote die Kollegium bei der wirk- Anbieter unterstützen und samen Umsetzung dieser auf dieser Seite Präventions- Themenbereiche. Die bemühungen initiieren oder Weiterbildung «Unterwegs verstärken? Und welche zur gesunden und nachhaltigen Schule» startet am 10. September Angebote gibt es für Betroffene und Angehörige? Ge- 2021 an der PH Zürich und macht Sie fit für die Rolle der Kontakt- meinsam mit dem Zentrum für Spielsucht und andere person. Der Kurstag «Grundlagen zu Bildung für Nachhaltige Verhaltenssüchte, das sein 10-jähriges Wirken feiert, Entwicklung» steht auch bisherigen Kontaktpersonen sowie inte- beleuchtet das Zürcher Forum P&G diese Fragen. Es ressierten Steuergruppenmitgliedern von Netzwerkschulen offen. findet am 29. November statt. (PG ZH) Anmeldeschluss ist der 23. August 2021. (PH ZH) Infos ab Herbst: gesundheitsfoerderung-zh.ch/forum Web: phzh.ch/weiterbildungssuche, im Suchfeld Kurstitel eingeben Neue Broschüre Tagung Jugendschutz Pensionierung Selbstoptimierung in der Schule Neu auch Tabak auf jalk.ch und Gesundheit «Fitter, schö- Jalk.ch, das Online-Schulungstool Die Pensio- ner, erfolg- zum Jugendschutz beim Verkauf nierung ist reicher» – vor von Alkohol, ist ein Erfolg! Seit der ein grosser lauter Selbst- Aufschaltung im März 2016 haben Umbruch optimierung bereits über 16 000 User die Schu- und für viele werden Grund- lung absolviert und einen Nachweis auch mit bedürfnisse erlangt. In den vergangenen Monaten Stress und wie Schlaf, wurde das Angebot ergänzt. Neu Unsicherheit Ernährung gibt es in den Kapiteln «Wissen» und verbunden. oder Bewegung «Recht» auch Informationen zu Ta- Die neue zur Neben- bakprodukten. Die im Kapitel «Pra- Freiheit sache. Ist die xis» verfügbaren Fotostorys mit All- birgt viele Chancen, aber auch die Schule mitver- tagssituationen rund um den Verkauf Gefahr von Leere und Langeweile. antwortlich für den Trend? Wie kann von alkoholischen Getränken stehen Was können Sie tun, um diesen sie diesem entgegenwirken? Die Tagung auch für den Verkauf von Tabak. «Selbstoptimierung in der Schule» widmet Auf der Startseite von jalk-zh.ch Suchtprävention laut & leise, Juni 2021 Umbruch gut zu bewältigen und gesund zu bleiben? Die Broschüre sich am 2. November diesen Fragen. Sie können Interessierte seit April vermittelt Tipps für eine gute bietet Einblicke in wissenschaftliche Er- zwischen den beiden Online-Schu- Vorbereitung und Gestaltung des kenntnisse, gibt Hinweise auf Unterrichts- lungen «Ich verkaufe Alkohol» oder neuen Lebensabschnitts und ent- materialien und liefert Umsetzungsideen. «Ich verkaufe Alkohol und Tabak» hält Informationen zu einem risiko- Anmeldemöglichkeiten und Programm sind auswählen. Auch der Schulungs- armen Umgang mit Alkohol und ab September auf der Website der Suchtprä- nachweis lautet entsprechend der Medikamenten. (ZFPS) ventionsstelle des Mittelschul- und Be- Auswahl entweder auf «Alkohol» rufsbildungsamts aufgeschaltet. (MBA) oder «Alkohol und Tabak». (ZFPS) Bestellung und Download: suchtpraevention-zh.ch/infomaterial Web: suchtpraevention-zh.ch/MBA Web: jalk-zh.ch 5
Essay Heftchen verschlingen D ass ich in diesem Heft regelmäs- schwierige Zeiten im Angebot. Aber im- nur: «Es ist gescheiter, Zeitungen zu es- sig das Essay schreiben darf, ist mer war ein stabilisierender Rahmen da sen, als sie zu lesen.» Vermutlich schwä- nicht ganz selbstverständlich. und nie kam so viel Unglück zusammen, chelte der Qualitätsjournalismus bereits Weder habe ich fachlich viel Ahnung von dass es nicht mehr ertragbar war. Das damals, in den 90ern. Sucht, noch bin ich aktuell von einer Sucht kann sich jederzeit ändern. Nicht nur für Zeitungspapier schmeckte mir aber betroffen. Zum Glück ist es nicht meine mich, sondern auch bei meiner Frau oder ohnehin nicht, genauso wenig wie druck- Aufgabe, hier als Experte Auskunft zu ge- den Kindern. frische Bücher. Erst mit zwei, drei Jahr- ben. Das macht die Lektüre aushaltbar – Dass ich stets ohne Sucht war, stimmt zehnten entwickelten sie eine würzige hoffe ich. übrigens nicht ganz. In meiner Jugend Note. Ich erinnere mich an einen guten Es ist hingegen meine Aufgabe, mich kämpfte ich mit einer seltsamen Abhän- «Konsalik» aus den frühen 70ern. Auch über Suchtthemen zu informieren. Nicht gigkeit: Ich kaute Papier. Jetzt könnte man lustige Taschenbücher schmecken ganz in der Rolle als Essayschreiber, sondern sagen: «Haha, ein Kind nimmt Papier in witzig. Meist neigte ich zum Papier bun- in der Rolle als Vater. Eltern sollten sich den Mund. Das ist doch keine Sucht.» ter Magazine. Meine Favoriten waren nämlich frühzeitig mit allerlei Themen auseinandersetzen, die ihre Kinder ein- Eltern sollten sich frühzeitig mit allerlei Themen auseinander- mal betreffen könnten. Einfach um Be- setzen, die ihre Kinder einmal betreffen könnten. Einfach scheid zu wissen, bevor die Aktualität völlig unvorbereitet über die Familie her- um Bescheid zu wissen, bevor die Aktualität völlig unvorbereitet einbricht. Das gilt für Sucht, aber natür- über die Familie hereinbricht. lich nicht nur: auch für Liebe, Sexualität und Töffli frisieren. Doch ganz so harmlos war das nicht. Ich die uralten «Schweizer Illustrierten», die Dass ich nicht unter einer Sucht leide, habe komplette Heftseiten gegessen, von meine Eltern wohl nicht aufbewahrten, hat viele Gründe. Die persönlichen Vor- morgens bis abends, über Jahre hinweg. damit ich sie irgendwann verschlingen lieben spielen eine Rolle: Gamen finde ich Ich war Kettenpapieresser. Dabei wusste würde. so langweilig, dass mich weder die Play- ich, dass das ungesund ist und ich drin- Sucht ist komplex. Ich weiss weder, station noch der Blackjack-Tisch längere gend damit aufhören sollte. Ich nahm es weshalb ich anfing, Papier zu essen, noch Zeit fesseln. Zuletzt installierte ich vor mir auch immer wieder vor. Schwor mir, wie ich nach Jahren wieder davon los- ein paar Wochen auf Drängen meines sie- Papier nur noch lesend und schreibend zu kam. Bis zu diesem Essay habe ich übri- Suchtprävention laut & leise, Juni 2021 benjährigen Kindes das bekannte Smart- würdigen. Aber ich schaffte es nicht. Kei- gens nie jemandem davon erzählt. Vielen phone-Spiel Pokémon Go. Nach etwa 200 nen Tag hielt ich ohne Zellulose zwischen Dank fürs Zuhören. gefangenen Viechern hatte ich es gesehen. den Zähnen aus. Ich litt darunter, einem Bewusstseinsverändernde Substan- unerwünschten Verlangen psychisch der- n zen mag ich nicht, weil mein Bewusstsein art ausgesetzt zu sein. Versuchte alles zu sich unter Veränderung grausam peinlich verheimlichen, doch die fehlenden Seiten Markus Tschannen ist Papablogger, Kolumnist und Vater von Beebers (1) und dem Brecht (7). Er twittert benimmt. Aber es sagt sich leicht: «Mein der TV-Programmzeitschrift fielen auf. unter dem Namen @souslik. Suchtrisiko ist niedrig.» Das gilt vielleicht Meine besorgten Eltern schleppten für meine aktuelle, privilegierte Situation. mich zu einem Psychiater, der nicht helfen Klar, mein bisheriges Leben hatte auch konnte. Der Kinderarzt wiederum meinte 7
Anna Feistle, Standortleiterin Femmes-Tische, Suchtprävention Bezirk Meilen Nahe bei den Menschen Fördern, Brücken bauen und Wissen vermitteln sind Ziele von Femmes-Tische. Besonders wichtig ist, dass Migrantinnen sich kennen lernen, austauschen und vernetzen. Wie setzt Femmes-Tische diese Ziele um? Anna Feistle erzählt. Von Brigitte Müller laut & leise: Können Sie uns kurz erklä- l & l: Welche Aufgaben übernehmen Sie stärken. Wichtig ist, wie bereits erwähnt, ren, was Femmes-Tische und Männer-Ti- als Standortleiterin im Bezirk Meilen? das Suchen, Ausbilden und Begleiten von sche sind? Feistle:Eine meinerwichtigstenAufgaben Moderatorinnen. Je nach Thema über- Anna Feistle: Es ist ein niederschwelli- ist, Frauen aus verschiedenen Kulturkrei- nehme ich die Schulung oder organisiere ges Programm, das die Prävention und sen zu finden, die sich als Moderatorin- eine Fachperson, die fundiert Auskunft Gesundheit bei Migrantinnen und Mi- nen eignen. Ich bilde die Moderatorinnen geben kann. Eine weitere Aufgabe ist, den granten fördert. In über 20 Sprachen aus, bin ihre konstante Ansprechpartne- konstanten Kontakt mit Femmes-Tische werden schweizweit Gesprächsrunden rin und unterstütze sie mit wiederkeh- Schweiz zu gewährleisten. Zu erwähnen organisiert, an denen die Teilnehmenden renden Schulungen. Meine Beziehung ist zudem, dass Fachleute der Stellen für Suchtprävention im Kanton Zürich auch Meine Beziehung zu den Moderatorinnen ist ein Schlüssel, Autor/innen von Moderationssets sind. dass die Ziele von Femmes-Tische erreicht werden. l & l: Warum braucht es ein Angebot spe- Deshalb stehe ich stets im engen Kontakt mit ihnen, um ziell für Migrantinnen? zeitnah Fragen zu beantworten und Probleme zu klären. Feistle: Der Zugang zu Migrantinnen ist für Fachleute – beispielsweise aus Fragen rund um Familie, Gesundheit und zu den Moderatorinnen ist ein Schlüssel, der Suchtprävention oder der Elternbil- Integration diskutieren. Geleitet werden dass die Ziele von Femmes-Tische erreicht dung – teilweise schwierig. Dies, weil die diese Runden von ausgebildeten Modera- werden. Deshalb stehe ich stets im engen gegenseitigen Sprachkenntnisse oft nicht torinnen aus dem jeweiligen Kulturkreis. Kontakt mit ihnen, um zeitnah Fragen zu genügend sind, um komplexere Inhalte Dieses Jahr kann Femmes-Tische sein beantworten und Probleme zu klären. besprechen zu können, und Migrantin- 25-Jahr-Jubiläum feiern, denn im Juni nen die Angebote, die sie in ihren Anliegen 1996 wurde die erste Diskussionsrunde l & l: Welches sind die generellen Aufga- unterstützen könnten, oft nicht kennen. zum Thema Suchtproblematik durchge- ben der Stellen für Suchtprävention für Viele trauen sich nicht, Unterstützung führt. Femmes-Tische erhielt in den letz- dieses Programm? und Hilfe zu holen. Dank unserer Modera- ten Jahren verschiedene Preise und ist Feistle: Ein grosser Vorteil ist, dass wir torinnen entsteht ein sehr niederschwelli- mehrfach evaluiert worden. Im Kanton schon seit Jahrzehnten mit den Gemein- ger Zugang zu einer vulnerablen Gruppe, Zürich wird das lizenzierte Programm in den, Schulen, Kirchen und weiteren Ins- die oft am Rande der Gesellschaft steht. allen Regionen angeboten. titutionen vernetzt sind. Femmes-Tische Die Gespräche werden in der Herkunfts- werden oft im privaten Rahmen durch- sprache geführt und die Moderatorin Suchtprävention laut & leise, Juni 2021 l & l: Wie steht es um die Männer-Tische? geführt, aber auch in öffentlichen Räum- tauscht sich auf Augenhöhe mit den Mi- Feistle: Männer-Tische sind noch nicht lichkeiten ausgeschrieben. Mit unserem grantinnen aus. So entsteht ein herzens- so weit verbreitet wie die Femmes-Tische. Netzwerk können wir solche Räumlich- naherAustausch. In der Fachsprache wird Wir sind daran, diesesAngebot stetig auch keiten organisieren. So kann es sein, dass diese Ausgangssituation als Peer-to-Peer- für Migranten zu vergrössern. An diesen eine Schule uns bittet, zum Thema «Wie Ansatz bezeichnet. Männergesprächsrunden werden ähnli- funktionieren Schweizer Schulen?» einen che Themen wie bei den Frauen bespro- Femmes-Tisch bei ihnen durchzuführen. l & l: Was möchte Femmes-Tische den Mi- chen. Es werden aber auch zunehmend Oder wir können ein Eltern-Kind-Zen- grantinnen mit auf den Weg geben? spezifische Männerthemen wie beispiels- trum nutzen und gleichzeitig den Aus- Feistle:Femmes-TischebietetdenMigran- weise «Mann und Vater sein» diskutiert. tausch mit den regionalen Institutionen tinnen eine Plattform, sich untereinander 8
An einem Femmes-Tisch lernen sich Frauen in ähnlichen Lebenssituationen kennen und diskutieren in einem geschützten Rahmen über ihre Probleme und Sorgen. Sie erhalten Tipps und Informationen darüber, wie sie sich privat organisieren können, und über die unterschiedlichen Dienstleistungen, die bestimmte Fachstellen in der Gemeinde oder im Quartier anbieten. auszutauschen und sich zu vernetzen. Oft Es war ein grosser Aufwand, den Kontakt lungen nicht in ihrer Sprache übersetzt leben Migrantinnen sehr isoliert. An ei- digital überhaupt aufzubauen, denn nicht waren, andererseits brauchte es auch nem Femmes-Tisch lernen sich Frauen in jede Moderatorin war Smartphone- und eine kulturelle Übersetzung, weil sie eine ähnlichen Lebenssituationen kennen und Computer-affin. Unter anderem mussten andere Haltung vom Staat erwarten. Viele diskutieren in einem geschützten Rahmen sie das Problem lösen, wie und über wel- von ihnen sind es gewohnt, strikte Regeln über ihre Probleme und Sorgen. Sie er- chen Kanal sie sich als Gruppe austau- zu befolgen. Die Schweizer Mentalität von halten Tipps und Informationen darüber, schen können. Eigenverantwortung und Empfehlungen wie sie sich privat organisieren können, entspricht eher nicht ihren Gepflogenhei- und über die unterschiedlichen Dienst- l & l: Was ist für die Migrantinnen heraus- ten. Deshalb war es wichtig, zu erklären, leistungen, die bestimmte Fachstellen in fordernd während der Pandemie? wie sich sie und ihre Familie verhalten der Gemeinde oder im Quartier anbieten. Feistle: Die Pandemie verschärfte ihre sollen. Zudem erhielten sie teilweise aus Das Ziel ist, die Migrantinnen zu fördern, schwierige Lage nochmals und viele Mi- ihren Heimatländern widersprüchliche zu unterstützen und zu stärken und ihnen grantinnen erleben prekäre Situatio- Nachrichten, auch Fake News. Zurzeit ist Wissen, Sicherheit, Vertrauen und viel- nen. Sie wohnen mit vielen Personen auf das Thema Impfen relevant. Dank dem leicht sogar Freundschaften zu vermitteln. engstem Raum, sie haben Angst um den aufgebauten Vertrauen nehmen die Frau- Job, Beziehungsprobleme haben sich ver- en die Informationen der Moderatorin- l & l: Wie läuft eine Femmes-Tische-Ge- schärft und finanziell reicht das Geld nicht nen als verlässlich und sicher wahr. sprächsrunde ab? mehr. Zudem machen sich viele Sorgen Feistle: Zirka fünf bis acht Frauen treffen um ihre Familien in ihren Heimatlän- l & l: Neben der Beziehungspflege, was ist sich zu dieser organisierten Gesprächs- dern, denen es oft noch schlechter geht. für die Migrantinnen wichtig beim Aus- runde und unterhalten sich beispielswei- Das «Home-Schooling» bereitete anfangs tausch mit ihrer Moderatorin? se über das Thema «Gesund sein – gesund grosse Schwierigkeiten, alle sollten am Feistle: Die Moderatorinnen und die Mi- bleiben» während ungefähr zwei Stunden. Computer arbeiten, aber oft waren weder grantinnen erleben sich selber als kompe- Zu Beginn bringt die Moderatorin mit Hil- ein Computer noch Computerkenntnisse tent. Sie können sich gegenseitig bestär- fe von Bildern verschiedene Aspekte zum vorhanden. Die Informationen von der ken und Mut machen. Mit denvermittelten gewählten Thema ein. Nach dieser Ein- Schule waren nur in Deutsch und oft zu Informationen und demWissen trauen sie führung ins Thema wird die meiste Zeit komplex, um von den Eltern verstanden sich, für sich und ihre Familie Lösungen fürs Diskutieren verwendet. Im Gespräch zu werden. zu finden und beispielsweise bei einer werden auch konkrete Tipps und Adres- Fachstelle Hilfe zu holen. Ganz wichtig sen, wo man sich Hilfe holen kann, vermit- l & l: Wie kann Femmes-Tische während ist auch, dass sie Vertrauen aufbauen telt. Zum Abschluss wird es gesellig und der Pandemie helfen? können, einerseits zur Moderatorin, aber die Frauen tauschen sich bei Getränken Feistle: Allein die Erkenntnis, dass sich auch gegenüber sich selber. Und nicht zu und Essen über Alltägliches aus. die anderen Frauen in derselben Situa- vergessen, dass sich die Migrantinnen tion befinden, kann helfen. Die Gesprä- wohlzufühlen beginnen in ihrer Nachbar- l & l: Was hat sich wegen der Pandemie für che mit den Moderatorinnen waren schaft. Dies ist einer dervielen Schritte für Suchtprävention laut & leise, Juni 2021 Femmes-Tische geändert? und sind für viele Migrantinnen wie ein eine gute Integration. Feistle: So ziemlich alles! Selbstverständ- Anker in ihrem sorgenvollen Alltag. Des- lich konnten auch die Femmes-Tische halb war es bedeutend, dass sich unsere l & l: Welche Themen werden in «norma- nicht mehr stattfinden. Man kann sagen, Moderatorinnen baldmöglichst bei ihren len» Zeiten diskutiert? die Corona-Massnahmen raubten unse- Femmes-Tische-Frauen meldeten, um Feistle: Innerhalb der Hauptthemen Ge- rer Methode das Herz. Es war aber wich- sich regelmässig mit ihnen auszutau- sundheit, Familie, Integration ist die The- tig, dass ich mit den Moderatorinnen und schen. Zu Beginn der Pandemie war es für menpalette sehr breit. Ich nenne einige diese mit ihrer Gruppe konstant in Kon- Migrantinnen schwierig, die Regeln des Beispiele: Jugend und Alkohol, Budget- takt blieb, um zu erfahren, wie es allen Bundesamts für Gesundheit zu verstehen. kompetenz, Liebe, Ehe, Partnerschaft, geht und wie sie die Situation meisterten. Einerseits, weil die Regeln und Empfeh- mehrsprachig aufwachsen und so weiter. 9
Viele Themen beschäftigen sich auch mit Elternbildung wie «Fit für den Kinder- garten» bis zur Berufswahl. Gerade auch in Coronazeiten ist das Thema «Digitale Medien» wichtig, denn viele Kinder haben sich an mehr Bildschirmzeit zu Hause ge- wöhnt. l & l: Wie profitieren die Moderatorinnen von ihrer Arbeit bei Femmes-Tische? Feistle: Die Moderatorinnen erfüllen ihre Aufgabe freiwillig, sie erhalten zwar eine kleine Entschädigung, aber diese ent- spricht mitnichten der Leistung, die sie erbringen. Es geht ihnen vor allem um die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit. Öfters kann dieArbeit für Femmes-Tische für eine Mo- deratorin ein Sprungbrett für die berufli- che Entwicklung sein, kommt sie doch in Kontakt mit vielen Fachstellen. Sie erhält selbstverständlich auch ein Arbeitszeug- nis, das sie Bewerbungen beilegen kann. l & l: Was macht das Programm aus Ihrer Sicht so erfolgreich und beständig? Feistle: Das Angebot ist für die Migrantin- nen niederschwellig, die Veranstaltungen werden in der Herkunftssprache geführt und die Methode basiert auf Beziehung und Vertrauen. Es ist ein Angebot von Menschen für Menschen, das nachhaltig wirkt. Für mich selber ist die Arbeit für Femmes-Tische eine Herzensangelegen- heit. n Suchtprävention laut & leise, Juni 2021 Anna Feistle ist Standortleiterin der Femmes-Tische im Samowar Meilen. Sie ist Lehrerin, hat Soziologie studiert und lebte selber über zwei Jahre an verschie- denen Orten im Ausland. Brigitte Müller, Texterin und Redaktionsleiterin «laut & leise», stellte die Fragen. Mehr Informationen: www.femmestische.ch 10
Selektive und indizierte Prävention – Einordnung der Begriffe und Definition Vulnerable Gruppen im Fokus der Suchtprävention Selektive und indizierte Interventionen reagieren auf Vulnerabilität und wirken gezielt. Ihr Einsatz erfordert eine klare Identifikation der Zielgruppen und ein sensibles Vorgehen. So kann eine Stigmatisierung verhindert werden. Von Sabine Dobler V or zwei, drei Jahrzehnten hat man innen, junge Straftäter/innen. Auch ein konsumierende Jugendliche richteten, Präventionsansätze in erster Linie Kontext, in dem sich Personen aufhalten, wurde mit einer Zunahme des Substanz- in Hinblick auf den Zeitpunkt der kann Anlass für selektive Präventions-In- konsums in Verbindung gebracht (Wicki Intervention unterschieden: Primäre Prä- terventionen geben, zum Beispiel das et al., 2000). Die Gründe dafür ortete man vention will das Auftreten von Krankhei- Nachtleben. in der Etikettierung als «Risikopersonen» ten und Problemen verhindern. Sie richtet und im vermehrten Kontakt mit anderen sich an gesunde Personen mit oder ohne Indizierte Prävention konsumierenden Jugendlichen, was eine Risikofaktoren. Sekundäre Prävention Solche Projekte richten sich an Personen, gegenseitigen Bestärkung im problemati- will Probleme früh erkennen und eine be- die bereits ein Risikoverhalten zeigen, schen Verhalten zur Folge hatte. stehende Problematikverbessern oder be- ohne aber im diagnostischen Sinn sucht- endigen. Tertiäre Prävention will Folgen krank zu sein. Beispiele sind etwa Jugend- Sorgfalt und Transparenz einer Erkrankung mildern, Folgeschäden liche und junge Erwachsene, die punktu- Beim Erarbeiten von selektiven und verhindern, Rückfällen vorbeugen. ell exzessiv Alkohol konsumieren, ältere indizierten Suchtpräventionsprojekten Personen mit chronisch risikoreichem müssen Fachleute also darauf achten, die Zielgruppen definieren Alkoholkonsum oder Jugendliche, die we- Zielgruppen so abzuholen und zu beglei- Heute hat sich in der Suchtprävention gen Cannabis eine Massnahme verordnet ten, dass Stigmatisierung und andere ne- die Unterscheidung der Ansätze nach der bekommen. Bei diesen Ansätzen können gative Auswirkungen vermieden werden. Vulnerabilität (Verletzbarkeit) der Ziel- vulnerable Einzelpersonen aufgrund Das beginnt bei einer sorgfältigen Wahl gruppen etabliert: Während sich univer- eines Vorfalls oder über Früherkennung von Begriffen, reicht über Transparenz als selle Prävention an alle oder an Personen identifiziert und zu einer Teilnahme an Grundwert, eine konsequente Ressour- einer bestimmten Bevölkerungsgruppe einer Massnahme verpflichtet oder moti- cenorientierung bis hin zur Handhabung richten, will die selektive Prävention viert werden. des Datenschutzes und zu strukturellen vulnerable und die indizierte Prävention Massnahmen. Der Leitfaden der Sucht- bereits klarer gefährdete Zielgruppen an- Risiken und Nebenwirkungen präventionsstelle der Stadt Zürich «Stig- sprechen. Teilweise wird noch weiter un- Die Zielsetzungen von selektiven und in- matisierung – Zum Umgang mit Risiken terschieden zwischen «universellen» und dizierten Präventionsmassnahmen und und Nebenwirkungen der Suchtpräven- «zielgruppenspezifischen» Ansätzen, wo- ihr direkter Zugang zu vulnerablen Grup- tion» bietet dafür eine fundierte Grund- bei «universelle» Ansätze in diesem Fall pen leuchten ein. Die betroffenen Perso- lage. flächendeckend sind und «zielgruppen- nen können von einem solchen Ansatz spezifische Ansätze» sich an bestimmte besser profitieren als von einem uni- n Bevölkerungssegmente richten. versellen Zugang. Es reicht aber nicht, Sabine Dobler ist Projektleiterin in der Präventions- Suchtprävention laut & leise, Juni 2021 die Risikogruppen zu identifizieren und abteilung der Stiftung Sucht Schweiz, Lausanne. Selektive Prävention einfach loszulegen. Die Identifikation Literaturhinweise: Die Zielgruppen sind gesund und zeigen als «Risikoträger» kann psychisch belas- • Wicki, W. et al. (2000): Präventionsforschung kein auffälliges Verhalten, aber sie haben ten, stigmatisieren und etikettieren. Eine bei Jugendlichen im Suchtbereich. Erkenntnisse erhöhte Risiken. Zur Identifikation wer- Übersichtsstudie aus dem Jahr 2000 zeig- für die Praxis. In: Bundesamt für Gesundheit den biologische, psychologische, soziale te: Nicht immer erzielen Projekte, die sich BAG: Suchtforschung des BAG 1996–98, Band 2/4: Prävention, 2–13. oder umweltbezogene Risikofaktoren he- auf bestimmte Risikogruppen ausrichten, • Christa Berger, Leitfaden «Stigmatisierung – Zum rangezogen. Zielgruppen selektiver Prä- die erwünschte Wirkung: Ein Viertel der Umgang mit Risiken und Nebenwirkungen der vention sind beispielsweise Kinder mit in dieser Studie einbezogenen sekun- Suchtprävention», 2012, Herausgeber: Suchtpräven- suchtkranken Eltern, Schulabbrecher/ därpräventiven Programme, die sich an tionsstelle der Stadt Zürich. 11
Selektive Prävention in der Praxis Alternativen zur Giesskanne Alle bekommen den gleichen Inhalt serviert: Prävention nach dem Giesskannenprinzip. Setzt man jedoch auf selektive Prävention, kommen verschiedene Zielgruppen ins Spiel – und damit auch die vulnerablen Gruppen. Von Jana Avanzini D ass nicht alle Menschen mit den Prägungen durch Familie oder Umfeld, an täglichen Strukturen und Taktgeber», so gleichen Voraussetzungen ins Le- Strukturen im Alltag, oder auch einer hö- Berger. Chronischer Stress und eine hohe ben starten, ist keine Neuigkeit. heren Verwundbarkeit durch persönliche physische Belastung – sei es zuhause oder Auch dass es Menschen gibt, die ein erhöh- Erlebnisse, so Berger. «Es sind auf jeden im Job – zählen zu den Faktoren, die die tes Risiko haben, an bestimmten Dingen Fall Gruppen in unserer Gesellschaft, Vulnerabilität erhöhen. Missbrauch und zu erkranken. Oder dass Menschen durch die eine höhere Aufmerksamkeit verdie- Gewalt, Armut oder chronische Krank- bestimmte Ereignisse eher Gefahr laufen, nen», so erklärt es Gabriela Hofer von der heiten, auch Traumata durch Krieg oder eine Sucht zu entwickeln. Risikogruppen, Suchtprävention der Bezirke Affoltern Flucht sind weitere Risikofaktoren. nannte man sie lange. Heute nutzt man und Dietikon. den Begriff der Vulnerabilität, Verletzlich- Wenn sich Faktoren potenzieren keit. «Es ist definitiv der sympathischere Besonders Kinder im Fokus Ein bestimmtes Mass an Stress und Rück- Begriff als Risiko beziehungsweise Risi- Die grösste Gruppe, die man als vulnerabel schlägen vertrage der Mensch gut. «Doch kogruppen», sagt Christa Berger von der einstuft und der in der Präventionsarbeit es gibt bei allen den Punkt, wo es zu viel Suchtpräventionsstelle der Stadt Zürich. verhältnismässig viel Aufmerksamkeit wird», meint Berger. Dann dürfe man zukommt, umfasst Kinder und Jugend- nicht vergessen, dass bestimmte Men- Drei Zielgruppen liche aus Familien mit suchterkrankten schen durch ihre Genetik oder durch Der Bezug zur Vulnerabilität entstand in den 1980er-Jahren durch den Psychologen Vulnerabel bedeutet nicht, dass jemand bereits süchtig und Psychotherapeuten Robert S. Gordon in Zusammenhang mit seiner Einteilung ist oder süchtig wird. Es geht lediglich darum, in unterschiedliche Zielgruppen. Gor- damit Menschen zu bezeichnen, die eine höhere don definierte zum einen die universelle Prävention, die alle gleichermassen an- Anfälligkeit haben, eine Sucht zu entwickeln. spricht – das Giesskannenprinzip. Des Weiteren sprach er von der indizierten Eltern. «Jedes siebte Kind in der Schweiz ihren Charakter eher anfällig sind, stär- Prävention, die das Individuum in den ist betroffen von den Belastungen durch ker auf Suchtmittel anzusprechen. «Es ist Fokus stellt, das bereits Suchtverhalten Sucht ihrer engsten Bezugspersonen», beispielsweise bekannt, dass wir Frauen, zeigt. Und schliesslich die selektive Prä- so Hofer. Und ebendiese Kinder seien sowie Menschen mit indigenen und asia- vention, die spezifisch auf vulnerable stärker gefährdet, später selbst süchtig tischen Wurzeln Alkohol schlechter ver- Gruppen zugeschnitten ist. «Gordons Ein- zu werden. Ein Drittel dieser Kinder ent- tragen», sagt Christa Berger. teilung in drei Zielgruppen hat die Präven- wickle im Leben eine Sucht. Ein weiterer Das Umfeld oder Strukturen, in denen Suchtprävention laut & leise, Juni 2021 tionsarbeit differenziert», so Berger. Drittel leide später an anderen Formen man sich bewegt, können das Risiko einer «Wichtig ist bei diesen Definitionen psychischer Erkrankungen. Und lediglich Suchtentwicklung begünstigen oder ver- immer, dass vulnerabel nicht bedeu- ein Drittel gehe in dem Sinne «unbescha- hindern. Als Beispiele nennt Gabriela tet, dass jemand bereits süchtig ist oder det» aus solchen Strukturen hervor. Hofer die Arbeit im Gastgewerbe, wo eine süchtig werden muss», merkt Christa Zu den vulnerablen Gruppen zählen grössere Zugänglichkeit zu Alkohol be- Berger dabei an. Es gehe lediglich darum, beispielsweise auch Alleinerziehende – steht, bestimmte Berufsbranchen, in de- damit Menschen zu bezeichnen, die eine besonders solche mit vielen Kindern. nen Kokain dazugehört oder das Bier in höhere Anfälligkeit haben, eine Sucht zu «Auch Erwerbslosigkeit oder der Über- der Pause. Und doch existiert kein vorge- entwickeln. Das könne an unterschiedli- gang in die Pension vermehrt gefährden- zeichneter Weg in eine Abhängigkeit und chen Faktoren liegen: an Erziehung und de Faktoren – konkret der Verlust der all- es ist nie möglich, eine Suchterkrankung 13
vorauszusehen. Selbst wenn sich Risi- achtet, welche Informationen Müttern nen Alkohol trinkt und für die Freunde kofaktoren potenzieren, muss das nicht und Vätern dabei helfen können, im All- den Fahrdienst übernimmt. Im Gegenzug zwangsläufig bedeuten, dass jemand ab- tag mehr Abwechslung und Eindrücke für erhalten die registrierten «Angels» an der hängig wird, es erhöht sich allenfalls die die Kinder einzubauen. jeweiligen Veranstaltung – der Chilbi in Wahrscheinlichkeit. Wetzikon zum Beispiel – alkoholfreie Ge- Brücken bauen tränke zu einem vergünstigten Preis. So Hürden verhindern Ein Paradebeispiel für erfolgreiche se- muss man sich bei allen möglichen vulne- Die grosse Herausforderung bei einer se- lektive Präventionsarbeit sei das Pro- rablen Gruppen separat anschauen, wie lektiven Präventionsarbeit besteht darin, jekt Femmes-Tische, das betonen sowohl man sie erreichen kann. die Menschen überhaupt zu erreichen, Gabriela Hofer als auch Christa Berger. die man erreichen möchte. «Mit dem Das Projekt erreicht mittlerweile in der Das Risiko der Stigmatisierung Giesskannenprinzip, mit Flyern, Artikeln Schweiz jährlich über 10 000 Menschen Dass heute der Begriff der Vulnerabilität und Mailings erreicht man oft gerade die in mehr als 20 Sprachen. verwendet wird, hat viel damit zu tun, eine Menschen, die sich sowieso schon inter- Femmes-Tische, oder auch Männer-Ti- Stigmatisierung der betroffenen Gruppen essieren, die reflektieren und sich infor- sche, sind moderierte Gesprächsrunden zu vermeiden. Denn Suchtprävention und mieren», so Hofer. Man erreiche die pri- zu unterschiedlichsten Themen, die in Stigmatisierung seien in unheilvoller Al- vilegierten Menschen, die Zeit haben, oft privaten Wohnzimmern stattfinden. Mi- lianz miteinanderverbunden, erzählt Ber- auch einen höheren Bildungsstand und grantinnen seien oft schwierig zu errei- ger. Und trotzdem ist es schwierig, vulne- die nötigen Finanzen. chen. Hier braucht es sogenannte Brü- rable Gruppen nicht zu benennen, wenn Ein Beispiel dafür seien die klassischen ckenbauer/innen oder Multiplikatoren. man sie anzusprechen versuche, sagt Ga- Elternabende, sagt Christa Berger. Um da- «Man arbeitet beispielsweise, um Mig- briela Hofer. Welche Begriffe man jedoch ran teilnehmen zu können, brauche man rant/innen anzusprechen, mit Schlüssel- verwende, spiele dabei eine grosse Rolle. einen freien Abend, Geld für einen Baby- personen zusammen, die beide Sprachen «Natürlich reicht es nicht, nur den Begriff sitter und so weiter. Um also die Eltern sprechen, in ihrem Kulturkreis ein gutes zu ändern», sagt Christa Berger. Es gehe anzusprechen, die sich den Besuch eines Netzwerk besitzen und in ihren Commu- darum, wie man Menschen anspreche, dass man auf Augenhöhe und partizipa- Die grosse Herausforderung bei einer selektiven tiv kommuniziere, Vertrauen schaffe und zuhöre. Aber auch, dass man den Benefit Präventionsarbeit besteht darin, die Menschen überhaupt eines Angebots aufzeigen könne. Denn oft zu erreichen, die man erreichen möchte. bestehe ja kein Leidensdruck, es handelt sich nicht um Menschen mit Suchtprob- Elternabends nicht leisten können oder nities respektiert werden», so Berger. Man lemen. «Man muss Bedürfnisse abholen, den Sinn darin nicht sehen, muss man spricht dann auch von Peers – nicht nur nicht als Expertin mit Lösungen auftau- sie andernorts finden. Man versuche zum bei Jugendlichen, sondern in allen Gesell- chen für Probleme, die die Leute – noch – Beispiel, Elternangebote auch an Arbeits- schaftsgruppen. gar nicht haben. Wir müssen immer die Suchtprävention laut & leise, Juni 2021 plätzen bekannt zu machen oder bei sozia- Ein weiteres Beispiel für ein erfolg- Ressourcen und nicht die Probleme fokus- len Diensten, die Menschen mit geringem reiches selektives Präventionsprojekt für sieren», führt Hofer aus. Einkommen besuchen. Oft wird auch über junge Erwachsene ist «be my angel to- Bei der Pensionierung biete es sich Angebote in Siedlungen die Hürde genom- night». Dabei sprechen junge Erwachsene beispielsweise sehr gut an. Da die Her- men – allenfalls gleich mit einem Kinder- Gleichaltrige an, die mit demAuto da sind, ausforderungen der Pension mittlerweile hütedienst dazu. Das Projekt Zeppelin im und motivieren sie dazu, vor Ort gleich zu bekannt und akzeptiert seien und da viele Bezirk Affoltern nennt Gabriela Hofer in verabreden, wer nach dem Ausgang wen Menschen sich zur Pension hin finanziell diesem Zusammenhang. Dabei werden nach Hause fährt. Dann wird vor Ort eine beraten lassen, können zusätzliche Ange- Eltern bei der Förderung ihrer Kinder schriftliche Vereinbarung unterschrie- bote gut aufgenommen werden. Auch hier zuhause unterstützt. Es wird darauf ge- ben, dass diese Person an dem Abend kei- sei es entscheidend, den Fokus im Auge 14
«Angebote sind oft zu mittelschichtsorientiert, nicht nur in der Präventionsarbeit, sondern in sehr vielen Bereichen unserer Gesellschaft. Deshalb entwickeln wir neue, innovative und niederschwellige Formate, um vor Ort mit den Menschen in den Dialog zu kommen», begründet Christa Berger. zu haben, so Berger. «Es geht darum, Res- gerade im Alter», so Hofer. Hier wird in Der Aufbau solcher Projekte kann auf- sourcen zu stärken, zu aktivieren, und den einigen Gemeinden nun mit aufsuchen- wändig sein und verlangt nicht nur von Personen bewusst zu machen, dass so ein der Altersarbeit entgegengewirkt. Dabei Gemeinden und Sozialdiensten eine Be- Wechsel auch Chancen und Möglichkei- werden Menschen ab einem gewissen reitschaft, sich auf neuartige Angebote ten bietet.» Alter zuhause besucht, um Bedürfnisse einzulassen und sich ein Verständnis für zu erkennen und Angebote vorzustellen. die selektive Prävention zu erarbeiten. Das heikle Schuld-Thema Andere Gemeinden, wie beispielswei- Aber es lohne sich, andere Zugänge auszu- Wichtig sei, dass man die Menschen durch se Horgen, bauen Siedlungsassistenzen probieren und die Ressourcen zu bündeln, die selektive Prävention nicht in eine Risi- auf, die ihr Büro in der Siedlung selbst damit vulnerable Menschen direkt von der ko-Schublade stecke. Denn das könne die haben und damit Beziehungen und Nähe Prävention profitieren können, darüber psychische Belastung noch verstärken, er- aufbauen können. «Angebote sind oft zu sind sich beide Fachfrauen einig. klärt Gabriela Hofer: «Wenn ich das Ge- mittelschichtsorientiert, nicht nur in der fühl bekomme, ein Risikofaktor für meine Präventionsarbeit, sondern in sehr vielen n Kinder zu sein, ist das extrem kontrapro- Bereichen unserer Gesellschaft. Deshalb duktiv. Dass ich wegen meiner Armut oder entwickeln wir neue, innovative und nie- Jana Avanzini ist freischaffende Journalistin und Co-Redaktionsleiterin des Kultur- und Satiremagazins meiner Trennung Schuld daran habe, dass derschwellige Formate, um vor Ort mit den «Kultz». Sie lebt mit ihrem Partner und dem gemeinsa- meine Kinder süchtig oder krank werden Menschen in den Dialog zu kommen», be- men Sohn in Luzern. könnten.» gründet Christa Berger. Eigentlich müssten viele der Angebote schlicht zum guten Ton gehören, so Hofer. Wie bei der Mütter- und Väter-Beratung. «Wenn etwas gesellschaftlich anerkannt ist und es alle nutzen, dann fällt die Stig- Weitere Angebote der Stellen für matisierung weg.» Dann gebe man nie- mandem das Gefühl, dass er oder sie et- Suchtprävention im Kanton Zürich was benötige, das andere nicht brauchen. Für Eltern/Jugendliche eines Ereignisses. Arbeit mit Oder dass sie etwas nicht selbst können, • Bedarfsorientierte Einzel- und Schülergruppe(n) bezüglich die anderen aber schon. Man muss nicht Gruppengespräche bei riskantem Risikoeinschätzung und Konsum- immer mit den Menschen direkt suchtprä- Konsum von Tabak, Alkohol, Canna- verhalten. ventiv arbeiten, sagt auch Christa Berger. bis oder Onlinemedien (Games, • Motivierende Gruppenkurz- Bei Familien oder Kindern, die in anderen Social Media). intervention «Rauschtrinken» an Zusammenhängen bereits gut begleitet Kantonsschulen oder weiter- werden, sei es durch einen Sozialdienst Für Schulen führenden Schulen. • Beratung und Coaching von oder schulische Zusatzangebote, kann Schlüsselpersonen (Lehrpersonen, Für Sozial- und Jugendarbeitende, es sinnvoller sein, die entsprechenden Suchtprävention laut & leise, Juni 2021 SSA, SL) Frühbereich und weitere Interessierte Fachleute zu sensibilisieren und Informa- • Angebote zu Früherkennung und • Kurse in Motivierender Kurzinter- tionsmaterial über diese Kanäle weiterzu- Frühintervention. vention (Move). verbreiten. • Kurse in Motivierender Kurzinter- • Angebote zu Früherkennung und Einsamkeit – eine Knacknuss vention (Move) für Schulsozialar- Frühintervention. Doch meist brauche es einen Zusatzeffort, beitende und Schulteams. Kontakt zur Stelle in Ihrer Region siehe um mit allen Menschen in Kontakt zu kom- In einzelnen Regionen zusätzlich diese Adressen Rückseite und mehr Informa- men. So besonders auch, um die Menschen Angebote: tionen unter suchtpraevention-zh.ch zu erreichen, die unter Einsamkeit leiden. • Gezielte Klasseneinsätze aufgrund «Einsamkeit ist eine grosse Knacknuss – 15
Cannabis-Kurs Chance statt Strafe «Vor allem die möglichen Auswirkungen vom Kiffen auf die Psyche sind schon krass. Das hat mich wirklich zum Nachdenken gebracht.» Rückmeldungen wie diese zeigen, dass der Cannabis-Kurs seine Spuren hinterlässt. Von Ronja Schmid A m Cannabis-Kurs nehmen 12- bis wie beispielsweise das eigene riskante aufhören kann. Wenn Jugendliche zum 18-Jährige mit einer Verzeigung Verhalten zu überprüfen: Welcher Risi- ersten Kursteil kommen, sind sie meis- teil. Diese Jugendlichen sind von kotyp bin ich? Oder sich auf dem Sucht- tens nicht sonderlich motiviert. Während der Polizei beim Kiffen oder mit Canna- kontinuum einzuordnen. Kiffe ich für den des Kurses sind sie dann aber grössten- bis in der Tasche erwischt worden. Sind Genuss oder bin ich eigentlich schon ab- teils engagiert und machen aktiv mit. Den die Jugendlichen minderjährig, leitet die hängig? Eine weitere Aufgabe ist das Her- Teilnehmenden wird von der Kursleitung Polizei die Fälle an die zuständige Jugend- ausarbeiten von Vor- und Nachteilen der eine respektvolle und wertschätzende anwaltschaft weiter. Diese entscheidet, ob Substanz Cannabis. Anschliessend dis- Grundhaltung entgegengebracht. Hinzu die Jugendlichen am Cannabis-Kurs teil- kutiert die Gruppe diese Fragen und die kommen Empathie, Offenheit sowie ein nehmen müssen oder welche weiteren Kursleitung klärt mögliche Unklarheiten ehrliches Interesse an den Jugendlichen. Konsequenzen folgen werden. Möglich ist auf. Die Teilnehmenden werden angeregt, Die Kursleitung richtet die Aufmerksam- auch die Zuweisung zur Einzelberatung die Auswirkungen ihres Konsums zu re- keit nicht primär auf einen problema- bei einer Jugendberatungsstelle. flektieren und über die möglichen Folgen tischen Cannabiskonsum, sondern auf für ihre Zukunft nachzudenken. Oder die Ressourcen und die Fähigkeiten der Kurzintervention die Kursleitung fragt, ob jemand jüngere Jugendlichen. Ermutigung ist wirksamer Der Cannabis-Kurs gilt als Kurzinter- Geschwister habe und was sie diesen in als Kritik. vention für Jugendliche, die allenfalls in Bezug auf Cannabis raten würden. «Ich einer schwierigen Lebensphase stehen tue alles dafür, dass mein kleiner Bruder Konsum dokumentieren und denen ein Signal helfen kann, besse- nicht mit dem Kiffen anfängt. Es ist nicht Zwischen den zwei Kursmodulen erhalten re Lösungen für sich zu finden. Cannabis- gut für ihn.Ausserdem soll aus ihm einmal die Jugendlichen die Aufgabe, ihren Kon- bedingte Probleme, seien sie gesundheit- etwas werden. Denn ich habe meine El- sum zu dokumentieren und am Morgen lich, sozial oder juristisch, können für die tern schon genug enttäuscht», so einer der vor dem Kurs nicht zu kiffen. Ein Jugend- Jugendlichen und ihren Lebensverlauf teilnehmenden Jugendlichen. Die Aufga- licher, der normalerweise jeden Morgen drastische Folgen mit sich bringen. Der be der Kursleitung ist es nun, dem Jugend- einen Joint raucht, erzählt ehrlich: «Heu- Cannabis-Kurs umfasst zwei Module à lichen den Widerspruch in seinerAussage te habe ich sehr gekämpft, doch ich habe je zweieinhalb Stunden und findet in der aufzuzeigen: «Also, wenn ich dich richtig es geschafft nur CBD zu rauchen.» Die Freizeit der Jugendlichen statt. Alle 12- bis verstanden habe, möchtest du nicht, dass Kursleitung nimmt dazu Stellung: «Toll, 18-Jährigen aus dem Kanton Zürich kön- dein kleiner Bruder anfängt zu kiffen. Du dass du dir die Hausaufgabe zu Herzen nen am Cannabis-Kurs teilnehmen, bei weisst also, dass Kiffen nicht guttut. Trotz- genommen hast und deinem Verlangen einer Anmeldung durch die Jugendan- dem kiffst du weiter. Wie gehst du damit widerstehen konntest. Gras ohne ‹high› Suchtprävention laut & leise, Juni 2021 waltschaft ist der Kurs verpflichtend. In um?» Der Jugendliche grinst: «Tja, es ist machende Wirkung zu rauchen, ist doch einigen Bezirken findet parallel zum Kurs halt schwierig, aufzuhören, wenn man eine guteAlternative, auf die du in Zukunft ein Elternabend statt. mal angefangen hat.» zurückgreifen kannst. Bravo!» Aktive Auseinandersetzung Ressourcen stärken n Der Cannabis-Kurs bietet Raum für eine Diese Aussage zeigt, dass der Jugendli- offene und konstruktive Auseinanderset- che über das Gesagte nachgedacht hat. Er Ronja Schmid macht den BSc Gesundheitsförderung und Prävention an der ZHAW und ist Praktikantin zung mit dem eigenen Cannabiskonsum. wird vermutlich auch nach dem Kurs noch bei der Suchtprävention der Bezirke Affoltern und Die Teilnehmenden erhalten von der weiterdenken. Im besten Fall wird er sich Dietikon. Kursleitung unterschiedliche Aufgaben beweisen wollen, dass er sogar mit Kiffen 16
MobileCoach Alkohol Der Coach auf meinem Smartphone Wie können Jugendliche mit präventiven Botschaften erreicht werden, die sie dazu motivieren wollen, weniger oder gar keinen Alkohol zu trinken? Sind solche Botschaften in Zeiten von Corona von Belang? Von Raquel Paz Castro S eit über einem Jahr wütet eine Fachstelle zur Prävention des Suchtmit- Botschaften. Zum Beispiele können wei- Pandemie. So etwas erleben die telmissbrauchs (ZFPS) entwickelt: Beim terführende Informationen, wie Videos, Jugendlichen in unseren Breiten- Programm handelt es sich um eine inter- elegant in den Coaching-Dialog eingebaut graden zum ersten Mal. Die Schlagzeilen aktive Coaching-App, die helfen soll, im werden und müssen nicht erst über einen im Frühling 2021 überschlugen sich förm- Umgang mit anderen sicherer zu werden Link abgerufen werden. Wichtig ist, dass lich: Jugendliche wurden durch Alkohol- und risikoreichen Alkoholkonsum zu re- die App mit ihren digitalen präventiven exzesse und aggressives Verhalten im duzieren. Nach einer kurzen Befragung Botschaften auch einen Platz auf dem öffentlichen Raum vorstellig. Nicht über- im Klassenzimmer erhalten die Teilneh- Smartphone der Jugendlichen findet. Was raschend auch die Ergebnisse von meh- menden ein individuelles Feedback dar- gelingen könnte, weil die App die Jugend- reren Untersuchungen, wonach sich der über, wie risikoreich ihr aktueller Alko- lichen in ihrem gewohnten Kommunika- Substanzkonsum in vulnerablen Grup- holkonsum ist, wie viel sie im Vergleich tionsumfeld abholt. pen – wozu die Jugendlichen gehören – zur Referenzgruppe konsumieren und besonders zuspitzte. wie die offiziellen Empfehlungen für den n Konsum von Alkohol für ihr Geschlecht Vorteile der Digitalisierung und Alter lauten. Anschliessend werden Weiterführende Informationen und Einführungs- video zum Programm: www.mobile-coach.ch Die stärkste Evidenz zur Prävention von sie für einen Zeitraum von zehn Wochen Substanzmissbrauch im Jugendalter ha- über die Themen Alkohol, Gesundheit Raquel Paz Castro ist Psychologin und wissenschaft- ben aktuell Programme zur Förderung und Sozialkompetenz informiert. Im Mo- liche Mitarbeiterin am Schweizer Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung. In ihrer Arbeit beschäftigt von Lebenskompetenzen, die im schu- bileCoach Alkohol können Teilnehmende sie sich insbesondere mit mobiltelefonbasierten An- lischen Setting integriert sind. Doch die selber entscheiden, ob sie sich von Marco geboten zur Förderung von Lebenskompetenzen und Implementierung solcher Programme oder Céline coachen lassen wollen. Dabei Reduktion von Substanzkonsum bei Jugendlichen. muss stetig Hürden (finanzielle und per- handelt es sich nicht um echte Personen, sonelle) überwinden. Als Ergänzung zu sondern um digitale Berater, sogenannte den schulischen Bemühungen werden Chatbots. Die digitalen Berater gehen auf weitere Mittel benötigt, um präventive persönliche Motivationen für und gegen Gesucht Mittelschulklassen Botschaften an Jugendliche zu vermit- einen gemässigten Alkoholkonsum ein, Der MobileCoach Alkohol wird durch teln. Dabei spielt die Digitalisierung eine schicken zusätzliche Informationen in das Nationale Programm Alkohol fi- wichtige Rolle. Die Vorteile von digitalen Form von Videos oder Links zu weiterfüh- nanziert und aktuell im Rahmen einer Präventionsprogrammen liegen auf der renden Websites und motivieren die Teil- Begleitstudie untersucht. Von Inter- Hand: Sie sind von überall und zu jeder nehmenden dazu, mit der Gruppe Ideen Suchtprävention laut & leise, Juni 2021 esse sind Akzeptanz und Wirksamkeit Zeit abrufbar, sie können auf das Indivi- zu teilen, wie gemässigter Alkoholkonsum der neuen Programmversion als App. duum und seine Lebenswelt abgestimmt gelingen kann. Bei Interesse an einer Teilnahme kön- werden und da sie anonym sind, wirken Als App auf dem Smartphone nen Lehrpersonen aus Mittelschulen sie der Stigmatisierung von vulnerablen das Programm noch bis Sommer 2022 Jugendlichen entgegen. Der MobileCoach Alkohol existierte lan- in der eigenen Klasse durchführen. ge Zeit als SMS-basiertes Programm und Coaching zum weniger Trinken wurde aufgrund der sich wandelnden Bitte melden Sie sich: Schweizer Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung, Raquel Paz, Der MobileCoach Alkohol für Schüler/in- Smartphone-Nutzung zu einer App wei- 044 448 11 80, raquel.paz@isgf.uzh.ch, nen an Mittelschulen wurde unter ande- terentwickelt. Diese Weiterentwicklung www.isgf.uzh.ch rem in Zusammenarbeit mit der Zürcher bietet viele Chancen für die präventiven 17
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