ÖSTERREICHISCHE MILITÄRISCHE ZEITSCHRIFT - IN DIESER ONLINEAUSGABE - BUNDESHEER
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ÖMZ ÖMZ 4/2013-Online Österreichische Militärische Zeitschrift In dieser Onlineausgabe Bernhard Richter „Denken in Szenarien“ als Methode innovativer strategischer Planung (Teil 1) Martin Pabst Ist Algerien immun gegenüber dem arabischen Umbruch? Heinz Brill Die neue geopolitische Rolle der Türkei „Strategische Tiefe“ als außenpolitisches Konzept? Michael Paul Konfrontation, Kooperation oder Kompromiss? Russland und die Raketenabwehr? Zusätzlich in der Printausgabe Erwin A. Schmidl Vor 75 Jahren: Der deutsche Einmarsch in Österreich im März 1938 Hans Krech Sicherungsmaßnahmen und Spionageabwehr bei Al Qaida Wolfgang Taus Strategische Beziehungen USA - China Michail Logvinov Globale Energiesicherheit und globale strategische Ressourcenlage bis 2035 sowie zahlreiche Berichte zur österreichischen und internationalen Verteidigungspolitik
„Denken in Szenarien“ als Methode innovativer strategischer Planung *) (Teil 1) ch eM ilitärische Z eit sc his hri Österreic ft ÖMZ 4/2013-Online „Es kommt nicht darauf an, die Zukunft zu wissen, eview Peer R sondern auf die Zukunft vorbereitet zu sein.“ (Perikles) 1808 Bernhard Richter F ür die Menschen war es schon immer ein wich- zugrunde liegt. Diese Festlegung auf jene Zukunftsentwicklung, tiges Anliegen, in die Zukunft zu sehen. V.a. die worauf die eigene Strategie optimiert werden soll, kann anhand politischen Eliten in jeder historischen Epoche unterschiedlicher Kriterien vorgenommen werden (z.B. die waren bestrebt, die Zukunft zu kennen, um ihr Handeln so zu wahrscheinlichste Entwicklung, die für die eigene Organisation gestalten, dass ihre Reiche sicherer wurden und überlebten. günstigste oder ungünstigste Entwicklung).3) Vom Orakel von Delphi im antiken Griechenland über No- Strategische Planer und Entscheidungsträger mussten ihre meist stradamus in der Neuzeit bis heute versuchen die Menschen sehr weitreichenden Entscheidungen schon immer unter hoher Informationen über die Zukunft zu erlangen. Jedoch ist die Ungewissheit zukünftiger Entwicklungen in komplexen Umfeldern Zukunft eine Dimension, die wir nicht ergründen können. treffen. Die These an dieser Stelle ist jedoch, dass in jüngerer Vergan- Auch müssen die politischen Entscheidungsträger und genheit, insbesondere seit dem Ende des Kalten Krieges, sowohl die die Planer auf politisch-strategischer Ebene eine Vorstel- Ungewissheit als auch die Komplexität der Umfeldsysteme (sowohl lung von den bevorstehenden Herausforderungen und in der Wirtschaft als auch in der Politik) stark zugenommen haben. Entwicklungen haben, um die Sicherheitsarchitekturen Das internationale System ist geprägt durch steigende und deren Instrumente zukunftstauglich auszurichten. Multipolarität und somit durch eine Vermehrung relevanter Ak- V.a. im sicherheitspolitischen Bereich ist die Notwen- teure, eine steigende Bedeutung nichtstaatlicher Akteure (auch digkeit einer langfristigen, zukunftsfähigen Ausrichtung Gewaltakteure), eine steigende Vernetzung der Gesellschaften, offensichtlich, da die Streitkräfte und andere Einsatzor- Volkswirtschaften, Wertesysteme etc. Darüber liegt, sozusagen als ganisationen relativ lange Planungshorizonte benötigen Metatrend, die Globalisierung, die mit ihrer ungeheuren Kraft alle (aufgrund der hohen Kapitalintensivität und Lebensdauer Lebensbereiche erfasst und zu einer starken Veränderungsdynamik von Großgerät etc.). Dazu sind (sowohl heute als auch des internationalen Systems beiträgt. schon in der Vergangenheit) jedoch Informationen über Aufgrund dieser zunehmenden Ungewissheit, Komplexität die Zukunft notwendig.1) und Dynamik der Umfelder und Rahmenbedingungen erscheint an Wie schon erwähnt, ist die Zukunft eine Dimension, dieser Stelle die Erkenntnis, dass es die Zukunft schlechthin nicht die nicht erschließbar ist, und es gibt keine wissenschaft- geben kann, sondern in alternativen Zukünften (den so genannten liche Disziplin, die es uns erlaubt, die Zukunft determini- Szenarien) gedacht werden sollte, zweckmäßiger. Das bedeutet, stisch vorherzusagen. Alle Zukunftsgedanken sind Bilder, eine solche szenariobasierte Analyse und Planung stützt sich auf die konstruktivistisch geprägt sind und auf gedanklichen, mehrere Zukunftsbilder. empirischen und statistischen Modellen beruhen. Wenn Dieses Denken in Szenarien resultiert aus der Erkenntnis, dass es keine Gewissheit über die Zukunft gibt, so sollte man zukünftige Entwicklungen nicht auf Basis einer Prognose aus der sich vom Wunsch nach sicheren Aussagen über die Zu- Fortschreibung von Zahlen oder impliziten Vorstellungen über die kunft lösen und davon ausgehen, dass alle Aussagen über Zukunft ermittelt werden können. Ziel dieses Aufsatzes sind die die Zukunft - insbesondere jene, die weit in die Zukunft folgenden Überlegungen und Darstellungen: reichen - mehr oder weniger falsch sind.2) 1. Was wird unter dem Begriff Szenarien verstanden, und Strategische Entscheidungen basieren sehr oft auf welche unterschiedlichen Szenarien gibt es? quantitativen Prognosen und/oder impliziten Vorstel- 2. Wie können Szenarien gewinnbringend im Prozess des lungen über die Zukunft. Dabei werden sehr häufig un- strategischen Managements verwendet werden, und welchen terschiedliche Möglichkeiten zukünftiger Entwicklungen Mehrwert bringen diese? (z.B. der für das eigene Handeln relevanten Umfelder) 3. Praktische Anwendungsbeispiele des in diesem Aufsatz betrachtet. Letztendlich legt man sich dann meist jedoch vorgestellten Prozessmodells des strategischen Managements aus auf eine spezifische Zukunftsentwicklung (bzw. -vorstel- dem Bereich des österreichischen Bundesheeres und der nieder- lung) fest, die wiederum der (strategischen) Entscheidung ländischen Streitkräfte. *) Dieser Artikel hat das Peer-Review-Verfahren erfolgreich durchlaufen
Dabei erhebt diese Methode strategischen Manage- Abb.1 Fehlprognosen von Experten ments keinesfalls den Anspruch „das Rad völlig neu zu er- 1901 Gottlieb Daimler „Die weltweite Nachfrage nach Der heutige Bestand finden“, sondern baut auf einem bewährten (generischen) Kraftfahrzeugen wird 1 Million von Kfz wird auf Prozess strategischen Managements auf bzw. erweitert nicht überschreiten – allein schon etwa 600 Millionen diesen. Die Entscheidung für eine strategische Ausrichtung aus Mangel an verfügbaren geschätzt Chauffeuren.“ und Weiterentwicklung der eigenen Organisation basiert 1943 Thomas J. Watson, „Ich glaube, der Weltmarkt hat Heute werden mehr somit (meist) nicht auf einer möglichen Zukunftsentwick- Vorstands- Raum für fünf Computer – nicht Computer verkauft lung, sondern auf mehreren. vorsitzender IBM mehr.“ als Autos Auch kann das hier vorgestellte Prozessmodell nahezu 1946 Darryl F. Zanuck, „Der Fernseher wird sich auf dem Das Fernsehen gilt 20th Century Fox Markt nicht durchsetzen. Die heute als die nahezu unterschiedslos in der Wirtschaft und in sicherheits- und ÖMZ 4/2013-Online Menschen werden es bald müde beliebteste verteidigungspolitischen Strategieentwicklungsprozessen sein, auf eine Sperrholzkiste zu Freizeitbeschäftigung angewendet werden. starren.“ 1981 Bill Gates „640 k storage ought to be Der Speicher von Szenarien enough for everybody.“ Festplatten in PCs steigt immer weiter Wenn man der Meinung von Bill Gates folgt, würde es 1995 Bill Gates „Internet is just a hype.“ Heute gilt das das Internet in der heute verfügbaren Form nicht geben. Er Internet als eine sah das Internet als einen kurzen „Hype“ an, der sich bald Schlüsseltechnologie wieder legen würde. Dies ist nur eines der Fehlurteile, das Quelle: angelehnt an Fink 2002, S. 44 Gestaltung: Redaktion ÖMZ/Dieter Hüttner die Schwierigkeiten verdeutlicht, zukünftige Entwicklungen - sind vernetzt, d.h. bilden die wirksamen Beziehungen der re- zu prognostizieren.4) levanten Einflussfaktoren ab und versuchen somit die Komplexität Ein kurzer Auszug von bekannten Fehlprognosen der der Wirklichkeit so weit als möglich aufrechtzuerhalten.7) Vergangenheit soll dies verdeutlichen:5) Die Welt, die uns umgibt, ist kein einfaches lineares Arten von Szenarien System mit klaren Ursache-Wirkungsbeziehungen, son- Wie oben angeführt gibt es eine ganze Reihe unterschiedlicher dern ein komplexes dynamisches Ganzes, worin eine Szenariobegriffe und auch unterschiedliche Arten von Szenarien. Unmenge an Einflüssen gleichzeitig und vernetzt wirkt. Es ist nicht Ziel dieses Aufsatzes diese unterschiedlichen Be- Dies trifft insbesondere auf das internationale politische grifflichkeiten und die unterschiedlichen Arten und Formen von System zu, in dem eine Vielzahl von Akteuren, Kräften und Szenarien erschöpfend zu beschreiben. Interessen wirkt, sodass zukünftige Entwicklungen nicht Nichtsdestotrotz werden in der Folge die in der Praxis ge- einmal annähernd exakt vorausgesagt werden können. bräuchlichsten Verfahren zur Erstellung von Szenarien dargestellt. Das Denken in Szenarien resultiert aus der Erkenntnis, Diese werden anhand von zwei Kriterien strukturiert, nämlich der dass unter solchen Bedingungen zukünftige Entwick- Richtung der Szenarioentwicklung und des Umgangs mit Eintritts- lungen nicht mit einer Prognose aus der statistischen Abb.2 Fünf Verfahren zur Erstellung von Szenarien Extrapolation quantitativer Werte oder aufgrund impliziter Zukunftsvorstellungen (im Sinne qualitativer Prognosen) Berücksichtigung von Wahrscheinlichkeiten ermittelt werden können. Aus diesem Grund gewinnt das Denken in Szenarien im Ja Nein strategischen Management immer mehr an Bedeutung. Sze- Wechselwirkungsszenarien Szenariotechnik narien kombinieren zukunftsoffenes und systemisches Den- Induktive Verfahren Szenarioentwicklung durch Szenarioentwicklung auf ken. Was versteht man unter einem Szenario? Beim Studium Verknüpfung von möglichen Basis der systematischen der Literatur und anhand von Fallbeispielen zum Thema und nach Wahrscheinlichkeit und vollständigen bewerteten Entwicklungs- Verknüpfung von möglichen, erkennt man, dass sich die Definition relativ unübersichtlich alternativen einzelner tendenziell extremen darstellt. Schon vom Begriff und der Bezeichnung gibt es Schlüsselfaktoren Entwicklungsalternativen alle Variationen und Kombinationen: Szenario-Analyse, einzelner Schlüsselfaktoren Szenario-Planung, Szenario-Technik, Szenario-Management Konstruktion der Szenarien etc. Definitionen, Prinzipien, Ansätze und Charakteristik Genius Foresight (Narrative Scenario Planning unterscheiden sich je nach Autor und Veröffentlichung.6) Szenarien/Science-Fiction) Szenarioentwicklung auf Basis Entwicklung einzelner oder eines vorab festgelegten In diesem Aufsatz wird der Begriff Szenario mit fol- mehrerer komplexer Rasters („Framework“), wobei gender Bedeutung verwendet: Zukunftsbilder durch die so entstandenen Szenarien Experten oder Experten- Szenarien als gleichwertige Deduktive Verfahren gruppen auf Basis vor- denkbare Alternativen - sind hypothetische Zukunftsbilder, die auf einer handener Informationen und angesehen werden können schlüssigen Kombination denkbarer Entwicklungsan- spezifischer Themensetzung Themensetzung nahmen beruhen, - spannen einen Raum möglicher Entwicklungsalter- Morphologische Analyse nativen auf (Möglichkeiten- oder Zukunftsraum), Szenarienentwicklung auf Basis einer morphologischen - beschreiben Entwicklungspfade, Matrix, bei der - enthalten qualitative und quantitative Aussagen, Szenarienthemen anhand - sind zukunftsoffen, d.h. es wird nicht mehr versucht, der zentralen Szenariokerne gesetzt werden die Zukunft deterministisch vorherzusagen, sondern es werden mehrere mögliche Zukunftsbilder beschrieben, Quelle: angelehnt an Fink et al. 2006, S. 17 Gestaltung: Redaktion ÖMZ/Dieter Hüttner
wahrscheinlichkeiten. Diese Strukturierung anhand dieser Im Rahmen des Verfahrens der Szenariotechnik kommen induk- Kriterien führt zu fünf grundsätzlichen Verfahren. tive Verfahren zur Anwendung. Induktive Ansätze werden mittels Bevor jedoch näher auf diese unterschiedlichen Ver- modellgestützter Logik erstellt; d.h., sie erfordern den Einsatz von fahren eingegangen wird, soll an dieser Stelle eine weitere speziellen Softwaretools. Unterscheidung in Umfeld- und Lenkungsszenarien vorge- - Wechselwirkungsszenarien nommen werden, da dies für das Verständnis der weiteren Wechselwirkungsszenarien beschreiben ein weiteres induktives Ausführungen zweckmäßig erscheint: Verfahren zur Szenarienerstellung. Die Erstellung von Wechselwir- - Umfeldszenarien bestehen ausschließlich aus nicht kungsszenarien unterscheidet sich kaum vom Verfahren Szenario- lenkbaren Umfeldgrößen. Mit solchen Szenarien könnte technik. Die Verfahren zur Entwicklung der Einflussfaktoren und eine Organisation beabsichtigen, mögliche Rahmenbe- der Identifizierung der Schlüsselfaktoren sind identisch. Auch die ÖMZ 4/2013-Online dingungen in den für sie relevanten Umfeldern für die Projektionen werden analog zur Szenariotechnik erarbeitet. Einzig nächsten zehn bis 15 Jahre vorauszudenken und daraus und allein bei der Szenariobildung unterscheidet sich dieses Ver- Chancen, Risiken und letztendlich die eigenen Handlungs- fahren von der Szenariotechnik. Im Rahmen der Szenariobildung optionen abzuleiten.8) wird bei der Cross-Impact-Analyse (anstatt der Konsistenzanalyse) - Lenkungsszenarien bestehen ausschließlich aus in- versucht, die Interdependenzen zwischen den Eintrittswahrschein- ternen Lenkungsgrößen. Solche Größen können von der lichkeiten der Projektionen10) auszuwerten. Organisation direkt beeinflusst werden. Dies wären zum - Morphologische Analyse Beispiel Produktmerkmale oder Elemente eines neuen Eine weitere sehr praktikable Methode, Szenarien zu erstellen, Geschäftsmodells. Im Bereich der Sicherheitspolitik kann ist die morphologische Analyse. Diese Methode soll dazu beitragen, darunter eine neue strategische Ausrichtung von Sicher- die Gesamtheit von Beziehungen in multidimensionalen, nicht heitsorganisationen, d.h. die Entwicklung neuer Aufgaben- quantifizierbaren und komplexen Problemen zu analysieren, zu felder (oder eine andere Gewichtung bzw. Priorisierung strukturieren und darzustellen. im Rahmen des bestehenden Aufgabenportfolios) für diese Die Methodik der Szenarioerstellung unterscheidet sich bis auf Sicherheitsorganisationen verstanden werden.9) die Szenariobildung nicht von der Szenariotechnik. Die Verknüp- Diese verschiedenen Ansätze zur Entwicklung von fung der Zukunftsprojektionen erfolgt jedoch nicht induktiv und Szenarien weisen zwar große Unterschiede in der Vorge- modellgestützt, sondern deduktiv und intuitiv. hensweise auf, folgen jedoch grundsätzlichen Gemein- - Scenario Planning samkeiten: Scenario Planning ist der traditionelle und im angloamerika- Gestaltungsfeldanalyse nischen Raum gebräuchlichste deduktive Ansatz zur Erstellung - Abgrenzung des Problemfelds (Festlegung der von Szenarien. Von der grundsätzlichen Vorgangsweise bei der Systemgrenzen); Umfeldanalyse und der Darstellung der Szenarien her ist dieses Szenariofeldanalyse Verfahren der Szenariotechnik sehr ähnlich. Die Szenariobildung - Identifizierung von Einflussbereichen, weist im Rahmen dieses Verfahrens jedoch erhebliche Unterschiede - Ableitung von Einflussfaktoren, auf. Die Themen werden hier vom Szenarioteam vorab festgelegt. - Ableitung der bestimmenden Systemelemente Diese Festlegung der Themen ist der wesentlichste Unterschied (Schlüsselfaktoren); zum Verfahren der Szenarientechnik. Szenarioprognostik Der am häufigsten verwendete Weg zu den Szenariothemen - Ermittlung von möglichen Entwicklungen dieser führt über zwei als Schlüsselunsicherheiten bezeichnete dominan- Faktoren; te Schlüsselfaktoren oder Treiberkräfte, deren Achsen in einem Szenariobildung Portfolio eingetragen werden. Dieses Portfolio wird auch als Sze- - Ableitung von alternativen Entwicklungsmöglich- nariologik bezeichnet. Innerhalb dieser Szenariologik entstehen keiten des Gesamtsystems, (meist) vier Szenariothemen. Damit ist auch erklärt, warum im - Auswahl der für die weitere Arbeit geeigneten rele- angloamerikanischen Raum sehr häufig mit genau vier Szenarien vanten Szenarien; gearbeitet wird. Szenariotransfer - Narrative normative Szenarien/Science-Fiction11) - Ermittlung von Konsequenzen und Auswirkungen Trotz der relativ geringen Bedeutung dieser Art von Szena- auf das Gestaltungsfeld, rien werden narrative normative Szenarien an dieser Stelle kurz - Ableitung konkreter Maßnahmen für die Problem- vorgestellt. Diese dienen sehr häufig zur Konkretisierung und stellung. Illustration von so genannten Leitvisionen für (sicherheitspoli- tische) Zukunftsthemen. „Normativ“ bedeutet, dass den Szenarien Verfahren zur Entwicklung von Szenarien eine explizite Wertorientierung zugrunde liegt. Sie beschreiben - Szenariotechnik Wünsche bzw. eine Vision, ohne dabei den Bereich des prinzipiell Das Verfahren Szenariotechnik beschreibt im Rahmen Möglichen zu verlassen. Im Gegensatz zu explorativen Szenarien, dieser Arbeit einen induktiven Weg der Szenarioentwick- in denen heutige Trendentwicklungen in die Zukunft verlängert lung, bei dem die einzelnen Szenarien als systematische oder die Folgen von Störereignissen erkundet werden, werden Kombination der alternativen Ausprägungen einer Reihe normative Szenarien ausgehend von konkreten Wunsch- bzw. von Schlüsselfaktoren erstellt werden. Das Kennzeichen Zielvorstellungen konstruiert. Dies geschieht häufig in Verbindung dieses Verfahrens ist der systematische softwareunterstützte mit einem so genannten „Backcasting“. Mit diesem Verfahren wird Prozess, aus dem sich eine vorher nicht festgelegte Anzahl untersucht, welche Schritte bzw. Voraussetzungen notwendig sind, von Szenarien, ohne Vorgabe eines Frameworks, ergibt. um dieses Ziel zu erreichen. „Narrativ“ bedeutet, dass die Szenarien
quasiliterarisch gestaltet werden, als kleine Erzählungen Heinecke ist der Ansicht, dass diese kontroverse Sicht der über fiktive Personen oder Organisationen. beiden induktiven Ansätze der Szenarioerstellung unberechtigt ist, da sich diese beiden Verfahren sehr gut ergänzen können.14) Zusammenfassende Bewertung der unter Das Verfahren des Scenario Planning ist v.a. im angloamerika- schiedlichen Arten und Formen von Szenarien nischen Raum verbreitet. Dieses Verfahren folgt einer intuitiven und Es gibt kein grundsätzliches „Kochrezept“, welches deduktiven Methode und hat den Vorteil, dass einfache Zukunftsbilder Verfahren zur Erstellung von Szenarien das „beste oder relativ rasch und ohne großen Aufwand erstellt werden können. Diese zweckmäßigste“ ist. Jede einzelne der unterschiedlichen lassen sich zudem relativ leicht in den strategischen Planungs- und Arten von Szenarien hat ihre spezifischen Vor- und Führungsprozess integrieren. Aus diesem Grund ist das Denken in Nachteile. Szenarien v.a. im angloamerikanischen Raum viel weiter verbreitet ÖMZ 4/2013-Online Im kontinentaleuropäischen Raum werden Szenarien als in Europa. Jedoch eignen sich diese Szenarien aufgrund der Ver- vorwiegend induktiv (Verknüpfung von Faktoren und nachlässigung des systemischen Denkens häufig nicht für komplexe Trends) und modellgestützt als explorative Zustandsbilder Fragestellungen. Solche Szenarien basieren auf einer relativ kleinen erstellt (Szenariotechnik und Wechselwirkungsszenari- Anzahl von Faktoren. Aufgrund der Tatsache, dass das menschliche en).12) Gehirn nicht in der Lage ist, ein hohes Maß an Vernetzung zu be- Während auch die anderen Verfahren zur Szenarie- werkstelligen, erfolgt die Darstellung des Zukunftsraums auf Basis nerstellung das Kriterium der Zukunftsoffenheit erfüllen weniger Strukturmerkmale. Daher sind die Kriterien der Vollständig- (narrative normative Szenarien mit Einschränkungen), keit und des systemischen Denkens eher weniger erfüllt als bei der enthält diese Art von Szenarien die Komplexität des Verwendung von induktiven Verfahren.15) Lösungsansatzes, was wiederum dem Gesetz der Kyber- Ein weiterer Nachteil dieser Methode ist, dass solche Szenarien netik nach Ashby zum Umgang mit dieser Komplexität immer relativ stark konstruktivistisch geprägt sind. In der Praxis zeigt entspricht.13) Der Nachteil dieses Verfahrens ist jedoch, sich das, wenn man eine Reihe von US-amerikanischen sicherheits- dass diese Form der Szenarienerstellung sehr zeit- und politischen Szenarienstudien analysiert. Wer in einer hobbesschen personalaufwendig ist und für die modellgestützte Ver- Welt lebt, wird auch hobbessche Szenarien entwickeln. Natürlich sind knüpfung der Zukunftsprojektionen relativ kostspielige auch Szenarien, die mit dem Verfahren der Szenariotechnik erstellt Softwaretools benötigt werden. wurden, in einem gewissen Maß durch die Auswahl und Bewertung Der Unterschied zwischen den Ansätzen Szenariotech- der Einfluss- und Schlüsselfaktoren konstruktivistisch beeinflusst. nik und Wechselwirkungsszenarien liegt in der Berück- Durch die modellgestützte Verknüpfung dieser Faktoren wird jedoch sichtigung und Zuordnung von Wahrscheinlichkeiten zu der gruppensubjektive Einfluss etwas abgeschwächt. den Szenarien. Mit narrativen normativen Szenarien (meist Wunsch- oder In der Konsistenzanalyse wird die Widerspruchsfrei- Chancenszenarien) werden positive, aber durchaus realistische Zu- heit der einzelnen Zukunftsprojektionen beurteilt, während kunftssituationen konstruiert. Dabei handelt es sich in erster Linie um bei der Cross-Impact-Analyse auch die Wahrscheinlich- antizipative Zukunftsbilder mit präskriptiver Ambition. Die Frage lautet keit - in diesem Zusammenhang wird von Plausibilität hier: Welche Zukunft wollen wir - und wie können wir diese erreichen? gesprochen - betrachtet wird. Hier wird die Frage „Was muss geschehen, dass …?“ gestellt. Das Über die Berücksichtigung von Wahrscheinlichkeiten Hauptaugenmerk bei dieser Vorgehensweise liegt in erster Linie darauf, in Szenarien wird in der verfügbaren Literatur sehr kon- die Entwicklungswege, Handlungsschritte und Weichenstellungen zu trovers diskutiert. Einerseits wird argumentiert, dass eine identifizieren, die notwendig sind, damit sich das positive Wunschs- solche Zuordnung sehr schwierig ist, da sich die Frage, zenario verwirklichen lässt. Da es durchaus mehrere, möglicherweise was in der Zukunft richtig und wahrscheinlich ist, nicht alternative Zielvorstellungen geben kann, können auch verschiedene beantworten lässt. Andererseits bietet die Zuweisung positive Szenarien nebeneinander verwirklicht werden. von Eintrittswahrscheinlichkeiten die Möglichkeit, die Im Kontext der Sicherheitspolitik kann diese Art von Szenarien Akzeptanz und Aussagekraft von Szenarien deutlich zu dazu eingesetzt werden, um Leitbild- bzw. Visionsfindungsprozesse verbessern, denn über die Wahrscheinlichkeiten können mit stark normativem Anspruch zu unterstützen. die einzelnen Projektionen (und letztendlich auch die Bei der morphologischen Analyse können die Vorteile eines Szenarien) gewichtet werden. intuitiven Vorgehens (z.B. die direkte Einbindung des Szenariote- „Denken in Szenarien“ ist als Konzept grundsätzlich ams oder der Verzicht auf spezielle und meist kostspielige Softwa- nicht auf die Verwendung von Wahrscheinlichkeiten aus- retools) genutzt werden, ohne dabei den Anspruch systemischen gelegt. Anders gesagt ist die Ausblendung der Wahrschein- Denkens in komplexen Systemen aufzugeben. Sehr bewährt lichkeiten beim Denken in Szenarien sogar erwünscht hat sich dieser Ansatz zur Entwicklung von Strategieoptionen oder beabsichtigt bzw. spielt die Frage, wie wahrschein- (-szenarien). Durch die intuitive Verknüpfung der einzelnen Fak- lich das Eintreten dieser alternativen Zukünfte ist, keine toren, die die zukünftige Strategie bestimmen (die so genannten Rolle. Mit der Konsistenzanalyse erstellte Szenarien (im Strategieelemente), ist es den Teilnehmern am szenariobasierten Rahmen der Szenariotechnik) stellen meist Extrembilder Strategieentwicklungsprozess möglich, unterschiedliche Zu- dar. Das Ziel solcher Extrembilder ist das Aufzeigen von kunftsvorstellungen, persönliche Ideen und Vorstellungen von der Entwicklungsmöglichkeiten, die die „Eckpunkte“ des Zu- Zukunft der eigenen Organisation in einem sehr stark diskursiven kunftsraums beschreiben. Daher brauchen den Szenarien strategischen Dialog einzubringen. keine Wahrscheinlichkeiten zugeordnet werden, da es Aus Sicht des Verfassers hat sich in der Praxis die Verwendung hier mehr um das Vorausausdenken der Zukunft als um der Szenariotechnik (induktives modellgestütztes Vorgehen) zur konkrete Voraussagen geht. Erstellung der Umfeldszenarien bewährt, während für die Erstellung
der Strategieoptionen aus o.a. Gründen die morphologische Die Strategiearbeit ist nichts anderes als die konsequente sy- Analyse als eine sehr zweckmäßige und zielgerichtete Vor- stematische Umsetzung dieses Grundsachverhalts. Sie bringt jene gehensweise beurteilt wird. Voraussetzungen für Entscheidungen mit sich, die Organisationen brauchen, um den Vollzug ihrer Leistungsprozesse gesichert ge- Die Anwendung des Konzepts währleisten zu können. „Denken in Szenarien“ Das Ergebnis eines erfolgreichen Strategieentwicklungs- im strategischen Management prozesses besteht letztendlich in der Neudefinition des eigenen Existenzgrunds als Organisation (Warum gibt es uns? Welche Begriff und Gegenstand Probleme lösen wir?) als auch der angestrebten Ziele. Dies sind strategischen Managements in Unternehmen der Privatwirtschaft in erster Linie das Ertrags- ÖMZ 4/2013-Online Bei der langfristigen Gestaltung und Weiterentwick- und Wachstumsziel. In Organisationen der Sicherheitsarchitektur lung von Organisationen (sowohl Unternehmen als auch geht es dabei hauptsächlich darum, wie die jeweilige Organisation Organisationen der öffentlichen Verwaltung) stehen die bestmöglich zum gesamtstaatlichen System der umfassenden beiden Begriffe Zukunft und Strategie in einem andau- Sicherheitsvorsorge beitragen kann. ernden Spannungsverhältnis. Um geeignete Strategien zu entwickeln, sind Informationen über die Zukunft Der Begriff der Strategie notwendig. Um die Herausforderungen der Zukunft zu „Strategie“ und „strategisch“ sind zu modischen Schlagworten bewältigen, braucht es zukunftsfähige Strategien. - sowohl in der Wirtschaft als auch im öffentlichen Bereich - für Um sich weiterzuentwickeln und langfristig Bestand zu alle langfristig angelegten Planungen geworden. Offensichtlich haben, müssen Organisationen ihre Festgelegtheit durch die wird der Begriff der Strategie überall dort verwendet, wo Probleme Vergangenheit bzw. durch ganz spezifische Zukunftsvor- auf einer hohen Führungs- und Handlungsebene zu lösen sind.16) stellungen unterbrechen. Dazu bedienen sie sich der Mög- Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff der lichkeit des Entscheidens. Dabei werden andauernd und in Strategie ausschließlich im politischen und insbesondere sicher- jedem Moment Dinge anders gemacht als bisher. Durch heitspolitischen Kontext benutzt. Etymologisch geht der Begriff die Möglichkeit der Entscheidung wird der Vergangenheit Strategie auf das griechische Wort „Strategos“ zurück, das die ihre Bestimmtheit genommen. Bisher Bewährtes ist keine Kunst der Heerführung bezeichnet. Der Grieche Aeneas war der Prämisse für Festlegung mehr, und die Zukunft verliert ihr Erste, der den Begriff benützt haben dürfte. 357/356 v. Chr. hat Unbestimmtsein. Grundsätzlich wollen Organisationen in er ein Lehrbuch der Strategik für den Strategos, den Heerführer, Abgrenzung zum Bisherigen etwas Bestimmtes erreichen. verfasst.17) Auch im deutschsprachigen Raum wurde der Begriff Daher ist dieser Reproduktionsprozess notwendig für deren zunächst im militärischen Bereich genutzt und dort v.a. dem langfristigen Bestand. Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz zugeschrieben. Abb.3 Prozess des strategischen Managements (generisch) Strategie- Strategie- Strategische Analyse entwicklung implementierung 2 4 Strategieformulierung 5 Umweltanalyse und Auswahl Strategieumsetzung Externe Vision, Mission Gestaltung von Analyse und langfristige Ziele Strukturen, Systemen und Prozessen Segmentierung und Denition der Operationalisierung 1 Aufgabenfelder von Strategien Ausgangslage Bisherige Strategische Entwicklung Entwicklung von Change Management Bisherige Strategiealternativen Strategie Kontrolle der Bisherige Beurteilung von Strategieumsetzung Tätigkeit Strategiealternativen Entscheidung für Strategie Interne Analyse Organisations- 3 analyse Quelle: Autor Gestaltung: Redaktion ÖMZ/Dieter Hüttner
Genauso wie sich das Verständnis von Sicherheitspoli- - Strategische Entscheidungen streben nach einer optimalen tik verändert hat, hat sich auch der (sicherheitspolitische) Nutzung der Ressourcen und Fähigkeiten.21) Strategiebegriff gewandelt. Der Strategiebegriff ist (im sicherheitspolitischen Kontext) nicht mehr ausschließlich Der Prozess des strategischen Managements auf den Krieg und den militärischen Bereich begrenzt, Zur besseren Veranschaulichung des Einsatzes und Mehrwerts sondern muss im Sinne eines umfassenden Sicherheitsbe- von Szenarien im strategischen Management wird in diesem Ka- griffs ausgeweitet und auf eine den heutigen Bedürfnissen pitel in sehr kurzer, straffer Form der Prozess des strategischen für Sicherheitspolitik angepasste Begrifflichkeit, die auch Managements generisch vorgestellt. die „neuen Bedrohungen“ umfasst, angepasst werden.18) Stupka definiert Strategie wie folgt: „Strategie ist die plan- Strategische Analyse ÖMZ 4/2013-Online mäßige Vorbereitung und koordinierte Anwendung aller - Strategische Ausgangslage Mittel durch die Staatsführung und Ausnützung aller ihrer Bevor die Umwelt und die eigene Organisation analysiert wer- Möglichkeiten zur Wahrung der sicherheitspolitischen den, ist es zweckmäßig, sich darüber Gedanken zu machen, was Ziele gegenüber allen Bedrohungen.“ 19) die eigene Organisation eigentlich darstellt, was sie macht und wo Der Duden beschreibt den Begriff Strategie eher all- sie dabei steht. Dazu werden die bisherige Entwicklung, Strategie gemein als einen „genauen Plan des eigenen Vorgehens, und Tätigkeit der letzten fünf bis zehn Jahre betrachtet. Gegenstand der dazu dient, ein militärisches, politisches und psycholo- der Analyse sind dabei die finanzielle und personelle Situation, der gisches oder ähnliches Ziel zu erreichen, und in dem man Ressourceneinsatz, das gegenwärtige Aufgabenportfolio (davon diejenigen Faktoren, die in die eigene Aktion hineinspielen abgeleitet der Nutzen der Organisation für die Stakeholder) und könnten, von vornherein einzukalkulieren versucht.“ 20) die gegenwärtigen und künftig möglichen Aufgabenfelder.22) - Umweltanalyse (externe Analyse) Der Begriff des strategischen Managements Betrachtungsgegenstand der Umweltanalyse ist das globale Genauso wie sich ein einheitlicher Strategiebegriff Umfeld (wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche, technolo- nicht durchgesetzt hat, ist die Frage, was strategisches gische, demographische Entwicklungen etc.) und die potenziellen Management ist, nicht einfach zu beantworten. Die wis- Konkurrenten (im sicherheitspolitischen Kontext Gegner). senschaftliche Diskussion um ein strategisches Manage- Die Aufgabe der externen Analyse besteht v.a. darin, potenzielle ment entwickelte sich ab 1960. Seitdem hat sich eine bis Chancen und Risiken zu erkennen, die sich der Organisation in heute kaum überschaubare Zahl von Wissenschaftlern ihrem externen Umfeld eröffnen bzw. drohen. Die Betrachtung und Praktikern mit diesem Thema beschäftigt. Folglich ist zukunftsgerichtet. hat sich auch eine große Anzahl unterschiedlicher An- - Organisationsanalyse (interne Analyse) sätze strategischen Managements entwickelt, die sich Die Stärken und Schwächen einer Organisation sind maß- inhaltlich und methodisch teilweise erheblich voneinander gebliche Größen dafür, ob sie die Risiken bewältigen und die unterscheiden. Abb.4 SWOT-Analyse Jedoch ist es trotz der vorhandenen Breite und Viel- falt keinesfalls so, dass strategisches Management völlig unzusammenhängende Themengebiete und Ansätze um- Umwelt schreiben würde. Trotz unterschiedlicher Perspektiven und theoretischer Ausgangspositionen kann ein gemeinsames Grundverständnis des strategischen Managements erkannt werden. Dieses lässt sich anhand der folgenden Merkmale verdeutlichen, die im Allgemeinen mit dem Attribut „stra- Opportunities Threats tegisch“ verbunden werden: - Als strategisch gelten solche Entscheidungen des Managements, die die grundsätzliche Richtung der Organisationsentwicklung bestimmen bzw. maßgeblich Hat die Hat die Strenghts beeinflussen. Organisation die Organisation die Ressourcen & Fähigkeiten - Ziel einer strategischen Entscheidung ist es, den Stärken, um Stärken, um die Chancen zu Risiken zu langfristigen Erfolg eines Unternehmens zu sichern. In nutzen? bewältigen? der Wirtschaft bedeutet dies, dass es einem Unternehmen gelingen muss, Vorteile gegenüber seinen Wettbewerbern aufzubauen und zu erhalten. Staatliche Sicherheitsarchi- tekturen (Polizei, Streitkräfte etc.) stehen jedoch in keinem wirtschaftlichen Wettbewerb zueinander. Umgelegt auf Welchen Risiken Weaknesses Welche Chancen die Sicherheitspolitik ergibt sich der langfristige Erfolg werden wegen ist die Organisation aus der Fähigkeit, auf die sicherheitspolitischen Heraus- der eigenen wegen ihrer Schwächen Schächen forderungen angemessen zu reagieren. verpasst? ausgesetzt? - Strategische Entscheidungen versuchen den zukünf- tigen Nutzen zu sichern (in der Wirtschaft den langfristigen Erfolg), indem sie die externe und interne Ausrichtung des Unternehmens bestimmen. Quelle: angelehnt an Hungenberg 2008, S. 88 Gestaltung: Redaktion ÖMZ/Dieter Hüttner
Chancen wahrnehmen kann, die durch die Umwelt und Eine Vision ist eine realistische, glaubwürdige und attraktive Zu- ihre potenziellen Veränderungen determiniert werden. kunftsvorstellung für eine Organisation. Die Vision ist die Vorstellung Daher ist neben der Analyse der externen Umwelt auch davon, auf welches Ziel die Organisation hinarbeiten soll und wie die interne Analyse eine wesentliche Grundlage der Stra- die Zukunft erfolgreicher und wünschenswerter als bisher gestaltet tegieentwicklung und -formulierung. werden kann. Die Vision gibt in erster Linie eine Vorstellung von Die Organisationsanalyse soll v.a. die eigenen Stärken richtungweisenden Gedanken für die zukünftige Entwicklung der und Schwächen aufzeigen. Der Fokus der Analyse liegt jeweiligen Organisation. Eine Vision auf den Ressourcen der Organisation in qualitativer und - weckt Hoffnung und mobilisiert die Kräfte der Mitarbeiter, quantitativer Hinsicht. Sie erstreckt sich über die gesamte - erzeugt Energie im Unternehmen, Organisation und erfasst z.B. Unternehmenskultur, Ma- - gibt der Arbeit neuen Sinn, ÖMZ 4/2013-Online nagement- und Informationssysteme, finanzielle Lage, - sorgt für eine langfristige Ausrichtung und erzeugt Sicherheit personelle Lage, Kostenstruktur, Standorte etc.23) und Stabilität und Die Ergebnisse der Umwelt- und Organisationsa- - trägt zur Kontinuität des Unternehmens bei. nalyse werden in der so genannten „SWOT-Analyse“ zusammengefasst. Dabei sollen Aussagen über Chancen Strategieimplementierung und Risiken sowie Stärken und Schwächen eines Unter- Um eine gewählte und formulierte Strategie zu verwirklichen, nehmens einander transparent gegenübergestellt werden. müssen in einer Organisation konkrete Handlungen geschehen. Die Das Akronym „SWOT“ steht dabei für die Anfangsbuch- Aufgabe der Implementierungsphase im Rahmen des strategischen staben der Begriffe „Strengths“ (Stärken), „Weaknesses“ Managements ist daher, sicherzustellen, dass diese Handlungen (Schwächen), „Opportunities“ (Chancen) und „Threats“ auch erfolgen. Zu diesem Zweck sind Strukturen und Systeme in (Risiken). Diese Gegenüberstellung verdeutlicht, ob die Abstimmung mit der gewählten Struktur zu gestalten. gegenwärtigen Stärken und Schwächen einer Organisa- Die Umsetzung der gewählten und formulierten Strategie ist eine tion vor dem Hintergrund der potenziellen Entwicklung sehr anspruchsvolle Phase. Viele Erfolg versprechende Strategien der Umfelder prinzipiell relevant sind und insbesondere, scheitern, weil Fehler in der Umsetzungsphase gemacht werden. ob sie geeignet sind, die Risiken zu bewältigen und die Ein Teil der Strategieimplementierung ist die Strategiekontrolle. Chancen wahrzunehmen. Diese ist zwar das letzte Glied des Prozesses, darf aber nicht erst nach der Strategieumsetzung erfolgen. Infolge der zunehmenden Strategieentwicklung Dynamik ist ein dauernder Überwachungs- und Lenkungsprozess - Strategieauswahl und -formulierung auf drei Ebenen erforderlich: Auf der strategischen Analyse baut der nächste - Prämissenkontrolle Teilprozess des strategischen Managements auf: die Gelten die der Strategie zugrunde liegenden Annahmen (v.a. Strategieentwicklung. Hier gibt es ebenfalls keine ein- über die Umwelt) noch? Wurden in der Analyse wichtige Aspekte heitliche Sichtweise, welchen Rahmen der Prozess der übersehen? Strategieentwicklung umfassen soll. Dies hängt v.a. mit - Durchführungskontrolle den unterschiedlichen Visions- und Strategiebegriffen In welchem Ausmaß wurde die geplante Strategie umgesetzt? zusammen. Man kann eine Strategie als der Vision nach- Wo sind unerwartet Probleme oder Widerstände aufgetreten? folgend (Strategie ist der Weg zu einer zuvor festgelegten - Wirksamkeitskontrolle Vision) oder die Vision als Teil der Strategie verstehen Wurden mit der umgesetzten Strategie die Ziele erreicht? (Strategie ist die Vision und der Weg dorthin). Abhängig Wurde die „beste“ Strategievariante gewählt?26) (Wird fortgesetzt) von dieser Sichtweise ist demnach die Vision ein Teil der Strategieentwicklung oder dieser vorgelagert. ANMERKUNGEN: Die Vision wird auch oft als Teil des normativen Ma- 1) Vgl. Bernhard Richter: Das Konzept „Denken in Szenarien“ als Methode der nagements gesehen und stellt eine der Grundlagen für den sicherheitspolitischen Analyse. Dissertation. Universität Wien 2010, S.1. Prozess des strategischen Managements dar.24) Während 2) Vgl. Gereon Klein, Hans Georg Graf Arne Schöllhorn: Entscheidungsvorbe- die Vision das Ziel (das Was und Warum) vorgibt, geht es reitung mit Szenarien im Team-Dialog. In: Falko E. P. Wilms (Hrsg.): Szenari- otechnik. Vom Umgang mit der Zukunft: Haupt Verlag. Bern, Stuttgart, Wien bei der Strategieformulierung mehr um den Weg (das Wie). 2006. S.377. Da jedoch beide Elemente für den langfristigen Erfolg 3) Vgl. Michael E. Porter: Wettbewerbsvorteile. Spitzenleistungen erreichen unabdingbar sind, wurden sie in dem o.a. Prozessmodell und behaupten: Campus Verlag. Frankfurt/Main 2000. S.591ff; Jochen Kiesel: angeführt und unter dem Teilprozess der Strategieentwick- Szenario-Management als Instrument zur Geschäftsfeldplanung: Tectum-Verl. Marburg 2001 (Wissenschaft im Tectum-Verlag), S.77. lung zusammengefasst. 4) Vgl. Alexander Fink, Oliver Schlake, Andreas Siebe: Erfolg durch Szenario- - Vision, Mission, Leitbild Management. Prinzip und Werkzeuge der strategischen Vorausschau: Campus Omar Bradley, ein berühmter amerikanischer General Fachbuch. Frankfurt 2002, S.2. im Zweiten Weltkrieg und von 1948-1953 Vorsitzender der 5) Vgl. Fink et al. 2002, a.a.O., S.44; und Marina Schwarz-Geschka: Vortrag Seminar Szenarientechnik. Veranstaltung vom 15. November 2006. Frankfurt Vereinigten Generalstabschefs, war der Meinung: „Orga- 15. November 2006. nisationen müssen ihren Kurs nach dem Licht der Sterne 6) Vgl. Ulf Pillkahn: Trends und Szenarien als Werkzeuge zur Strategieentwick- bestimmen und nicht nach den Lichtern jedes vorbeifah- lung: Publicis Corporate Publishing. Erlangen 2007, S.168. renden Schiffes.“ 25) Dies gilt sowohl für Unternehmen im 7) Siehe auch: Pillkahn 2007, a.a.O., S.168. 8) Vgl. Fink et al. 2002, a.a.O., S.70. internationalen Markt als auch für Staaten im internationalen 9) Vgl. Fink et al. 2002, a.a.O., S.70. System, angesichts sich schnell und dauernd verändernder 10) Im Rahmen von Wechselwirkungsszenarien spricht man nicht von Zukunftspro- Umfelder im besonderen Maß. jektionen, sondern aufgrund der Zuordnung von Eintrittswahrscheinlichkeiten
von Trendprojektionen. 11) Vgl. Gaßner, Robert; Steinmüller, Karlheinz: Narrative normative Szenarien in der Praxis, In: Wilms, Falko E. P. (Hg.): Szenariotechnik. Vom Umgang mit der Zukunft: Haupt Verlag. Bern, Stuttgart, Wien, 2006, S.133-143. 12) Vgl. Jürgen Gausemeier, Alexander Fink, Oliver Schlake: Szenario- Management. Planen und Führen mit Szenarien: Carl Hanser Verlag. München Wien 1996, S.110 u. 112. 13) Der Kybernetiker Ross W. Ashby gibt für den Umgang mit Kom- plexität ein zentrales Gesetz vor: „Only variety absorbs variety“; vgl. Magret Richter: Syntegration - Die kybernetische Entwicklung von Szenarien. In: Wilms, Falko E.P. (Hrsg.): Szenariontechnik. Vom ÖMZ 4/2013-Online Umgang mit der Zukunft: Haupt Verlag. Bern, Stuttgart, Wien 2006, S.110f. und W. Ross Ashby: Design for a brain. The origin of adaptive behaviour: Chapman and Hall. London 1970, S.246ff. 14) Vgl. Albert Heinecke: Die Anwendung induktiver Verfahren in der Szenario-Technik. In: Wilms, Falko E. P. (Hrsg.): Szenariotechnik. Vom Umgang mit der Zukunft: Haupt Verlag. Bern, Stuttgart, Wien 2006, S.183-213. 15) Vgl. Alexander Fink, Andreas Siebe: Handbuch Zukunftsma- nagement. Werkzeuge der strategischen Planung und Früherkennung: Campus Verlag. Frankfurt 2006, S.16. 16) Vgl. Roman Lombriser, Peter A. Abplanalp: Strategisches Ma- nagement. Visionen entwickeln, Strategien umsetzen, Erfolgspoten- ziale aufbauen. 4. Aufl.: Versus-Verl. Zürich 2005, S.21; und Andreas Stupka: Strategie denken: AV + Astoria Druckzentrum. Wien 2008 (Truppendienst-Handbuch), S.25 und Albert A. Stahel, Hans Künzi, Christoph Blocher: Strategisch denken. Ziel - Mittel - Einsatz in Politik, Wirtschaft und Armee: vdf Hochsch.-Verl. an der ETH. Zürich 1997 (Strategische Studien, 14), S.1. 17) Vgl. Harald Hungenberg: Strategisches Management in Unterneh- men. Ziele - Prozesse - Verfahren. 5., überarb. und erw. Aufl.: Gabler, Wiesbaden 2008, S.5 und Stahel et al., a.a.O., S.2. 18) Vgl. Stupka 2008, a.a.O., S.41. 19) Stupka 2008, a.a.O., S.41. 20) Duden. Fremdwörterbuch (1982): Dudenverlag. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 1982 (Band 5), S.730. 21) Vgl. Hungenberg, a.a.O., S.4 und Lombriser, Abplanalp, a.a.O., S.41; siehe auch Dieter Hahn, Harald Hungenberg: PuK. wertorien- tierte Controllingkonzepte: Gabler. Wiesbaden 2001; Gerry Johnson, Kevan Scholes (2005): Exploring Corporate Strategy: Pearson Higher Education. Hahn, Hungenberg, a.a.O., S.100f; Günter Müller-Stewens, Christoph Lechner: Strategisches Management: Schäffer-Poeschel. Stuttgart 2005, S.15ff.; Johnson, Scholes 2005, S.16ff. 22) Vgl. Lombriser, Abplanalp 2005, a.a.O., S.47. 23) Vgl. Hungenberg 2008, a.a.O., S.438 und Lombriser, Abplanalp 2005, a.a.O., S.48. 24) Vgl. Hungenberg 2008, a.a.O., S.24 und 457. 25) Omar Bradley zitiert in: Fink, Siebe 2006, a.a.O., S.80. 26) Vgl. Hungenberg 2008, a.a.O., S.10 und Lombriser, Abplanalp, a.a.O., S.50. Dr. Bernhard Richter Geb. 1969; Oberst des höheren militärfachlichen Dienstes; ein- gerückt im Oktober 1988 beim LWSR 41 in Enns als Einjährig Freiwilliger; 1994-1997 Theresianische Militärakademie in Wr. Neustadt. Ausmusterungsjahrgang „Ritter von Trapp“ als Pan- zergrenadier zum Panzergrenadierbataillon 13; 1997-2002 Zugs- und Kompaniekommandant in der 1/13; 2002-2005 Lehr- und Hauptlehroffizier Panzergrenadier an der Panzertruppenschule; 2002-2007 Studium der Politikwissenschaft an der Universität Wien; 2007-2010 Doktoratsstudium Politikwissenschaft an der Universität Wien; seit 2005 Referent für Zukunfts- und Trenda- nalyse im Büro für Sicherheitspolitik/BMLVS.
Ist Algerien immun gegenüber dem arabischen Umbruch? ÖMZ 4/2013-Online Martin Pabst I n den zahlreichen Neuerscheinungen zur „Arabischen onen der Regierung wieder ab. Und im Oktober 1988 war Algerien Revolte“ wird Algerien kaum behandelt, und wenn, das erste arabische Land gewesen, wo ein autoritäres System durch dann meist nur am Rande als vergleichsweise stabiler Jugenddemonstrationen nachhaltig erschüttert und zur Demokrati- Staat. Doch das Land ist zu wichtig, um es mit wenigen sierung gezwungen wurde. Das algerische Exempel illustriert aber Sätzen abzutun. auch die möglichen Rückschläge beim Reformprozess in einem Land Mit 2,38 Mio. Quadratkilometern ist Algerien nicht nur mit verkrusteten Machtstrukturen, beschränktem Bildungsstand und größter Flächenstaat in Afrika, sondern auch im MENA- unzureichender demokratischer Erfahrung. Raum (Middle East/Northern Africa). In punkto Bevölke- Das kommende Jahr ist für Algerien ein entscheidendes: 2014 rungszahl steht es dort nach Ägypten (ca. 83 Mio.) mit 38 wird nicht nur ein Nachfolger für den 77-jährigen, kränkelnden und Mio. Einwohnern an zweiter Stelle. Aufgrund seiner reichen Vorkommen an Erdöl und Erdgas besitzt Al- gerien erhebliche geostrategische Bedeutung. So ist es zehntgrößter Erdgasproduzent der Welt und für 25% der EU-Erdgasimporte verantwortlich - die EU kann damit ihre Abhängigkeit von russischen Lieferungen reduzieren.1) Als größter Saharastaat hat Algerien zudem erhebliches Potenzial bei erneuerbaren Energien und spielt eine wichtige Rolle im von der Union für den Mittelmeerraum unterstützten DESERTEC-Projekt.2) Algerien ist auch ein Brückenland zwischen Europa und Sub-Sahara-Afrika und verfügt über erheblichen Einfluss im instabilen Sahel-Raum. Mit dem Zerfall der syrischen Armee stellt Algerien heute im MENA-Raum nach Ägypten die zweitstärksten Sicherheitskräfte. Die im Anti-Terror-Kampf erprobte Wehrpflichtigenarmee zählt 130.400 Mann (Heer 110.000, Luftwaffe 14.000, Marine 6.000) zuzüglich 150.000 Reservisten. Hinzu kommen 187.200 Paramilitärs (Gendarmerie 20.000, Nationale Sicherheitskräfte 16.000, Republikanische Garde 1.200, kommunale Milizen ca. 150 000).3) So stark Algerien nach außen auftritt, so groß sind freilich seine Probleme im Innern, die denen anderer arabischer Staaten ähneln: hohe Jugendarbeitslosigkeit, desaströse Lebensverhältnisse vieler Bürger, mangel- hafte staatliche Dienstleistungen, Benachteiligung von Bevölkerungsgruppen, staatliche Legitimitätsdefizite. Immer wieder versuchen perspektivlose junge „ harra- ga“ (Passverbrenner), sich nach Frankreich, Italien oder Malta durchzuschlagen. Schon vergessen ist, dass das Land Anfang Januar 2011 ein Auftaktsignal für die „Arabische Revolte“ gab: Autor In mehreren Provinzen lieferten sich viele Tausende Jugendliche Straßenschlachten mit der Polizei. Doch Plakat mit der Aufschrift: „Ein starkes und sicheres Algerien - Abd ebbten die nicht koordinierten Proteste nach Konzessi- al-Aziz Bouteflika“ (Bild).
wahrscheinlich nicht mehr kandidierenden Staatspräsidenten Untertanen erklärt, da ihnen Paris wegen angeblicher kultureller Rück- Abd al-Aziz Bouteflika gewählt, sondern es steht auch die ständigkeit das Bürgerrecht verwehrte. Nur wenn sie sich individuell überfällige Ablösung der Generation des Befreiungskrieges assimilierten und das muslimische Familien- und Erbrecht aufgaben, (1954-62) an, so wurde Armeechef Generalleutnant Ahmed konnten sie den Antrag auf die französische Staatsbürgerschaft stellen. Gaïd Salah im Jahr 1940, Geheimdienstchef Generalleutnant Die rechten französischen Parteien legten in Algerien den Schwer- Mohammed Médiène 1939 geboren. Der anstehende Wechsel punkt auf nationale Interessen sowie die Förderung der europäischen birgt Chancen und Risiken. Besiedlung und des Christentums. Die linken Parteien beriefen sich auf die emanzipatorischen Ideen von 1789 und stellten Freiheit, Der algerische Sonderweg Gleichheit und Brüderlichkeit in Aussicht. Doch waren die franzö- Um das heutige Algerien zu verstehen, ist ein Blick auf sischen Sozialisten bis Ende der 1950er-Jahre davon überzeugt, dass ÖMZ 4/2013-Online seine besondere Geschichte erforderlich. Gerade die Erfah- die muslimische Bevölkerung rückständig sei und nur im Rahmen rungen der letzten 200 Jahre haben die Mentalität seiner der französischen Republik zu allmählicher Emanzipation finden Bewohner und die politische Kultur geprägt.4) könne. Noch 1954 verteidigte François Mitterand als sozialistischer Algerien, Marokko und Tunesien wurden im 7. Jahr- Innenminister vehement die Zugehörigkeit Algeriens zu Frankreich hundert Teile des arabischen Großreiches, doch konnte sich und rechtfertigte das harsche Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Marokko unter der Dynastie der Idrisiden bereits im Jahr Aufständische. Nur die Kommunistische Partei Frankreichs unter- 788 verselbstständigen. Hingegen standen Algerien und stützte grundsätzlich die Unabhängigkeit. Tunesien immer wieder unter fremdem Einfluss, so in der Die europäischen Einwanderer waren sprachlich und kulturell frühen Neuzeit unter osmanischer Oberherrschaft. heterogen zusammengesetzt. Im Westen wanderten überwiegend Alle drei Länder gerieten im 19./20. Jahrhundert unter Spanier ein, in der mittleren Küstenzone Franzosen und Italiener, im den Einfluss europäischer Kolonialmächte, doch wurde Osten Franzosen, Italiener und Malteser. Darunter fanden sich reiche Algerien davon früh und brutal erfasst, Marokko und Tune- Großgrundbesitzer und Unternehmer, mehrheitlich aber Angehörige sien hingegen eher spät und eingeschränkt. Dort etablierten der unteren Mittelschicht und Arbeiter. Franzosen in Europa pfleg- Frankreich (1881 in Tunesien und 1912 in Marokko) und ten mit Geringschätzung auf die pieds-noirs6) herabzublicken - sie Spanien (1912 in Marokko) Protektorate, die die regierenden betrachteten die Algerienfranzosen als keine echten Franzosen, als Dynastien und Verwaltungsstrukturen zumindest formal proletarische Emporkömmlinge oder als nach Afrika ausgewanderte unangetastet ließen. Kultur, Lebensweise und Religion der gescheiterte Existenzen. Viele pieds-noirs kompensierten ihren arabischen und berberischen Einwohner blieben weitgehend Minderwertigkeitskomplex einerseits mit lautstarkem französischen intakt, Siedler wanderten nur in beschränkter Zahl ein. Als Nationalismus, andererseits mit der Diskriminierung der als bar- sich Unabhängigkeitsbewegungen formierten, gaben Paris barisch und bedrohlich empfundenen muslimischen Bevölkerung. und Madrid bald nach, und die Entlassung beider Staaten in Bestrebungen der Metropole, den muslimischen Einwohnern mehr die Unabhängigkeit (1956) vollzog sich überwiegend gewalt- Rechte zu verleihen, setzten die Siedler vor Ort und über ihre Lobby frei. Marokko und Tunesien blieben politisch, kulturell und in Paris hartnäckigen Widerstand entgegen. Darüber hinaus kämpften wirtschaftlich eng mit Frankreich verbunden.5) die pieds-noirs auch gegen die Emanzipation der kleinen, 1927 ca. Ganz anders vollzog sich die Entwicklung in Algerien. 74.000 Menschen zählenden jüdischen Minderheit, da sie darin den Bereits 1830 wurde die halbautonome osmanische Provinz ersten Schritt zur Gleichstellung der Muslime sahen. Cezayir französisch, als die Bildung einer algerischen Nation noch in den Anfängen steckte. Eine 37.000 Mann starke In- Abb.1 Bevölkerungsentwicklung in Algerien vasionsarmee eroberte das Land. Frankreich setzte den Dey Jahr 1926 1961 1990 2008 (Militärbefehlshaber) ab und übernahm die Verwaltung. Der Einwohner 5.984.000 10.700.000 25.324.000 34.080.000 15-jährige Widerstand des Berberfürsten Abd el-Kader wurde unter Einsatz harscher Kampfmethoden wie „verbrannter Algerier 5.147.000 ca. 9.700.000 ca. 24.360.000 ca. 34.000.000 Erde“ bis 1847 gebrochen. Ebenso brutal wurde der 1871 in wenige Europäer 836.000 ca. 1.000.000 60.000 Zehntausend der Kabylei ausgebrochene Aufstand niedergekämpft. Diese Jährl. Zunahme k.A. k.A. 3,1% (Ø 1980-88) 1,7% (Ø 2000-09) Region wurde unter Ausnahmezustand gestellt, die Anführer Quellen: Gothaisches Jahrbuch 1928, Der Fischer Weltalmanach 1963/1992/2012 Gestaltung: Redaktion ÖMZ/Dieter Hüttner wurden exekutiert oder deportiert, 36 Mio. Francs Kontri- butionen eingetrieben und 450.000 Hektar Land zur Strafe Die meisten muslimischen Algerier empfanden die französische beschlagnahmt. Am 26. August 1881 wurde Algerien gar zum Herrschaft als brutale Usurpation. Die Siedler kontrollierten über 2 Bestandteil Frankreichs erklärt und in die drei Departments Mio. Hektar des besten Landes. Kultur und Religion der angestamm- Oran, Algier und Constantine zuzüglich des nach Sonderstatut ten Bewohner wurden als rückständig und minderwertig angesehen. verwalteten Sahara-Territoriums gegliedert. Im Unterschied In der Mehrzahl der ländlichen „communes mixtes“ wurde die mus- zu Marokko und Tunesien galt damit in Algerien allein der limische Bevölkerung von französischen Beamten fremdverwaltet. Gedanke an nationale Unabhängigkeit als Hochverrat. In städtischen Gebieten dominierten die europäischen Siedler die Die autochthone Bevölkerung in Algerien besteht zu Verwaltung, und nur in kleinen Schritten erhielten die Muslime mehr 70-80% aus Arabern, zu 20-30% aus Berbern. Letztere sind Rechte zugestanden. De facto herrschte eine soziale Segregation. insbesondere in der Kabylei, den Aurès-Bergen, um Ghar- Nur wenige Muslime hatten die Möglichkeit, französische Schulen daia und im saharischen Tuareggebiet ansässig. Fast alle zu besuchen, und sie unterstanden diskriminierenden Strafgesetzen. Araber und Berber bekennen sich zum sunnitischen Islam, Ökonomischer Druck zwang viele von ihnen, Land zu verkaufen und der sufistische und orthodoxe Strömungen aufweist. Nach bei französischen Bauern, Händlern oder Unternehmern zu arbeiten. der französischen Eroberung wurden die Einheimischen zu Algerienfranzosen begegneten ihnen nicht selten mit Rassismus. Wer
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