ÖSTERREICHISCHE MILITÄRISCHE ZEITSCHRIFT - IN DIESER ONLINEAUSGABE - BUNDESHEER

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ÖSTERREICHISCHE MILITÄRISCHE ZEITSCHRIFT - IN DIESER ONLINEAUSGABE - BUNDESHEER
ÖMZ
ÖMZ 4/2013-Online
             Österreichische Militärische Zeitschrift
                                       In dieser Onlineausgabe
                                                       Bernhard Richter
                     „Denken in Szenarien“ als Methode innovativer strategischer Planung (Teil 1)

                                                         Martin Pabst
                               Ist Algerien immun gegenüber dem arabischen Umbruch?

                                                          Heinz Brill
                                         Die neue geopolitische Rolle der Türkei
                                       „Strategische Tiefe“ als außenpolitisches Konzept?

                                                         Michael Paul
                                     Konfrontation, Kooperation oder Kompromiss?
                                               Russland und die Raketenabwehr?

                                 Zusätzlich in der Printausgabe
                                                          Erwin A. Schmidl
                           Vor 75 Jahren: Der deutsche Einmarsch in Österreich im März 1938

                                                             Hans Krech
                                Sicherungsmaßnahmen und Spionage­abwehr bei Al Qaida

                                                          Wolfgang Taus
                                          Strategische Beziehungen USA - China

                                                          Michail Logvinov
                                    Globale Energiesicherheit und globale strategische
                                               Ressourcenlage bis 2035

                    sowie zahlreiche Berichte zur österreichischen und internationalen Verteidigungspolitik
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„Denken in Szenarien“
              als Methode innovativer strategischer
              Planung *) (Teil 1)                                                                                                                   ch
                                                                                                                                                      eM
                                                                                                                                                           ilitärische Z
                                                                                                                                                                        eit

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                                                                                                                                            his

                                                                                                                                                                            hri
                                                                                                                                        Österreic

                                                                                                                                                                               ft
ÖMZ 4/2013-Online
                                              „Es kommt nicht darauf an, die Zukunft zu wissen,                                                                  eview
                                                                                                                                                     Peer R
                                           sondern auf die Zukunft vorbereitet zu sein.“ (Perikles)
                                                                                                                                                             1808

              Bernhard Richter

                  F
                         ür die Menschen war es schon immer ein wich-                   zugrunde liegt. Diese Festlegung auf jene Zukunftsentwicklung,
                         tiges Anliegen, in die Zukunft zu sehen. V.a. die              worauf die eigene Strategie optimiert werden soll, kann anhand
                         politischen Eliten in jeder historischen Epoche                unterschiedlicher Kriterien vorgenommen werden (z.B. die
              waren bestrebt, die Zukunft zu kennen, um ihr Handeln so zu               wahrscheinlichste Entwicklung, die für die eigene Organisation
              gestalten, dass ihre Reiche sicherer wurden und überlebten.               günstigste oder ungünstigste Entwicklung).3)
              Vom Orakel von Delphi im antiken Griechenland über No-                        Strategische Planer und Entscheidungsträger mussten ihre meist
              stradamus in der Neuzeit bis heute versuchen die Menschen                 sehr weitreichenden Entscheidungen schon immer unter hoher
              Informationen über die Zukunft zu erlangen. Jedoch ist die                Ungewissheit zukünftiger Entwicklungen in komplexen Umfeldern
              Zukunft eine Dimension, die wir nicht ergründen können.                   treffen. Die These an dieser Stelle ist jedoch, dass in jüngerer Vergan-
                  Auch müssen die politischen Entscheidungsträger und                   genheit, insbesondere seit dem Ende des Kalten Krieges, sowohl die
              die Planer auf politisch-strategischer Ebene eine Vorstel-                Ungewissheit als auch die Komplexität der Umfeldsysteme (sowohl
              lung von den bevorstehenden Herausforderungen und                         in der Wirtschaft als auch in der Politik) stark zugenommen haben.
              Entwicklungen haben, um die Sicherheitsarchitekturen                          Das internationale System ist geprägt durch steigende
              und deren Instrumente zukunftstauglich auszurichten.                      Multipolarität und somit durch eine Vermehrung relevanter Ak-
                  V.a. im sicherheitspolitischen Bereich ist die Notwen-                teure, eine steigende Bedeutung nichtstaatlicher Akteure (auch
              digkeit einer langfristigen, zukunftsfähigen Ausrichtung                  Gewaltakteure), eine steigende Vernetzung der Gesellschaften,
              offensichtlich, da die Streitkräfte und andere Einsatzor-                 Volkswirtschaften, Wertesysteme etc. Darüber liegt, sozusagen als
              ganisationen relativ lange Planungshorizonte benötigen                    Metatrend, die Globalisierung, die mit ihrer ungeheuren Kraft alle
              (aufgrund der hohen Kapitalintensivität und Lebensdauer                   Lebensbereiche erfasst und zu einer starken Veränderungsdynamik
              von Großgerät etc.). Dazu sind (sowohl heute als auch                     des internationalen Systems beiträgt.
              schon in der Vergangenheit) jedoch Informationen über                         Aufgrund dieser zunehmenden Ungewissheit, Komplexität
              die Zukunft notwendig.1)                                                  und Dynamik der Umfelder und Rahmenbedingungen erscheint an
                  Wie schon erwähnt, ist die Zukunft eine Dimension,                    dieser Stelle die Erkenntnis, dass es die Zukunft schlechthin nicht
              die nicht erschließbar ist, und es gibt keine wissenschaft-               geben kann, sondern in alternativen Zukünften (den so genannten
              liche Disziplin, die es uns erlaubt, die Zukunft determini-               Szenarien) gedacht werden sollte, zweckmäßiger. Das bedeutet,
              stisch vorherzusagen. Alle Zukunftsgedanken sind Bilder,                  eine solche szenariobasierte Analyse und Planung stützt sich auf
              die konstruktivistisch geprägt sind und auf gedanklichen,                 mehrere Zukunftsbilder.
              empirischen und statistischen Modellen beruhen. Wenn                          Dieses Denken in Szenarien resultiert aus der Erkenntnis, dass
              es keine Gewissheit über die Zukunft gibt, so sollte man                  zukünftige Entwicklungen nicht auf Basis einer Prognose aus der
              sich vom Wunsch nach sicheren Aussagen über die Zu-                       Fortschreibung von Zahlen oder impliziten Vorstellungen über die
              kunft lösen und davon ausgehen, dass alle Aussagen über                   Zukunft ermittelt werden können. Ziel dieses Aufsatzes sind die
              die Zukunft - insbesondere jene, die weit in die Zukunft                  folgenden Überlegungen und Darstellungen:
              reichen - mehr oder weniger falsch sind.2)                                    1. Was wird unter dem Begriff Szenarien verstanden, und
                  Strategische Entscheidungen basieren sehr oft auf                     welche unterschiedlichen Szenarien gibt es?
              quantitativen Prognosen und/oder impliziten Vorstel-                          2. Wie können Szenarien gewinnbringend im Prozess des
              lungen über die Zukunft. Dabei werden sehr häufig un-                     strategischen Managements verwendet werden, und welchen
              terschiedliche Möglichkeiten zukünftiger Entwicklungen                    Mehrwert bringen diese?
              (z.B. der für das eigene Handeln relevanten Umfelder)                         3. Praktische Anwendungsbeispiele des in diesem Aufsatz
              betrachtet. Letztendlich legt man sich dann meist jedoch                  vorgestellten Prozessmodells des strategischen Managements aus
              auf eine spezifische Zukunftsentwicklung (bzw. -vorstel-                  dem Bereich des österreichischen Bundesheeres und der nieder-
              lung) fest, die wiederum der (strategischen) Entscheidung                 ländischen Streitkräfte.

              *) Dieser Artikel hat das Peer-Review-Verfahren erfolgreich durchlaufen
ÖSTERREICHISCHE MILITÄRISCHE ZEITSCHRIFT - IN DIESER ONLINEAUSGABE - BUNDESHEER
Dabei erhebt diese Methode strategischen Manage-            Abb.1                                                         Fehlprognosen von Experten
              ments keinesfalls den Anspruch „das Rad völlig neu zu er-       1901 Gottlieb Daimler                                                 „Die weltweite Nachfrage nach             Der heutige Bestand
              finden“, sondern baut auf einem bewährten (generischen)                                                                               Kraftfahrzeugen wird 1 Million            von Kfz wird auf
              Prozess strategischen Managements auf bzw. erweitert                                                                                  nicht überschreiten – allein schon        etwa 600 Millionen
              diesen. Die Entscheidung für eine strategische Ausrichtung                                                                            aus Mangel an verfügbaren                 geschätzt
                                                                                                                                                    Chauffeuren.“
              und Weiterentwicklung der eigenen Organisation basiert
                                                                              1943 Thomas J. Watson, „Ich glaube, der Weltmarkt hat                                                           Heute werden mehr
              somit (meist) nicht auf einer möglichen Zukunftsentwick-             Vorstands-        Raum für fünf Computer – nicht                                                           Computer verkauft
              lung, sondern auf mehreren.                                          vorsitzender IBM mehr.“                                                                                    als Autos
                  Auch kann das hier vorgestellte Prozessmodell nahezu        1946 Darryl F. Zanuck, „Der Fernseher wird sich auf dem                                                         Das Fernsehen gilt
                                                                                   20th Century Fox Markt nicht durchsetzen. Die                                                              heute als die nahezu
              unterschiedslos in der Wirtschaft und in sicherheits- und
ÖMZ 4/2013-Online
                                                                                                     Menschen werden es bald müde                                                             beliebteste
              verteidigungspolitischen Strategieentwicklungsprozessen                                sein, auf eine Sperrholzkiste zu                                                         Freizeitbeschäftigung
              angewendet werden.                                                                     starren.“
                                                                              1981 Bill Gates        „640 k storage ought to be                                                               Der Speicher von
                                    Szenarien                                                        enough for everybody.“                                                                   Festplatten in PCs
                                                                                                                                                                                              steigt immer weiter
                  Wenn man der Meinung von Bill Gates folgt, würde es         1995 Bill Gates                                                       „Internet is just a hype.“                Heute gilt das
              das Internet in der heute verfügbaren Form nicht geben. Er                                                                                                                      Internet als eine
              sah das Internet als einen kurzen „Hype“ an, der sich bald                                                                                                                      Schlüsseltechnologie
              wieder legen würde. Dies ist nur eines der Fehlurteile, das     Quelle: angelehnt an Fink 2002, S. 44                                                                Gestaltung: Redaktion ÖMZ/Dieter Hüttner

              die Schwierigkeiten verdeutlicht, zukünftige Entwicklungen          - sind vernetzt, d.h. bilden die wirksamen Beziehungen der re-
              zu prognostizieren.4)                                           levanten Einflussfaktoren ab und versuchen somit die Komplexität
                  Ein kurzer Auszug von bekannten Fehlprognosen der           der Wirklichkeit so weit als möglich aufrechtzuerhalten.7)
              Vergangenheit soll dies verdeutlichen:5)
                  Die Welt, die uns umgibt, ist kein einfaches lineares                             Arten von Szenarien
              System mit klaren Ursache-Wirkungsbeziehungen, son-                 Wie oben angeführt gibt es eine ganze Reihe unterschiedlicher
              dern ein komplexes dynamisches Ganzes, worin eine               Szenariobegriffe und auch unterschiedliche Arten von Szenarien.
              Unmenge an Einflüssen gleichzeitig und vernetzt wirkt.          Es ist nicht Ziel dieses Aufsatzes diese unterschiedlichen Be-
              Dies trifft insbesondere auf das internationale politische      grifflichkeiten und die unterschiedlichen Arten und Formen von
              System zu, in dem eine Vielzahl von Akteuren, Kräften und       Szenarien erschöpfend zu beschreiben.
              Interessen wirkt, sodass zukünftige Entwicklungen nicht             Nichtsdestotrotz werden in der Folge die in der Praxis ge-
              einmal annähernd exakt vorausgesagt werden können.              bräuchlichsten Verfahren zur Erstellung von Szenarien dargestellt.
                  Das Denken in Szenarien resultiert aus der Erkenntnis,      Diese werden anhand von zwei Kriterien strukturiert, nämlich der
              dass unter solchen Bedingungen zukünftige Entwick-              Richtung der Szenarioentwicklung und des Umgangs mit Eintritts-
              lungen nicht mit einer Prognose aus der statistischen           Abb.2                               Fünf Verfahren zur Erstellung von Szenarien
              Extrapolation quantitativer Werte oder aufgrund impliziter
              Zukunftsvorstellungen (im Sinne qualitativer Prognosen)                                                                         Berücksichtigung von Wahrscheinlichkeiten
              ermittelt werden können.
                  Aus diesem Grund gewinnt das Denken in Szenarien im                                                                              Ja                               Nein
              strategischen Management immer mehr an Bedeutung. Sze-
                                                                                                                                       Wechselwirkungsszenarien        Szenariotechnik
              narien kombinieren zukunftsoffenes und systemisches Den-
                                                                                                                 Induktive Verfahren

                                                                                                                                       Szenarioentwicklung durch       Szenarioentwicklung auf
              ken. Was versteht man unter einem Szenario? Beim Studium                                                                 Verknüpfung von möglichen       Basis der systematischen
              der Literatur und anhand von Fallbeispielen zum Thema                                                                    und nach Wahrscheinlichkeit     und vollständigen
                                                                                                                                       bewerteten Entwicklungs-        Verknüpfung von möglichen,
              erkennt man, dass sich die Definition relativ unübersichtlich                                                            alternativen einzelner          tendenziell extremen
              darstellt. Schon vom Begriff und der Bezeichnung gibt es                                                                 Schlüsselfaktoren               Entwicklungsalternativen
              alle Variationen und Kombinationen: Szenario-Analyse,                                                                                                    einzelner Schlüsselfaktoren
              Szenario-Planung, Szenario-Technik, Szenario-Management
                                                                                    Konstruktion der Szenarien

              etc. Definitionen, Prinzipien, Ansätze und Charakteristik                                                                Genius Foresight (Narrative    Scenario Planning
              unterscheiden sich je nach Autor und Veröffentlichung.6)                                                                 Szenarien/Science-Fiction)     Szenarioentwicklung auf Basis
                                                                                                                                       Entwicklung einzelner oder     eines vorab festgelegten
                  In diesem Aufsatz wird der Begriff Szenario mit fol-                                                                 mehrerer komplexer             Rasters („Framework“), wobei
              gender Bedeutung verwendet:                                                                                              Zukunftsbilder durch           die so entstandenen
                  Szenarien                                                                                                            Experten oder Experten-        Szenarien als gleichwertige
                                                                                                                 Deduktive Verfahren

                                                                                                                                       gruppen auf Basis vor-         denkbare Alternativen
                  - sind hypothetische Zukunftsbilder, die auf einer                                                                   handener Informationen und     angesehen werden können
              schlüssigen Kombination denkbarer Entwicklungsan-                                                                        spezifischer Themensetzung     Themensetzung
              nahmen beruhen,
                  - spannen einen Raum möglicher Entwicklungsalter-                                                                                                    Morphologische Analyse
              nativen auf (Möglichkeiten- oder Zukunftsraum),                                                                                                          Szenarienentwicklung auf
                                                                                                                                                                       Basis einer morphologischen
                  - beschreiben Entwicklungspfade,                                                                                                                     Matrix, bei der
                  - enthalten qualitative und quantitative Aussagen,                                                                                                   Szenarienthemen anhand
                  - sind zukunftsoffen, d.h. es wird nicht mehr versucht,                                                                                              der zentralen Szenariokerne
                                                                                                                                                                       gesetzt werden
              die Zukunft deterministisch vorherzusagen, sondern es
              werden mehrere mögliche Zukunftsbilder beschrieben,
                                                                              Quelle: angelehnt an Fink et al. 2006, S. 17                                                 Gestaltung: Redaktion ÖMZ/Dieter Hüttner
ÖSTERREICHISCHE MILITÄRISCHE ZEITSCHRIFT - IN DIESER ONLINEAUSGABE - BUNDESHEER
wahrscheinlichkeiten. Diese Strukturierung anhand dieser            Im Rahmen des Verfahrens der Szenariotechnik kommen induk-
              Kriterien führt zu fünf grundsätzlichen Verfahren.             tive Verfahren zur Anwendung. Induktive Ansätze werden mittels
                  Bevor jedoch näher auf diese unterschiedlichen Ver-        modellgestützter Logik erstellt; d.h., sie erfordern den Einsatz von
              fahren eingegangen wird, soll an dieser Stelle eine weitere    speziellen Softwaretools.
              Unterscheidung in Umfeld- und Lenkungsszenarien vorge-              - Wechselwirkungsszenarien
              nommen werden, da dies für das Verständnis der weiteren             Wechselwirkungsszenarien beschreiben ein weiteres induktives
              Ausführungen zweckmäßig erscheint:                             Verfahren zur Szenarienerstellung. Die Erstellung von Wechselwir-
                  - Umfeldszenarien bestehen ausschließlich aus nicht        kungsszenarien unterscheidet sich kaum vom Verfahren Szenario-
              lenkbaren Umfeldgrößen. Mit solchen Szenarien könnte           technik. Die Verfahren zur Entwicklung der Einflussfaktoren und
              eine Organisation beabsichtigen, mögliche Rahmenbe-            der Identifizierung der Schlüsselfaktoren sind identisch. Auch die
ÖMZ 4/2013-Online
              dingungen in den für sie relevanten Umfeldern für die          Projektionen werden analog zur Szenariotechnik erarbeitet. Einzig
              nächsten zehn bis 15 Jahre vorauszudenken und daraus           und allein bei der Szenariobildung unterscheidet sich dieses Ver-
              Chancen, Risiken und letztendlich die eigenen Handlungs-       fahren von der Szenariotechnik. Im Rahmen der Szenariobildung
              optionen abzuleiten.8)                                         wird bei der Cross-Impact-Analyse (anstatt der Konsistenzanalyse)
                  - Lenkungsszenarien bestehen ausschließlich aus in-        versucht, die Interdependenzen zwischen den Eintrittswahrschein-
              ternen Lenkungsgrößen. Solche Größen können von der            lichkeiten der Projektionen10) auszuwerten.
              Organisation direkt beeinflusst werden. Dies wären zum              - Morphologische Analyse
              Beispiel Produktmerkmale oder Elemente eines neuen                  Eine weitere sehr praktikable Methode, Szenarien zu erstellen,
              Geschäftsmodells. Im Bereich der Sicherheitspolitik kann       ist die morphologische Analyse. Diese Methode soll dazu beitragen,
              darunter eine neue strategische Ausrichtung von Sicher-        die Gesamtheit von Beziehungen in multidimensionalen, nicht
              heitsorganisationen, d.h. die Entwicklung neuer Aufgaben-      quantifizierbaren und komplexen Problemen zu analysieren, zu
              felder (oder eine andere Gewichtung bzw. Priorisierung         strukturieren und darzustellen.
              im Rahmen des bestehenden Aufgabenportfolios) für diese             Die Methodik der Szenarioerstellung unterscheidet sich bis auf
              Sicherheitsorganisationen verstanden werden.9)                 die Szenariobildung nicht von der Szenario­technik. Die Verknüp-
                  Diese verschiedenen Ansätze zur Entwicklung von            fung der Zukunftsprojektionen erfolgt jedoch nicht induktiv und
              Szenarien weisen zwar große Unterschiede in der Vorge-         modellgestützt, sondern deduktiv und intuitiv.
              hensweise auf, folgen jedoch grundsätzlichen Gemein-                - Scenario Planning
              samkeiten:                                                          Scenario Planning ist der traditionelle und im angloamerika-
                  Gestaltungsfeldanalyse                                     nischen Raum gebräuchlichste deduktive Ansatz zur Erstellung
                  - Abgrenzung des Problemfelds (Festlegung der              von Szenarien. Von der grundsätzlichen Vorgangsweise bei der
              Systemgrenzen);                                                Umfeldanalyse und der Darstellung der Szenarien her ist dieses
                  Szenariofeldanalyse                                        Verfahren der Szenariotechnik sehr ähnlich. Die Szenariobildung
                  - Identifizierung von Einflussbereichen,                   weist im Rahmen dieses Verfahrens jedoch erhebliche Unterschiede
                  - Ableitung von Einflussfaktoren,                          auf. Die Themen werden hier vom Szenarioteam vorab festgelegt.
                  - Ableitung der bestimmenden Systemelemente                Diese Festlegung der Themen ist der wesentlichste Unterschied
              (Schlüsselfaktoren);                                           zum Verfahren der Szenarientechnik.
                  Szenarioprognostik                                              Der am häufigsten verwendete Weg zu den Szenariothemen
                  - Ermittlung von möglichen Entwicklungen dieser            führt über zwei als Schlüsselunsicherheiten bezeichnete dominan-
              Faktoren;                                                      te Schlüsselfaktoren oder Treiberkräfte, deren Achsen in einem
                  Szenariobildung                                            Portfolio eingetragen werden. Dieses Portfolio wird auch als Sze-
                  - Ableitung von alternativen Entwicklungsmöglich-          nariologik bezeichnet. Innerhalb dieser Szenariologik entstehen
              keiten des Gesamtsystems,                                      (meist) vier Szenariothemen. Damit ist auch erklärt, warum im
                  - Auswahl der für die weitere Arbeit geeigneten rele-      angloamerikanischen Raum sehr häufig mit genau vier Szenarien
              vanten Szenarien;                                              gearbeitet wird.
                  Szenariotransfer                                                - Narrative normative Szenarien/Science-Fiction11)
                  - Ermittlung von Konsequenzen und Auswirkungen                  Trotz der relativ geringen Bedeutung dieser Art von Szena-
              auf das Gestaltungsfeld,                                       rien werden narrative normative Szenarien an dieser Stelle kurz
                  - Ableitung konkreter Maßnahmen für die Problem-           vorgestellt. Diese dienen sehr häufig zur Konkretisierung und
              stellung.                                                      Illustration von so genannten Leitvisionen für (sicherheitspoli-
                                                                             tische) Zukunftsthemen. „Normativ“ bedeutet, dass den Szenarien
                     Verfahren zur Entwicklung von Szenarien                 eine explizite Wertorientierung zugrunde liegt. Sie beschreiben
                  - Szenariotechnik                                          Wünsche bzw. eine Vision, ohne dabei den Bereich des prinzipiell
                  Das Verfahren Szenariotechnik beschreibt im Rahmen         Möglichen zu verlassen. Im Gegensatz zu explorativen Szenarien,
              dieser Arbeit einen induktiven Weg der Szenarioentwick-        in denen heutige Trendentwicklungen in die Zukunft verlängert
              lung, bei dem die einzelnen Szenarien als systematische        oder die Folgen von Störereignissen erkundet werden, werden
              Kombination der alternativen Ausprägungen einer Reihe          normative Szenarien ausgehend von konkreten Wunsch- bzw.
              von Schlüsselfaktoren erstellt werden. Das Kennzeichen         Zielvorstellungen konstruiert. Dies geschieht häufig in Verbindung
              dieses Verfahrens ist der systematische softwareunterstützte   mit einem so genannten „Backcasting“. Mit diesem Verfahren wird
              Prozess, aus dem sich eine vorher nicht festgelegte Anzahl     untersucht, welche Schritte bzw. Voraussetzungen notwendig sind,
              von Szenarien, ohne Vorgabe eines Frameworks, ergibt.          um dieses Ziel zu erreichen. „Narrativ“ bedeutet, dass die Szenarien
quasiliterarisch gestaltet werden, als kleine Erzählungen          Heinecke ist der Ansicht, dass diese kontroverse Sicht der
              über fiktive Personen oder Organisationen.                    beiden induktiven Ansätze der Szenarioerstellung unberechtigt
                                                                            ist, da sich diese beiden Verfahren sehr gut ergänzen können.14)
                      Zusammenfassende Bewertung der unter­                      Das Verfahren des Scenario Planning ist v.a. im angloamerika-
                  schiedlichen Arten und Formen von Szenarien               nischen Raum verbreitet. Dieses Verfahren folgt einer intuitiven und
                  Es gibt kein grundsätzliches „Kochrezept“, welches        deduktiven Methode und hat den Vorteil, dass einfache Zukunftsbilder
              Verfahren zur Erstellung von Szenarien das „beste oder        relativ rasch und ohne großen Aufwand erstellt werden können. Diese
              zweckmäßigste“ ist. Jede einzelne der unterschiedlichen       lassen sich zudem relativ leicht in den strategischen Planungs- und
              Arten von Szenarien hat ihre spezifischen Vor- und            Führungsprozess integrieren. Aus diesem Grund ist das Denken in
              Nachteile.                                                    Szenarien v.a. im angloamerikanischen Raum viel weiter verbreitet
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                  Im kontinentaleuropäischen Raum werden Szenarien          als in Europa. Jedoch eignen sich diese Szenarien aufgrund der Ver-
              vorwiegend induktiv (Verknüpfung von Faktoren und             nachlässigung des systemischen Denkens häufig nicht für komplexe
              Trends) und modellgestützt als explorative Zustandsbilder     Fragestellungen. Solche Szenarien basieren auf einer relativ kleinen
              erstellt (Szenariotechnik und Wechselwirkungsszenari-         Anzahl von Faktoren. Aufgrund der Tatsache, dass das menschliche
              en).12)                                                       Gehirn nicht in der Lage ist, ein hohes Maß an Vernetzung zu be-
                  Während auch die anderen Verfahren zur Szenarie-          werkstelligen, erfolgt die Darstellung des Zukunftsraums auf Basis
              nerstellung das Kriterium der Zukunftsoffenheit erfüllen      weniger Strukturmerkmale. Daher sind die Kriterien der Vollständig-
              (narrative normative Szenarien mit Einschränkungen),          keit und des systemischen Denkens eher weniger erfüllt als bei der
              enthält diese Art von Szenarien die Komplexität des           Verwendung von induktiven Verfahren.15)
              Lösungsansatzes, was wiederum dem Gesetz der Kyber-                Ein weiterer Nachteil dieser Methode ist, dass solche Szenarien
              netik nach Ashby zum Umgang mit dieser Komplexität            immer relativ stark konstruktivistisch geprägt sind. In der Praxis zeigt
              entspricht.13) Der Nachteil dieses Verfahrens ist jedoch,     sich das, wenn man eine Reihe von US-amerikanischen sicherheits-
              dass diese Form der Szenarienerstellung sehr zeit- und        politischen Szenarienstudien analysiert. Wer in einer hobbesschen
              personalaufwendig ist und für die modellgestützte Ver-        Welt lebt, wird auch hobbessche Szenarien entwickeln. Natürlich sind
              knüpfung der Zukunftsprojektionen relativ kostspielige        auch Szenarien, die mit dem Verfahren der Szenariotechnik erstellt
              Softwaretools benötigt werden.                                wurden, in einem gewissen Maß durch die Auswahl und Bewertung
                  Der Unterschied zwischen den Ansätzen Szenariotech-       der Einfluss- und Schlüsselfaktoren konstruktivistisch beeinflusst.
              nik und Wechselwirkungsszenarien liegt in der Berück-         Durch die modellgestützte Verknüpfung dieser Faktoren wird jedoch
              sichtigung und Zuordnung von Wahrscheinlichkeiten zu          der gruppensubjektive Einfluss etwas abgeschwächt.
              den Szenarien.                                                     Mit narrativen normativen Szenarien (meist Wunsch- oder
                  In der Konsistenzanalyse wird die Widerspruchsfrei-       Chancenszenarien) werden positive, aber durchaus realistische Zu-
              heit der einzelnen Zukunftsprojektionen beurteilt, während    kunftssituationen konstruiert. Dabei handelt es sich in erster Linie um
              bei der Cross-Impact-Analyse auch die Wahrscheinlich-         antizipative Zukunftsbilder mit präskriptiver Ambition. Die Frage lautet
              keit - in diesem Zusammenhang wird von Plausibilität          hier: Welche Zukunft wollen wir - und wie können wir diese erreichen?
              gesprochen - betrachtet wird.                                 Hier wird die Frage „Was muss geschehen, dass …?“ gestellt. Das
                  Über die Berücksichtigung von Wahrscheinlichkeiten        Hauptaugenmerk bei dieser Vorgehensweise liegt in erster Linie darauf,
              in Szenarien wird in der verfügbaren Literatur sehr kon-      die Entwicklungswege, Handlungsschritte und Weichenstellungen zu
              trovers diskutiert. Einerseits wird argumentiert, dass eine   identifizieren, die notwendig sind, damit sich das positive Wunschs-
              solche Zuordnung sehr schwierig ist, da sich die Frage,       zenario verwirklichen lässt. Da es durchaus mehrere, möglicherweise
              was in der Zukunft richtig und wahrscheinlich ist, nicht      alternative Zielvorstellungen geben kann, können auch verschiedene
              beantworten lässt. Andererseits bietet die Zuweisung          positive Szenarien nebeneinander verwirklicht werden.
              von Eintrittswahrscheinlichkeiten die Möglichkeit, die             Im Kontext der Sicherheitspolitik kann diese Art von Szenarien
              Akzeptanz und Aussagekraft von Szenarien deutlich zu          dazu eingesetzt werden, um Leitbild- bzw. Visionsfindungsprozesse
              verbessern, denn über die Wahrscheinlichkeiten können         mit stark normativem Anspruch zu unterstützen.
              die einzelnen Projektionen (und letztendlich auch die              Bei der morphologischen Analyse können die Vorteile eines
              Szenarien) gewichtet werden.                                  intuitiven Vorgehens (z.B. die direkte Einbindung des Szenariote-
                  „Denken in Szenarien“ ist als Konzept grundsätzlich       ams oder der Verzicht auf spezielle und meist kostspielige Softwa-
              nicht auf die Verwendung von Wahrscheinlichkeiten aus-        retools) genutzt werden, ohne dabei den Anspruch systemischen
              gelegt. Anders gesagt ist die Ausblendung der Wahrschein-     Denkens in komplexen Systemen aufzugeben. Sehr bewährt
              lichkeiten beim Denken in Szenarien sogar erwünscht           hat sich dieser Ansatz zur Entwicklung von Strategieoptionen
              oder beabsichtigt bzw. spielt die Frage, wie wahrschein-      (-szenarien). Durch die intuitive Verknüpfung der einzelnen Fak-
              lich das Eintreten dieser alternativen Zukünfte ist, keine    toren, die die zukünftige Strategie bestimmen (die so genannten
              Rolle. Mit der Konsistenzanalyse erstellte Szenarien (im      Strategieelemente), ist es den Teilnehmern am szenariobasierten
              Rahmen der Szenariotechnik) stellen meist Extrembilder        Strategieentwicklungsprozess möglich, unterschiedliche Zu-
              dar. Das Ziel solcher Extrembilder ist das Aufzeigen von      kunftsvorstellungen, persönliche Ideen und Vorstellungen von der
              Entwicklungsmöglichkeiten, die die „Eckpunkte“ des Zu-        Zukunft der eigenen Organisation in einem sehr stark diskursiven
              kunftsraums beschreiben. Daher brauchen den Szenarien         strategischen Dialog einzubringen.
              keine Wahrscheinlichkeiten zugeordnet werden, da es                Aus Sicht des Verfassers hat sich in der Praxis die Verwendung
              hier mehr um das Vorausausdenken der Zukunft als um           der Szenariotechnik (induktives modellgestütztes Vorgehen) zur
              konkrete Voraussagen geht.                                    Erstellung der Umfeldszenarien bewährt, während für die Erstellung
der Strategieoptionen aus o.a. Gründen die morphologische                      Die Strategiearbeit ist nichts anderes als die konsequente sy-
              Analyse als eine sehr zweckmäßige und zielgerichtete Vor-                   stematische Umsetzung dieses Grundsachverhalts. Sie bringt jene
              gehensweise beurteilt wird.                                                 Voraussetzungen für Entscheidungen mit sich, die Organisationen
                                                                                          brauchen, um den Vollzug ihrer Leistungsprozesse gesichert ge-
                         Die Anwendung des Konzepts                                       währleisten zu können.
                             „Denken in Szenarien“                                           Das Ergebnis eines erfolgreichen Strategieentwicklungs-
                         im strategischen Management                                      prozesses besteht letztendlich in der Neudefinition des eigenen
                                                                                          Existenzgrunds als Organisation (Warum gibt es uns? Welche
                               Begriff und Gegenstand                                     Probleme lösen wir?) als auch der angestrebten Ziele. Dies sind
                            strategischen Managements                                     in Unternehmen der Privatwirtschaft in erster Linie das Ertrags-
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                  Bei der langfristigen Gestaltung und Weiterentwick-                     und Wachstumsziel. In Organisationen der Sicherheitsarchitektur
              lung von Organisationen (sowohl Unternehmen als auch                        geht es dabei hauptsächlich darum, wie die jeweilige Organisation
              Organisationen der öffentlichen Verwaltung) stehen die                      bestmöglich zum gesamtstaatlichen System der umfassenden
              beiden Begriffe Zukunft und Strategie in einem andau-                       Sicherheitsvorsorge beitragen kann.
              ernden Spannungsverhältnis. Um geeignete Strategien
              zu entwickeln, sind Informationen über die Zukunft                              Der Begriff der Strategie
              notwendig. Um die Herausforderungen der Zukunft zu                              „Strategie“ und „strategisch“ sind zu modischen Schlagworten
              bewältigen, braucht es zukunftsfähige Strategien.                           - sowohl in der Wirtschaft als auch im öffentlichen Bereich - für
                  Um sich weiterzuentwickeln und langfristig Bestand zu                   alle langfristig angelegten Planungen geworden. Offensichtlich
              haben, müssen Organisationen ihre Festgelegtheit durch die                  wird der Begriff der Strategie überall dort verwendet, wo Probleme
              Vergangenheit bzw. durch ganz spezifische Zukunftsvor-                      auf einer hohen Führungs- und Handlungsebene zu lösen sind.16)
              stellungen unterbrechen. Dazu bedienen sie sich der Mög-                        Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff der
              lichkeit des Entscheidens. Dabei werden andauernd und in                    Strategie ausschließlich im politischen und insbesondere sicher-
              jedem Moment Dinge anders gemacht als bisher. Durch                         heitspolitischen Kontext benutzt. Etymologisch geht der Begriff
              die Möglichkeit der Entscheidung wird der Vergangenheit                     Strategie auf das griechische Wort „Strategos“ zurück, das die
              ihre Bestimmtheit genommen. Bisher Bewährtes ist keine                      Kunst der Heerführung bezeichnet. Der Grieche Aeneas war der
              Prämisse für Festlegung mehr, und die Zukunft verliert ihr                  Erste, der den Begriff benützt haben dürfte. 357/356 v. Chr. hat
              Unbestimmtsein. Grundsätzlich wollen Organisationen in                      er ein Lehrbuch der Strategik für den Strategos, den Heerführer,
              Abgrenzung zum Bisherigen etwas Bestimmtes erreichen.                       verfasst.17) Auch im deutschsprachigen Raum wurde der Begriff
              Daher ist dieser Reproduktionsprozess notwendig für deren                   zunächst im militärischen Bereich genutzt und dort v.a. dem
              langfristigen Bestand.                                                      Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz zugeschrieben.

              Abb.3                                            Prozess des strategischen Managements (generisch)

                                                                                  Strategie-                      Strategie-
                               Strategische Analyse                              entwicklung                   implementierung

                                                       2                     4   Strategieformulierung     5
                                                            Umweltanalyse             und Auswahl               Strategieumsetzung

                                                             Externe             Vision, Mission                Gestaltung von
                                                             Analyse             und langfristige Ziele         Strukturen, Systemen
                                                                                                                und Prozessen
                                                                                 Segmentierung und
                                                                                 De†nition der                  Operationalisierung
                              1                                                  Aufgabenfelder                 von Strategien
                              Ausgangslage

                                               Bisherige
                               Strategische

                                               Entwicklung                       Entwicklung von                Change Management
                                               Bisherige                        Strategiealternativen
                                               Strategie                                                        Kontrolle der
                                               Bisherige                        Beurteilung von                Strategieumsetzung
                                               Tätigkeit                         Strategiealternativen

                                                                                 Entscheidung für
                                                                                 Strategie

                                                             Interne
                                                             Analyse
                                                            Organisations-
                                                       3       analyse

              Quelle: Autor                                                                                               Gestaltung: Redaktion ÖMZ/Dieter Hüttner
Genauso wie sich das Verständnis von Sicherheitspoli-           - Strategische Entscheidungen streben nach einer optimalen
              tik verändert hat, hat sich auch der (sicherheitspolitische)     Nutzung der Ressourcen und Fähigkeiten.21)
              Strategiebegriff gewandelt. Der Strategiebegriff ist (im
              sicherheitspolitischen Kontext) nicht mehr ausschließlich            Der Prozess des strategischen Managements
              auf den Krieg und den militärischen Bereich begrenzt,                Zur besseren Veranschaulichung des Einsatzes und Mehrwerts
              sondern muss im Sinne eines umfassenden Sicherheitsbe-           von Szenarien im strategischen Management wird in diesem Ka-
              griffs ausgeweitet und auf eine den heutigen Bedürfnissen        pitel in sehr kurzer, straffer Form der Prozess des strategischen
              für Sicherheitspolitik angepasste Begrifflichkeit, die auch      Managements generisch vorgestellt.
              die „neuen Bedrohungen“ umfasst, angepasst werden.18)
              Stupka definiert Strategie wie folgt: „Strategie ist die plan-        Strategische Analyse
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              mäßige Vorbereitung und koordinierte Anwendung aller                  - Strategische Ausgangslage
              Mittel durch die Staatsführung und Ausnützung aller ihrer             Bevor die Umwelt und die eigene Organisation analysiert wer-
              Möglichkeiten zur Wahrung der sicherheitspolitischen             den, ist es zweckmäßig, sich darüber Gedanken zu machen, was
              Ziele gegenüber allen Bedrohungen.“ 19)                          die eigene Organisation eigentlich darstellt, was sie macht und wo
                  Der Duden beschreibt den Begriff Strategie eher all-         sie dabei steht. Dazu werden die bisherige Entwicklung, Strategie
              gemein als einen „genauen Plan des eigenen Vorgehens,            und Tätigkeit der letzten fünf bis zehn Jahre betrachtet. Gegenstand
              der dazu dient, ein militärisches, politisches und psycholo-     der Analyse sind dabei die finanzielle und personelle Situation, der
              gisches oder ähnliches Ziel zu erreichen, und in dem man         Ressourceneinsatz, das gegenwärtige Aufgabenportfolio (davon
              diejenigen Faktoren, die in die eigene Aktion hineinspielen      abgeleitet der Nutzen der Organisation für die Stakeholder) und
              könnten, von vornherein einzukalkulieren versucht.“ 20)          die gegenwärtigen und künftig möglichen Aufgabenfelder.22)
                                                                                    - Umweltanalyse (externe Analyse)
                  Der Begriff des strategischen Managements                         Betrachtungsgegenstand der Umweltanalyse ist das globale
                  Genauso wie sich ein einheitlicher Strategiebegriff          Umfeld (wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche, technolo-
              nicht durchgesetzt hat, ist die Frage, was strategisches         gische, demographische Entwicklungen etc.) und die potenziellen
              Management ist, nicht einfach zu beantworten. Die wis-           Konkurrenten (im sicherheitspolitischen Kontext Gegner).
              senschaftliche Diskussion um ein strategisches Manage-                Die Aufgabe der externen Analyse besteht v.a. darin, potenzielle
              ment entwickelte sich ab 1960. Seitdem hat sich eine bis         Chancen und Risiken zu erkennen, die sich der Organisation in
              heute kaum überschaubare Zahl von Wissenschaftlern               ihrem externen Umfeld eröffnen bzw. drohen. Die Betrachtung
              und Praktikern mit diesem Thema beschäftigt. Folglich            ist zukunftsgerichtet.
              hat sich auch eine große Anzahl unterschiedlicher An-                 - Organisationsanalyse (interne Analyse)
              sätze strategischen Managements entwickelt, die sich                  Die Stärken und Schwächen einer Organisation sind maß-
              inhaltlich und methodisch teilweise erheblich voneinander        gebliche Größen dafür, ob sie die Risiken bewältigen und die
              unterscheiden.
                                                                               Abb.4                                          SWOT-Analyse
                  Jedoch ist es trotz der vorhandenen Breite und Viel-
              falt keinesfalls so, dass strategisches Management völlig
              unzusammenhängende Themengebiete und Ansätze um-                                                                                  Umwelt
              schreiben würde. Trotz unterschiedlicher Perspektiven und
              theoretischer Ausgangspositionen kann ein gemeinsames
              Grundverständnis des strategischen Managements erkannt
              werden. Dieses lässt sich anhand der folgenden Merkmale
              verdeutlichen, die im Allgemeinen mit dem Attribut „stra-                                                      Opportunities                   Threats
              tegisch“ verbunden werden:
                  - Als strategisch gelten solche Entscheidungen des
              Managements, die die grundsätzliche Richtung der
              Organisationsentwicklung bestimmen bzw. maßgeblich                                                                 Hat die                      Hat die
                                                                                                               Strenghts

              beeinflussen.                                                                                                  Organisation die             Organisation die
                                                                                    Ressourcen & Fähigkeiten

                  - Ziel einer strategischen Entscheidung ist es, den                                                         Stärken, um                 Stärken, um die
                                                                                                                               Chancen zu                    Risiken zu
              langfristigen Erfolg eines Unternehmens zu sichern. In                                                            nutzen?                     bewältigen?
              der Wirtschaft bedeutet dies, dass es einem Unternehmen
              gelingen muss, Vorteile gegenüber seinen Wettbewerbern
              aufzubauen und zu erhalten. Staatliche Sicherheitsarchi-
              tekturen (Polizei, Streitkräfte etc.) stehen jedoch in keinem
              wirtschaftlichen Wettbewerb zueinander. Umgelegt auf                                                                                         Welchen Risiken
                                                                                                               Weaknesses

                                                                                                                             Welche Chancen
              die Sicherheitspolitik ergibt sich der langfristige Erfolg                                                      werden wegen               ist die Organisation
              aus der Fähigkeit, auf die sicherheitspolitischen Heraus-                                                        der eigenen                    wegen ihrer
                                                                                                                               Schwächen                       Schächen
              forderungen angemessen zu reagieren.                                                                              verpasst?                     ausgesetzt?
                  - Strategische Entscheidungen versuchen den zukünf-
              tigen Nutzen zu sichern (in der Wirtschaft den langfristigen
              Erfolg), indem sie die externe und interne Ausrichtung des
              Unternehmens bestimmen.
                                                                               Quelle: angelehnt an Hungenberg 2008, S. 88                           Gestaltung: Redaktion ÖMZ/Dieter Hüttner
Chancen wahrnehmen kann, die durch die Umwelt und                   Eine Vision ist eine realistische, glaubwürdige und attraktive Zu-
              ihre potenziellen Veränderungen determiniert werden.            kunftsvorstellung für eine Organisation. Die Vision ist die Vorstellung
              Daher ist neben der Analyse der externen Umwelt auch            davon, auf welches Ziel die Organisation hinarbeiten soll und wie
              die interne Analyse eine wesentliche Grundlage der Stra-        die Zukunft erfolgreicher und wünschenswerter als bisher gestaltet
              tegieentwicklung und -formulierung.                             werden kann. Die Vision gibt in erster Linie eine Vorstellung von
                  Die Organisationsanalyse soll v.a. die eigenen Stärken      richtungweisenden Gedanken für die zukünftige Entwicklung der
              und Schwächen aufzeigen. Der Fokus der Analyse liegt            jeweiligen Organisation. Eine Vision
              auf den Ressourcen der Organisation in qualitativer und             - weckt Hoffnung und mobilisiert die Kräfte der Mitarbeiter,
              quantitativer Hinsicht. Sie erstreckt sich über die gesamte         - erzeugt Energie im Unternehmen,
              Organisation und erfasst z.B. Unternehmenskultur, Ma-               - gibt der Arbeit neuen Sinn,
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              nagement- und Informationssysteme, finanzielle Lage,                - sorgt für eine langfristige Ausrichtung und erzeugt Sicherheit
              personelle Lage, Kostenstruktur, Standorte etc.23)              und Stabilität und
                  Die Ergebnisse der Umwelt- und Organisationsa-                  - trägt zur Kontinuität des Unternehmens bei.
              nalyse werden in der so genannten „SWOT-Analyse“
              zusammengefasst. Dabei sollen Aussagen über Chancen                 Strategieimplementierung
              und Risiken sowie Stärken und Schwächen eines Unter-                Um eine gewählte und formulierte Strategie zu verwirklichen,
              nehmens einander transparent gegenübergestellt werden.          müssen in einer Organisation konkrete Handlungen geschehen. Die
              Das Akronym „SWOT“ steht dabei für die Anfangsbuch-             Aufgabe der Implementierungsphase im Rahmen des strategischen
              staben der Begriffe „Strengths“ (Stärken), „Weaknesses“         Managements ist daher, sicherzustellen, dass diese Handlungen
              (Schwächen), „Opportunities“ (Chancen) und „Threats“            auch erfolgen. Zu diesem Zweck sind Strukturen und Systeme in
              (Risiken). Diese Gegenüberstellung verdeutlicht, ob die         Abstimmung mit der gewählten Struktur zu gestalten.
              gegenwärtigen Stärken und Schwächen einer Organisa-                 Die Umsetzung der gewählten und formulierten Strategie ist eine
              tion vor dem Hintergrund der potenziellen Entwicklung           sehr anspruchsvolle Phase. Viele Erfolg versprechende Strategien
              der Umfelder prinzipiell relevant sind und insbesondere,        scheitern, weil Fehler in der Umsetzungsphase gemacht werden.
              ob sie geeignet sind, die Risiken zu bewältigen und die             Ein Teil der Strategieimplementierung ist die Strategiekontrolle.
              Chancen wahrzunehmen.                                           Diese ist zwar das letzte Glied des Prozesses, darf aber nicht erst
                                                                              nach der Strategieumsetzung erfolgen. Infolge der zunehmenden
                  Strategieentwicklung                                        Dynamik ist ein dauernder Überwachungs- und Lenkungsprozess
                  - Strategieauswahl und -formulierung                        auf drei Ebenen erforderlich:
                  Auf der strategischen Analyse baut der nächste                  - Prämissenkontrolle
              Teilprozess des strategischen Managements auf: die                  Gelten die der Strategie zugrunde liegenden Annahmen (v.a.
              Strategieentwicklung. Hier gibt es ebenfalls keine ein-         über die Umwelt) noch? Wurden in der Analyse wichtige Aspekte
              heitliche Sichtweise, welchen Rahmen der Prozess der            übersehen?
              Strategieentwicklung umfassen soll. Dies hängt v.a. mit             - Durchführungskontrolle
              den unterschiedlichen Visions- und Strategiebegriffen               In welchem Ausmaß wurde die geplante Strategie umgesetzt?
              zusammen. Man kann eine Strategie als der Vision nach-          Wo sind unerwartet Probleme oder Widerstände aufgetreten?
              folgend (Strategie ist der Weg zu einer zuvor festgelegten          - Wirksamkeitskontrolle
              Vision) oder die Vision als Teil der Strategie verstehen            Wurden mit der umgesetzten Strategie die Ziele erreicht?
              (Strategie ist die Vision und der Weg dorthin). Abhängig        Wurde die „beste“ Strategievariante gewählt?26) (Wird fortgesetzt)
              von dieser Sichtweise ist demnach die Vision ein Teil der
              Strategieentwicklung oder dieser vorgelagert.                   ANMERKUNGEN:
                  Die Vision wird auch oft als Teil des normativen Ma-        1) Vgl. Bernhard Richter: Das Konzept „Denken in Szenarien“ als Methode der
              nagements gesehen und stellt eine der Grundlagen für den        sicherheitspolitischen Analyse. Dissertation. Universität Wien 2010, S.1.
              Prozess des strategischen Managements dar.24) Während           2) Vgl. Gereon Klein, Hans Georg Graf Arne Schöllhorn: Entscheidungsvorbe-
              die Vision das Ziel (das Was und Warum) vorgibt, geht es        reitung mit Szenarien im Team-Dialog. In: Falko E. P. Wilms (Hrsg.): Szenari-
                                                                              otechnik. Vom Umgang mit der Zukunft: Haupt Verlag. Bern, Stuttgart, Wien
              bei der Strategieformulierung mehr um den Weg (das Wie).        2006. S.377.
              Da jedoch beide Elemente für den langfristigen Erfolg           3) Vgl. Michael E. Porter: Wettbewerbsvorteile. Spitzenleistungen erreichen
              unabdingbar sind, wurden sie in dem o.a. Prozessmodell          und behaupten: Campus Verlag. Frankfurt/Main 2000. S.591ff; Jochen Kiesel:
              angeführt und unter dem Teilprozess der Strategieentwick-       Szenario-Management als Instrument zur Geschäftsfeldplanung: Tectum-Verl.
                                                                              Marburg 2001 (Wissenschaft im Tectum-Verlag), S.77.
              lung zusammengefasst.                                           4) Vgl. Alexander Fink, Oliver Schlake, Andreas Siebe: Erfolg durch Szenario-
                  - Vision, Mission, Leitbild                                 Management. Prinzip und Werkzeuge der strategischen Vorausschau: Campus
                  Omar Bradley, ein berühmter amerikanischer General          Fachbuch. Frankfurt 2002, S.2.
              im Zweiten Weltkrieg und von 1948-1953 Vorsitzender der         5) Vgl. Fink et al. 2002, a.a.O., S.44; und Marina Schwarz-Geschka: Vortrag
                                                                              Seminar Szenarientechnik. Veranstaltung vom 15. November 2006. Frankfurt
              Vereinigten Generalstabschefs, war der Meinung: „Orga-          15. November 2006.
              nisationen müssen ihren Kurs nach dem Licht der Sterne          6) Vgl. Ulf Pillkahn: Trends und Szenarien als Werkzeuge zur Strategieentwick-
              bestimmen und nicht nach den Lichtern jedes vorbeifah-          lung: Publicis Corporate Publishing. Erlangen 2007, S.168.
              renden Schiffes.“ 25) Dies gilt sowohl für Unternehmen im       7) Siehe auch: Pillkahn 2007, a.a.O., S.168.
                                                                              8) Vgl. Fink et al. 2002, a.a.O., S.70.
              internationalen Markt als auch für Staaten im internationalen   9) Vgl. Fink et al. 2002, a.a.O., S.70.
              System, angesichts sich schnell und dauernd verändernder        10) Im Rahmen von Wechselwirkungsszenarien spricht man nicht von Zukunftspro-
              Umfelder im besonderen Maß.                                     jektionen, sondern aufgrund der Zuordnung von Eintrittswahrscheinlichkeiten
von Trendprojektionen.
              11) Vgl. Gaßner, Robert; Steinmüller, Karlheinz: Narrative normative
              Szenarien in der Praxis, In: Wilms, Falko E. P. (Hg.): Szenariotechnik.
              Vom Umgang mit der Zukunft: Haupt Verlag. Bern, Stuttgart, Wien,
              2006, S.133-143.
              12) Vgl. Jürgen Gausemeier, Alexander Fink, Oliver Schlake: Szenario-
              Management. Planen und Führen mit Szenarien: Carl Hanser Verlag.
              München Wien 1996, S.110 u. 112.
              13) Der Kybernetiker Ross W. Ashby gibt für den Umgang mit Kom-
              plexität ein zentrales Gesetz vor: „Only variety absorbs variety“; vgl.
              Magret Richter: Syntegration - Die kybernetische Entwicklung von
              Szenarien. In: Wilms, Falko E.P. (Hrsg.): Szenariontechnik. Vom
ÖMZ 4/2013-Online
              Umgang mit der Zukunft: Haupt Verlag. Bern, Stuttgart, Wien 2006,
              S.110f. und W. Ross Ashby: Design for a brain. The origin of adaptive
              behaviour: Chapman and Hall. London 1970, S.246ff.
              14) Vgl. Albert Heinecke: Die Anwendung induktiver Verfahren in
              der Szenario-Technik. In: Wilms, Falko E. P. (Hrsg.): Szenariotechnik.
              Vom Umgang mit der Zukunft: Haupt Verlag. Bern, Stuttgart, Wien
              2006, S.183-213.
              15) Vgl. Alexander Fink, Andreas Siebe: Handbuch Zukunftsma-
              nagement. Werkzeuge der strategischen Planung und Früherkennung:
              Campus Verlag. Frankfurt 2006, S.16.
              16) Vgl. Roman Lombriser, Peter A. Abplanalp: Strategisches Ma-
              nagement. Visionen entwickeln, Strategien umsetzen, Erfolgspoten-
              ziale aufbauen. 4. Aufl.: Versus-Verl. Zürich 2005, S.21; und Andreas
              Stupka: Strategie denken: AV + Astoria Druckzentrum. Wien 2008
              (Truppendienst-Handbuch), S.25 und Albert A. Stahel, Hans Künzi,
              Christoph Blocher: Strategisch denken. Ziel - Mittel - Einsatz in Politik,
              Wirtschaft und Armee: vdf Hochsch.-Verl. an der ETH. Zürich 1997
              (Strategische Studien, 14), S.1.
              17) Vgl. Harald Hungenberg: Strategisches Management in Unterneh-
              men. Ziele - Prozesse - Verfahren. 5., überarb. und erw. Aufl.: Gabler,
              Wiesbaden 2008, S.5 und Stahel et al., a.a.O., S.2.
              18) Vgl. Stupka 2008, a.a.O., S.41.
              19) Stupka 2008, a.a.O., S.41.
              20) Duden. Fremdwörterbuch (1982): Dudenverlag. Mannheim, Leipzig,
              Wien, Zürich 1982 (Band 5), S.730.
              21) Vgl. Hungenberg, a.a.O., S.4 und Lombriser, Abplanalp, a.a.O.,
              S.41; siehe auch Dieter Hahn, Harald Hungenberg: PuK. wertorien-
              tierte Controllingkonzepte: Gabler. Wiesbaden 2001; Gerry Johnson,
              Kevan Scholes (2005): Exploring Corporate Strategy: Pearson Higher
              Education. Hahn, Hungenberg, a.a.O., S.100f; Günter Müller-Stewens,
              Christoph Lechner: Strategisches Management: Schäffer-Poeschel.
              Stuttgart 2005, S.15ff.; Johnson, Scholes 2005, S.16ff.
              22) Vgl. Lombriser, Abplanalp 2005, a.a.O., S.47.
              23) Vgl. Hungenberg 2008, a.a.O., S.438 und Lombriser, Abplanalp
              2005, a.a.O., S.48.
              24) Vgl. Hungenberg 2008, a.a.O., S.24 und 457.
              25) Omar Bradley zitiert in: Fink, Siebe 2006, a.a.O., S.80.
              26) Vgl. Hungenberg 2008, a.a.O., S.10 und Lombriser, Abplanalp,
              a.a.O., S.50.

                                                                                                                Dr. Bernhard Richter
                                                                                           Geb. 1969; Oberst des höheren militärfachlichen Dienstes; ein-
                                                                                           gerückt im Oktober 1988 beim LWSR 41 in Enns als Einjährig
                                                                                           Freiwilliger; 1994-1997 Theresianische Militärakademie in Wr.
                                                                                           Neustadt. Ausmusterungsjahrgang „Ritter von Trapp“ als Pan-
                                                                                           zergrenadier zum Panzergrenadierbataillon 13; 1997-2002 Zugs-
                                                                                           und Kompaniekommandant in der 1/13; 2002-2005 Lehr- und
                                                                                           Hauptlehroffizier Panzergrenadier an der Panzertruppenschule;
                                                                                           2002-2007 Studium der Politikwissenschaft an der Universität
                                                                                           Wien; 2007-2010 Doktoratsstudium Politikwissenschaft an der
                                                                                           Universität Wien; seit 2005 Referent für Zukunfts- und Trenda-
                                                                                           nalyse im Büro für Sicherheitspolitik/BMLVS.
Ist Algerien immun gegenüber
              dem arabischen Umbruch?
ÖMZ 4/2013-Online
              Martin Pabst

                 I
                      n den zahlreichen Neuerscheinungen zur „Arabischen onen der Regierung wieder ab. Und im Oktober 1988 war Algerien
                      Revolte“ wird Algerien kaum behandelt, und wenn, das erste arabische Land gewesen, wo ein autoritäres System durch
                      dann meist nur am Rande als vergleichsweise stabiler Jugenddemonstrationen nachhaltig erschüttert und zur Demokrati-
              Staat. Doch das Land ist zu wichtig, um es mit wenigen sierung gezwungen wurde. Das algerische Exempel illustriert aber
              Sätzen abzutun.                                               auch die möglichen Rückschläge beim Reformprozess in einem Land
                   Mit 2,38 Mio. Quadratkilometern ist Algerien nicht nur mit verkrusteten Machtstrukturen, beschränktem Bildungsstand und
              größter Flächenstaat in Afrika, sondern auch im MENA-         unzureichender demokratischer Erfahrung.
              Raum (Middle East/Northern Africa). In punkto Bevölke-            Das kommende Jahr ist für Algerien ein entscheidendes: 2014
              rungszahl steht es dort nach Ägypten (ca. 83 Mio.) mit 38     wird nicht nur ein Nachfolger für den 77-jährigen, kränkelnden und
              Mio. Einwohnern an zweiter Stelle. Aufgrund seiner
              reichen Vorkommen an Erdöl und Erdgas besitzt Al-
              gerien erhebliche geostrategische Bedeutung. So ist es
              zehntgrößter Erdgasproduzent der Welt und für 25%
              der EU-Erdgasimporte verantwortlich - die EU kann
              damit ihre Abhängigkeit von russischen Lieferungen
              reduzieren.1) Als größter Saharastaat hat Algerien zudem
              erhebliches Potenzial bei erneuerbaren Energien und
              spielt eine wichtige Rolle im von der Union für den
              Mittelmeerraum unterstützten DESERTEC-Projekt.2)
                   Algerien ist auch ein Brückenland zwischen Europa
              und Sub-Sahara-Afrika und verfügt über erheblichen
              Einfluss im instabilen Sahel-Raum. Mit dem Zerfall der
              syrischen Armee stellt Algerien heute im MENA-Raum
              nach Ägypten die zweitstärksten Sicherheitskräfte. Die
              im Anti-Terror-Kampf erprobte Wehrpflichtigenarmee
              zählt 130.400 Mann (Heer 110.000, Luftwaffe 14.000,
              Marine 6.000) zuzüglich 150.000 Reservisten. Hinzu
              kommen 187.200 Paramilitärs (Gendarmerie 20.000,
              Nationale Sicherheitskräfte 16.000, Republikanische
              Garde 1.200, kommunale Milizen ca. 150 000).3)
                   So stark Algerien nach außen auftritt, so groß sind
              freilich seine Probleme im Innern, die denen anderer
              arabischer Staaten ähneln: hohe Jugendarbeitslosigkeit,
              desaströse Lebensverhältnisse vieler Bürger, mangel-
              hafte staatliche Dienstleistungen, Benachteiligung von
              Bevölkerungsgruppen, staatliche Legitimitätsdefizite.
              Immer wieder versuchen perspektivlose junge „ harra-
              ga“ (Passverbrenner), sich nach Frankreich, Italien oder
              Malta durchzuschlagen.
                   Schon vergessen ist, dass das Land Anfang Januar
              2011 ein Auftaktsignal für die „Arabische Revolte“ gab:
                                                                    Autor

              In mehreren Provinzen lieferten sich viele Tausende
              Jugendliche Straßenschlachten mit der Polizei. Doch         Plakat mit der Aufschrift: „Ein starkes und sicheres Algerien - Abd
              ebbten die nicht koordinierten Proteste nach Konzessi-      al-Aziz Bouteflika“ (Bild).
wahrscheinlich nicht mehr kandidierenden Staatspräsidenten      Untertanen erklärt, da ihnen Paris wegen angeblicher kultureller Rück-
              Abd al-Aziz Bouteflika gewählt, sondern es steht auch die       ständigkeit das Bürgerrecht verwehrte. Nur wenn sie sich individuell
              überfällige Ablösung der Generation des Befreiungskrieges       assimilierten und das muslimische Familien- und Erbrecht aufgaben,
              (1954-62) an, so wurde Armeechef Generalleutnant Ahmed          konnten sie den Antrag auf die französische Staatsbürgerschaft stellen.
              Gaïd Salah im Jahr 1940, Geheimdienstchef Generalleutnant           Die rechten französischen Parteien legten in Algerien den Schwer-
              Mohammed Médiène 1939 geboren. Der anstehende Wechsel           punkt auf nationale Interessen sowie die Förderung der europäischen
              birgt Chancen und Risiken.                                      Besiedlung und des Christentums. Die linken Parteien beriefen sich
                                                                              auf die emanzipatorischen Ideen von 1789 und stellten Freiheit,
                        Der algerische Sonderweg                              Gleichheit und Brüderlichkeit in Aussicht. Doch waren die franzö-
                   Um das heutige Algerien zu verstehen, ist ein Blick auf    sischen Sozialisten bis Ende der 1950er-Jahre davon überzeugt, dass
ÖMZ 4/2013-Online
              seine besondere Geschichte erforderlich. Gerade die Erfah-      die muslimische Bevölkerung rückständig sei und nur im Rahmen
              rungen der letzten 200 Jahre haben die Mentalität seiner        der französischen Republik zu allmählicher Emanzipation finden
              Bewohner und die politische Kultur geprägt.4)                   könne. Noch 1954 verteidigte François Mitterand als sozialistischer
                   Algerien, Marokko und Tunesien wurden im 7. Jahr-          Innenminister vehement die Zugehörigkeit Algeriens zu Frankreich
              hundert Teile des arabischen Großreiches, doch konnte sich      und rechtfertigte das harsche Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen
              Marokko unter der Dynastie der Idrisiden bereits im Jahr        Aufständische. Nur die Kommunistische Partei Frankreichs unter-
              788 verselbstständigen. Hingegen standen Algerien und           stützte grundsätzlich die Unabhängigkeit.
              Tunesien immer wieder unter fremdem Einfluss, so in der             Die europäischen Einwanderer waren sprachlich und kulturell
              frühen Neuzeit unter osmanischer Oberherrschaft.                heterogen zusammengesetzt. Im Westen wanderten überwiegend
                   Alle drei Länder gerieten im 19./20. Jahrhundert unter     Spanier ein, in der mittleren Küstenzone Franzosen und Italiener, im
              den Einfluss europäischer Kolonialmächte, doch wurde            Osten Franzosen, Italiener und Malteser. Darunter fanden sich reiche
              Algerien davon früh und brutal erfasst, Marokko und Tune-       Großgrundbesitzer und Unternehmer, mehrheitlich aber Angehörige
              sien hingegen eher spät und eingeschränkt. Dort etablierten     der unteren Mittelschicht und Arbeiter. Franzosen in Europa pfleg-
              Frankreich (1881 in Tunesien und 1912 in Marokko) und           ten mit Geringschätzung auf die pieds-noirs6) herabzublicken - sie
              Spanien (1912 in Marokko) Protektorate, die die regierenden     betrachteten die Algerienfranzosen als keine echten Franzosen, als
              Dynastien und Verwaltungsstrukturen zumindest formal            proletarische Emporkömmlinge oder als nach Afrika ausgewanderte
              unangetastet ließen. Kultur, Lebensweise und Religion der       gescheiterte Existenzen. Viele pieds-noirs kompensierten ihren
              arabischen und berberischen Einwohner blieben weitgehend        Minderwertigkeitskomplex einerseits mit lautstarkem französischen
              intakt, Siedler wanderten nur in beschränkter Zahl ein. Als     Nationalismus, andererseits mit der Diskriminierung der als bar-
              sich Unabhängigkeitsbewegungen formierten, gaben Paris          barisch und bedrohlich empfundenen muslimischen Bevölkerung.
              und Madrid bald nach, und die Entlassung beider Staaten in      Bestrebungen der Metropole, den muslimischen Einwohnern mehr
              die Unabhängigkeit (1956) vollzog sich überwiegend gewalt-      Rechte zu verleihen, setzten die Siedler vor Ort und über ihre Lobby
              frei. Marokko und Tunesien blieben politisch, kulturell und     in Paris hartnäckigen Widerstand entgegen. Darüber hinaus kämpften
              wirtschaftlich eng mit Frankreich verbunden.5)                  die pieds-noirs auch gegen die Emanzipation der kleinen, 1927 ca.
                   Ganz anders vollzog sich die Entwicklung in Algerien.      74.000 Menschen zählenden jüdischen Minderheit, da sie darin den
              Bereits 1830 wurde die halbautonome osmanische Provinz          ersten Schritt zur Gleichstellung der Muslime sahen.
              Cezayir französisch, als die Bildung einer algerischen Nation
              noch in den Anfängen steckte. Eine 37.000 Mann starke In-       Abb.1                  Bevölkerungsentwicklung in Algerien
              vasionsarmee eroberte das Land. Frankreich setzte den Dey             Jahr                   1926                    1961                     1990                     2008
              (Militärbefehlshaber) ab und übernahm die Verwaltung. Der
                                                                                Einwohner               5.984.000             10.700.000              25.324.000                34.080.000
              15-jährige Widerstand des Berberfürsten Abd el-Kader wurde
              unter Einsatz harscher Kampfmethoden wie „verbrannter               Algerier              5.147.000           ca. 9.700.000 ca. 24.360.000 ca. 34.000.000
              Erde“ bis 1847 gebrochen. Ebenso brutal wurde der 1871 in                                                                                                           wenige
                                                                                 Europäer                836.000            ca. 1.000.000                   60.000              Zehntausend
              der Kabylei ausgebrochene Aufstand niedergekämpft. Diese        Jährl. Zunahme                k.A.                    k.A.           3,1% (Ø 1980-88) 1,7% (Ø 2000-09)
              Region wurde unter Ausnahmezustand gestellt, die Anführer       Quellen: Gothaisches Jahrbuch 1928, Der Fischer Weltalmanach 1963/1992/2012     Gestaltung: Redaktion ÖMZ/Dieter Hüttner
              wurden exekutiert oder deportiert, 36 Mio. Francs Kontri-
              butionen eingetrieben und 450.000 Hektar Land zur Strafe            Die meisten muslimischen Algerier empfanden die französische
              beschlagnahmt. Am 26. August 1881 wurde Algerien gar zum        Herrschaft als brutale Usurpation. Die Siedler kontrollierten über 2
              Bestandteil Frankreichs erklärt und in die drei Departments     Mio. Hektar des besten Landes. Kultur und Religion der angestamm-
              Oran, Algier und Constantine zuzüglich des nach Sonderstatut    ten Bewohner wurden als rückständig und minderwertig angesehen.
              verwalteten Sahara-Territoriums gegliedert. Im Unterschied      In der Mehrzahl der ländlichen „communes mixtes“ wurde die mus-
              zu Marokko und Tunesien galt damit in Algerien allein der       limische Bevölkerung von französischen Beamten fremdverwaltet.
              Gedanke an nationale Unabhängigkeit als Hochverrat.             In städtischen Gebieten dominierten die europäischen Siedler die
                   Die autochthone Bevölkerung in Algerien besteht zu         Verwaltung, und nur in kleinen Schritten erhielten die Muslime mehr
              70-80% aus Arabern, zu 20-30% aus Berbern. Letztere sind        Rechte zugestanden. De facto herrschte eine soziale Segregation.
              insbesondere in der Kabylei, den Aurès-Bergen, um Ghar-         Nur wenige Muslime hatten die Möglichkeit, französische Schulen
              daia und im saharischen Tuareggebiet ansässig. Fast alle        zu besuchen, und sie unterstanden diskriminierenden Strafgesetzen.
              Araber und Berber bekennen sich zum sunnitischen Islam,         Ökonomischer Druck zwang viele von ihnen, Land zu verkaufen und
              der sufistische und orthodoxe Strömungen aufweist. Nach         bei französischen Bauern, Händlern oder Unternehmern zu arbeiten.
              der französischen Eroberung wurden die Einheimischen zu         Algerienfranzosen begegneten ihnen nicht selten mit Rassismus. Wer
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