Mehr Lehrkräfte gut ausbilden - GEWERKSCHAFT Der Zukunft aufgeschlossen - GEW Berlin
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Juli / August 2022 Mehr Lehrkräfte gut ausbilden KIJUSO GEWERKSCHAFT BERUFLICHE BILDUNG Obdachlos und Der Zukunft Inklusion auch psychisch erkrankt aufgeschlossen berufsbezogen
I C A R T O O N D E S M O N AT S ZEICHNUNG: WOESSNER 2 CARTOON DES MONATS I KOLUMNE bbz | JULI/AUGUST 2022
I S TA N D P U N K T Ich will nicht mehr zählen In den USA werden jedes Jahr Menschen sinnlos getötet, weil sich die Waffenlobby trotz aller Proteste übermächtig hält Dass eine Bewaffnung von Lehrkräften eine Lösung Ralf Schiweck, Mitglied der bbz-Redaktion darstellen soll, ist so dumm wie absurd, dass ich hier überhaupt nicht darauf eingehen mag. Als verant- wortungsvoller Elternteil kann man eigentlich nur zum Hausunterricht für seine Kinder übergehen, W ie viele Kinder wurden beim Spielen mit Papas Pistole getötet, wie viele durch den erweiter- ten Suizid eines großen Bruders, wie viele bei einem wenn man es sich denn leisten kann. Allerdings be- schränkt sich die Gefahr, durch unzurechnungsfähige, skrupellose Waffennarren verletzt zu werden, nicht Massaker in der Schule, wie viele auf einem Park- nur auf den Bereich der Schule. platz? Solange es in den USA keine Kehrtwende in der Auch die Begründungen der Täter interessieren Bewaffnungspolitik gibt, plädiere ich für ein Embar- mich nicht, und warum sie ihre normalen pubertä- go und eine Ächtung gegen die Menschen und ihr ren Probleme nicht in einer Beratung oder Therapie Vermögen, denen der Profit aus ihren Mordgeschäf- bearbeiten konnten oder wollten, oder warum sie ten wichtiger ist, als einer der grundlegendsten mo- keine oder die falschen Freunde hatten. Diese soge- ralischen Werte des menschlichen Miteinanders. nannten Gründe würden alle nicht zu den Ergebnis- Überall, wo Waffen existieren, werden sie auch ein- sen führen, die uns jedes Mal erneut tief erschüttert gesetzt, oft von Menschen, die kaum ihre Wirkungs- verzweifeln lassen, nämlich tote Kinder. Wenn Men- weise verstehen oder in der Lage sind, eine ansatz- schen nicht so leichtfertig todbringende Waffen in weise moralische Begründung zu artikulieren, die es die Hände bekommen hätten, dann müsste es die ohnehin nicht geben kann. toten Kinder nicht geben. Warum werden zum Beispiel nicht die Firmen in Viele der amerikanischen Eltern waren bestimmt der NRA (National Rifle Association) und die Gouver- einmal froh, die repressiven und verängstigenden neure mit Sanktionen belegt, die am liebsten jeder Erziehungspraktiken, die sie selbst erlitten hatten, Lehrerin und jedem Lehrer verpflichtend ein Sturm- endlich für ihre Kinder nicht mehr mit ansehen zu feuergewehr in die Schultasche stecken würden? müssen. Auch wenn nicht überall Summerhill prak- tiziert wurde, so setzte sich doch überwiegend eine schöpferische, freiheitsliebende Atmosphäre in den Schulen durch. Die dürfte nun vorbei sein, denn W enn die Profiteure kein Geld mehr mit dem Tod anderer verdienen können, dann besin- nen sie sich vielleicht auf ihr eigenes Daseinsfunda- Angst und Sicherheitsbestreben bestimmen das all- ment, dem Humanismus in der Gesellschaft, die sie tägliche Denken und Handeln und schränken so jede umgibt und ihnen ein sorgenfreies Leben im Wohl- freie und schöpferische Entfaltung fundamental ein. stand garantiert. Denn auch die staatlichen Schutzkräfte, ausgestat- Lasst uns Sanktionslisten fordern, ähnlich denen tet mit allen Waffen, die sich die Waffenlobby so gegen Oligarchen, die Russlands Krieg unterstützen. vorstellt, bieten keinen Schutz. Sie gehen offenbar Vielleicht kann es ein Label geben für Unternehmen, FOTO: PRIVAT erst in die Offensive, wenn kein Risiko für sie mehr die nicht mit Waffen zu tun haben; vor dem UNO-Ge- zu erwarten ist. bäude in New York steht schon ein wunderbares Symbol – »Non-Violence«. JULI/AUGUST 2022 | bbz STANDPUNKT 3
TITELBILD: ADOBE STOCK/RAWPIXEL LTD. OBEN LINKS: CHRISTIAN VON POLENTZ/TRANSITFOTO.DE; OBEN RECHTS: ADOBE STOCK/LSTOCKSTUDIO; UNTEN LINKS: PRIVAT; UNTEN RECHTS: IMAGO IMAGES/RUPERT OBERHÄUSER 29 GEWERKSCHAFT Mit dem Anspruch der »Mitmachgewerk- schaft« setzten sich im Frühjahr 2022 neue aktive und langjährige Mit- glieder auseinander. Ziel der Zukunftswerkstatt war es, den Leitsatz der GEW BERLIN als »attraktive und offene Gewerkschaft« mit Leben zu füllen. Ryan Plocher berichtet, wie mehr »Lust und Spaß« in die gewerk- schaftliche Arbeit gebracht werden sollten und Machtstrukturen hinter- fragt wurden. 24 BERUFLICHE BILDUNG 20 KIJUSO Auch für die Ausbildung in einem Wie bekommen obdachlose und Beruf gilt der Inklusionsanspruch der psychisch erkrankte Menschen die UNESCO. Zur Umsetzung hat der Unterstützung, die sie brauchen? GEW-Hauptvorstand 2015 wirkungsvolle Selda Gerdes-Kopal berichtet darüber Konzepte beschlossen, die in einigen im Interview mit Antje Jessa. Sie erzählt, Bundesländern ansatzweise umgesetzt wie sie zur Sozialen Arbeit in diesem wurden. Helena Müller und Ralf Becker Bereich gekommen ist, was ihn aus- weisen auf die strukturellen Besonder- macht und an welchen Stellen es noch heiten in der Berufsbildung hin und besser laufen könnte. beschreiben gute Beispiele. 4 INHALT bbz | JULI/AUGUST 2022
I I N H A LT Kolumne | Standpunkt | kurz & bündig | Impressum | Leser*innenforum ________________________________________________________ 2-7 | 38 MEHR LEHRKRÄFTE GUT AUSBILDEN Ausbildungsoffensive für Berlin Matthias Jähne______________________________________________ 8 Wie viel Praxis braucht das Lehramtsstudium? Laureen Hoppe / Jurik Stiller___ 12 Von nichts kommt nichts Hanin Ibrahim / Nick Oelrichs_______________________________________ 14 Von 0 auf 100 in wenigen Sekunden Sina Fechtner________________________________________ 16 Warum sie sich das antun Laura Pinnig____________________________________________________________ 17 KINDER-, JUGENDHILFE & SOZIALARBEIT Interview: Zwischen Amt und akutem Hilfebedarf Antje Jessa______________________________________ 20 8 TITEL Der Lehrkräftemangel Nachruf Christa Preissing Klaus Schroeder_______________________________________________________ 22 in Berlin hat ein nie gekanntes Ausmaß erreicht. Wir beleuchten, wie es dazu BEILAGE: SEMINARE gekommen ist, und erklären, was getan werden muss, damit sich die Situation ändert. Es braucht nicht nur mehr Lehr- GLOSSE kräfte, sondern auch gut ausgebildete. Ick hab‘ heut‘ frei! Gabriele Frydrych___________________________________________________________________ 23 Im Schwerpunkt legen wir dar, warum es wesentlich ist, dass dies diskriminie- BERUFLICHE BILDUNG rungssensibel und im richtigen Span- nungsverhältnis von Theorie und Praxis Inklusion auch berufsbezogen Helena Müller / Ralf Becker________________________________ 24 geschieht. RECHT & TARIF Stille Superheld*innen Corinna Domke____________________________________________________________ 26 Schulportal (light) in Betrieb Robert Odarjuk__________________________________________________ 28 Schwangere benachteiligt Udo Mertens__________________________________________________________ 28 GEWERKSCHAFT Offen und respektvoll gegenüber Neuem und Anderem Ryan Plocher_______ 29 Auch mitmachen erfordert Ressourcen Ryan Plocher____________________________________ 30 Veraltete Strukturen ändern Nadine Wintersieg________________________________________________ 31 Endlich wieder in Präsenz Markus Hanisch_______________________________________________________ 32 Staffelstab abzugeben Monika Rebitzki / Reinhard Selka________________________________________ 34 Wahlversprechen halten, Verbeamtung gerecht umsetzen! Anne Albers____ 35 Lasst euch nix gefallen Ilse Schaad / Hans-Jürgen Lindemann_________________________________ 36 Gruppen der GEW – Erwachsenenbildung____________________________________________________ 40 SERVICE Bücher | Materialien | Aktivitäten ______________________________________________________________ 41 JULI/AUGUST 2022 | bbz INHALT 5
I KURZ & BÜNDIG moderner Sprachen. Dies gelte besonders für Hochgebildete, die damit an der Kon- struktion einer Realität arbeiteten, »von der sie selbst die größten Nutznießer sind, indem sie Latein als symbolisches Kapital nutzen.« ■ Schwache BAföG-Reform während viele Studierende in Armut leben Am 24. Juni, nach Drucklegung dieser Ausgabe, verhandelt der Bundestag eine weitere Änderung des BAföG. Zu den an- gestrebten Änderungen zählen die Erhö- hung der Fördersätze um fünf Prozent, Am 16. Mai haben Wissenschaftler*innen und andere Hochschulangehörige in einer Aktion die Steigerung der Freibeträge bei Ein- von GEW BERLIN, ver.di und dem DGB vor dem Berliner Abgeordnetenhaus demonstriert kommen der Eltern um 20 Prozent, sowie und skandierten: »Kein Zurück beim BerlHG! Hochschulleitungen stehen nicht über dem Ge- dass Studierende künftig über Vermögen setz! Der Weg für mehr Dauerstellen in der Wissenschaft muss jetzt freigemacht werden«. von bis zu 45.000 Euro verfügen dürfen. FOTO: CHRISTIAN VON POLENTZ/TRANSITFOTO.DE Zudem wird das Förderalter auf 45 Jahre heraufgesetzt. An der Reform gab es von ■ GEW-Studie zeigt: Digitalisierung an zen vermitteln sollte, um Kinder besser vielen Seiten Kritik. Unzureichend sei die Schulen verstärkt soziale Spaltung auf das Erwachsensein und die Arbeits- Anhebung, so der stellvertretende GEW Fünf Milliarden Euro stellt der Bund für welt vorzubereiten. Schule solle nicht nur Bundesvorsitzende Andreas Keller, insbe- den Auf- und Ausbau einer digitalen Infra Bildungsstätte sein, sondern auch die sondere angesichts einer Inflationsrate struktur an den deutschen Schulen zur Ver- Chancengleichheit aller Schüler*innen von zuletzt fast 8 Prozent. Eine anlässlich fügung. Bis 2024 soll der Digitalpakt Schu- ermöglichen. An der online durchgeführ- der Reform durchgeführte Studie des Pa- le umgesetzt sein. Bisher zeige sich aber, ten Befragung im Auftrag des Cornelsen ritätischen Wohlfahrtsverbands zeigt die dass in benachteiligten Schulen weniger Verlags beteiligten sich über 1.000 Schul- prekäre finanzielle Situation vieler Stu- ankommt, kritisiert Anja Bensinger-Stolze leitungen. dierenden, ob mit oder ohne BAföG. So vom GEW-Hauptvorstand. Laut einer Stu- leben laut der Studie ein Drittel aller Stu- die der GEW seien Mittel oft beantragt dierenden unter der Armutsgrenze, unter worden, wurden aber noch nicht abgeru- ■ Studie zeigt »Latein ist lediglich den alleine lebenden sind es sogar vier fen und seien damit noch nicht in den symbolisches Kapital« von fünf. Schulen angekommen. Dabei gebe es Un- Obwohl Latein eine nicht mehr gespro- terschiede zwischen den Schulen, was chene Sprache ist und ihr deswegen kein auch an den Kommunen und der büro- kommunikativer Nutzen zukommt, ist ■ Berliner Hochschulgesetz wird kratischen Beantragung liege, so Bensin- die Anzahl der Latein als Schulfach wäh- erneut angepasst ger-Stolze. »Es zeigt sich, dass sich durch lenden Schülerinnen und Schüler im Zeit- Das erst letztes Jahr novellierte Berliner die Digitalisierung die soziale Spaltung verlauf angestiegen. Eine 2019 veröffent- Hochschulgesetz (BerlHG) wird wegen der noch mal verstärkt und die Chancen lichte Studie »Des Kaisers alte Kleider: Unklarheiten bei Dauerstellen für wissen- gleichheit gefährdet ist.« Fiktion und Wirklichkeit des Nutzens von schaftliche Mitarbeiter*innen erneut ge- Lateinkenntnissen« in der Kölner Zeit- ändert. Strittig ist besonders die Rege- schrift für Soziologie und Sozialpsycho- lung, wie Postdoktorand*innen eine dau- ■ Reformfreudige Schulleitungen logie bilanziert: »Mehrere Studien haben erhafte Beschäftigungsperspektive erhal- kritisieren den Fächerkanon gezeigt, dass Lateinkenntnisse weder das ten. Hochschulleitungen kritisierten an- Bei einer Befragung von Schulleitungen logische Denken, noch den Erwerb ande- fangs, dass die genaue Umsetzung unklar zu deren Vorstellungen zur Schule der rer Sprachen, noch das Gespür für die und zu teuer sei. Mit der neuesten Ände- Zukunft zeigten sich diese als sehr re- grammatikalische Struktur der Mutter- rung soll etwa konkretisiert werden, dass formfreudig: Über 80 Prozent der Schul- sprache verbessern«. Auch wenn sich em- die Übernahme auf eine Dauerstelle aus- leitungen fordern den Ausbau der gebun- pirisch keine Vorteile des Erwerbs alter schließlich für Haushaltsstellen gilt und denen Ganztagsschule, ebenfalls über 80 Sprachen nachweisen ließen, könnten die Hochschulen bis September 2023 Zeit Prozent halten den traditionellen Fächer- Menschen subjektiv an solche Vorteile bekommen, die neuen Regeln umzuset- kanon für überholt. 51 Prozent der Be- glauben. Auf der Basis einer unter Eltern zen. Laura Haßler, Leiterin des Vorstands- fragten nennen das projektorientierte von Gymnasialschüler*innen durchge- bereichs Hochschulen der GEW BERLIN, Arbeiten als Zukunftsmodell. Etwa ein führten Befragung zeigen die Autor*in- kritisierte die Überarbeitung: »Die Ände- Viertel (28 Prozent) wollen einen fächer- nen, dass Latein umfassende Transferef- rungen bieten noch keine Rechtssicher- übergreifenden Unterricht. Fast alle fekte zugeschrieben und Personen mit heit, um die Umsetzung der Personal- Schulleitungen sprechen sich dafür aus, Lateinkenntnissen positiver bewertet strukturreform voranzubringen. Es fehlt dass die Schule mehr Lebenskompeten- werden als Personen mit Kenntnissen eine klare und verbindliche Festlegung, 6 KURZ & BÜNDIG bbz | JULI/AUGUST 2022
I ÜBRIGENS dass die angestrebten Dauerstellen zur selbstständigen Wahrnehmung von Auf- gaben in Lehre, Forschung und Promoti- da 5 Millionen für kleine Instandhaltun- gen nun an die Bezirke gehen sollen. Der massive Protest gegen das Kaputtsparen G änzlich überraschend kam die Nachricht nicht: in Berlin mangelt es nicht allein noch zahlreicher als bis- onsbetreuung geschaffen werden müs- der Bildung hat Wirkung gezeigt, die GEW lang bekannt an Lehrkräften, sondern sen.« Die GEW BERLIN fordert, dass das BERLIN hat wichtige Nachbesserungen im auch an weiterem pädagogischen Verfahren zur Schaffung der Dauerstellen Haushaltsentwurf erreicht. Das ist erfreu- Personal, Schulplätzen und (neuen) als echtes Tenure-Track-Verfahren wie bei lich – einen Grund zum Jubeln gibt es Schulgebäuden. den Hochschuldozenturen und Junior- angesichts der weiterhin riesigen Baustel- professuren ausgestaltet werden muss. Parallel laufen momentan mehrere Klagen gegen das Gesetz vor Verfassungsgerich- len im Bildungsbereich jedoch nicht. E ine intensive Zeit mit vielen ver schiedenen Debatten ist es auch GEW-intern. Wir berichten von der Zu- ten, angestrengt einerseits von der Hum- ■ Klaus Jaksch ist verstorben kunftswerkstatt, der Landesdelegierten- boldt Universität und von den Fraktionen Der pensionierte Lehrer und und langjäh- versammlung, und welche Perspektiven von CDU und FDP im Abgeordnetenhaus. rige GEW-Kollege Klaus Jaksch ist verstor- sich für zukunftszugewandte Gewerk- Ein zentrales Argument ist dabei, dass ben. Er lebte seit 1966 in Berlin, unter- schaftsarbeit daraus ergeben. Berlin nicht gesetzgeberisch zuständig richtete nach dem Studium an Realschu- sei und in Arbeitsrecht und damit in Bun- deskompetenz eingreife. Ein von der GEW BERLIN beauftragtes Rechtsgutachten wi- len und an Gymnasien, vor allem in Wed- ding, Sozialkunde und Geschichte und war später Schulrat in Weißensee. Von W ir, die Redaktion, wünschen unseren Leser*innen erfrischende und sonnige Sommerwochen. Sammelt derspricht dem und sieht die Dauerstel- 1977 bis 1981 war er im Geschäftsfüh- genügend Kräfte für weitere Runden lenregelung als verfassungskonform an. renden Landesvorstand der GEW BERLIN. Corona, Mangelverwaltung und sonstige Zu den Verfassungsklagen stellt Haßler 1981 gründete er zusammen mit Walter Herausforderungen. NW fest: »Es geht ihnen nicht um die Verfas- Meyer die GEW-Schulrechtssammlung, die sungsmäßigkeit. Sie wollen die Privilegi- bis heute von der GEW BERLIN herausge- en der Professor*innenschaft bewahren geben wird. Sie sollte Lehrer*innen hel- und die Universitäten als Durchlauferhit- fen, »Fachleute in eigener Sache« zu wer- VON MITGLIEDERN FÜR MITGLIEDER zer für Wissenschaftler*innen erhalten.« den und Personalrät*innen zu unterstüt- zen. Im Ruhestand entwickelte Jaksch Die bbz veröffentlicht Beiträge das Brettspiel Wahl:aktiv, mit dem Schü- zu vielfältigen Themen, von jedem GEW-Mitglied. Schreibt an ■ Haushaltsentwurf: Erfolgreicher ler*innen und Erwachsene die Mandats- bbz@gew-berlin.de und bringt euch ein! Protest gegen massive Kürzungen verteilung bei Parlamentswahlen besser Durch aktive Proteste konnte die GEW verstehen können. »Unser Wahlrecht ist REDAKTIONSSCHLUSS BERLIN im Bündnis mit »Schule muss an- nicht kompliziert (...) Das Wahlrecht ist September/Oktober 2022: 8. August ders« und weiteren Akteur*innen geplan- bloß komplex«, zitierte ihn 2017 der Ta- Die Inhalte in der bbz geben die te Kürzungen im Berliner Bildungshaus- gesspiegel. Seine pädagogische Herange- Meinungen der Autor*innen wieder, nicht halt abwenden. Die angekündigten Kür- hensweise behielt er auch als Pensionär die der Redaktion. Erst recht sind sie nicht zungen beim Schulbau konnten verhin- und nutzte sie, um demokratische Pro- als verbandsoffizielle Mitteilungen der dert werden – es fließen nun wohl insge- zesse verständlicher für viele zu machen. GEW BERLIN zu verstehen. Die bbz sieht es samt 200 Millionen in den Schulbausek- als ihre Aufgabe, nicht nur Verkündungs- tor. Ob das Geld tatsächlich ausreicht, organ der offiziellen Beschlusslage zu sein, sondern darüber hinaus auch Raum für um die immer größer werdende Lücke bei ■ Staatliche Europa-Schule wird 30 kontroverse Positionen zu geben, Diskus den Schulplätzen zu schließen, bleibt Die Staatliche Europa-Schule Berlin (SESB) sionen zu ermöglichen und so zur fraglich. Auch beim Kitaausbau wurde ist als ein in Deutschland und Europa ein- Meinungsbildung in der GEW beizutragen. nachgebessert, sodass statt 53 Millionen zigartiges Modell zweisprachigen Unter- nun 68 Millionen Euro zur Verfügung ste- richts im Mai 30 Jahre alt geworden. Aus hen sollen. Für die Lehrkräftebildung sol- den 1992 anfänglich sechs Grundschu- len 16,55 Millionen Euro im Haushalt len ist ein Netzwerk von 18 Grundschu- verankert werden – allerdings erst im len und 16 weiterführenden Schulen für I IMPRESSUM Jahr 2023. Die GEW BERLIN begrüßt die mehr als 7.000 Schülerinnen und Schüler Die bbz ist die Mitgliederzeitschrift der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Landesverband Berlin, Ahornstr. 5, 10787 Berlin Stärkung der multiprofessionellen Teams gewachsen. Die SESB versucht als Begeg- und erscheint zweimonatlich (6 Ausgaben). Für Mitglieder ist an Schulen, die sie schon lange gefordert nungsschule mit ihren neun Sprachkom- der Bezugspreis im Mitgliedsbeitrag enthalten. Für Nichtmitglieder beträgt der Bezugspreis jährlich 18 Euro (inkl. Versand). hat. Angesichts des massiven Lehrkräfte- binationen Vielfalt und interkulturelles Redaktion: Nadine Wintersieg (verantwortlich), Markus Hanisch (geschäftsführend), Janina Bähre, Josef Hofman, Antje Jessa, mangels an Schulen wird das aber nicht Miteinander mit einem anspruchsvollen Caroline Muñoz del Rio, Jeannine Schätzle, Ralf Schiweck, Joshua ausreichen, um grundsätzliche Qualitäts- sprachlichen Konzept zu verbinden. Schultheis, Bertolt Prächt (Fotos), Doreen Stabenau (Sekretariat). Redaktionsanschrift: Ahornstraße 5, 10787 Berlin, Tel. 21 99 93-46, verbesserungen umzusetzen. Erfolgreich Deutsch und neun weitere Sprachen Fax -49, E-Mail bbz@gew-berlin.de Verlag: GEWIVA GmbH, erreichbar wie Redaktion. war auch der lautstarke Protest gegen die (Englisch, Französisch, Griechisch, Italie- Anzeigen: bleifrei Medien + Kommunikation, info@bleifrei-berlin.de, geplante Streichung der Verfügungsfonds nisch, Polnisch, Portugiesisch, Russisch, Tel. 030/613936-30. Es gilt die Preisliste Nr. 16 vom 1.10.2021 Satz, Layout und Konzept: bleifrei Texte + Grafik / Brauweiler, Miller für die einzelnen Schulen. Diese Gelder Spanisch und Türkisch) sind gleichbe- Druck: Bloch & Co, Grenzgrabenstr. 4, 13053 Berlin sollen nun wieder zur Verfügung stehen rechtigte Sprachen im Unterricht und im Gedruckt auf 100 % Recyclingpapier mit dem Blauen Engel – vermutlich jedoch nicht in voller Höhe, schulischen Miteinander. ISSN 0944-3207 / 75. (90.) Jahrgang 7-8 / 2022: 29.700 JULI/AUGUST 2022 | bbz KURZ & BÜNDIG 7
Ausbildungsoffensive für Berlin Der Lehrkräftemangel in Berlin ist hausgemacht. Jahrzehntelange politische Fehlentscheidungen und Versäumnisse rächen sich. Die Probleme müssen endlich richtig angegangen werden von Matthias Jähne L ehrkräftemangel! Das Wort war vor 20 Jahren noch gar nicht im Sprachgebrauch. Zum Schuljahr 2005/06 hatte Berlin gerade mal 120 men. Der »Rest« war nach dem Referendariat weg, weil Berlin kaum neue Einstellungen vor- nahm. neue Lehrkräfte eingestellt. Gleichzeitig wurde Dabei zeichnete sich angesichts der Alters- massiv die Axt an die Ausbildungskapazitäten struktur der Berliner Lehrkräfte schon damals gelegt. 400 Stellen für das Referendariat wur- ab, dass Berlin in nur wenigen Jahren in eine den gestrichen. Es gab lange Wartezeiten. Die bildungspolitische Katastrophe schlittern würde. GEW BERLIN unterstützte massenhaft Klagen »GEW BERLIN erwartet dramatischen Ein- der jungen Kolleg*innen. Viele Lehrkräfte muss- bruch in der Lehrerbildung« heißt es in einer ten schon nach dem Studium Berlin verlassen, Presseerklärung vom 15. Januar 2004. »Von weil sie hier keinen Referendariatsplatz beka- 2005 bis 2010/11 müssen insgesamt 7.000 8 TITEL MEHR LEHRKRÄFTE GUT AUSBILDEN bbz | JULI/AUGUST 2022
neue Lehrkräfte in Berlin eingestellt werden. Wo die Die Universitäten waren ab dem Jahr 2002 damit herkommen sollen, ist uns ein Rätsel.« beschäftigt, die bisherigen Diplom- und Magisterstu- Die GEW war die Ruferin in der Wüste. In der Bil- diengänge auf Bachelor und Master umzustellen, die dungs- und Hochschulpolitik zu Beginn der 2000er sogenannte Bologna-Reform. Die Staatsexamensstu- Jahre wurden die Prioritäten anders gesetzt. Es war diengänge im Lehramt wurden im Nachgang in die Kürzungszeit und Berlin Haushaltsnotlagenland. Reform einbezogen – mit Experimenten, die der Überall wurde zusammengestrichen und verkauft, Lehramtsausbildung eher schadeten als nützten. Wer was nur ging. Die Beschäftigten im öffentlichen erinnert sich noch an den Spruch: Kleine Kinder, Dienst wurden gezwungen, auf im Schnitt zehn Pro- kleiner Master, kleines Geld? Die künftigen Grund- zent ihres Einkommens zu verzichten, um betriebs- schullehrer*innen wurden nach dem sechs-semestri- bedingte Kündigungen zu vermeiden. Den Berliner gen Bachelorstudium mit einem einjährigen Master- Lehrkräften wurde eine Erhöhung ihrer Arbeitszeit studium abgespeist, obwohl nach der Bologna-Re- FIGUREN: ADOBE STOCK/GALINA, FOTO: ADOBE STOCK/RAWPIXEL LTD. aufgedrückt, was zu noch weniger Einstellungen form ein fünfjähriges Studium vorgesehen war. Der führte. »kleine Master« reiche doch für Lehrer*innen in der Seit 2014 muss Berlin jährlich mindestens 3.000 Grundschule. Und für das anschließende Referenda- neue Lehrkräfte einstellen. Nur – die sind nicht da. riat seien 12 Monate mehr als genug (Achtung, Zynis- Im Jahr 2017 hatte bereits fast jede zweite neu mus). eingestellte Lehrkraft in den Berliner Schulen kein Lehramtsstudium absolviert, in den Grundschulen sogar mehr als die Hälfte! Ab Schuljahresbeginn Veränderungen in der Lehrkräfteausbildung 2018/19 reichten selbst die Quereinsteiger*innen nicht mehr aus, um die Stellen zu besetzen. Die Zahl Nach der Schulstrukturreform mit der Bildung der der Referendariatsplätze wurde vor allem durch den Integrierten Sekundarschulen im Jahr 2010 sickerte beharrlichen Druck der GEW BERLIN ab 2008 schritt- die Erkenntnis in der Politik durch, dass auch die weise wieder erhöht. Allerdings bleiben von den Lehramtsausbildung verändert werden muss. Nach 2.700 Plätzen regelmäßig fast 1.000 unbesetzt. Es einem über zweijährigen Diskussionsprozess und fehlen schlicht die Lehramtsabsolvent*innen. auf Grundlage des Berichts einer Expert*innenkom- JULI/AUGUST 2022 | bbz MEHR LEHRKRÄFTE GUT AUSBILDEN TITEL 9
mission (der sogenannten Baumert-Kommission) als sie im Mai dieses Jahres die Wiedereinführung wurde 2014 ein komplett neues Lehrkräftebildungs- der Verbeamtung feierte. gesetz aus der Taufe gehoben. Ziel war vor allem, Die Erhöhung der Studienplatzkapazitäten ist aber die fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen nicht von heute auf morgen umzusetzen. Es braucht Kenntnisse in Mathematik und Sprachbildung der nicht nur zusätzliche finanzielle Mittel, sondern angehenden Grundschullehrkräfte zu verbessern. auch Personal, Räume und Ausstattung. Gleichzeitig wurde eine einheitliche Lehramtsausbil- In den Hochschulverträgen zwischen dem Land dung für Lehrkräfte im Bereich Sek I und Sek II ge- Berlin und den Hochschulen von 2014 bis 2018 ver- Offener Brief zur schaffen, das sogenannte Lehramt ISS/Gymnasium. pflichteten sich die Universitäten, die Zahl der Lehr- Lehrkräftebildung Um die Integration und schließlich Inklusion auch amtsabsolvent*innen auf 1.000 pro Jahr zu erhöhen. an der FU: in der Ausbildung zu verankern, wurde Sonderpäd- Diese Zielzahl wurde in den Folgeverträgen von agogik als eigenständiges Lehramt abgeschafft. Seit- 2018 bis 2022 noch mal auf 2.000 verdoppelt. Im dem können in allen drei neuen Lehrämtern, neben Juni 2020 wurden mit dem Sonderprogramm »Beste den zwei bereits genannten noch das für Berufliche Lehrkräftebildung für Berlin« weitere Maßnahmen Schulen, Sonderpädagogik beziehungsweise zwei beschlossen, um die angestrebte Anzahl von 2.000 sonderpädagogische Fachrichtungen anstelle eines Absolvent*innen zu erreichen. Dazu gehörten unter Faches studiert werden. Alle Lehramtsstudierenden anderem zusätzliche Professuren und weitere Perso- hatten fortan ein einheitlich langes Studium von nalstellen sowie Tutorien. Dafür stellte Berlin zu- sechs Semestern Bachelor und vier Semestern Mas- sätzliche Mittel zur Verfügung, im Jahr 2020 2,3 ter, einschließlich eines Praxissemesters, was es vor- Millionen Euro und in den Jahren 2021 und 2022 her nicht gab. jeweils 6,55 Millionen Euro. In den Universitäten wurden sogenannte Zentren Seit 2015 gibt es einen deutlichen Aufwuchs bei für Lehrkräftebildung errichtet, die später in die den Studienplätzen und den Studierenden. Im Gründung der Schools of Education mündeten. Die Grundschullehramt wurde die Zahl der Studienplät- Universität der Künste bildet die Ausnahme, sie hat ze fast vervierfacht (im Masterstudium von 372 auf keine School of Education, sondern eine Ständige knapp 1.000), im Lehramt ISS/Gym sind es über 30 Gemeinsame Kommission – Zentrum für künstleri- Prozent mehr (im Masterstudium aktuell knapp sche Lehrkräftebildung. 1.400). Die GEW BERLIN hat diesen Prozess intensiv be- gleitet und grundsätzlich begrüßt. Die Universitäten mussten diese erneute Strukturreform umsetzen, Es mangelt an Lehramtsabsolvent*innen was natürlich nicht von heute auf morgen geht und nicht konfliktfrei verläuft. Um die Kapazitäten küm- Trotzdem hakt es gewaltig. Bis 2021 beendeten pro merte sich die Politik zu dem Zeitpunkt immer noch Jahr nicht einmal die schon vorher beschlossenen nicht. 1.000 Lehramtsabsolvent*innen ihr Studium an den vier Berliner Universitäten (siehe Tabelle). Große Ver- wunderung in der Berliner Politik. Warum klappt das Die Zahl der Quereinsteiger*innen in Schule nicht? Wo bleiben die angehenden Lehrkräfte? Eine wächst große Blackbox. Aktuelle Zahlen belegen, dass vor allem im Bachelor- Erst als ab 2015 die Zahlen immer dramati- studium mit Lehramtsoption nicht nur die Immatri- scher wurden, immer mehr Schüler*innen in kulationszahlen rückläufig sind, sondern die Zahl die Schulen ström- der Exmatrikulationen ten und Berlin zu- deutlich höher ist als im sätzlich geflüch- Masterstudium. Viele Stu- tete Kinder und »Viele Studierende gehen bereits dierende gehen bereits Jugendliche auf- im Bachelorstudium verloren.« im Bachelorstudium ver- nahm, konnte die Po- loren, da es dort kaum litik den bereits voll eine »Lehramtsidentität« zugeschlagenen Lehrkräftemangel nicht mehr gibt. Misslich ist, dass die Universitäten nicht wissen ignorieren. Vor allem in den Grundschulen und bisher auch nicht erheben, wohin die Studieren- wuchs die Zahl der Quereinsteiger*innen und den gehen, also ob sie tatsächlich abbrechen oder in der Lehrkräfte ohne volle Lehrbefähigung andere Studiengänge wechseln. Das aber wäre drin- (LovL, heute beschönigend Seiteneinsteiger*in- gend notwendig, um Licht in die Blackbox zu bringen. nen genannt). Im Masterstudium liegen die Probleme eher in der In einem ersten Schritt wurde die Zahl der Betreuung und Unterstützung der Studierenden, un- Studienplätze für das Grundschullehramt er- ter anderem bei der Erstellung der Masterarbeiten. höht – faktisch 10 Jahre zu spät! Eine der Ursachen dafür ist, dass die neu geschaffe- »Besser spät als nie«, könnten wir die nen Stellen im akademischen Mittelbau in der Regel heutige Bildungssenatorin Busse zitieren, solche mit einer sehr hohen Lehrverpflichtung sind, 10 TITEL MEHR LEHRKRÄFTE GUT AUSBILDEN bbz | JULI/AUGUST 2022
»Der Arbeitsplatz Schule ist aktuell für viele unattraktiv.« sprich wissenschaftliche Mitarbeiter*innen mit dem Schwerpunkt Lehre und Lehrkräfte für besondere KLASSENZIEL VERFEHLT Aufgaben. Durch die stark gestiegenen Studieren- denzahlen und die in der Lehrkräftebildung sehr Jahr 2017 2019 2020 2021 Zielzahl hohe Dichte von Klausuren und Prüfungen, bleibt Grundschule 90 163 197 255 800 dann für die individuelle Betreuung der Studieren- ISS/Gym 539 655 555 599 1.110 den häufig kaum Zeit. Das hat der offene Brief von Berufsbild. 43 60 57 44 90 wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen in der Lehr- Gesamt 672 878 809 898 2.000 kräftebildung der Freien Universität von Juni 2021 sehr deutlich aufgezeigt (siehe Link in Marginalspalte). Abschlüsse Master of Education in Berlin und Zielzahl aus den Hochschul Das an sich sinnvolle Praxissemester im Master- verträgen 2018-2022 studium ist viel zu bürokratisch und zu starr orga- nisiert. Das betrifft unter anderem die Vergabe der Schulplätze, die schlechte Vereinbarkeit von Er- werbs- mit Carearbeit sowie den festen Zeitraum im Hochschulverträgen ab 2024 sind konkrete und fi- Mehr zu den Wintersemester. Nicht nur durch die Pandemie ha- nanziell abgesicherte Vereinbarungen zur Verbesse- Forderungen der ben sich die Betreuungsverhältnisse im Praxissemes- rung der Studienbedingungen und der Betreuung GEW BERLIN im ter deutlich verschlechtert. der Studierenden zu verankern. Dazu gehören die neuen LDV-Beschluss Und – es fehlt schlicht an ausreichenden Räumen Absenkung der Lehrverpflichtung bei den sogenann- für die Studierenden. Während der Pandemie wurde ten Hochdeputatsstellen und die stärkere Anrech- das durch die Online-Lehre mehr oder weniger ver- nung der betreuungsintensiven Veranstaltungen in deckt. Jetzt zeigt sich, wie groß das Problem ist und der Lehrkräftebildung. Ein Stipendium für alle Stu- wie sehr das Lehramtsstudium darunter leidet. dierenden im Lehramtsmaster könnte dazu beitra- gen, den Studienerfolg zu erhöhen und Lehrkräfte an Berlin zu binden. Lehrkräftebildung hat immer noch keine Priorität Nicht zuletzt hängt die Entscheidung der Studie- renden für oder gegen das Lehramt davon ab, wie Trotz aller Sonntagsreden ist nach wie vor nicht attraktiv der Beruf und der Arbeitsplatz Schule ist. erkennbar, dass der Berliner Senat die Lehrkräftebil- Wer im ersten Praktikum im Bachelorstudium mit dung zur Priorität macht. Es ist zu befürchten, dass der aktuellen Schulrealität konfrontiert wird und die Probleme erneut ausgesessen werden. feststellt, dass alle im Kollegium total überlastet Der Lehrkräftebedarf wird weiter deutlich steigen, sind, dass das Gebäude marode ist, dass die Klassen nicht nur in Berlin und nicht nur wegen der vielen aus allen Nähten platzen und nicht mal der Kopierer geflüchteten Kinder und Jugendlichen aus dem funktioniert, wird schnell Reißaus nehmen. Kriegsgebiet Ukraine. Die dafür benötigten Lehrkräf- te werden nicht von allein kommen. Wir brauchen eine echte Ausbildungsoffensive. FOTO: ADOBE STOCK/AYAIMAGES Lehrkräftebildung muss zur Chef*innen-Sache wer- den. Das Programm »Beste Lehrkräftebildung für Berlin« muss fortgesetzt und ausgebaut werden. Die Matthias Jähne, in der Koalition verabredeten zusätzlichen 10 Milli- Referent der GEW BERLIN für onen Euro für die Lehrkräftebildung müssen für Hochschulen und wirksame Maßnahmen zur Erhöhung der Zahl der Lehrer*innenbildung Lehramtsabsolvent*innen verwendet werden. In den JULI/AUGUST 2022 | bbz MEHR LEHRKRÄFTE GUT AUSBILDEN TITEL 11
Wie viel Praxis braucht das Lehramtsstudium? Wann muss theoretische Expertise praktisch umsetzbar werden? Wie kann Professionsorientierung konzipiert und qualitätsvoll umgesetzt werden? Ein Gespräch zwischen Laureen Hoppe und Jurik Stiller Laureen Hoppe: Hallo Jurik, ich freue mich, dass eine fachliche und fachmethodische Basis entstehen. wir uns heute einmal über die Forderung nach mehr Hinzu kommen noch pädagogisch-psychologische Praxis im Lehramtsstudium unterhalten. Mich be- Grundlagen. Und über Vermittlung redet man am schäftigt das Thema aktuell sehr, da mein Praxisse- besten erst danach. mester ansteht, und ich mich kaum auf die »echte« Hoppe: Meiner Meinung nach können wir uns von Unterrichtspraxis vorbereitet fühle. Ich könnte dir der Schweiz abgucken, wie eine gute Mischung aus jetzt sofort etwas zu den Kompetenzmodellen im Theorie und Praxis im Lehramtsstudium funktio- Bereich des Historischen Lernens erzählen. Aber wie niert. Dort müssen die Studierenden bereits im ers- unterrichte ich das Thema Mittelalter? Was mache ten Studienjahr Praktika absolvieren, die engma- ich, wenn permanent Unterrichtsstörungen auftre- schig durch Reflexionsseminare und Mentoringan- ten? Und wie kann ich gewährleisten, dass wirklich gebote begleitet werden. Im dritten und vierten Se- alle Kinder Anschluss finden und das Beste aus sich mester sind die Studierenden ein ganzes Jahr lang herausholen? an eine feste Partnerschule gebunden, wobei das Jurik Stiller: Hallo Laureen, ich erinnere mich gut theoretische Studium trotzdem weiterhin im Fokus an mein eigenes Unverständnis, nachzuvollziehen, steht. An diesen Schulen können sie dann kontinu- was manches, was ich an der Uni gelernt habe, mit ierlich in ihrer Praktikumsklasse Unterrichts- und meinem späteren Wirken zu tun hat. Aber Praxiser- schulpraktische Erfahrungen sammeln. Dazu zählen fahrungen kann ich doch tiefergehend erst auf Basis auch Dinge wie Elternabende oder Klassenausflüge. von möglichen Theoriebezügen reflektieren, oder? Ich finde die Konzeption dieses Studiums total sinn- Ich würde ziemlich sicher sagen, dass niemand ein voll und frage mich: Wieso machen wir das nicht ausschließlich theoretisches Studium befürwortet. genauso? Aber in der Regel finden sich doch am Studienbe- Stiller: Das ist ein spannender Ansatz, der sich ginn erst einmal theoretische Bausteine. So soll doch aber vermutlich nicht so schnell nach Deutschland 12 TITEL MEHR LEHRKRÄFTE GUT AUSBILDEN bbz | JULI/AUGUST 2022
übersetzen ließe. Und zumindest von Beginn an oder vorbereitet wird? Auch die Lehrkräftebildung kann diese Praxiserfahrung dann ja nur beobachtend verantwortet in erster Linie ein wissenschaftliches sein, vielleicht auch forschend, und das gibt es auch Studium, das zu verschiedenen tatsächlichen Tätig- schon bei uns. Und hier folgt auf das eher theoreti- keiten führen kann – zu Tätigkeiten in Bildungs- und sche Studium dann ja der eher praktische Vorberei- Wissenschaftsverwaltung, in Stiftungen aber eben tungsdienst. Es ist also unter dem Strich nicht so auch in der Wissenschaft. Eine Fokussierung allein unterschiedlich, nur im Aufbau und Ablauf. auf schulische Praxis würde auf diese Praxisfelder Hoppe: Es gibt auch bei uns Praxisanteile. Aber nur bedingt vorbereiten. Und deswegen spricht doch wenn ich etwa auf das berufsfelderschließende Prak- vieles für ein Studium, das exemplarisch bleibt, tikum im zweiten Semester des Bachelors zurückbli- kompetenzorientiert und damit auch verschiedene cke, dann denke ich vor allem an mein Forschungs- anschließende Wege ermöglichen kann. projekt, welches ich währenddessen durchführen Hoppe: Da hast du natürlich Recht. Aber ich möch- musste und welches te gerne auch noch den größten Teil mei- einmal einen anderen ner Kapazitäten bean- sprucht hat. Ich hatte »Wir brauchen von Anfang an einen Punkt ansprechen: Wie sieht es eigentlich mit kaum die Gelegenheit, kontinuierlichen Praxisbezug mit dem Erwerb sozialer um solche Dinge wie Aufenthalt in den Schulen.« Kompetenzen aus? Da Klassenführung oder fällt mir als erstes der den Umgang mit Kon- Bereich Lehrkräfteko- flikten zu üben. In Bezug auf das anstehende Praxis- operation ein, der uns immer als Schlüssel zu quali- semester bin ich ebenfalls etwas skeptisch. Theore- tativ hochwertigem Unterricht präsentiert wird. Und tisch steht uns Studierenden mindestens ein bera- was ist mit der Beziehungsebene zwischen mir als tender Unterrichtsbesuch durch die Lehrenden der Lehrkraft und meinen Schüler*innen? Wie baue ich Universität in jedem Fach zu. Allerdings wurden die eine persönliche und vertrauensvolle Beziehung zu Erwartungen bereits in den Vorbereitungsseminaren den Kindern auf, ohne meine professionelle Distanz gedämpft. Die personellen Kapazitäten würden nicht zu verlieren? Das kann doch eigentlich nicht sein, ausreichen, um die Mindestanzahl der Unterrichts- dass Fragen oder Aspekte dieser Art erst im Refe- besuche zu gewährleisten. Das kann doch nicht sein, rendariat so richtig auf einer konkreten praktischen dass die wenigen Praxisphasen dann auch noch Ebene bearbeitet werden. Dafür sind sie meiner An- mangelhaft durchgeführt werden. sicht nach zu wichtig. Stiller: Ja, das ist richtig. Das Praxissemester ist Stiller: Ja, das ist richtig. Das sind ja die klassi- wirklich auch organisatorisch total herausfordernd. schen Themen, die in den bildungswissenschaftli- Dabei ist die Idee ja eine sehr gute: Eine deutlich chen Studienanteilen verhandelt werden. Aber: Es längere Praxisphase, die dann auch die Teilhabe am sind eben doch nur 300 Leistungspunkte, man wird Schulleben, an Elternarbeit, eben auch mal am Ganz- unmöglich alle Themen vertieft thematisieren und tagsbetrieb erlaubt. Was nicht heißt, dass das aktuell diskutieren können, die sich an und von Schulpraxis schon reibungslos läuft. Aber an Bachelor und Mas- ableiten lassen. ter schließt sich in Berlin ein einheitlicher Vorberei- Hoppe: Es stimmt, dass wir nicht unendlich viele tungsdienst von 18 Monaten an. Findest Du da im- weitere Inhalte in das Studium aufnehmen können. mer noch, Praxis hat absolut zu wenig Platz? Aber dann wäre es doch eine gute Idee, wenn, wie Hoppe: Okay, bei dem Argument der Quantität be- vorher schon einmal angesprochen, von Anfang an zogen auf die gesamte Zeitspanne der Lehrkräftebil- ein kontinuierlicher Praxisbezug inklusive Aufent- dung gehe ich mit. Dann bleibt trotzdem noch ein halt in den Schulen stattfindet. Viele Aspekte, die grundsätzliches Problem: die fehlende praktische keinen prominenten Platz im rein theoriebezogenen Eine ausführlichere Anwendung des fachlichen und fachdidaktischen Studium haben, könnten durch begleitende Mento- Version dieses Wissens. Ich habe das Gefühl, dass dieses Wissen vor ringangebote vor Ort konkret und praxisnah thema- Gespräches ist allem für Prüfungen erworben und danach wieder tisiert und reflektiert werden. Das Studium soll uns online nachlesbar: vergessen wird. Was fehlt, sind realistische Anwen- nicht auf Prüfungen, sondern auf den Beruf vorbe- dungskontexte, die zeitnah realisiert werden. Wir reiten. Die konsequente Verankerung dieser Einstel- planen Unterrichtsszenarien, ohne irgendeinen Be- lung im Studium wäre langfristig vermutlich mein zug zu einer real existierenden Lerngruppe zu ha- größter Wunsch. FOTO: ADOBE STOCK/SUTEREN STUDIO ben. Woher weiß ich denn, ob meine Planung über- haupt funktionieren wird? Stiller: Wir können nicht ganz weg von der grund- sätzlichen Anlage einer universitären Lehrkräftebil- dung. Die bereiten nie ganz unmittelbar auf Be- Laureen Hoppe, Studierende des Lehramts an Grund- rufspraxis vor, den Anspruch kann man ja auch bei schulen an der Humboldt-Universität zu Berlin und vielen Studiengängen schwerlich haben. Woher weiß Jurik Stiller, Lehrender in der Didaktik des Sachunter- man vorher, auf welchen Beruf man sich vorbereitet richts im Bachelor- und Masterstudiengang JULI/AUGUST 2022 | bbz MEHR LEHRKRÄFTE GUT AUSBILDEN TITEL 13
Von nichts kommt nichts Abzeichen am Schulgebäude, Selbstverpflichtungen in Schulleitbildern oder punktuelle Fortbildungen machen eine Schule noch lange nicht frei von Diskriminierungen. Lehrkräfte müssen hierfür bereits im Studium geschult werden von Hanin Ibrahim und Nick Oelrichs W as muss eine Lehrkraft wissen? Sollte ein*e Grundschullehrer*in im Mathematikstudium sich mit Matrizen, Infimum und Supremum ausein- ausreichend damit auseinandergesetzt habe, wie ich es überhaupt vermitteln kann, wie ich diagnostizie- ren, differenzieren und fördern kann oder wie ich andersetzen? Muss ein*e Sekundarschullehrer*in im das im Berliner Schulgesetz festgeschriebene Recht Germanistikstudium mittelhochdeutsche Literatur auf »diskriminierungsfreie schulische Bildung« er- gelesen haben? Sicherlich tragen derartige Inhalte füllen und meinen erzieherischen Auftrag zur Demo- zum Gesamtverständnis des Faches bei, doch der kratiebildung umsetzen kann? Beruf von Lehrer*innen ist so komplex, dass eine vorrangige Ausbil- dung zu Fachwissen- Worauf das Studium kaum vorbereitet schaftler*innen allein »Der Umgang mit Heterogenität nicht zielführend ist. Der Schulalltag besteht nicht nur aus Unterricht. lässt sich nicht in Vorlesungen Didaktische und päda- Und auch im Unterricht passieren Dinge, die vom gogische Aspekte Plan abweichen und auf die unter hohem Zeit- und auswendig lernen.« kommen im Studium Handlungsdruck reagiert werden muss. Wenn ich im immer noch zu kurz, Referendariat – theoretisch angeleitet, praktisch wodurch der Transfer zwischen Fach- und Lehrtätig- eher allein – eigene Lerngruppen zugeteilt bekom- keit nicht hinreichend gewährleistet und Schule me, Klassenarbeiten stelle und korrigiere oder Noten nicht als aktiv mitzugestaltender Ort vermittelt vergebe, stellen sich etliche Fragen, die sich allein wird. Ich kann noch so umfangreiches germanisti- nicht lösen lassen. Darüber hinaus kommt es dann sches, historisches oder biologisches Fachwissen aber auch zu solchen Situationen: Ein*e Schüler*in mitbringen – was bringt es mir, wenn ich mich nicht fragt im Geschichtsunterricht, ob er*sie heute noch 14 TITEL MEHR LEHRKRÄFTE GUT AUSBILDEN bbz | JULI/AUGUST 2022
so etwas wie »du Jude« sagen dürfe. Wie reagiere ich amtsstudierenden in die universitäre Lehre zu inte- als Lehrkraft auf Aussagen, die ich nicht direkt ein- grieren – und diese auch diskriminierungskritisch zu ordnen kann? Wie gehe ich mit Beleidigungen um, beleuchten. Mehr Praxis allein macht das Studium die sich innerhalb der Klasse gegenseitig zugewor- nicht besser, kann sogar unerwünschte Effekte ha- fen werden? Was tue ich, wenn ein*e Schüler*in mit ben, wenn zum Teil diskriminierende Schulpraktiken einer Russlandfahne zur Schule kommt – ausgerech- einfach übernommen werden und unreflektiert blei- net an dem Tag, an dem aufgrund des Angriffskriegs ben. Individuelle Reflexionen beanspruchen jedoch auf die Ukraine als Zeichen der Solidarität ein Frie- Ressourcen im ohnehin vollgepackten Lehramtsstu- denszeichen auf dem Schulhof gebildet werden soll? dium: Der Umgang mit Heterogenität lässt sich nicht Welche Optionen habe ich, wenn mir zugetragen in Vorlesungen auswendig lernen und hinterher per wird, dass in der Klassen-WhatsApp-Gruppe rassis- Kreuzchen-Klausur abprüfen, sondern erfordert tische Bilder geteilt werden? auch Zeit für die Studierenden, sich intensiv mit ih- Als Lehrkraft stelle ich innerhalb der Klasse die ren eigenen Bildungserfahrungen auseinanderzuset- Autoritätsperson dar. Ich stehe, ob ich es will oder zen. nicht, hierarchisch über den Schüler*innen und wer- de als umfangreich gebildete Person wahrgenom- men. Mein Einfluss ist enorm und die Schüler*innen Das Recht auf diskriminierungsfreie empfangen Signale: Je nachdem, wie ich auf solche Bildung ermöglichen kritischen Situationen reagiere, werden diese als ak- zeptiert oder als Grenzüberschreitung wahrgenom- Konkret hat sich die aktuelle Koalition »Der Einfluss der men. Diese Machtposition muss im Studium und vorgenommen, in dieser Legislatur die Referendariat kritisch reflektiert werden. Gesetze und Verordnungen zur Lehrkräf- Lehrkräfte ist enorm. tebildung zu aktualisieren und hierbei Dies muss kritisch den Umgang mit unterschiedlichen Dis- Diskriminierende Strukturen entdecken und kriminierungsformen im Studium zu ver- reflektiert werden.« Handlungsoptionen entwickeln ankern. Gerade im weiterführenden Lehr- amt müssen deutlich mehr Räume für In den wenigen bildungswissenschaftlichen Modulen erziehungswissenschaftliche Module und individu- des Lehramtsstudiums geht es sehr allgemein um elle Vertiefungen geschaffen werden – einfach noch die Institution Schule, im Fokus stehen standardi- mehr Stichpunkte in die übervollen Modulkataloge sierte Lernpsychologie und Input-Output-Steuerung. zu schreiben, so wie heute schon »Inklusion« als Um auf gegenwärtige Herausforderungen adäquat Querschnittsthema überall einbezogen werden soll, reagieren zu können, muss das Lehramtsstudium führt nur dazu, dass Themen meist höchstens bei- aber auch auf gesellschaftliche Konflikte wie bei- läufig in den Blick genommen werden. Die (psycho- spielsweise Diskriminierung eingehen und sozial be- logische, sozialwissenschaftliche und Praxis reflek- ziehungsweise kulturwissenschaftliche Zugänge zu tierende) Auseinandersetzung mit Bildung und vor Bildung und Schule aufzeigen. Bislang liegt es an allem Schule als professionellem Handlungsort von einzelnen Dozierenden, die sich mit derartigen The- Lehrkräften muss im Studium mindestens den glei- men beschäftigen und passende Lehrveranstaltun- chen Anteil bekommen wie die Fachwissenschaften. gen anbieten. Das heißt, dass nur wenige Studierende Noch zielführender wären ihre konsequente Verzah- die Chance bekommen, sich mit diesen Fragestel- nung und eine echte Integration der unterschiedli- lungen auseinanderzusetzen. Und dass es ohnehin chen Perspektiven statt eines bezugslosen Neben oft keine wirkliche Wahlmöglichkeit gibt, sondern einanders. Insbesondere im Reformprozess der jede*r froh ist, überhaupt in irgendeinem der Semi- nächsten Jahre, den die Berliner Regierungskoalition nare einen Platz zu ergattern, ist definitiv kein Ge- anstoßen will, ist es entscheidend, dass wir als GEW heimnis. BERLIN mit den vielfältigen intersektional arbeiten- Was konkret fehlt, sind Ansätze aus der Diversi- den, zivilgesellschaftlichen Akteur*innen gemein- täts- und Intersektionalitätsforschung im Lehramts- sam auf den Prozess einwirken und unsere Forde- studium, was auch Maisha Auma, momentan Audre- rungen durchsetzen: Dann stehen die Chancen gut, Lorde-Gastprofessorin in der Berlin University-Alli- dass künftige Lehrkräfte stärker dazu befähigt wer- ance, fordert. Dies würde beispielsweise bedeuten, den, Kindern und Jugendlichen ihr Recht auf diskri- in partizipativ gestalteten Seminaren diskriminieren- minierungsfreie Bildung zu ermöglichen. FOTO: ADOBE STOCK/SEVENTYFOUR de Strukturen gemeinsam zu entdecken und Hand- lungsoptionen zu entwickeln. Am besten gelingt dies anhand von Fällen aus der Praxis: Aus den oben Hanin Ibrahim, Referendarin an einem Berliner genannten Beispielen wird klar, dass es keine »ein- Gymnasium und Initiatorin des Blogprojekts fache« Standardlösung gibt und oft in Sekunden- www.klassengedanken.com und bruchteilen reagiert werden muss. Allerdings ist es Nick Oelrichs, Erziehungswissenschaftler an der möglich, in Supervisionen oder Fallberatungen die TU Berlin und Mitinitiator der vielfältig vorhandenen Praxiserfahrungen der Lehr- AG Lehrkräftebildung der GEW BERLIN JULI/AUGUST 2022 | bbz MEHR LEHRKRÄFTE GUT AUSBILDEN TITEL 15
Von 0 auf 100 in wenigen Sekunden Der Übergang von der Uni an die Schule ist für die meisten Lehramtsanwärter*innen ein Sprung ins kalte Wasser. Viele müssen bereits vom ersten Tag an selbstständig unterrichten von Sina Fechtner Z wischen Uni-Abschluss und Referendariatsbeginn liegen oft nur wenige Wochen. Die Bewerbungs- fristen sind hinsichtlich der Vorlesungszeiten te alte Arbeitsblatt. Doch so manche*r LAA bangt um das begrenzte Kopierkontingent. Ist das erschöpft, wird der Rest privat vom Referendariatsgehalt be- knapp, trotz der vermeintlich generösen Nachreich- zahlt. frist für Zeugnisse. Denn bereits in den Sommer- be- Die Ausbildung an den Schulen ist so unterschied- ziehungsweise Winter- lich wie die Schüler*innen, die wir tagtäglich durch ferien beginnen die Se- den Alltagswahnsinn begleiten. Die einen haben minare für den Vorbe- Glück, sie unterrichten in »Doppelsteckung«, haben »Notwendige Hospitationen reitungsdienst. Eine Mentor*innen und werden die Ausbildung über fach- Woche später stecken lich und menschlich begleitet. Andere hingegen bei erfahrenen Lehrkräften die neuen Lehramtsan- kämpfen um jedes Beratungsgespräch, um jede ko- fallen aus.« wärter*innen (LAA) mit- pierte Seite. ten im trubeligen Schulalltag. Wer Glück hat, kennt die Ausbildungsschule bereits, in den Es fehlen Seminarleitungen meisten Fällen ist es ein Sprung ins kalte Wasser. Er beginnt mit der Vorbereitungswoche in der Schule Neben der schulischen Ausbildung werden wir durch und endet mit der unterrichtspraktischen Prüfung Haupt- und Fachseminarleiter*innen begleitet. Oft 18 Monate später. Viele LAA unterrichten bereits geben sie ihr Bestes, um angehende Lehrkräfte auf vom ersten Tag an selbstständig. Notwendige Hos- ihren Berufsalltag vorzubereiten. Sie organisieren pitationen bei erfahrenen Lehrkräften fallen aus. Von ihren eigenen Schulalltag um Seminare, Beratungen, der Theorie in die Praxis, von 0 auf 100 in wenigen Unterrichtsbesuche und Hospitationen herum und Sekunden. Der eigene Erfahrungsschatz erweitert versuchen, alles unter einen Hut zu kriegen. Doch sich und der praktische Anteil ist deutlich höher als auch vor diesem Bildungsbereich macht der Perso- in anderen Bundesländern. Manch eine*r fragt sich, nalmangel keinen Halt. An jeder Ecke fehlt es an Se- ob das nicht eigentlich auch nur ein Euphemismus minarleitungen. Kein Wunder, da es für den deutli- für »Lehrkräftemangel« ist. chen Mehraufwand nicht ausreichend Entlastungs- stunden gibt. Doch es hat auch seine Vorteile in Berlin den Vor- Verantwortung ja, Dienstgerät nein bereitungsdienst zu absolvieren. So kann jede*r in Berlin das Referendariat in Teilzeit beginnen. Der Berliner Referendar*innen sind also von Anfang an Wechsel von Seminaren wird ermöglicht und auch maßgeblich am Erhalt von Bildung und Teilhabe, am die Ausbildungsschule kann bei Bedarf gewechselt Erhalt von Schule beteiligt. Dabei werden sie nicht werden. Vor der unterrichtspraktischen Prüfung ste- selten als Lehrkräfte zweiter Klasse behandelt. Fehlt hen bereits 60 Prozent der Endnote fest. Der Exa- ihnen doch die Ausbildung, die Erfahrung, aber auch menstag selbst wird so entlastet. der Anspruch auf ein Dienstgerät. Und das obwohl Berliner Referendar*innen lernen die Berliner Schu- nicht einmal die Hälfte der über 40.000 ausgeliefer- le von ihrer ehrlichen aber harten Seite kennen. Es ten PC von den Beschäftigten an den Schulen bislang ist nicht immer einfach und von Anfang an wird ein überhaupt in Betrieb genommen wurden. Die Be- hohes Maß an Selbstorganisation und Proaktivität gründung, warum das so ist, liegt irgendwo zwi- gefordert. Doch wer Berlin schafft, schafft alles. schen Verwaltung und Organisation der Geräteaus- gabe. Schließlich sind wir doch nur 18 Monate an der Schule. Versuche des Personalrats der LAA, diesen Sina Fechtner, Umstand zu ändern, sind bislang leider nicht erfolg- Mitglied im Personalrat der Lehramtsanwärter*innen reich gewesen. Nutzen wir stattdessen eben das gu- und Referendarin an einer Neuköllner Grundschule 16 TITEL MEHR LEHRKRÄFTE GUT AUSBILDEN bbz | JULI/AUGUST 2022
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