Mehr Lehrkräfte gut ausbilden - GEWERKSCHAFT Der Zukunft aufgeschlossen - GEW Berlin

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Mehr Lehrkräfte gut ausbilden - GEWERKSCHAFT Der Zukunft aufgeschlossen - GEW Berlin
Juli / August 2022

         Mehr Lehrkräfte gut ausbilden

KIJUSO               GEWERKSCHAFT     BERUFLICHE BILDUNG
Obdachlos und        Der Zukunft      Inklusion auch
psychisch erkrankt   aufgeschlossen   berufsbezogen
Mehr Lehrkräfte gut ausbilden - GEWERKSCHAFT Der Zukunft aufgeschlossen - GEW Berlin
I   C A R T O O N D E S M O N AT S

                                                                      ZEICHNUNG: WOESSNER

2   CARTOON DES MONATS    I   KOLUMNE       bbz | JULI/AUGUST 2022
Mehr Lehrkräfte gut ausbilden - GEWERKSCHAFT Der Zukunft aufgeschlossen - GEW Berlin
I   S TA N D P U N K T

                                              Ich will nicht
                                              mehr zählen
                                           In den USA werden jedes Jahr
                                               Menschen sinnlos getötet,
                                          weil sich die Waffenlobby trotz
                                          aller Proteste übermächtig hält

                                                                                             Dass eine Bewaffnung von Lehrkräften eine Lösung
                                   Ralf Schiweck, Mitglied der bbz-Redaktion               darstellen soll, ist so dumm wie absurd, dass ich hier
                                                                                           überhaupt nicht darauf eingehen mag. Als verant-
                                                                                           wortungsvoller Elternteil kann man eigentlich nur
                                                                                           zum Hausunterricht für seine Kinder übergehen,

                                   W      ie viele Kinder wurden beim Spielen mit Papas
                                          Pistole getötet, wie viele durch den erweiter-
                                   ten Suizid eines großen Bruders, wie viele bei einem
                                                                                           wenn man es sich denn leisten kann. Allerdings be-
                                                                                           schränkt sich die Gefahr, durch unzurechnungsfähige,
                                                                                           skrupellose Waffennarren verletzt zu werden, nicht
                                   Massaker in der Schule, wie viele auf einem Park-       nur auf den Bereich der Schule.
                                   platz?                                                    Solange es in den USA keine Kehrtwende in der
                                      Auch die Begründungen der Täter interessieren        Bewaffnungspolitik gibt, plädiere ich für ein Embar-
                                   mich nicht, und warum sie ihre normalen pubertä-        go und eine Ächtung gegen die Menschen und ihr
                                   ren Probleme nicht in einer Beratung oder Therapie      Vermögen, denen der Profit aus ihren Mordgeschäf-
                                   bearbeiten konnten oder wollten, oder warum sie         ten wichtiger ist, als einer der grundlegendsten mo-
                                   keine oder die falschen Freunde hatten. Diese soge-     ralischen Werte des menschlichen Miteinanders.
                                   nannten Gründe würden alle nicht zu den Ergebnis-       Überall, wo Waffen existieren, werden sie auch ein-
                                   sen führen, die uns jedes Mal erneut tief erschüttert   gesetzt, oft von Menschen, die kaum ihre Wirkungs-
                                   verzweifeln lassen, nämlich tote Kinder. Wenn Men-      weise verstehen oder in der Lage sind, eine ansatz-
                                   schen nicht so leichtfertig todbringende Waffen in      weise moralische Begründung zu artikulieren, die es
                                   die Hände bekommen hätten, dann müsste es die           ohnehin nicht geben kann.
                                   toten Kinder nicht geben.                                 Warum werden zum Beispiel nicht die Firmen in
                                      Viele der amerikanischen Eltern waren bestimmt       der NRA (National Rifle Association) und die Gouver-
                                   einmal froh, die repressiven und verängstigenden        neure mit Sanktionen belegt, die am liebsten jeder
                                   Erziehungspraktiken, die sie selbst erlitten hatten,    Lehrerin und jedem Lehrer verpflichtend ein Sturm-
                                   endlich für ihre Kinder nicht mehr mit ansehen zu       feuergewehr in die Schultasche stecken würden?
                                   müssen. Auch wenn nicht überall Summerhill prak-
                                   tiziert wurde, so setzte sich doch überwiegend eine
                                   schöpferische, freiheitsliebende Atmosphäre in den
                                   Schulen durch. Die dürfte nun vorbei sein, denn
                                                                                           W      enn die Profiteure kein Geld mehr mit dem
                                                                                                  Tod anderer verdienen können, dann besin-
                                                                                           nen sie sich vielleicht auf ihr eigenes Daseinsfunda-
                                   Angst und Sicherheitsbestreben bestimmen das all-       ment, dem Humanismus in der Gesellschaft, die sie
                                   tägliche Denken und Handeln und schränken so jede       umgibt und ihnen ein sorgenfreies Leben im Wohl-
                                   freie und schöpferische Entfaltung fundamental ein.     stand garantiert.
                                      Denn auch die staatlichen Schutzkräfte, ausgestat-     Lasst uns Sanktionslisten fordern, ähnlich denen
                                   tet mit allen Waffen, die sich die Waffenlobby so       gegen Oligarchen, die Russlands Krieg unterstützen.
                                   vorstellt, bieten keinen Schutz. Sie gehen offenbar     Vielleicht kann es ein Label geben für Unternehmen,
FOTO: PRIVAT

                                   erst in die Offensive, wenn kein Risiko für sie mehr    die nicht mit Waffen zu tun haben; vor dem UNO-Ge-
                                   zu erwarten ist.                                        bäude in New York steht schon ein wunderbares
                                                                                           Symbol – »Non-Violence«.

               JULI/AUGUST 2022 | bbz                                                                                             STANDPUNKT       3
Mehr Lehrkräfte gut ausbilden - GEWERKSCHAFT Der Zukunft aufgeschlossen - GEW Berlin
TITELBILD: ADOBE STOCK/RAWPIXEL LTD. OBEN LINKS: CHRISTIAN VON POLENTZ/TRANSITFOTO.DE; OBEN RECHTS: ADOBE STOCK/LSTOCKSTUDIO; UNTEN LINKS: PRIVAT; UNTEN RECHTS: IMAGO IMAGES/RUPERT OBERHÄUSER

                                                                                                                                                                                                                                                       29      GEWERKSCHAFT           Mit dem Anspruch der »Mitmachgewerk-
                                                                                                                                                                                                                                                       schaft« setzten sich im Frühjahr 2022 neue aktive und langjährige Mit-
                                                                                                                                                                                                                                                       glieder auseinander. Ziel der Zukunftswerkstatt war es, den Leitsatz der
                                                                                                                                                                                                                                                       GEW BERLIN als »attraktive und offene Gewerkschaft« mit Leben zu
                                                                                                                                                                                                                                                       füllen. Ryan Plocher berichtet, wie mehr »Lust und Spaß« in die gewerk-
                                                                                                                                                                                                                                                       schaftliche Arbeit gebracht werden sollten und Machtstrukturen hinter-
                                                                                                                                                                                                                                                       fragt wurden.

                                                                                                                                                                                                                                                      24      BERUFLICHE BILDUNG
                                                                                                                                                                                                     20        KIJUSO                                  Auch für die Ausbildung in einem
                                                                                                                                                                                                     Wie bekommen obdachlose und                    Beruf gilt der Inklusionsanspruch der
                                                                                                                                                                                                     psychisch erkrankte Menschen die                   UNESCO. Zur Umsetzung hat der
                                                                                                                                                                                                     Unterstützung, die sie brauchen?             GEW-Hauptvorstand 2015 wirkungsvolle
                                                                                                                                                                                                     Selda Gerdes-Kopal berichtet darüber           Konzepte beschlossen, die in einigen
                                                                                                                                                                                                     im Interview mit Antje Jessa. Sie erzählt,   Bundesländern ansatzweise umgesetzt
                                                                                                                                                                                                     wie sie zur Sozialen Arbeit in diesem          wurden. Helena Müller und Ralf Becker
                                                                                                                                                                                                     Bereich gekommen ist, was ihn aus-            weisen auf die strukturellen Besonder­-
                                                                                                                                                                                                     macht und an welchen Stellen es noch             heiten in der Berufsbildung hin und
                                                                                                                                                                                                     besser laufen könnte.                                    beschreiben gute Beispiele.

                                                                     4                                                                                                                            INHALT                                                                                              bbz | JULI/AUGUST 2022
Mehr Lehrkräfte gut ausbilden - GEWERKSCHAFT Der Zukunft aufgeschlossen - GEW Berlin
I     I N H A LT
                                            Kolumne | Standpunkt | kurz & bündig |
                                            Impressum | Leser*innenforum ________________________________________________________ 2-7 | 38

                                            MEHR LEHRKRÄFTE GUT AUSBILDEN
                                            Ausbildungsoffensive für Berlin Matthias Jähne______________________________________________ 8
                                            Wie viel Praxis braucht das Lehramtsstudium? Laureen Hoppe / Jurik Stiller___ 12
                                            Von nichts kommt nichts Hanin Ibrahim / Nick Oelrichs_______________________________________ 14
                                            Von 0 auf 100 in wenigen Sekunden Sina Fechtner________________________________________ 16
                                            Warum sie sich das antun Laura Pinnig____________________________________________________________ 17

                                            KINDER-, JUGENDHILFE & SOZIALARBEIT
                                            Interview:
                                            Zwischen Amt und akutem Hilfebedarf Antje Jessa______________________________________ 20

8    TITEL     Der Lehrkräftemangel
                                            Nachruf Christa Preissing Klaus Schroeder_______________________________________________________ 22

in Berlin hat ein nie gekanntes Ausmaß
erreicht. Wir beleuchten, wie es dazu
                                            BEILAGE: SEMINARE
gekommen ist, und erklären, was getan
werden muss, damit sich die Situation
ändert. Es braucht nicht nur mehr Lehr-
                                            GLOSSE
kräfte, sondern auch gut ausgebildete.
                                            Ick hab‘ heut‘ frei! Gabriele Frydrych___________________________________________________________________ 23
Im Schwerpunkt legen wir dar, warum
es wesentlich ist, dass dies diskriminie-
                                            BERUFLICHE BILDUNG
rungssensibel und im richtigen Span-
nungsverhältnis von Theorie und Praxis      Inklusion auch berufsbezogen Helena Müller / Ralf Becker________________________________ 24
geschieht.
                                            RECHT & TARIF
                                            Stille Superheld*innen Corinna Domke____________________________________________________________ 26
                                            Schulportal (light) in Betrieb Robert Odarjuk__________________________________________________ 28
                                            Schwangere benachteiligt Udo Mertens__________________________________________________________ 28

                                            GEWERKSCHAFT
                                            Offen und respektvoll gegenüber Neuem und Anderem Ryan Plocher_______ 29
                                            Auch mitmachen erfordert Ressourcen Ryan Plocher____________________________________ 30
                                            Veraltete Strukturen ändern Nadine Wintersieg________________________________________________ 31
                                            Endlich wieder in Präsenz Markus Hanisch_______________________________________________________ 32
                                            Staffelstab abzugeben Monika Rebitzki / Reinhard Selka________________________________________ 34
                                            Wahlversprechen halten, Verbeamtung gerecht umsetzen! Anne Albers____ 35
                                            Lasst euch nix gefallen Ilse Schaad / Hans-Jürgen Lindemann_________________________________ 36
                                            Gruppen der GEW – Erwachsenenbildung____________________________________________________ 40

                                            SERVICE
                                            Bücher | Materialien | Aktivitäten                 ______________________________________________________________   41

JULI/AUGUST 2022 | bbz                                                                                                                               INHALT         5
Mehr Lehrkräfte gut ausbilden - GEWERKSCHAFT Der Zukunft aufgeschlossen - GEW Berlin
I   KURZ & BÜNDIG

                                                                                                         moderner Sprachen. Dies gelte besonders
                                                                                                         für Hochgebildete, die damit an der Kon-
                                                                                                         struktion einer Realität arbeiteten, »von
                                                                                                         der sie selbst die größten Nutznießer
                                                                                                         sind, indem sie Latein als symbolisches
                                                                                                         Kapital nutzen.«

                                                                                                         ■ Schwache BAföG-Reform während
                                                                                                            viele Studierende in Armut leben
                                                                                                         Am 24. Juni, nach Drucklegung dieser
                                                                                                         Ausgabe, verhandelt der Bundestag eine
                                                                                                         weitere Änderung des BAföG. Zu den an-
                                                                                                         gestrebten Änderungen zählen die Erhö-
                                                                                                         hung der Fördersätze um fünf Prozent,
    Am 16. Mai haben Wissenschaftler*innen und andere Hochschulangehörige in einer Aktion                die Steigerung der Freibeträge bei Ein-
    von GEW BERLIN, ver.di und dem DGB vor dem Berliner Abgeordnetenhaus demonstriert                    kommen der Eltern um 20 Prozent, sowie
    und skandierten: »Kein Zurück beim BerlHG! Hochschulleitungen stehen nicht über dem Ge-              dass Studierende künftig über Vermögen
    setz! Der Weg für mehr Dauerstellen in der Wissenschaft muss jetzt freigemacht werden«.              von bis zu 45.000 Euro verfügen dürfen.
                                                           FOTO: CHRISTIAN VON POLENTZ/TRANSITFOTO.DE   Zudem wird das Förderalter auf 45 Jahre
                                                                                                         heraufgesetzt. An der Reform gab es von
    ■ GEW-Studie zeigt: Digitalisierung an               zen vermitteln sollte, um Kinder besser         vielen Seiten Kritik. Unzureichend sei die
        Schulen verstärkt soziale Spaltung               auf das Erwachsensein und die Arbeits-          Anhebung, so der stellvertretende GEW
    Fünf Milliarden Euro stellt der Bund für             welt vorzubereiten. Schule solle nicht nur      Bundesvorsitzende Andreas Keller, insbe-
    den Auf- und Ausbau einer digitalen Infra­           Bildungsstätte sein, sondern auch die           sondere angesichts einer Inflationsrate
    struktur an den deutschen Schulen zur Ver-           Chancengleichheit aller Schüler*innen           von zuletzt fast 8 Prozent. Eine anlässlich
    fügung. Bis 2024 soll der Digitalpakt Schu-          ermöglichen. An der online durchgeführ-         der Reform durchgeführte Studie des Pa-
    le umgesetzt sein. Bisher zeige sich aber,           ten Befragung im Auftrag des Cornelsen          ritätischen Wohlfahrtsverbands zeigt die
    dass in benachteiligten Schulen weniger              Verlags beteiligten sich über 1.000 Schul-      prekäre finanzielle Situation vieler Stu-
    ankommt, kritisiert Anja Bensinger-Stolze            leitungen.                                      dierenden, ob mit oder ohne BAföG. So
    vom GEW-Hauptvorstand. Laut einer Stu-                                                               leben laut der Studie ein Drittel aller Stu-
    die der GEW seien Mittel oft beantragt                                                               dierenden unter der Armutsgrenze, unter
    worden, wurden aber noch nicht abgeru-               ■ Studie zeigt »Latein ist lediglich            den alleine lebenden sind es sogar vier
    fen und seien damit noch nicht in den                    symbolisches Kapital«                       von fünf.
    Schulen angekommen. Dabei gebe es Un-                Obwohl Latein eine nicht mehr gespro-
    terschiede zwischen den Schulen, was                 chene Sprache ist und ihr deswegen kein
    auch an den Kommunen und der büro-                   kommunikativer Nutzen zukommt, ist              ■ Berliner Hochschulgesetz wird
    kratischen Beantragung liege, so Bensin-             die Anzahl der Latein als Schulfach wäh-           erneut angepasst
    ger-Stolze. »Es zeigt sich, dass sich durch          lenden Schülerinnen und Schüler im Zeit-        Das erst letztes Jahr novellierte Berliner
    die Digitalisierung die soziale Spaltung             verlauf angestiegen. Eine 2019 veröffent-       Hochschulgesetz (BerlHG) wird wegen der
    noch mal verstärkt und die Chancen­                  lichte Studie »Des Kaisers alte Kleider:        Unklarheiten bei Dauerstellen für wissen-
    gleichheit gefährdet ist.«                           Fiktion und Wirklichkeit des Nutzens von        schaftliche Mitarbeiter*innen erneut ge-
                                                         Lateinkenntnissen« in der Kölner Zeit-          ändert. Strittig ist besonders die Rege-
                                                         schrift für Soziologie und Sozialpsycho-        lung, wie Postdoktorand*innen eine dau-
    ■ Reformfreudige Schulleitungen                      logie bilanziert: »Mehrere Studien haben        erhafte Beschäftigungsperspektive erhal-
        kritisieren den Fächerkanon                      gezeigt, dass Lateinkenntnisse weder das        ten. Hochschulleitungen kritisierten an-
    Bei einer Befragung von Schulleitungen               logische Denken, noch den Erwerb ande-          fangs, dass die genaue Umsetzung unklar
    zu deren Vorstellungen zur Schule der                rer Sprachen, noch das Gespür für die           und zu teuer sei. Mit der neuesten Ände-
    Zukunft zeigten sich diese als sehr re-              grammatikalische Struktur der Mutter-           rung soll etwa konkretisiert werden, dass
    formfreudig: Über 80 Prozent der Schul-              sprache verbessern«. Auch wenn sich em-         die Übernahme auf eine Dauerstelle aus-
    leitungen fordern den Ausbau der gebun-              pirisch keine Vorteile des Erwerbs alter        schließlich für Haushaltsstellen gilt und
    denen Ganztagsschule, ebenfalls über 80              Sprachen nachweisen ließen, könnten             die Hochschulen bis September 2023 Zeit
    Prozent halten den traditionellen Fächer-            Menschen subjektiv an solche Vorteile           bekommen, die neuen Regeln umzuset-
    kanon für überholt. 51 Prozent der Be-               glauben. Auf der Basis einer unter Eltern       zen. Laura Haßler, Leiterin des Vorstands-
    fragten nennen das projektorientierte                von Gymnasialschüler*innen durchge-             bereichs Hochschulen der GEW BERLIN,
    Arbeiten als Zukunftsmodell. Etwa ein                führten Befragung zeigen die Autor*in-          kritisierte die Überarbeitung: »Die Ände-
    Viertel (28 Prozent) wollen einen fächer-            nen, dass Latein umfassende Transferef-         rungen bieten noch keine Rechtssicher-
    übergreifenden Unterricht. Fast alle                 fekte zugeschrieben und Personen mit            heit, um die Umsetzung der Personal-
    Schulleitungen sprechen sich dafür aus,              Lateinkenntnissen positiver bewertet            strukturreform voranzubringen. Es fehlt
    dass die Schule mehr Lebenskompeten-                 werden als Personen mit Kenntnissen             eine klare und verbindliche Festlegung,

6   KURZ & BÜNDIG                                                                                                        bbz | JULI/AUGUST 2022
Mehr Lehrkräfte gut ausbilden - GEWERKSCHAFT Der Zukunft aufgeschlossen - GEW Berlin
I     ÜBRIGENS
dass die angestrebten Dauerstellen zur
selbstständigen Wahrnehmung von Auf-
gaben in Lehre, Forschung und Promoti-
                                             da 5 Millionen für kleine Instandhaltun-
                                             gen nun an die Bezirke gehen sollen. Der
                                             massive Protest gegen das Kaputtsparen
                                                                                           G    änzlich überraschend kam die
                                                                                                Nachricht nicht: in Berlin mangelt
                                                                                           es nicht allein noch zahlreicher als bis-
onsbetreuung geschaffen werden müs-          der Bildung hat Wirkung gezeigt, die GEW      lang bekannt an Lehrkräften, sondern
sen.« Die GEW BERLIN fordert, dass das       BERLIN hat wichtige Nachbesserungen im        auch an weiterem pädagogischen
Verfahren zur Schaffung der Dauerstellen     Haushaltsentwurf erreicht. Das ist erfreu-    Personal, Schulplätzen und (neuen)
als echtes Tenure-Track-Verfahren wie bei    lich – einen Grund zum Jubeln gibt es         Schulgebäuden.
den Hochschuldozenturen und Junior-          angesichts der weiterhin riesigen Baustel-
professuren ausgestaltet werden muss.
Parallel laufen momentan mehrere Klagen
gegen das Gesetz vor Verfassungsgerich-
                                             len im Bildungsbereich jedoch nicht.
                                                                                           E   ine intensive Zeit mit vielen ver­
                                                                                               schiedenen Debatten ist es auch
                                                                                           GEW-intern. Wir berichten von der Zu-
ten, angestrengt einerseits von der Hum-     ■ Klaus Jaksch ist verstorben                 kunftswerkstatt, der Landesdelegierten-
boldt Universität und von den Fraktionen     Der pensionierte Lehrer und und langjäh-      versammlung, und welche Perspektiven
von CDU und FDP im Abgeordnetenhaus.         rige GEW-Kollege Klaus Jaksch ist verstor-    sich für zukunftszuge­wandte Gewerk-
Ein zentrales Argument ist dabei, dass       ben. Er lebte seit 1966 in Berlin, unter-     schaftsarbeit daraus ergeben.
Berlin nicht gesetzgeberisch zuständig       richtete nach dem Studium an Realschu-
sei und in Arbeitsrecht und damit in Bun-
deskompetenz eingreife. Ein von der GEW
BERLIN beauftragtes Rechtsgutachten wi-
                                             len und an Gymnasien, vor allem in Wed-
                                             ding, Sozialkunde und Geschichte und
                                             war später Schulrat in Weißensee. Von
                                                                                           W     ir, die Redaktion, wünschen
                                                                                                 unseren Leser*innen erfrischende
                                                                                           und sonnige Sommerwochen. Sammelt
derspricht dem und sieht die Dauerstel-      1977 bis 1981 war er im Geschäftsfüh-         genügend Kräfte für weitere Runden
lenregelung als verfassungskonform an.       renden Landesvorstand der GEW BERLIN.         Corona, Mangelverwaltung und sonstige
Zu den Verfassungsklagen stellt Haßler       1981 gründete er zusammen mit Walter          Herausforderungen.                  NW
fest: »Es geht ihnen nicht um die Verfas-    Meyer die GEW-Schulrechtssammlung, die
sungsmäßigkeit. Sie wollen die Privilegi-    bis heute von der GEW BERLIN herausge-
en der Professor*innenschaft bewahren        geben wird. Sie sollte Lehrer*innen hel-
und die Universitäten als Durchlauferhit-    fen, »Fachleute in eigener Sache« zu wer-         VON MITGLIEDERN FÜR MITGLIEDER
zer für Wissenschaftler*innen erhalten.«     den und Personalrät*innen zu unterstüt-
                                             zen. Im Ruhestand entwickelte Jaksch                    Die bbz veröffentlicht Beiträge
                                             das Brettspiel Wahl:aktiv, mit dem Schü-              zu viel­fältigen Themen, von jedem
                                                                                                       GEW-­Mitglied. Schreibt an
■ Haushaltsentwurf: Erfolgreicher            ler*innen und Erwachsene die Mandats-
                                                                                                 bbz@gew-berlin.de und bringt euch ein!
   Protest gegen massive Kürzungen           verteilung bei Parlamentswahlen besser
Durch aktive Proteste konnte die GEW         verstehen können. »Unser Wahlrecht ist                   REDAKTIONSSCHLUSS
BERLIN im Bündnis mit »Schule muss an-       nicht kompliziert (...) Das Wahlrecht ist          September/Oktober 2022: 8. August
ders« und weiteren Akteur*innen geplan-      bloß komplex«, zitierte ihn 2017 der Ta-
                                                                                                      Die Inhalte in der bbz geben die
te Kürzungen im Berliner Bildungshaus-       gesspiegel. Seine pädagogische Herange-            Meinungen der Autor*innen wieder, nicht
halt abwenden. Die angekündigten Kür-        hensweise behielt er auch als Pensionär            die der Redaktion. Erst recht sind sie nicht
zungen beim Schulbau konnten verhin-         und nutzte sie, um demokratische Pro-                als verbands­offizielle Mitteilungen der
dert werden – es fließen nun wohl insge-     zesse verständlicher für viele zu machen.          GEW BERLIN zu verstehen. Die bbz sieht es
samt 200 Millionen in den Schulbausek-                                                           als ihre Aufgabe, nicht nur Verkündungs-
tor. Ob das Geld tatsächlich ausreicht,                                                         organ der offiziellen Beschlusslage zu sein,
                                                                                                  sondern darüber hinaus auch Raum für
um die immer größer werdende Lücke bei       ■ Staatliche Europa-Schule wird 30
                                                                                                 kontro­­verse Positionen zu geben, Diskus­
den Schulplätzen zu schließen, bleibt        Die Staatliche Europa-Schule Berlin (SESB)              sionen zu ermöglichen und so zur
fraglich. Auch beim Kitaausbau wurde         ist als ein in Deutschland und Europa ein-         Meinungsbildung in der GEW beizutragen.
nachgebessert, sodass statt 53 Millionen     zigartiges Modell zweisprachigen Unter-
nun 68 Millionen Euro zur Verfügung ste-     richts im Mai 30 Jahre alt geworden. Aus
hen sollen. Für die Lehrkräftebildung sol-   den 1992 anfänglich sechs Grundschu-
len 16,55 Millionen Euro im Haushalt         len ist ein Netzwerk von 18 Grundschu-
verankert werden – allerdings erst im        len und 16 weiterführenden Schulen für        I      IMPRESSUM
Jahr 2023. Die GEW BERLIN begrüßt die        mehr als 7.000 Schülerinnen und Schüler       Die bbz ist die Mitgliederzeitschrift der Gewerkschaft Erziehung
                                                                                           und Wissenschaft, Landesverband Berlin, Ahornstr. 5, 10787 Berlin
Stärkung der multiprofessionellen Teams      gewachsen. Die SESB versucht als Begeg-       und erscheint zweimonatlich (6 Ausgaben). Für Mit­glie­der ist
an Schulen, die sie schon lange gefordert    nungsschule mit ihren neun Sprachkom-         der Bezugspreis im Mitgliedsbeitrag enthalten. Für Nicht­­mitglieder
                                                                                           beträgt der Bezugspreis jährlich 18 Euro (inkl. Versand).
hat. Angesichts des massiven Lehrkräfte-     binationen Vielfalt und interkulturelles      Redaktion: Nadine Wintersieg (verantwortlich), Markus ­Hanisch
                                                                                           (geschäftsführend), Janina Bähre, Josef Hofman, Antje Jessa,
mangels an Schulen wird das aber nicht       Miteinander mit einem anspruchsvollen         Caroline Muñoz del Rio, Jeannine Schätzle, Ralf ­Schiweck, Joshua
ausreichen, um grundsätzliche Qualitäts-     sprachlichen Konzept zu verbinden.            Schultheis, Bertolt Prächt (Fotos), Doreen Stabenau (Sekretariat).
                                                                                           Redaktionsanschrift: Ahornstraße 5, 10787 Berlin, Tel. 21 99 93-46,
verbesserungen umzusetzen. Erfolgreich       Deutsch und neun weitere Sprachen             Fax -49, E-Mail bbz@gew-berlin.de
                                                                                           Verlag: GEWIVA GmbH, erreichbar wie Redaktion.
war auch der lautstarke Protest gegen die    (Englisch, Französisch, Griechisch, Italie-   Anzeigen: bleifrei Medien + Kommunikation, info@bleifrei-berlin.de,
geplante Streichung der Verfügungsfonds      nisch, Polnisch, Portugiesisch, Russisch,     Tel. 030/613936-30. Es gilt die Preisliste Nr. 16 vom 1.10.2021
                                                                                           Satz, Layout und Konzept: bleifrei Texte + Grafik / Brauweiler, Miller
für die einzelnen Schulen. Diese Gelder      Spanisch und Türkisch) sind gleichbe-         Druck: Bloch & Co, Grenzgrabenstr. 4, 13053 Berlin
sollen nun wieder zur Verfügung stehen       rechtigte Sprachen im Unterricht und im       Gedruckt auf 100 % Recyclingpapier mit dem Blauen Engel

– vermutlich jedoch nicht in voller Höhe,    schulischen Miteinander.                     ISSN 0944-3207 / 75. (90.) Jahrgang              7-8 / 2022: 29.700

JULI/AUGUST 2022 | bbz                                                                                                               KURZ & BÜNDIG                 7
Mehr Lehrkräfte gut ausbilden - GEWERKSCHAFT Der Zukunft aufgeschlossen - GEW Berlin
Ausbildungsoffensive
                                          für Berlin
                                     Der Lehrkräftemangel in Berlin ist hausgemacht.
                      Jahrzehntelange politische Fehlentscheidungen und Versäumnisse rächen sich.
                                Die Probleme müssen endlich richtig angegangen werden

                                                             von Matthias Jähne

                     L  ehrkräftemangel! Das Wort war vor 20 Jahren
                        noch gar nicht im Sprachgebrauch. Zum
                     Schuljahr 2005/06 hatte Berlin gerade mal 120
                                                                       men. Der »Rest« war nach dem Referendariat
                                                                       weg, weil Berlin kaum neue Einstellungen vor-
                                                                       nahm.
                     neue Lehrkräfte eingestellt. Gleichzeitig wurde     Dabei zeichnete sich angesichts der Alters-
                     massiv die Axt an die Ausbildungskapazitäten      struktur der Berliner Lehrkräfte schon damals
                     gelegt. 400 Stellen für das Referendariat wur-    ab, dass Berlin in nur wenigen Jahren in eine
                     den gestrichen. Es gab lange Wartezeiten. Die     bildungspolitische Katastrophe schlittern würde.
                     GEW BERLIN unterstützte massenhaft Klagen           »GEW BERLIN erwartet dramatischen Ein-
                     der jungen Kolleg*innen. Viele Lehrkräfte muss-   bruch in der Lehrerbildung« heißt es in einer
                     ten schon nach dem Studium Berlin verlassen,      Presseerklärung vom 15. Januar 2004. »Von
                     weil sie hier keinen Referendariatsplatz beka-    2005 bis 2010/11 müssen insgesamt 7.000

8   TITEL   MEHR LEHRKRÄFTE GUT AUSBILDEN                                                                bbz | JULI/AUGUST 2022
Mehr Lehrkräfte gut ausbilden - GEWERKSCHAFT Der Zukunft aufgeschlossen - GEW Berlin
neue Lehrkräfte in Berlin eingestellt werden. Wo die      Die Universitäten waren ab dem Jahr 2002 damit
                                                                          herkommen sollen, ist uns ein Rätsel.«                 beschäftigt, die bisherigen Diplom- und Magisterstu-
                                                                            Die GEW war die Ruferin in der Wüste. In der Bil-    diengänge auf Bachelor und Master umzustellen, die
                                                                          dungs- und Hochschulpolitik zu Beginn der 2000er       sogenannte Bologna-Reform. Die Staatsexamensstu-
                                                                          Jahre wurden die Prioritäten anders gesetzt. Es war    diengänge im Lehramt wurden im Nachgang in die
                                                                          Kürzungszeit und Berlin Haushaltsnotlagenland.         Reform einbezogen – mit Experimenten, die der
                                                                          Überall wurde zusammengestrichen und verkauft,         Lehramtsausbildung eher schadeten als nützten. Wer
                                                                          was nur ging. Die Beschäftigten im öffentlichen        erinnert sich noch an den Spruch: Kleine Kinder,
                                                                          Dienst wurden gezwungen, auf im Schnitt zehn Pro-      kleiner Master, kleines Geld? Die künftigen Grund-
                                                                          zent ihres Einkommens zu verzichten, um betriebs-      schullehrer*innen wurden nach dem sechs-semestri-
                                                                          bedingte Kündigungen zu vermeiden. Den Berliner        gen Bachelorstudium mit einem einjährigen Master-
                                                                          Lehrkräften wurde eine Erhöhung ihrer Arbeitszeit      studium abgespeist, obwohl nach der Bologna-Re-
FIGUREN: ADOBE STOCK/GALINA, FOTO: ADOBE STOCK/RAWPIXEL LTD.

                                                                          aufgedrückt, was zu noch weniger Einstellungen         form ein fünfjähriges Studium vorgesehen war. Der
                                                                          führte.                                                »kleine Master« reiche doch für Lehrer*innen in der
                                                                            Seit 2014 muss Berlin jährlich mindestens 3.000      Grundschule. Und für das anschließende Referenda-
                                                                          neue Lehrkräfte einstellen. Nur – die sind nicht da.   riat seien 12 Monate mehr als genug (Achtung, Zynis-
                                                                            Im Jahr 2017 hatte bereits fast jede zweite neu      mus).
                                                                          eingestellte Lehrkraft in den Berliner Schulen kein
                                                                          Lehramtsstudium absolviert, in den Grundschulen
                                                                          sogar mehr als die Hälfte! Ab Schuljahresbeginn        Veränderungen in der Lehrkräfteausbildung
                                                                          2018/19 reichten selbst die Quereinsteiger*innen
                                                                          nicht mehr aus, um die Stellen zu besetzen. Die Zahl   Nach der Schulstrukturreform mit der Bildung der
                                                                          der Referendariatsplätze wurde vor allem durch den     Integrierten Sekundarschulen im Jahr 2010 sickerte
                                                                          beharrlichen Druck der GEW BERLIN ab 2008 schritt-     die Erkenntnis in der Politik durch, dass auch die
                                                                          weise wieder erhöht. Allerdings bleiben von den        Lehramtsausbildung verändert werden muss. Nach
                                                                          2.700 Plätzen regelmäßig fast 1.000 unbesetzt. Es      einem über zweijährigen Diskussionsprozess und
                                                                          fehlen schlicht die Lehramtsabsolvent*innen.           auf Grundlage des Berichts einer Expert*innenkom-

                                                               JULI/AUGUST 2022 | bbz                                                            MEHR LEHRKRÄFTE GUT AUSBILDEN         TITEL   9
Mehr Lehrkräfte gut ausbilden - GEWERKSCHAFT Der Zukunft aufgeschlossen - GEW Berlin
mission (der sogenannten Baumert-Kommission)             als sie im Mai dieses Jahres die Wiedereinführung
                                  wurde 2014 ein komplett neues Lehrkräftebildungs-        der Verbeamtung feierte.
                                  gesetz aus der Taufe gehoben. Ziel war vor allem,          Die Erhöhung der Studienplatzkapazitäten ist aber
                                  die fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen          nicht von heute auf morgen umzusetzen. Es braucht
                                  Kenntnisse in Mathematik und Sprachbildung der           nicht nur zusätzliche finanzielle Mittel, sondern
                                  angehenden Grundschullehrkräfte zu verbessern.           auch Personal, Räume und Ausstattung.
                                  Gleichzeitig wurde eine einheitliche Lehramtsausbil-       In den Hochschulverträgen zwischen dem Land
                                  dung für Lehrkräfte im Bereich Sek I und Sek II ge-      Berlin und den Hochschulen von 2014 bis 2018 ver-
              Offener Brief zur   schaffen, das sogenannte Lehramt ISS/Gymnasium.          pflichteten sich die Universitäten, die Zahl der Lehr-
             Lehrkräftebildung      Um die Integration und schließlich Inklusion auch      amtsabsolvent*innen auf 1.000 pro Jahr zu erhöhen.
                    an der FU:    in der Ausbildung zu verankern, wurde Sonderpäd-         Diese Zielzahl wurde in den Folgeverträgen von
                                  agogik als eigenständiges Lehramt abgeschafft. Seit-     2018 bis 2022 noch mal auf 2.000 verdoppelt. Im
                                  dem können in allen drei neuen Lehrämtern, neben         Juni 2020 wurden mit dem Sonderprogramm »Beste
                                  den zwei bereits genannten noch das für Berufliche       Lehrkräftebildung für Berlin« weitere Maßnahmen
                                  Schulen, Sonderpädagogik beziehungsweise zwei            beschlossen, um die angestrebte Anzahl von 2.000
                                  sonderpädagogische Fachrichtungen anstelle eines         Absolvent*innen zu erreichen. Dazu gehörten unter
                                  Faches studiert werden. Alle Lehramtsstudierenden        anderem zusätzliche Professuren und weitere Perso-
                                  hatten fortan ein einheitlich langes Studium von         nalstellen sowie Tutorien. Dafür stellte Berlin zu-
                                  sechs Semestern Bachelor und vier Semestern Mas-         sätzliche Mittel zur Verfügung, im Jahr 2020 2,3
                                  ter, einschließlich eines Praxissemesters, was es vor-   Millionen Euro und in den Jahren 2021 und 2022
                                  her nicht gab.                                           jeweils 6,55 Millionen Euro.
                                    In den Universitäten wurden sogenannte Zentren           Seit 2015 gibt es einen deutlichen Aufwuchs bei
                                  für Lehrkräftebildung errichtet, die später in die       den Studienplätzen und den Studierenden. Im
                                  Gründung der Schools of Education mündeten. Die          Grundschullehramt wurde die Zahl der Studienplät-
                                  Universität der Künste bildet die Ausnahme, sie hat      ze fast vervierfacht (im Masterstudium von 372 auf
                                  keine School of Education, sondern eine Ständige         knapp 1.000), im Lehramt ISS/Gym sind es über 30
                                  Gemeinsame Kommission – Zentrum für künstleri-           Prozent mehr (im Masterstudium aktuell knapp
                                  sche Lehrkräftebildung.                                  1.400).
                                    Die GEW BERLIN hat diesen Prozess intensiv be-
                                  gleitet und grundsätzlich begrüßt. Die Universitäten
                                  mussten diese erneute Strukturreform umsetzen,           Es mangelt an Lehramtsabsolvent*innen
                                  was natürlich nicht von heute auf morgen geht und
                                  nicht konfliktfrei verläuft. Um die Kapazitäten küm- Trotzdem hakt es gewaltig. Bis 2021 beendeten pro
                                  merte sich die Politik zu dem Zeitpunkt immer noch   Jahr nicht einmal die schon vorher beschlossenen
                                    nicht.                                             1.000 Lehramtsabsolvent*innen ihr Studium an den
                                                                                       vier Berliner Universitäten (siehe Tabelle). Große Ver-
                                                                                       wunderung in der Berliner Politik. Warum klappt das
                                       Die Zahl der Quereinsteiger*innen in Schule     nicht? Wo bleiben die angehenden Lehrkräfte? Eine
                                       wächst                                          große Blackbox.
                                                                                         Aktuelle Zahlen belegen, dass vor allem im Bachelor-
                                         Erst als ab 2015 die Zahlen immer dramati- studium mit Lehramtsoption nicht nur die Immatri-
                                         scher wurden, immer mehr Schüler*innen in kulationszahlen rückläufig sind, sondern die Zahl
                                         die Schulen ström-                                                         der Exmatrikulationen
                                         ten und Berlin zu-                                                         deutlich höher ist als im
                                          sätzlich geflüch-                                                         Masterstudium. Viele Stu-
                                         tete Kinder und        »Viele Studierende gehen bereits dierende gehen bereits
                                        Jugendliche     auf-     im Bachelorstudium verloren.«                      im Bachelorstudium ver-
                                     nahm, konnte die Po-                                                           loren, da es dort kaum
                                     litik den bereits voll                                                         eine »Lehramtsidentität«
                                     zugeschlagenen Lehrkräftemangel nicht mehr gibt. Misslich ist, dass die Universitäten nicht wissen
                                     ignorieren. Vor allem in den Grundschulen und bisher auch nicht erheben, wohin die Studieren-
                                      wuchs die Zahl der Quereinsteiger*innen und den gehen, also ob sie tatsächlich abbrechen oder in
                                       der Lehrkräfte ohne volle Lehrbefähigung andere Studiengänge wechseln. Das aber wäre drin-
                                       (LovL, heute beschönigend Seiteneinsteiger*in- gend notwendig, um Licht in die Blackbox zu bringen.
                                       nen genannt).                                     Im Masterstudium liegen die Probleme eher in der
                                          In einem ersten Schritt wurde die Zahl der Betreuung und Unterstützung der Studierenden, un-
                                       Studienplätze für das Grundschullehramt er- ter anderem bei der Erstellung der Masterarbeiten.
                                          höht – faktisch 10 Jahre zu spät!            Eine der Ursachen dafür ist, dass die neu geschaffe-
                                               »Besser spät als nie«, könnten wir die nen Stellen im akademischen Mittelbau in der Regel
                                             heutige Bildungssenatorin Busse zitieren, solche mit einer sehr hohen Lehrverpflichtung sind,

10   TITEL     MEHR LEHRKRÄFTE GUT AUSBILDEN                                                                          bbz | JULI/AUGUST 2022
»Der Arbeitsplatz
                                   Schule ist
                                aktuell für viele
                                 unattraktiv.«

                              sprich wissenschaftliche Mitarbeiter*innen mit dem
                              Schwerpunkt Lehre und Lehrkräfte für besondere
                                                                                              KLASSENZIEL VERFEHLT
                              Aufgaben. Durch die stark gestiegenen Studieren-
                              denzahlen und die in der Lehrkräftebildung sehr
                                                                                              Jahr		             2017       2019       2020       2021       Zielzahl
                              hohe Dichte von Klausuren und Prüfungen, bleibt
                                                                                              Grundschule        90         163        197        255        800
                              dann für die individuelle Betreuung der Studieren-
                                                                                              ISS/Gym            539        655        555        599        1.110
                              den häufig kaum Zeit. Das hat der offene Brief von
                                                                                              Berufsbild.        43         60         57         44         90
                              wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen in der Lehr-
                                                                                              Gesamt             672        878        809        898        2.000
                              kräftebildung der Freien Universität von Juni 2021
                              sehr deutlich aufgezeigt (siehe Link in Marginalspalte).        Abschlüsse Master of Education in Berlin und Zielzahl aus den Hochschul­
                                Das an sich sinnvolle Praxissemester im Master-               verträgen 2018-2022
                              studium ist viel zu bürokratisch und zu starr orga-
                              nisiert. Das betrifft unter anderem die Vergabe der
                              Schulplätze, die schlechte Vereinbarkeit von Er-
                              werbs- mit Carearbeit sowie den festen Zeitraum im         Hochschulverträgen ab 2024 sind konkrete und fi-                  Mehr zu den
                              Wintersemester. Nicht nur durch die Pandemie ha-           nanziell abgesicherte Vereinbarungen zur Verbesse-                Forderungen der
                              ben sich die Betreuungsverhältnisse im Praxissemes-        rung der Studienbedingungen und der Betreuung                     GEW BERLIN im
                              ter deutlich verschlechtert.                               der Studierenden zu verankern. Dazu gehören die                   neuen LDV-Beschluss
                                Und – es fehlt schlicht an ausreichenden Räumen          Absenkung der Lehrverpflichtung bei den sogenann-
                              für die Studierenden. Während der Pandemie wurde           ten Hochdeputatsstellen und die stärkere Anrech-
                              das durch die Online-Lehre mehr oder weniger ver-          nung der betreuungsintensiven Veranstaltungen in
                              deckt. Jetzt zeigt sich, wie groß das Problem ist und      der Lehrkräftebildung. Ein Stipendium für alle Stu-
                              wie sehr das Lehramtsstudium darunter leidet.              dierenden im Lehramtsmaster könnte dazu beitra-
                                                                                         gen, den Studienerfolg zu erhöhen und Lehrkräfte
                                                                                         an Berlin zu binden.
                              Lehrkräftebildung hat immer noch keine Priorität             Nicht zuletzt hängt die Entscheidung der Studie-
                                                                                         renden für oder gegen das Lehramt davon ab, wie
                                Trotz aller Sonntagsreden ist nach wie vor nicht         attraktiv der Beruf und der Arbeitsplatz Schule ist.
                              erkennbar, dass der Berliner Senat die Lehrkräftebil-      Wer im ersten Praktikum im Bachelorstudium mit
                              dung zur Priorität macht. Es ist zu befürchten, dass       der aktuellen Schulrealität konfrontiert wird und
                              die Probleme erneut ausgesessen werden.                    feststellt, dass alle im Kollegium total überlastet
                                Der Lehrkräftebedarf wird weiter deutlich steigen,       sind, dass das Gebäude marode ist, dass die Klassen
                              nicht nur in Berlin und nicht nur wegen der vielen         aus allen Nähten platzen und nicht mal der Kopierer
                              geflüchteten Kinder und Jugendlichen aus dem               funktioniert, wird schnell Reißaus nehmen. 
                              Kriegsgebiet Ukraine. Die dafür benötigten Lehrkräf-
                              te werden nicht von allein kommen.
                                Wir brauchen eine echte Ausbildungsoffensive.
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                              Lehrkräftebildung muss zur Chef*innen-Sache wer-
                              den. Das Programm »Beste Lehrkräftebildung für
                              Berlin« muss fortgesetzt und ausgebaut werden. Die                               Matthias Jähne,
                              in der Koalition verabredeten zusätzlichen 10 Milli-                Referent der GEW BERLIN für
                              onen Euro für die Lehrkräftebildung müssen für                                  Hochschulen und
                              wirksame Maßnahmen zur Erhöhung der Zahl der                                Lehrer*innenbildung
                              Lehramtsabsolvent*innen verwendet werden. In den

                              JULI/AUGUST 2022 | bbz                                                                        MEHR LEHRKRÄFTE GUT AUSBILDEN                 TITEL   11
Wie viel Praxis braucht das
                            Lehramtsstudium?
                          Wann muss theoretische Expertise praktisch umsetzbar werden?
                           Wie kann Professionsorientierung konzipiert und qualitätsvoll
                                               umgesetzt werden?

                                        Ein Gespräch zwischen Laureen Hoppe und Jurik Stiller

                          Laureen Hoppe: Hallo Jurik, ich freue mich, dass      eine fachliche und fachmethodische Basis entstehen.
                        wir uns heute einmal über die Forderung nach mehr       Hinzu kommen noch pädagogisch-psychologische
                        Praxis im Lehramtsstudium unterhalten. Mich be-         Grundlagen. Und über Vermittlung redet man am
                        schäftigt das Thema aktuell sehr, da mein Praxisse-     besten erst danach.
                        mester ansteht, und ich mich kaum auf die »echte«         Hoppe: Meiner Meinung nach können wir uns von
                        Unterrichtspraxis vorbereitet fühle. Ich könnte dir     der Schweiz abgucken, wie eine gute Mischung aus
                        jetzt sofort etwas zu den Kompetenzmodellen im          Theorie und Praxis im Lehramtsstudium funktio-
                        Bereich des Historischen Lernens erzählen. Aber wie     niert. Dort müssen die Studierenden bereits im ers-
                        unterrichte ich das Thema Mittelalter? Was mache        ten Studienjahr Praktika absolvieren, die engma-
                        ich, wenn permanent Unterrichtsstörungen auftre-        schig durch Reflexionsseminare und Mentoringan-
                        ten? Und wie kann ich gewährleisten, dass wirklich      gebote begleitet werden. Im dritten und vierten Se-
                        alle Kinder Anschluss finden und das Beste aus sich     mester sind die Studierenden ein ganzes Jahr lang
                        herausholen?                                            an eine feste Partnerschule gebunden, wobei das
                          Jurik Stiller: Hallo Laureen, ich erinnere mich gut   theoretische Studium trotzdem weiterhin im Fokus
                        an mein eigenes Unverständnis, nachzuvollziehen,        steht. An diesen Schulen können sie dann kontinu-
                        was manches, was ich an der Uni gelernt habe, mit       ierlich in ihrer Praktikumsklasse Unterrichts- und
                        meinem späteren Wirken zu tun hat. Aber Praxiser-       schulpraktische Erfahrungen sammeln. Dazu zählen
                        fahrungen kann ich doch tiefergehend erst auf Basis     auch Dinge wie Elternabende oder Klassenausflüge.
                        von möglichen Theoriebezügen reflektieren, oder?        Ich finde die Konzeption dieses Studiums total sinn-
                        Ich würde ziemlich sicher sagen, dass niemand ein       voll und frage mich: Wieso machen wir das nicht
                        ausschließlich theoretisches Studium befürwortet.       genauso?
                        Aber in der Regel finden sich doch am Studienbe-          Stiller: Das ist ein spannender Ansatz, der sich
                        ginn erst einmal theoretische Bausteine. So soll doch   aber vermutlich nicht so schnell nach Deutschland

12   TITEL   MEHR LEHRKRÄFTE GUT AUSBILDEN                                                                bbz | JULI/AUGUST 2022
übersetzen ließe. Und zumindest von Beginn an oder vorbereitet wird? Auch die Lehrkräftebildung
                                   kann diese Praxiserfahrung dann ja nur beobachtend verantwortet in erster Linie ein wissenschaftliches
                                   sein, vielleicht auch forschend, und das gibt es auch Studium, das zu verschiedenen tatsächlichen Tätig-
                                   schon bei uns. Und hier folgt auf das eher theoreti- keiten führen kann – zu Tätigkeiten in Bildungs- und
                                   sche Studium dann ja der eher praktische Vorberei- Wissenschaftsverwaltung, in Stiftungen aber eben
                                   tungsdienst. Es ist also unter dem Strich nicht so auch in der Wissenschaft. Eine Fokussierung allein
                                   unterschiedlich, nur im Aufbau und Ablauf.              auf schulische Praxis würde auf diese Praxisfelder
                                      Hoppe: Es gibt auch bei uns Praxisanteile. Aber nur bedingt vorbereiten. Und deswegen spricht doch
                                   wenn ich etwa auf das berufsfelderschließende Prak- vieles für ein Studium, das exemplarisch bleibt,
                                   tikum im zweiten Semester des Bachelors zurückbli- kompetenzorientiert und damit auch verschiedene
                                   cke, dann denke ich vor allem an mein Forschungs- anschließende Wege ermöglichen kann.
                                   projekt, welches ich währenddessen durchführen            Hoppe: Da hast du natürlich Recht. Aber ich möch-
                                   musste und welches                                                                        te gerne auch noch
                                   den größten Teil mei-                                                                     einmal einen anderen
                                   ner Kapazitäten bean-
                                   sprucht hat. Ich hatte
                                                                 »Wir brauchen von Anfang an einen Punkt                            ansprechen: Wie
                                                                                                                             sieht es eigentlich mit
                                   kaum die Gelegenheit,           kontinuierlichen Praxisbezug mit                          dem Erwerb sozialer
                                   um solche Dinge wie                 Aufenthalt in den Schulen.«                           Kompetenzen aus? Da
                                   Klassenführung oder                                                                       fällt mir als erstes der
                                   den Umgang mit Kon-                                                                       Bereich Lehrkräfteko-
                                   flikten zu üben. In Bezug auf das anstehende Praxis- operation ein, der uns immer als Schlüssel zu quali-
                                   semester bin ich ebenfalls etwas skeptisch. Theore- tativ hochwertigem Unterricht präsentiert wird. Und
                                   tisch steht uns Studierenden mindestens ein bera- was ist mit der Beziehungsebene zwischen mir als
                                   tender Unterrichtsbesuch durch die Lehrenden der Lehrkraft und meinen Schüler*innen? Wie baue ich
                                   Universität in jedem Fach zu. Allerdings wurden die eine persönliche und vertrauensvolle Beziehung zu
                                   Erwartungen bereits in den Vorbereitungsseminaren den Kindern auf, ohne meine professionelle Distanz
                                   gedämpft. Die personellen Kapazitäten würden nicht zu verlieren? Das kann doch eigentlich nicht sein,
                                   ausreichen, um die Mindestanzahl der Unterrichts- dass Fragen oder Aspekte dieser Art erst im Refe-
                                   besuche zu gewährleisten. Das kann doch nicht sein, rendariat so richtig auf einer konkreten praktischen
                                   dass die wenigen Praxisphasen dann auch noch Ebene bearbeitet werden. Dafür sind sie meiner An-
                                   mangelhaft durchgeführt werden.                         sicht nach zu wichtig.
                                      Stiller: Ja, das ist richtig. Das Praxissemester ist   Stiller: Ja, das ist richtig. Das sind ja die klassi-
                                   wirklich auch organisatorisch total herausfordernd. schen Themen, die in den bildungswissenschaftli-
                                   Dabei ist die Idee ja eine sehr gute: Eine deutlich chen Studienanteilen verhandelt werden. Aber: Es
                                   längere Praxisphase, die dann auch die Teilhabe am sind eben doch nur 300 Leistungspunkte, man wird
                                   Schulleben, an Elternarbeit, eben auch mal am Ganz- unmöglich alle Themen vertieft thematisieren und
                                   tagsbetrieb erlaubt. Was nicht heißt, dass das aktuell diskutieren können, die sich an und von Schulpraxis
                                   schon reibungslos läuft. Aber an Bachelor und Mas- ableiten lassen.
                                   ter schließt sich in Berlin ein einheitlicher Vorberei-   Hoppe: Es stimmt, dass wir nicht unendlich viele
                                   tungsdienst von 18 Monaten an. Findest Du da im- weitere Inhalte in das Studium aufnehmen können.
                                   mer noch, Praxis hat absolut zu wenig Platz?            Aber dann wäre es doch eine gute Idee, wenn, wie
                                      Hoppe: Okay, bei dem Argument der Quantität be- vorher schon einmal angesprochen, von Anfang an
                                   zogen auf die gesamte Zeitspanne der Lehrkräftebil- ein kontinuierlicher Praxisbezug inklusive Aufent-
                                   dung gehe ich mit. Dann bleibt trotzdem noch ein halt in den Schulen stattfindet. Viele Aspekte, die
                                   grundsätzliches Problem: die fehlende praktische keinen prominenten Platz im rein theoriebezogenen
                                                                                                                                                        Eine ausführlichere
                                   Anwendung des fachlichen und fachdidaktischen Studium haben, könnten durch begleitende Mento-
                                                                                                                                                        Version dieses
                                   Wissens. Ich habe das Gefühl, dass dieses Wissen vor ringangebote vor Ort konkret und praxisnah thema-               Gespräches ist
                                   allem für Prüfungen erworben und danach wieder tisiert und reflektiert werden. Das Studium soll uns                  online nachlesbar:
                                   vergessen wird. Was fehlt, sind realistische Anwen- nicht auf Prüfungen, sondern auf den Beruf vorbe-
                                   dungskontexte, die zeitnah realisiert werden. Wir reiten. Die konsequente Verankerung dieser Einstel-
                                   planen Unterrichtsszenarien, ohne irgendeinen Be- lung im Studium wäre langfristig vermutlich mein
                                   zug zu einer real existierenden Lerngruppe zu ha- größter Wunsch. 
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                                   ben. Woher weiß ich denn, ob meine Planung über-
                                   haupt funktionieren wird?
                                      Stiller: Wir können nicht ganz weg von der grund-
                                   sätzlichen Anlage einer universitären Lehrkräftebil-
                                   dung. Die bereiten nie ganz unmittelbar auf Be-          Laureen Hoppe, Studierende des Lehramts an Grund-
                                   rufspraxis vor, den Anspruch kann man ja auch bei           schulen an der Humboldt-Universität zu Berlin und
                                   vielen Studiengängen schwerlich haben. Woher weiß         Jurik Stiller, Lehrender in der Didaktik des Sachunter-
                                   man vorher, auf welchen Beruf man sich vorbereitet                   richts im Bachelor- und Masterstudiengang

                                   JULI/AUGUST 2022 | bbz                                                                    MEHR LEHRKRÄFTE GUT AUSBILDEN               TITEL   13
Von nichts kommt nichts
       Abzeichen am Schulgebäude, Selbstverpflichtungen in Schulleitbildern oder punktuelle
          Fortbildungen machen eine Schule noch lange nicht frei von Diskriminierungen.
                  Lehrkräfte müssen hierfür bereits im Studium geschult werden

                                       von Hanin Ibrahim und Nick Oelrichs

                        W  as muss eine Lehrkraft wissen? Sollte ein*e
                           Grundschullehrer*in im Mathematikstudium
                     sich mit Matrizen, Infimum und Supremum ausein-
                                                                             ausreichend damit auseinandergesetzt habe, wie ich
                                                                             es überhaupt vermitteln kann, wie ich diagnostizie-
                                                                             ren, differenzieren und fördern kann oder wie ich
                     andersetzen? Muss ein*e Sekundarschullehrer*in im       das im Berliner Schulgesetz festgeschriebene Recht
                     Germanistikstudium mittelhochdeutsche Literatur         auf »diskriminierungsfreie schulische Bildung« er-
                     gelesen haben? Sicherlich tragen derartige Inhalte      füllen und meinen erzieherischen Auftrag zur Demo-
                     zum Gesamtverständnis des Faches bei, doch der          kratiebildung umsetzen kann?
                     Beruf von Lehrer*innen ist so komplex, dass eine
                                                  vorrangige     Ausbil-
                                                  dung zu Fachwissen-        Worauf das Studium kaum vorbereitet
                                                  schaftler*innen allein
       »Der Umgang mit Heterogenität nicht zielführend ist.                  Der Schulalltag besteht nicht nur aus Unterricht.
       lässt sich nicht in Vorlesungen            Didaktische und päda-      Und auch im Unterricht passieren Dinge, die vom
                                                  gogische      Aspekte      Plan abweichen und auf die unter hohem Zeit- und
             auswendig lernen.«                   kommen im Studium          Handlungsdruck reagiert werden muss. Wenn ich im
                                                  immer noch zu kurz,        Referendariat – theoretisch angeleitet, praktisch
                     wodurch der Transfer zwischen Fach- und Lehrtätig-      eher allein – eigene Lerngruppen zugeteilt bekom-
                     keit nicht hinreichend gewährleistet und Schule         me, Klassenarbeiten stelle und korrigiere oder Noten
                     nicht als aktiv mitzugestaltender Ort vermittelt        vergebe, stellen sich etliche Fragen, die sich allein
                     wird. Ich kann noch so umfangreiches germanisti-        nicht lösen lassen. Darüber hinaus kommt es dann
                     sches, historisches oder biologisches Fachwissen        aber auch zu solchen Situationen: Ein*e Schüler*in
                     mitbringen – was bringt es mir, wenn ich mich nicht     fragt im Geschichtsunterricht, ob er*sie heute noch

14   TITEL   MEHR LEHRKRÄFTE GUT AUSBILDEN                                                             bbz | JULI/AUGUST 2022
so etwas wie »du Jude« sagen dürfe. Wie reagiere ich    amtsstudierenden in die universitäre Lehre zu inte-
                                als Lehrkraft auf Aussagen, die ich nicht direkt ein-   grieren – und diese auch diskriminierungskritisch zu
                                ordnen kann? Wie gehe ich mit Beleidigungen um,         beleuchten. Mehr Praxis allein macht das Studium
                                die sich innerhalb der Klasse gegenseitig zugewor-      nicht besser, kann sogar unerwünschte Effekte ha-
                                fen werden? Was tue ich, wenn ein*e Schüler*in mit      ben, wenn zum Teil diskriminierende Schulpraktiken
                                einer Russlandfahne zur Schule kommt – ausgerech-       einfach übernommen werden und unreflektiert blei-
                                net an dem Tag, an dem aufgrund des Angriffskriegs      ben. Individuelle Reflexionen beanspruchen jedoch
                                auf die Ukraine als Zeichen der Solidarität ein Frie-   Ressourcen im ohnehin vollgepackten Lehramtsstu-
                                denszeichen auf dem Schulhof gebildet werden soll?      dium: Der Umgang mit Heterogenität lässt sich nicht
                                Welche Optionen habe ich, wenn mir zugetragen           in Vorlesungen auswendig lernen und hinterher per
                                wird, dass in der Klassen-WhatsApp-Gruppe rassis-       Kreuzchen-Klausur abprüfen, sondern erfordert
                                tische Bilder geteilt werden?                           auch Zeit für die Studierenden, sich intensiv mit ih-
                                   Als Lehrkraft stelle ich innerhalb der Klasse die    ren eigenen Bildungserfahrungen auseinanderzuset-
                                Autoritätsperson dar. Ich stehe, ob ich es will oder    zen.
                                nicht, hierarchisch über den Schüler*innen und wer-
                                de als umfangreich gebildete Person wahrgenom-
                                men. Mein Einfluss ist enorm und die Schüler*innen      Das Recht auf diskriminierungsfreie
                                empfangen Signale: Je nachdem, wie ich auf solche       Bildung ermöglichen
                                kritischen Situationen reagiere, werden diese als ak-
                                zeptiert oder als Grenzüberschreitung wahrgenom-        Konkret hat sich die aktuelle Koalition
                                                                                                                                          »Der Einfluss der
                                men. Diese Machtposition muss im Studium und            vorgenommen, in dieser Legislatur die
                                Referendariat kritisch reflektiert werden.              Gesetze und Verordnungen zur Lehrkräf-         Lehrkräfte ist enorm.
                                                                                        tebildung zu aktualisieren und hierbei           Dies muss kritisch
                                                                                        den Umgang mit unterschiedlichen Dis-
                                Diskriminierende Strukturen entdecken und               kriminierungsformen im Studium zu ver-          reflektiert werden.«
                                Handlungsoptionen entwickeln                            ankern. Gerade im weiterführenden Lehr-
                                                                                        amt müssen deutlich mehr Räume für
                                In den wenigen bildungswissenschaftlichen Modulen       erziehungswissenschaftliche Module und individu-
                                des Lehramtsstudiums geht es sehr allgemein um          elle Vertiefungen geschaffen werden – einfach noch
                                die Institution Schule, im Fokus stehen standardi-      mehr Stichpunkte in die übervollen Modulkataloge
                                sierte Lernpsychologie und Input-Output-Steuerung.      zu schreiben, so wie heute schon »Inklusion« als
                                Um auf gegenwärtige Herausforderungen adäquat           Querschnittsthema überall einbezogen werden soll,
                                reagieren zu können, muss das Lehramtsstudium           führt nur dazu, dass Themen meist höchstens bei-
                                aber auch auf gesellschaftliche Konflikte wie bei-      läufig in den Blick genommen werden. Die (psycho-
                                spielsweise Diskriminierung eingehen und sozial be-     logische, sozialwissenschaftliche und Praxis reflek-
                                ziehungsweise kulturwissenschaftliche Zugänge zu        tierende) Auseinandersetzung mit Bildung und vor
                                Bildung und Schule aufzeigen. Bislang liegt es an       allem Schule als professionellem Handlungsort von
                                einzelnen Dozierenden, die sich mit derartigen The-     Lehrkräften muss im Studium mindestens den glei-
                                men beschäftigen und passende Lehrveranstaltun-         chen Anteil bekommen wie die Fachwissenschaften.
                                gen anbieten. Das heißt, dass nur wenige Studierende    Noch zielführender wären ihre konsequente Verzah-
                                die Chance bekommen, sich mit diesen Fragestel-         nung und eine echte Integration der unterschiedli-
                                lungen auseinanderzusetzen. Und dass es ohnehin         chen Perspektiven statt eines bezugslosen Neben­
                                oft keine wirkliche Wahlmöglichkeit gibt, sondern       einanders. Insbesondere im Reformprozess der
                                jede*r froh ist, überhaupt in irgendeinem der Semi-     nächsten Jahre, den die Berliner Regierungskoalition
                                nare einen Platz zu ergattern, ist definitiv kein Ge-   anstoßen will, ist es entscheidend, dass wir als GEW
                                heimnis.                                                BERLIN mit den vielfältigen intersektional arbeiten-
                                  Was konkret fehlt, sind Ansätze aus der Diversi-      den, zivilgesellschaftlichen Akteur*innen gemein-
                                täts- und Intersektionalitätsforschung im Lehramts-     sam auf den Prozess einwirken und unsere Forde-
                                studium, was auch Maisha Auma, momentan Audre-          rungen durchsetzen: Dann stehen die Chancen gut,
                                Lorde-Gastprofessorin in der Berlin University-Alli-    dass künftige Lehrkräfte stärker dazu befähigt wer-
                                ance, fordert. Dies würde beispielsweise bedeuten,      den, Kindern und Jugendlichen ihr Recht auf diskri-
                                in partizipativ gestalteten Seminaren diskriminieren-   minierungsfreie Bildung zu ermöglichen.
FOTO: ADOBE STOCK/SEVENTYFOUR

                                de Strukturen gemeinsam zu entdecken und Hand-
                                lungsoptionen zu entwickeln. Am besten gelingt
                                dies anhand von Fällen aus der Praxis: Aus den oben           Hanin Ibrahim, Referendarin an einem Berliner
                                genannten Beispielen wird klar, dass es keine »ein-              Gymnasium und Initiatorin des Blogprojekts
                                fache« Standardlösung gibt und oft in Sekunden-                               www.klassengedanken.com und
                                bruchteilen reagiert werden muss. Allerdings ist es           Nick Oelrichs, Erziehungswissenschaftler an der
                                möglich, in Supervisionen oder Fallberatungen die                                TU Berlin und Mitinitiator der
                                vielfältig vorhandenen Praxiserfahrungen der Lehr-                     AG Lehrkräftebildung der GEW BERLIN

                                JULI/AUGUST 2022 | bbz                                                                MEHR LEHRKRÄFTE GUT AUSBILDEN   TITEL   15
Von 0 auf 100
                                             in wenigen Sekunden
                         Der Übergang von der Uni an die Schule ist für die meisten Lehramtsan­wärter*­innen
                                ein Sprung ins kalte Wasser. Viele müssen bereits vom ersten Tag an
                                                     selbstständig unterrichten

                                                                     von Sina Fechtner

                        Z
                        wischen Uni-Abschluss und Referendariatsbeginn
                        liegen oft nur wenige Wochen. Die Bewerbungs-
                    fristen sind hinsichtlich der Vorlesungszeiten
                                                                                te alte Arbeitsblatt. Doch so manche*r LAA bangt um
                                                                                das begrenzte Kopierkontingent. Ist das erschöpft,
                                                                                wird der Rest privat vom Referendariatsgehalt be-
                    knapp, trotz der vermeintlich generösen Nachreich-          zahlt.
                    frist für Zeugnisse. Denn bereits in den Sommer- be-           Die Ausbildung an den Schulen ist so unterschied-
                                                 ziehungsweise Winter-          lich wie die Schüler*innen, die wir tagtäglich durch
                                                 ferien beginnen die Se-        den Alltagswahnsinn begleiten. Die einen haben
                                                 minare für den Vorbe-          Glück, sie unterrichten in »Doppelsteckung«, haben
       »Notwendige Hospitationen                 reitungsdienst.     Eine       Mentor*innen und werden die Ausbildung über fach-
                                                 Woche später stecken           lich und menschlich begleitet. Andere hingegen
       bei erfahrenen Lehrkräften                die neuen Lehramtsan-          kämpfen um jedes Beratungsgespräch, um jede ko-
       fallen aus.«                              wärter*innen (LAA) mit-        pierte Seite.
                                                 ten     im    trubeligen
                                                 Schulalltag. Wer Glück
                    hat, kennt die Ausbildungsschule bereits, in den            Es fehlen Seminarleitungen
                    meisten Fällen ist es ein Sprung ins kalte Wasser. Er
                    beginnt mit der Vorbereitungswoche in der Schule            Neben der schulischen Ausbildung werden wir durch
                    und endet mit der unterrichtspraktischen Prüfung            Haupt- und Fachseminarleiter*innen begleitet. Oft
                    18 Monate später. Viele LAA unterrichten bereits            geben sie ihr Bestes, um angehende Lehrkräfte auf
                    vom ersten Tag an selbstständig. Notwendige Hos-            ihren Berufsalltag vorzubereiten. Sie organisieren
                    pitationen bei erfahrenen Lehrkräften fallen aus. Von       ihren eigenen Schulalltag um Seminare, Beratungen,
                    der Theorie in die Praxis, von 0 auf 100 in wenigen         Unterrichtsbesuche und Hospitationen herum und
                    Sekunden. Der eigene Erfahrungsschatz erweitert             versuchen, alles unter einen Hut zu kriegen. Doch
                    sich und der praktische Anteil ist deutlich höher als       auch vor diesem Bildungsbereich macht der Perso-
                    in anderen Bundesländern. Manch eine*r fragt sich,          nalmangel keinen Halt. An jeder Ecke fehlt es an Se-
                    ob das nicht eigentlich auch nur ein Euphemismus            minarleitungen. Kein Wunder, da es für den deutli-
                    für »Lehrkräftemangel« ist.                                 chen Mehraufwand nicht ausreichend Entlastungs-
                                                                                stunden gibt.
                                                                                  Doch es hat auch seine Vorteile in Berlin den Vor-
                        Verantwortung ja, Dienstgerät nein                      bereitungsdienst zu absolvieren. So kann jede*r in
                                                                                Berlin das Referendariat in Teilzeit beginnen. Der
                        Berliner Referendar*innen sind also von Anfang an       Wechsel von Seminaren wird ermöglicht und auch
                        maßgeblich am Erhalt von Bildung und Teilhabe, am       die Ausbildungsschule kann bei Bedarf gewechselt
                        Erhalt von Schule beteiligt. Dabei werden sie nicht     werden. Vor der unterrichtspraktischen Prüfung ste-
                        selten als Lehrkräfte zweiter Klasse behandelt. Fehlt   hen bereits 60 Prozent der Endnote fest. Der Exa-
                        ihnen doch die Ausbildung, die Erfahrung, aber auch     menstag selbst wird so entlastet.
                        der Anspruch auf ein Dienstgerät. Und das obwohl          Berliner Referendar*innen lernen die Berliner Schu-
                        nicht einmal die Hälfte der über 40.000 ausgeliefer-    le von ihrer ehrlichen aber harten Seite kennen. Es
                        ten PC von den Beschäftigten an den Schulen bislang     ist nicht immer einfach und von Anfang an wird ein
                        überhaupt in Betrieb genommen wurden. Die Be-           hohes Maß an Selbstorganisation und Proaktivität
                        gründung, warum das so ist, liegt irgendwo zwi-         gefordert. Doch wer Berlin schafft, schafft alles. 
                        schen Verwaltung und Organisation der Geräteaus-
                        gabe. Schließlich sind wir doch nur 18 Monate an der
                        Schule. Versuche des Personalrats der LAA, diesen                                             Sina Fechtner,
                        Umstand zu ändern, sind bislang leider nicht erfolg-    Mitglied im Personalrat der Lehramtsanwärter*innen
                        reich gewesen. Nutzen wir stattdessen eben das gu-        und Referendarin an einer Neuköllner Grundschule

16   TITEL   MEHR LEHRKRÄFTE GUT AUSBILDEN                                                                bbz | JULI/AUGUST 2022
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