MIETER ECHO - und soziale Folgen - Zeitung der Berliner MieterGemeinschaft e.V. www.bmgev.de Nr. 427 Oktober 2022
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
MIETERECHO Zeitung der Berliner MieterGemeinschaft e.V. www.bmgev.de Nr. 427 Oktober 2022 u t s f a l l e Arm krise Ene rg i e n t e r e s s e n , i s ch e I Geopolit zerngewinne Kon a l e F o l g e n u n d s o z i
IMPRESSUM GESCHÄFTSSTELLE Herausgeberin: Berliner MieterGemeinschaft e.V. Berliner MieterGemeinschaft e.V. Möckernstraße 92 (Ecke Yorckstraße), 10963 Berlin Redaktion MieterEcho: Joachim Oellerich (V.i.S.d.P./ Chefredaktion), Telefon: 030 - 2168001, Telefax: 030 - 2168515 Jutta Blume (Schlussredaktion/ CvD), Andreas Hüttner, Rainer Balcerowiak, www.bmgev.de Hermann Werle, Philipp Möller, Matthias Coers (Bildredaktion), G. Jahn (Mietrecht) ÖFFNUNGSZEITEN Montag, Dienstag, Donnerstag 10 bis 13 Uhr und 14 bis 17 Uhr Kontakt: Telefon: 030 - 21002584, E-Mail: me@bmgev.de Mittwoch 10 bis 13 Uhr Grafik: nmp (Gestaltung/ Satz/ Bildredaktion) Freitag 10 bis 13 Uhr und 14 bis 16 Uhr Titelbild: Einzelbilder: Die Linke. Fraktion im Bundestag/flickr, Matthias Coers, Fahrverbindung: Andreas Hüttner; Titelbild: nmp u Möckernbrücke, Mehringdamm, Yorckstraße, i Yorckstraße, ; M19 Belichtung und Druck: Königsdruck Berlin Bankverbindung: Redaktionsschluss: 23.9.2022 Postbank Berlin, IBAN: DE62 1001 0010 0083 0711 09, BIC: PBNKDEFF © Berliner MieterGemeinschaft e.V. Die Berliner MieterGemeinschaft bietet ihren Mitgliedern persönliche Nachdruck nur nach vorheriger Rücksprache. Der Bezugspreis ist durch den Mietrechtsberatung an (siehe Seite 31 und hintere Umschlagseite). Mitgliedsbeitrag abgegolten. Namentlich gekennzeichnete Beiträge stimmen Die rollstuhlgerechten Beratungsstellen sind durch - gekennzeichnet. nicht notwendigerweise mit der Meinung der Redaktion überein. Für unverlangt Achtung! In unserer Geschäftsstelle und in den Vor-Ort-Büros findet eingesandte Manuskripte oder Fotos wird keine Haftung übernommen. während der Ö ffnungszeiten keine Rechtsberatung statt. PROBLEME MIT DEM VERMIETER? Bei der Berliner MieterGemeinschaft können Ratsuchende kostenlos Bitte ankreuzen und mit Briefmarken im Wert von 1,00 € einfach an folgende Informationsblätter bestellen: folgende Adresse schicken: B ERLINER M IETERG EMEINSCHAFT E. V. Möckernstraße 92 · 10963 Berlin · Telefon 216 80 01 Berliner MieterGemeinschaft e.V. j Betriebskostenabrechnung j Mietvertrag Möckernstraße 92 j Eigentümerwechsel j Modernisierung 10963 Berlin j Heizkostenabrechnung j Schönheitsreparaturen NAME j Kündigung durch den j Umwandlung und Vermieter Wohnungsverkauf VORNAME j Mängelbeseitigung j Untermiete STRASSE j Mieterhöhung j Wohnfläche PLZ ORT j Mietpreisbremse j Wohnungsbewerbung j Mietsicherheit/Kaution j Zutritt und Besichtigung BEZIRKSGRUPPENTREFFEN Marzahn Jeden letzten Montag im Monat, 19 Uhr Bei den Bezirksgruppentreffen findet keine Rechtsberatung statt. Lebensnähe e.V. Begegnungsstätte, Alt-Marzahn 30 Rechtsberatung erfolgt ausschließlich durch Rechtsberater/innen in den i Marzahn Ee M6, M8, 18 ; X54, 154, 192, 195 dafür ausgewiesenen Beratungsstellen (siehe 3. und 4. Umschlagseite). Neukölln Jeden letzten Montag im Monat, 19 Uhr Friedrichshain Jeden 3. Donnerstag im Monat, 20 Uhr Beratungsstelle, Sonnenallee 101 Stadtteilbüro, Warschauer Straße 23, - u Rathaus Neukölln ; M41, 104, 167 u Frankfurter Tor Ee M10 E-Mail: neukoelln@bmgev.de E-Mail: friedrichshain@bmgev.de Prenzlauer Berg Jeden 2. Mittwoch im Monat, 20 Uhr, in virtueller Form als Kreuzberg Jeden 1. Donnerstag im Monat, 19 Uhr Video- und Telefonkonferenz; Zugangsdaten bitte erfragen via E-Mail an Geschäftsstelle der Berliner MieterGemeinschaft, Möckernstraße 92 prenzlauerberg@bmgev.de u Möckernbrücke, Mehringdamm, Yorckstraße i Yorckstraße ; M19 E-Mail: kreuzberg@bmgev.de Wedding Jeden 2. Donnerstag im Monat, 19 Uhr Tageszentrum Wiese 30, Wiesenstraße 30 Lichtenberg Jeden 1. Montag im Monat, 18 Uhr u und i Wedding u Nauener Platz i Humboldthain Café Wostok, Weitlingstraße 97 E-Mail: wedding@bmgev.de i Nöldnerplatz ; 240, 194 E-Mail: lichtenberg@bmgev.de Folgende Bezirksgruppen treffen sich unregelmäßig: Schöneberg, Spandau, Tempelhof Ort und Termin der Treffen bitte erfragen unter 030 - 21002584. Aktuelle Termine unter: www.bmgev.de/verein/bezirksgruppen.html
INHALT Liebe Leserinnen und Leser, TITEL die Ernennung von Petra Kahlfeldt im Dezember letzten Jah- res zur Nachfolgerin von Regula Lüscher als Senatsbaudirek- 4 Heißer Herbst und kalter Winter torin löste in der Berliner Fachwelt empörte Überraschung Deutschland steht vor der größten Krise der letzten Jahrzehnte aus. Die Zeitschrift ARCH+ bezeichnete sie als eine Kampf- Rainer Balcerowiak ansage an eine soziale und ökologische Stadtpolitik. Von der Architektenkammer Berlin und dem Bund Deutscher Archi- 6 „Dann ist eine Schuldenbremse einfach unverantwortlich“ tektinnen und Architekten (BDA) Berlin wurde zuvor eine Interview mit dem Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck Findungs- und Auswahlkommission vorgeschlagen, ohne Er- Rainer Balcerowiak folg. Frau Kahlfeldt hatte als Architektin Villen für eine zah- lungskräftige Bauherrenschaft mit mäßigem Geschmack er- 9 Konzerngewinne first, Mieter/innen second! richtet. Uwe Rada beschrieb in der taz die Ergebnisse ihres Das dritte Entlastungspaket verteilt Gewinne unzureichend um Wirkens: „Ein Säulchen da, ein Ziergiebelchen dort, dazu Christoph Trautvetter noch ein Simschen – und fertig ist die Kahlfeldt-Villa.“ Von größerer Bedeutung für ihre Wahl war aber ihre Nähe zu 10 Hilfen auch für profitable Unternehmen? dem privatisierungswütigen ehemaligen Senatsbaudirektor Gasumlage und -preise lassen Heizkosten extrem ansteigen Hans Stimmann, zu deren Vertrauten sie seinerzeit gehört hat- Bernd Müller te, sowie ihr gutes Verhältnis zu den Kreisen um die Pla- nungsgruppe Stadtkern. Dort kämpft man seit Jahren für die 12 „Freiheitsgas“ aus den Vereinigten Staaten Wiedererrichtung des historischen Zentrums zum Zwecke der Grüne Politik folgt geopolitischen Interessen Eigentumsübertragung kleinteiliger Parzellen mitten in Berlin Hermann Werle an ein betuchtes Bürgertum. Die ARCH+ war im Dezember der Meinung: 14 „Robert Habeck versteht wenig von wirtschaftlichen „Petra Kahlfeldt steht nicht für: Zusammenhängen“ - eine am Gemeinwohl orientierte soziale Stadt Interview mit Oskar Lafontaine - nachhaltige, klimagerechte Stadtentwicklung Rainer Balcerowiak - die Gestaltung der Mobilitätswende - ökologisches Bauen 16 Westliche Werte wertlos - bezahlbaren und gemeinwohlorientierten Wohnungsbau Wenig Unterstützung für Sanktionen - partizipative Planungsprozesse Andreas Hüttner - eine Offenheit für die Diversität einer Metropole - internationale Vernetzung.“ Wie sehr Frau Kahlfeldt dieser Einschätzung gerecht wird, 17 Die Preise steigen – die Wut nimmt zu zeigen schmerzhaft die aktuellen Vorgänge um die Neugestal- Mehr Unterstützung bei Energie- und Lebensmittelkosten gefordert tung des Molkenmarkts. Von der Jury wurden zwei Pla- Anne Seeck nungsentwürfe ausgewählt. Die Entscheidung sollte im Sep- BERLIN tember fallen. Beide Entwürfe entsprachen weitgehend den sozialen und ökologischen Vorgaben, doch offenbar nicht den Wünschen von Frau Kahlfeldt. 18 Hartz IV heißt bald Bürgergeld Kurzerhand verwandelte sie die Entscheidung der Jury in eine Die Vergötzung der Arbeit wird fortgesetzt unverbindliche Empfehlung und behält sich offenbar vor, die Basta! Erwerbsloseninitiative Gestaltung in Eigenregie durchzuführen. 20 Eskalation am Molkenmarkt IHR MIETERECHO Senatsbaudirektorin setzt sich über Wettbewerbsverfahren hinweg Matthias Grünzig EINE VERANSTALTUNG DES MIETERECHOS ARMUTSFALLE ENERGIEKRISE – URSACHEN, GEGENMASSNAHMEN, PROTESTE 21 Die zweite Miete Von Bruttomieten zu Nettokaltmieten und sonstigen Betriebskosten Die aktuelle Ausgabe des MieterEchos behandelt die explodierenden Preise Rechtsberaterin Maja Lachmund und die sozialen Folgen als Schwerpunktthema. Auf unserer Veranstaltung wollen wir über die geopolitischen Ursachen, mögliche Gegenmaßnahmen MIETRECHT AKTUELL und die hoffentlich anstehenden Proteste diskutieren. ğ Hierzu hat die MieterEcho-Redaktion Sevim Dagdelen (Mitglied des Bundes- 24 Mieter/innen fragen – wir antworten tages und Obfrau im Auswärtigen Ausschuss) und Michael Prütz (Protest- Inhalt und Prüfung einer Betriebskostenabrechnung bündnis „Heizung, Brot und Frieden“) eingeladen. Im Anschluss an die Sachverständiger Götz Autenrieth Podiumsdiskussion soll das Thema mit allen Anwesenden erörtert werden. Donnerstag, 20.10.2022, 19 Uhr Beratungsstelle der Berliner MieterGemeinschaft 27 RECHT UND RECHTSPRECHUNG Sonnenallee 101, 12045 Berlin-Neukölln 31 SERVICE Für Getränke und einen kleinen Imbiss wird gesorgt. 32 RECHTSBERATUNG MieterEcho 427 Oktober 2022 3
TITEL Eine Möglichkeit wäre, die Sanktionen gegen Russland zu beenden. Diese Forderung wird aber fast durchgehend gleich- gesetzt mit einer Unterstützung von Putins Angriffskrieg. Heißer Herbst und kalter Winter Deutschland steht vor der größten sozialen Krise der letzten Jahrzehnte Von Rainer Balcerowiak 13,8 Millionen Menschen müssen derzeit zu den Armen ge- rechnet werden, 600.000 mehr als vor der Pandemie. Sie ver- Mit Superlativen sollte man recht sparsam umgehen. Aber fügen über weniger als 60% des Medianeinkommens, das die alles spricht dafür, dass sich Deutschland auf dem schier Grenze zwischen den oberen und den unteren 50% der Ein- unaufhaltsamen Weg in eine soziale Krise ungeheuren künfte markiert. Demnach gilt ein Ein-Personen-Haushalt mit Ausmaßes befindet. Schon jetzt bringen die Inflation bei Nettoeinkünften unter 1.148 Euro als arm, für größere Haus- Lebensmitteln und die Preisexplosion auf dem Energiesek- halte gibt es gewichtete Äquivalenzwerte. tor viele Haushalte an den Rand der Existenz und auch der Schon zwei Monate zuvor hatte das „Monitoring Soziale Stadt- viel beschworene „Mittelstand“ sieht sich zunehmend von entwicklung“ der Berliner Senatsverwaltung für Bauen und dieser Entwicklung bedroht. Doch all das ist möglicherwei- Wohnen dramatische Armutsentwicklungen in Berlin doku- se nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was uns noch mentiert, vor allem die wachsende soziale Spaltung in der Stadt bevorsteht. betreffend (vgl. MieterEcho 424/Mai 2022). Und das alles vor dem Inflationsschub und vor dem eskalierenden Wirtschafts- Das gesamte ökonomische und soziale Gefüge des vormaligen krieg gegen Russland, der sowohl seitens der Bundes- als auch „Exportweltmeisters“ könnte sich alsbald als Kartenhaus er- der Berliner Landesregierung zum quasi unhinterfragbaren weisen. Rohstoffknappheit, gestörte Lieferketten, exorbitant Dogma erhoben worden ist. gestiegene Energiekosten und eine in einigen Segmenten be- reits deutlich einbrechende Binnenkonjunktur bilden gepaart Glasperlen als Entlastung mit verfestigten Armuts- und Niedriglohnsektoren ein extrem Anders als während der Corona-Krise wird diesmal aber nicht explosives Gemisch, es droht eine kräftige Rezession. Dazu „die Bazooka ausgepackt“, um die Krisenfolgen zu bewältigen, kommen in Großstädten und Ballungsräumen wie Berlin sys- wie der damalige Finanzminister und heutige Bundeskanzler temische Verwerfungen auf dem Wohnungsmarkt, geprägt von Olaf Scholz (SPD) seinerzeit martialisch verkündete. Jetzt ist Immobilienspekulation, stetig steigenden Mieten und unzurei- dagegen von „wir alle müssen Opfer bringen“ die Rede, da es chendem Neubau im bezahlbaren Segment. um „die Verteidigung der westlichen Werte“ gehe. Zu diesen Bereits der im Juni veröffentlichte Armutsbericht des Paritäti- „Werten“ gehört bald auch wieder die während der Corona- schen Gesamtverbandes, in den die aktuellen Entwicklungen Pandemie ausgesetzte „schwarze Null“, also die strikte Be- noch gar nicht eingeflossen sind, zeichnet ein düsteres Bild. grenzung der Nettokreditaufnahme des Bundes. Zwar gab und 4 MieterEcho 427 Oktober 2022
TITEL gibt es auch in dieser Krise „Entlastungspakete“, zumeist in lichem Besitz müssten die Primärenergie – Öl, Gas und auch Form von mit der Gießkanne ausgeschütteten Glasperlen. Alles Steinkohle – schlicht auf dem Weltmarkt einkaufen und dort dominiert von parteipolitischen Spielchen à la: „Du bekommst sind die Preise nicht nur, aber vor allem wegen des Wirtschafts- deinen Tankrabatt und ich bekomme mein Neun-Euro-Ticket“. krieges gegen Russland explodiert. Erneuerbare Energien tra- Fast alles auch nur befristet, also keine nachhaltige Entlastung. gen mit einem Anteil von 16,6% am Gesamtenergieverbrauch Das gilt auch für die bescheidenen Einmalzahlungen für Er- zu wenig bei, um für Entlastung zu sorgen. werbstätige, Rentner/innen, Student/innen und Beziehende Die gerade von Deutschland forcierte Sanktions- und Embar- von Transferleistungen. Und dies vor dem Hintergrund, dass gopolitik gegen Russland hat sich längst als veritabler Rohr- der eigentliche „Energiepreis-Hammer“ bei den meisten Haus- krepierer erwiesen. Die bereits in den späten 1960er Jahren – halten noch gar nicht unmittelbar in seinem ganzen Ausmaß also inmitten des Kalten Krieges – gegen den Widerstand der zugeschlagen hat. USA und der NATO entwickelte und durch die Nord Stream Natürlich gibt es viele Forderungen von Parteien und Verbänden, 1-Pipeline weiter vorangetriebene strategische Energiepartner- um die drohende verstärkte Armutswelle etwas einzudämmen. schaft mit der Sowjetunion und später mit Russland liegt in Krisenbedingte Extra-Profite besonders der Energiekonzerne Trümmern. Das vermeintliche Ziel der aktuellen Politik, also sollen durch eine „Übergewinnsteuer“ abgeschöpft werden. die „Ruinierung“ der russischen Wirtschaft, um den Krieg in Damit könnte ein „Energiepreisdeckel“ finanziert werden, um der Ukraine zu beenden, hat sich längst als Fata Morgana er- den Grundbedarf an Strom und Wärme für ärmere Haushalte wiesen. Zumal sich außerhalb der NATO nur wenige Staaten zu subventionieren. Auch weitere gezielte Direktzahlungen an an diesem absurden Unterfangen beteiligen und auch in der Betroffene sind regelmäßig im Gespräch. Das alles könnte – viel beschworenen „westlichen Wertegemeinschaft“ bröckelt wenn es denn umfassend realisiert würde, wovon derzeit nicht es erheblich. auszugehen ist – durchaus spürbare Entlastungen bringen, allerdings ohne die Wurzeln der Krise auch nur zu berühren. Wofür demonstrieren? International agierende Konzerne würden von der Steuer über- Die deutsche Energiepolitik ist längst ein Stück aus Absur- haupt nicht erfasst werden, und der Preisdeckel würde im Kern distan. Man bettelt bei Autokraten aller Couleur um ein paar bedeuten, dass die Differenz zwischen dem gedeckelten Preis Eimer Flüssiggas (die – wenn überhaupt – frühestens 2025 ge- und dem „Marktpreis“ direkt aus dem Bundeshaushalt an die liefert werden könnten). Man kauft teuren Diesel aus Indien, Konzerne und die Versorger überwiesen würde. Auch das ge- der dort aus billigem russischen Erdöl raffiniert wurde. Oder forderte „Kündigungsmoratorium“ für Mieter/innen, die ihre teures Öl aus Saudi-Arabien, während dort die einheimische Nebenkosten nicht mehr bezahlen können, würde bestenfalls Stromversorgung mit billigem russischen Öl betrieben wird. kurzfristige Entlastung bringen. Denn die säumigen Beträge Bei der „Energiewende“ wurde der Rückwärtsgang eingelegt, könnten sich für die betroffenen Haushalte schnell zu großen Kohlekraftwerke werden – mit ausdrücklicher Unterstützung Schuldenbergen aufhäufen, die anschließend irgendwie abge- von Greenpeace – reaktiviert und es wird auf Fracking-Gas aus stottert werden müssen, gerade von denen, die eh wenig haben. den USA gesetzt, während hierzulande etliche Terawattstun- Selbst die – zweifellos wünschenswerte, aber leider wenig den Solarstrom (ungefähr dem Bedarf von rund 2,5 Millionen realistische – Umsetzung der Forderung nach einer Verstaat- Haushalten pro Jahr entsprechend) ungenutzt abgeregelt wer- lichung bzw. Rekommunalisierung der gesamten Energiever- den, weil es an Netz- und Speicherkapazitäten fehlt. Die Pro- sorgung würde an der Misere kurz- und mittelfristig nur wenig duzent/innen erhalten den Strom dennoch vergütet, die Zeche ändern. Denn auch Energieverarbeiter und -versorger in öffent- zahlen alle Stromkund/innen. Trotz Gasknappheit und unge- wissen Liefermengen in den kommenden Monaten wird Erdgas für den Export nach Frankreich verstromt, um den Nachbar/ innen aus der Klemme mit ihren derzeit nicht betriebsfähigen AKW zu helfen. Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Viel ist jetzt von einem „heißen Herbst“ die Rede, also von massiven Sozialprotesten gegen die drohende Verarmung vie- ler Menschen. Angestrebt werden „breite Bündnisse“ mit So- zialverbänden, Mieter- und Umweltorganisationen, Gewerk- schaften, Kirchen, linken Parteien und anderen. Und zumeist in strikter Abgrenzung gegen alles, was irgendwie „rechts“ sein könnte. Was darunter zu verstehen ist, hat der herrschen- de „Block der Mitte“ bereits vorgegeben: Vor allem Kritik am Wirtschaftskrieg gegen Russland oder gar die Forderung nach Beendigung der Sanktionen wird gleichgesetzt mit einer Un- terstützung Putins für seinen Angriffskrieg und als „demokra- tiefeindlich“ eingestuft. Und dieses Framing bleibt bei vielen linken Akteur/innen leider nicht ohne Wirkung. Viele Millionen Menschen sind derzeit wütend bis hin zur Ver- zweiflung. Viele wollen auf die Straße gehen. Aber man sollte nicht versuchen, sie für dumm zu verkaufen. Wenn linke Pro- teste sich dadurch auszeichnen sollten, dass sie eine der zent- Schlange stehen für genug zu essen. 13,8 Millionen Menschen leben in ralen Fragen der jetzigen Krise einfach ausklammern, dann be- Deutschland in Armut. Inflation und Preisexplosion bringen viele Haushalte an kommen wir möglicherweise einen „heißen Herbst“, bei dem den Rand der Existenz. Fotos: Matthias Coers der Wind aus einer ganz anderen Richtung blasen könnte. h MieterEcho 427 Oktober 2022 5
TITEL Protest vor der Zentrale der FDP gegen Finanzminister Christian Lindners Krisen- politik und für eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Foto: Andreas Hüttner „Dann ist eine Schuldenbremse einfach unverantwortlich“ Interview mit dem Wirtschaftswissenschaftler Auseinandersetzung verwickelt, bei der sich der deutsche Heiner Flassbeck Staat nun eindeutig positioniert hat und nicht bereit ist, sei- ne Position zu ändern. Und deshalb werden viele mit sehr Heiner Flassbeck fordert eine offensive staatliche Kredit- viel weniger Einkommen auskommen müssen, weil Preise politik, um die sozialen Folgen der Energiekrise und der massiv gestiegen sind. Der Staat kann versuchen, die Folgen Inflation abzumildern und hält es für eine gefährliche Illusi- zu lindern, und das versucht er ja mit seinen Entlastungspa- on, dass man Russland mit Sanktionen in die Knie zwingen keten. Aber das wird natürlich niemals richtig gelingen, weil könnte. Ferner befürchtet Flassbeck, dass die Zinspolitik gleichzeitig eine Rezession sozusagen vor der Tür steht. der Europäischen Zentralbank zu einer kräftigen Rezessi- Da ist es fast unmöglich, das alles abzufedern. on führen könne. Sehen Sie denn im jetzigen dritten Entlastungspa- MieterEcho: Herr Flassbeck, trotz unterschiedlicher Ein- ket wenigstens Schritte in die richtige Richtung? Oder schätzung der Lage kann man wohl festhalten, dass sich sind das eher Glasperlen oder Nebelkerzen? Deutschland am Vorabend einer großen wirtschaft- Das Ganze ist noch völlig offen, da völlig unklar ist, wie es lichen und sozialen Krise befindet. Vielen Menschen finanziert wird. Die Koalitionsspitzen haben erklärt, das Paket droht angesichts der Explosion der Energie- und Le- habe ein Volumen von 65 Milliarden Euro. Aber soweit ich ge- bensmittelpreise der Absturz in die Armut. Und für sehen habe, wurde kein Wort dazu gesagt, wie das finanziert die bereits armen Haushalte verschärft sich die Lage. werden soll. Und das ist entscheidend. Für die Gesamtwirkung Was sollte der Staat jetzt unternehmen, um dieser eines Pakets ist immer entscheidend, wie viel man macht und Entwicklung strukturell entgegenzuwirken? wie es gegenfinanziert wird. Wenn man sagen würde, das Geld Heiner Flassbeck: Um dem wirklich entgegenzuwirken, werde vollständig am Kapitalmarkt aufgenommen, dann hätte müsste man die Ursachen angehen. Das ist zum Teil mög- das natürlich einen großen Effekt. Aber das hat Finanzminister lich, zum Teil aber auch nicht. Wir sind in eine kriegerische Christian Lindner (FDP) ja praktisch ausgeschlossen, indem 6 MieterEcho 427 Oktober 2022
TITEL er versichert, dass die Schuldenbremse ab dem nächsten Jahr Sie haben ja in den vergangenen Wochen und Mona- wieder gelten soll. Und daher kann man das im Moment nicht ten des Öfteren dargelegt, dass Sie die in den letzten beurteilen, welche Steuern möglicherweise erhöht werden oder Monaten stark gestiegene Inflation als ein vorüberge- welche Ausgaben gekürzt werden sollen. Sicherlich gibt es in hendes Phänomen ansehen und vor allen Dingen die Re- dem Paket einige richtige kleine Schritte, etwa bei Hartz IV. aktion der Europäischen Zentralbank (EZB) in Form Wobei eine Erhöhung um 50 Euro sehr bescheiden ist. Aber der Erhöhung der Leitzinsen für eher kontraproduktiv für alle Maßnahmen gilt: Es ist völlig offen, woher das Geld halten. Wie sollte denn die EZB in der aktuellen Lage kommen soll und ob das am Ende ausreicht. reagieren, zumal Deutschland bei der Zinspolitik ja kaum eigene staatliche Möglichkeiten hat? Ich komme noch mal auf die „Schwarze Null” zurück, Nein, Deutschland kann da nichts machen. Aber Deutschland die ja jetzt wieder Kernelement der Austeritätspolitik könnte natürlich seinen Einfluss geltend machen und bei der werden soll. Wie passt das denn überhaupt zusammen EZB darauf drängen, dass die EZB jetzt nicht auch noch die mit den enormen Kriegskosten und den Kosten für die Rezession verschärft. Es gibt in der Geldpolitik eine lustige soziale Abfederung? Was passiert dann mit dem riesi- – oder besser befremdliche – vorherrschende Meinung. Man gen Investitionsstau bei Bildung, Digitalisierung und öf- macht einfach ein bisschen weniger Geld und dann gehen ein- fentlicher Infrastruktur? Von den Herausforderungen fach die Preise wieder ein bisschen runter. Dazu gehört der durch den Klimawandel ganz zu schweigen. Irrglaube, dass die Preise so stark gestiegen seien, weil man Das ist das grundsätzliche Problem, um das es eigentlich geht vorher zu viel Geld in die Märkte gepumpt hat. Das ist alles und das hinter allem steht: Was passiert mit den staatlichen Unsinn. Die Preise steigen, weil es Knappheiten gibt und weil Schulden? Und das geht noch weiter als das, was Sie gesagt es Spekulation auf steigende Preise gibt. Das sind die Gründe haben. Es geht nicht nur um die unmittelbaren Bedarfe der für die Inflation. Und die sind bislang alle temporär. Das heißt, Gesellschaft für Infrastruktur und Daseinsvorsorge. Es gibt wir werden im nächsten Jahr – wenn nicht neue Schocks pas- auch das Problem – und das kann man nicht oft genug sagen – sieren, die derzeit nicht vorhersehbar sind – weniger stark stei- dass wir in unserer Gesellschaft zu viele Sparer und zu wenige gende Preise erleben. Deswegen sind auch Einmalzahlungen Schuldner haben. Es kann immer nur in dem Umfang gespart vom Staat jetzt völlig angemessen, um die größten Härten bei werden, in dem andere sich verschulden, sonst bricht die Wirt- den ärmeren Haushalten abzufangen. Aber die Öffentlichkeit schaft schlicht zusammen. Und das will man in Deutschland hat sich ja nun auf die Inflation so eingeschossen, dass die EZB nicht begreifen, und das will vor allem Herr Lindner nicht be- umgefallen ist und nun auch auf Restriktionen setzt, was die greifen. Und solange er das nicht begreift, kann er keine richti- Lage nur verschärft, ohne die Preisentwicklung zu bremsen. ge Finanzpolitik machen. Stattdessen droht jetzt eine Rezession, die auch mehr Arbeits- In Deutschland sparen die privaten Unternehmen und die pri- losigkeit bringt. Das ist alles völlig kontraproduktiv. Und im vaten Haushalte. Und deswegen gibt es nur einen, der sich nächsten Jahr wird die EZB das dann wieder zurücknehmen verschulden kann, und das muss der Staat sein. Bisher haben müssen. wir das Problem dadurch „elegant gelöst”, dass wir die deut- sche Leistung auf Leistungsbilanzüberschüssen aufbauen, was Also Sie sehen die derzeitige Inflation nicht als gefährlich heißt, dass wir erwarten, dass sich das Ausland verschuldet. für das wirtschaftliche und soziale Gefüge an? Aber darauf können wir ja nicht immer weiter bauen, dass die Gefährlich werden die Preissteigerungen erst dann, wenn es anderen Länder sich noch mehr bei Deutschland verschulden, wirklich eine Preisspirale gibt. Wenn die Löhne stark steigen als sie es ohnehin jedes Jahr tun. Und deswegen muss man würden und die Preise treiben und die Preise treiben dann wei- dieses Problem endlich in Brüssel, Paris und Rom deutlich ter die Löhne, wie wir das jetzt in der Türkei zum Beispiel se- ansprechen und Deutschland sagen: So geht das nicht. Ent- hen, mit 80% Inflation. Das ist gefährlich, das muss die Geld- weder die Unternehmen müssen sich wieder verschulden, wie politik stoppen. Aber davon ist in Europa überhaupt nicht die das früher der Fall war, etwa in den 1960er Jahren. Oder aber der Staat muss eben dauernd Schulden machen. Und dann ist eine Schuldenbremse einfach unverantwortlich. Welche Möglichkeiten gäbe es denn, die öffentlichen Haushalte vor allen Dingen auf der Einnahmenseite zu stärken und zu stabilisieren? In der derzeitigen Regie- rungskoalition sind ja Instrumente wie Reaktivierung der Vermögenssteuer oder eine durchgreifende Re- form der Erbschaftssteuer kaum vorstellbar. Einige Dinge haben Sie jetzt schon genannt. Das sind die beiden wichtigsten, die man sofort umsetzen könnte und schon lange hätte umsetzen können, Vermögenssteuer und Erbschaftssteu- Foto: Privat er. Aber das ist eine politische Tabuzone, weil im Koalitions- vertrag sozusagen schon im ersten Satz festgelegt worden ist: Keine Steuererhöhung. Und dann muss man eben Schulden machen. Es geht überhaupt kein Weg daran vorbei. Man kann Der Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck war 1998/99 Finanz- staatssekretär von Oskar Lafontaine. Anschließend war er als Chef- nicht sagen, dass es weder neue Schulden noch Steuererhöhun- volkswirt bei der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) gen gibt. Das ist völlig absurd angesichts der Herausforderun- in Genf und als Herausgeber der Online-Zeitschrift Makroskop tätig. gen, vor denen der Staat steht. MieterEcho 427 Oktober 2022 7
TITEL Habeck, Scholz, Lindner: „Für Kriege haben sie Geld, aber die Armen können sie nicht ernähren.“ Transparent auf der Demonstration „Heißer Herbst“ in Leipzig am 5. September. Foto: Die Linke. Fraktion im Bundestag/flickr Rede. Denn die Löhne in Europa steigen ganz moderat. Also Oder dafür sorgen, dass Russland auf den Weltmärkten kein Öl da ist überhaupt keine Gefahr. Und deswegen ist es schon ver- und kein Gas mehr verkaufen kann. Das kann man nicht, weil rückt, dass die EZB die Zinsen erhöht. Der Staat gibt Geld aus, die „ganze Welt” in dieser Auseinandersetzung eben nicht hin- um die Wirtschaft anzuregen und die EZB erhöht die Zinsen, ter Europa und den USA steht. Man sieht es ja: Große Teile der um die Wirtschaft niederzuknüppeln. Wie absurd. Welt, also die große Mehrheit der Staaten stehen an der Sei- te Russlands oder verhalten sich neutral und kaufen natürlich Und Sie sehen also die reale Gefahr einer Deflation in den weiter russisches Gas und Öl, und wir kaufen dann vielleicht kommenden Jahren? über Indien oder sonst wo auch wieder russisches Gas oder Öl, Wir waren in der jüngeren Zeit ja bereits sehr nah an einer De- natürlich aber viel teurer. flation, einer Art unterdrückten Deflation, aber das war nichts Dramatisches. Eine echte Deflation würde erst eintreten, wenn Eine letzte Frage: Für viele Menschen in Deutschland die Löhne anfangen absolut zu sinken. Aber wir haben in den geht es ja jenseits von grundsätzlichen geopolitischen und letzten 20 Jahren durchweg zu geringe Lohnsteigerungen ge- strukturellen Fragen der Finanzpolitik schlicht um die habt, und deswegen gab es auch keine vernünftige Nachfra- Frage, wie sie die explodierenden Kosten schultern sollen. geentwicklung in den meisten europäischen Ländern. Außer Ich habe schon die ersten Abrechnungen gesehen, wo sich in Deutschland, das mit seinen Leistungsbilanzüberschüssen die Energiepreise auch für kleine Betriebe vervierfacht ha- immer noch eine Politik macht, die darauf hinausläuft, sich zu ben. Könnten Sie denn ein kurz- und mittelfristiges Sozial- Lasten der Nachbarn gesundzustoßen – anstatt selbst darüber programm skizzieren, um entsprechende Ängste und reale nachzudenken, wie man die Nachfrage ankurbelt. Notsituationen abzumildern? Also zunächst müssen wir uns im Klaren sein: Wenn jetzt eine Das gängige Narrativ ist derzeit, dass man das ganze Di- Rezession kommt, wird das alles noch schlimmer. Dann ha- lemma dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu ben wir Rezession und starke Preissteigerungen in bestimmten verdanken hat, was ja einer näheren Betrachtung kaum Bereichen, wie etwa Energie. Und ansonsten müsste der Staat standhält. Aber dass der Krieg als kräftiger Brandbe- sehr viel mehr tun. 65 Milliarden Euro wie beim jetzigen Ent- schleuniger der Krise gewirkt hat, liegt auf der Hand. Wie lastungspaket reichen nicht aus. Vor allem dann nicht, wenn schätzen Sie denn in diesem Zusammenhang die deutsche nicht klar ist, woher das Geld kommt. Macht man die berühm- Sanktionspolitik gegen Russland ein? te Gegenfinanzierung, wird die Wirtschaft sicher in eine tiefe Der Krieg an sich hätte meiner Einschätzung nach fast über- Rezession geraten. Ansonsten muss man seine Politik grund- haupt keine Auswirkung, wenn man nicht diese Politik der sätzlich überdenken. Es geht eben nicht alles. Man kann nicht Sanktionen ergriffen hätte. Man glaubt ja in dieser Regierung, einfach wie unsere Außenministerin ankündigen, dass man mit finanziellen und anderen Sanktionen Russland von hier aus eine Atommacht wie Russland mit Sanktionen „ruinieren“ bekämpfen und in die Knie zwingen zu können. Ich halte das wolle – ohne darüber nachzudenken, was danach kommt. Das für eine grandiose Illusion. Bisher ist das Gegenteil eingetre- geht einfach nicht. Es gibt Grenzen für das, was ein Land wie ten: Russland hat Mehreinnahmen, weil die Gas- und Ölpreise Deutschland machen kann, auch für das, was Europa machen so schnell gestiegen sind. Also das ist eine ziemlich verrück- kann. Und das müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen. te Politik. Man verhängt Sanktionen, und dem Sanktionierten geht es besser als vorher. Vielen Dank für das Gespräch. Es ist ohnehin eine grandiose Illusion zu glauben, man könne als einzelnes Land oder als Europa die Weltmärkte bewegen. Das Interview führte Rainer Balcerowiak. 8 MieterEcho 427 Oktober 2022
TITEL Konzerngewinne first, Mieter/innen second! Auch das dritte Entlastungspaket verteilt Krisengewinne nur unzureichend um Von Christoph Trautvetter gieunternehmen „(d)ie für die soziale Marktwirtschaft wichti- ge Balance zwischen Chancen und Risiken“ verletzen. Wegen Seit Ende 2021 kennen die Preise für Gas und Strom in des aktuellen Strommarktdesigns erhalten die Produzenten von Deutschland nur eine Richtung: steil nach oben. Öl ist ak- Strom aus erneuerbaren Energien, Atomstrom und Kohle den tuell zwar wieder etwas günstiger als zum Beispiel im März gleichen Preis wie die teuersten Gaskraftwerke. Weil sich ihre oder Juni, aber immer noch fast doppelt so teuer wie zu Kosten durch die Krise teilweise gar nicht geändert haben, ex- „normalen“ Zeiten. Durch diese Preissteigerungen entste- plodieren dadurch ihre Gewinne. Das will die Bundesregierung hen aufs Jahr gerechnet bis zu 200 Milliarden Euro zusätz- ändern. Anstatt einer Übergewinnsteuer für große Energiekon- liche Kosten für die deutsche Volkswirtschaft. zerne will sie dafür aber „Erlös- bzw. Preisobergrenzen für be- sonders profitable Stromerzeuger“ nutzen. Das klingt im Prinzip Nur ein Teil davon ist bisher bei den Mieter/innen angekom- richtig, hat aber zwei großen Haken: Zum einen ist der Vor- men, weil die Energielieferanten die gestiegenen Preise nur schlag immer noch sehr unkonkret, während sich das Zeitfens- schrittweise weitergeben. Das dicke Ende kommt also noch. ter für die Abschöpfung der hohen Gewinne aus 2022 schließt. Wenn demnächst die Heizsaison beginnt und die Preise wie Zum anderen bleiben die größten Krisengewinner, nämlich die erwartet weiter steigen, drohen Mieter/innen Zusatzkosten von großen Mineralölkonzerne, komplett außen vor. Dass das auch mehreren Tausend Euro. Viele werden das nicht bezahlen kön- anders geht, zeigen unsere europäischen Nachbarn. nen. Deswegen hat die Bundesregierung jetzt ein drittes Ent- lastungspaket beschlossen. Wen das Entlastungspaket erreicht Übergewinnsteuer in Spanien und Italien und wann, steht bisher nur zum Teil fest. Ob es reicht, ist ent- Spanien schöpft bereits seit Herbst 2021 bis zu 90% der sprechend umstritten. Besonders vage bleibt aber die Finanzie- Preissteigerungen auf dem Strommarkt ab. Und in Italien rung. Nachdem sich Finanzminister Christian Lindner lange mussten sowohl Stromproduzenten als auch Mineralölkon- gegen eine Übergewinnsteuer gewehrt hat, sollen jetzt „Zu- zerne im Juni 2022 die erste Rate einer Übergewinnsteuer fallsgewinne“ bei den Stromproduzenten abgeschöpft werden. für die Zeit seit Oktober 2021 zahlen. Mehrere Gutachten Eine Analyse des Netzwerks Steuergerechtigkeit für die Rosa- des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages zeigen, Luxemburg-Stiftung zur Übergewinnsteuer zeigt: Den größten dass das im Prinzip auch in Deutschland möglich wäre. We- Teil der Übergewinne lässt sich die Bundesregierung weiterhin gen des Rückwirkungsverbots müsste eine zusätzliche entgehen. Das müsste nicht so bleiben, aber die Zeit drängt. Steuer auf Gewinne des Jahres 2022 aber im Jahr 2022 be- Das Papier der Bundesregierung zum dritten Entlastungspaket schlossen werden. Deswegen drängt die Zeit. vom 3. September 2022 stellt fest, dass die Gewinne der Ener- Das größte Problem bei den Mineralölkonzernen löst aller- dings auch das italienische Modell nicht. Genauso wie die großen Digitalkonzerne verschieben sie einen großen Teil der in Europa erwirtschafteten Gewinne in Steueroasen wie die Schweiz oder Singapur. In Frankreich und mehreren anderen Ländern gibt es deswegen seit 2019 eine sogenannte Digital- steuer. Sie sorgt dafür, dass ein Teil der Steueroasengewinne dort besteuert werden kann, wo sie entstanden sind. Daraufhin einigten sich 2021 mehr als 100 Staaten auf eine globale Re- form der Unternehmensbesteuerung. Die Mineralölkonzerne sind von den neuen Regeln aber explizit ausgenommen. Um das zu ändern, braucht es einen weiteren mutigen Alleingang Foto: Privat nach französischem Vorbild. Aber die Prioritäten von Finanz- minister Lindner scheinen klar: Konzerngewinne first, Mieter/ Christoph Trautvetter ist Geschäftsführer des Netzwerk Steuergerech- innen second. h tigkeit und externer Projektleiter für das Projekt „Wem gehört die Stadt" der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er ist Co-Autor der Studie zur Überge- Zum Weiterlesen: winnsteuer. rosalux.de/pressemeldung/id/46883/uebergewinnsteuer-bis-zu-100-milliarden-euro- an-einnahmen-moeglich MieterEcho 427 Oktober 2022 9
Foto: Matthias Coers TITEL Hilfen auch für profitable Unternehmen? Gasumlage und -preise lassen Heizkosten extrem ansteigen Von Bernd Müller Um die Pleite abzuwenden, sollen nun die Verbraucher/innen zahlen. Für eine Musterfamilie mit einem Jahresverbrauch von Mit der Gasumlage sollen Energiekonzerne auf Kosten der 20.000 kWh betragen die Mehrkosten damit rund 480 Euro im Gasverbraucher/innen vor der Insolvenz bewahrt werden, Jahr. Hinzu kommt noch die Mehrwertsteuer. Bei einem Zwei- so der eigentliche Plan von Bundeswirtschaftsminister Personenhaushalt ist grob mit der Hälfte zu rechnen. Letztlich Robert Habeck (Grüne). Für Streit in der Regierungskoa- können die Kosten für die Haushalte auch höher oder niedriger lition und für Unmut in der Bevölkerung sorgte allerdings ausfallen; je nachdem, wie groß die Wohnfläche ist und in wel- der Umstand, dass auch profitable Konzerne Gelder er- chem Sanierungszustand die Wohnung ist. halten können. Kritik löste zuletzt aus, dass nicht nur Unternehmen Geld aus dem Topf bekommen sollen, die kurz vor der Pleite stehen, Von Oktober 2022 bis Ende März 2024 sollen Verbraucher/in- sondern auch profitable Firmen. Daraufhin erklärte Habeck, nen knapp 2,4 Cent je Kilowattstunde (kWh) an ihren Energie- die entsprechende Verordnung überarbeiten zu wollen. Tritt- versorger zahlen – zusätzlich zu den ohnehin steigenden Gas- brettfahrer sollten vom Trittbrett geschubst werden, so Habeck. preisen – und obendrauf kommt noch die Mehrwertsteuer. Die Nach den neuen Plänen sollen nur noch Firmen unterstützt Höhe der Gasumlage kann zudem alle drei Monate angepasst werden, die für die Versorgungssicherheit in Deutschland „re- werden. Die Mehrwertsteuer auf den Gasverbrauch soll hinge- levant“ sind. Dann müsste das Gasgeschäft jener Firmen eine gen von 19 auf 7% gesenkt werden. Rund 34 Milliarden Euro relevante Größe haben. Als drittes Kriterium nannte Habeck, will die Bundesregierung auf diesem Wege einsammeln und an dass Firmen, die über die Gasumlage gestützt werden, keine Energiekonzerne verteilen. Boni und keine Dividenden auszahlen dürfen. Außerdem müss- Sie sollen damit für Mehrkosten „entschädigt“ werden, die sie ten die betreffenden Firmen alle Bücher offenlegen. Allein das bislang nicht an ihre Kund/innen weiterreichen können. Weil könne schon reichen, „um diese Unternehmen auszusortieren“, weniger Erdgas aus Russland geliefert wird, müssen sie Ersatz hofft Habeck. am Gasmarkt zu hohen Preisen einkaufen, um ihren eigenen Ver- Noch ist allerdings nicht ausgemacht, dass es tatsächlich gelingt, pflichtungen nachkommen zu können. Das reißt tiefe Löcher in viele Unternehmen auszuschließen. Je mehr es sein sollen, des- ihre Bilanzen. Uniper fährt nach Informationen der Wirtschafts- to höher werden die Vorgaben des Beihilferechts – und Klagen woche einen Verlust von 100 Millionen Euro ein – pro Tag. von Konzernen dürften dann auch wahrscheinlicher werden. 10 MieterEcho 427 Oktober 2022
TITEL Verbraucher/innen sollten allerdings keine Hoffnung haben, ihre früheren Einkäufe abzurechnen. Je höher der aktuelle Mo- dass nach der Reform die Gasumlage wesentlich niedriger natspreis ist, desto höher wäre ihr Extraprofit. werden könnte. Denn rund 90% der geschätzten Summe ge- „Das wäre dann ein doppelter Gewinn“, sagen laut Handels- hen nach Informationen des Handelsblatts an drei Konzerne: blatt mehrere mit den Vorgängen vertraute Personen. Bestätigt Uniper, Sefe (ehemals Gazprom Germania) und die EnBW- wird das durch eine auf Energierecht spezialisierte Anwältin, Tochter VNG. Allein Uniper könnte über die Umlage rund die erklärte, an dieser Stelle sei die Verordnung tatsächlich 23 Milliarden Euro von den Verbraucher/innen extra beziehen. nicht klar formuliert. Ein so wichtiger Aspekt müsste es aber sein, schließlich gehe es um Milliarden von Euro der Verbrau- Druck von Ratingagenturen cher/innen. Wie die Idee für die Gasumlage aufgekommen ist, hat das Online-Magazin Business Insider kürzlich berichtet: Nicht die Mehrkosten durch steigende Gaspreise Beamt/innen im Bundeswirtschaftsministerium hatten sie, son- Die Mehrkosten für die Haushalte beschränken sich aber nicht dern Ratingagenturen. Hinter den Kulissen hätten sie im Juli auf die Gasumlage. Je nachdem zu welchen Preisen die Stadt- gedroht, die Kreditwürdigkeit des Energiekonzerns Uniper he- werke Erdgas einkaufen können, ergeben sich mitunter deut- rabzustufen. Das hätte wohl nicht nur das Aus für den Konzern lich höhere Kostensteigerungen. bedeutet, sondern auch zahlreiche Stadtwerke in die Insolvenz Ein Beispiel aus Cottbus, hier bereiten die Stadtwerke ihre getrieben, die von Uniper beliefert werden. Kund/innen auf Mehrkosten von über 4.000 Euro im kom- „Die Agenturen hatten damals gefordert, dass wir an die Ei- menden Jahr vor. Auf Anfrage erklärte eine Sprecherin, die gentümerstruktur und an die Verbraucher ran gehen“, sagte laut Einkaufspreise hätten bis Mitte 2021 bei rund 2,1 Cent je Bericht eine namentlich nicht genannte Person, die die Verord- Kilowattstunde gelegen. Für das Jahr 2023 gingen sie dage- nung mit ausgearbeitet haben soll. gen in Richtung 20 Cent je kWh. Bei einem angenommenen Im Ministerium hatte man zuvor andere Pläne: Man wollte die Verbrauch von 15.000 kWh ergäben sich damit Mehrkosten Mehrkosten der Ersatzbeschaffung direkt an die Kund/innen – inklusive aller Steuern und Abgaben – von 4.100 Euro. Bei weitergeben, wie es im Paragrafen 24 des Energiesicherungs- einem Jahresverbrauch von 10.000 kWh seien es 2.737 Euro. gesetzes vorgesehen ist. Gegenüber diesem Ansinnen hatten al- Die Kosten für die Haushalte werden maßgeblich davon be- lerdings Konkurrenten von Uniper schon Ende Juni Bedenken einflusst, in welchem energetischen Zustand sich ihre Häuser geäußert. Deren Chefs sollen darauf verwiesen haben, dass sie befinden. Das Forschungsinstitut für Wärmeforschung (FIW) dann – anders als Uniper – bei vielen Millionen Kund/innen München hat das in einer aktuellen Studie verdeutlicht, je nach individuelle Preisanpassungen vornehmen müssen. Das Ergeb- Preisniveau für Raumwärme und Modernisierungszustand. nis davon wären Milliardenkosten, so die Argumentation. Bei Energiekosten von 20 Cent je Kilowattstunde belaufen Die Idee zur Gasumlage sei dann von den Ratingagenturen und sich die jährlichen Heizkosten in einem sehr gut gedämmten aus dem Umfeld von Uniper gekommen. Dann setzten sich Haus (KFW 55) bei einer Wohnfläche von 160 Quadratme- Beamte aus dem Bundeswirtschafts- und des Bundesfinanzmi- tern auf 1.120 Euro. Ist das Haus dagegen nicht gedämmt, nisterium an einen Tisch mit Vertreter/innen von Uniper und müssten die Bewohner/innen 9.600 Euro für die Heizkos- arbeiteten die rechtlichen Details aus. Sogar zwei Chefs von ten aufbringen. Steigen die Energiepreise auf 25 Cent je anderen Energiekonzernen sollen persönlich mitgewirkt ha- kWh, wird die Differenz noch größer: In dem KFW55- ben. Am Ende waren dann die Ratingagenturen zufrieden. Nur Haus müsste man dann 1.400 Euro pro Jahr berappen; in einige Fehler hatte man in der Hektik übersehen. einem ungedämmten Haus wären es schon 12.000 Euro. Dass auch profitable Unternehmen die Verbraucher/innen über Ähnlich verhält es sich mit Mietwohnungen. In den Effizi- die Umlage schröpfen können, ist einer davon. Ihn will der enzklassen F, G oder H steigen die Heizkosten in diesem Bundeswirtschaftsminister nun beheben lassen. Doch das ist Jahr um bis zu 3.375 Euro bei einer Wohnfläche von 90 Qua- nicht das einzige Schlupfloch, über das es Konzernen möglich dratmetern. In einer ungedämmten Wohnung könnten die wäre, Extraprofite zu machen. Das Handelsblatt wies in einem Heizkosten damit auf über 5.600 Euro steigen. h aktuellen Bericht auf einen weiteren Konstruktionsfehler hin, über den Trickserei möglich wäre. Firmen könnten demnach höhere Kosten in Rechnung stellen, als sie tatsächlich haben. Denn es sei nicht klar geregelt, ob die Konzerne einen Nachweis darüber erbringen müssen, wann sie das Gas eingekauft haben. Das spielt insofern eine wichtige Rolle, da die Entschädigung, die sie aus der Gasumlage beziehen, anhand tagesaktueller Preise des jeweiligen Monats errechnet wird. Für Oktober geht man von einem Preisniveau von 300 Euro pro Megawattstunde (MWh) aus – doch das ist nicht unbedingt der Preis, den die Importeure bezahlt hätten. Als klar gewesen sei, dass sie aus Russland kein Erdgas mehr Foto: Privat bekämen, hätten sich einige Importeure Ersatz beschafft – zu deutlich niedrigeren Preisen. Bei einigen soll die Preisspanne zwischen 130 und 180 Euro pro MWh gelegen haben; andere Bernd Müller ist Umweltingenieur und arbeitet seit zehn Jahren als freier hätten sogar noch günstiger eingekauft. Wenn sie im Oktober Journalist. Er schreibt für junge Welt, Telepolis und andere Zeitungen über nicht nachweisen müssen, dass sie das Erdgas tatsächlich erst wirtschaftliche und soziale Themen sowie zu Umwelt- und Klimaschutz. im Oktober gekauft haben, dann wäre es ihnen möglich, auch MieterEcho 427 Oktober 2022 11
TITEL „Freiheitsgas“ aus den Vereinigten Staaten Grüne Außen- und Wirtschaftspolitik folgt geopolitischen Interessen Von Hermann Werle fühlten sich an den US-NATO-Beschluss gebunden. Das Pipe- line-Netz für sowjetisches Öl erweiterte sich stetig und damit Deutsch-sowjetische und deutsch-russische Kooperatio- auch die Ölexporte in die westliche Welt. Den US-Ölmultis, nen im Bereich der Energiepolitik haben eine lange Ge- deren Absatzmärkte Präsident Kennedy hatte sichern wollen, schichte. Verwunderlich ist das nicht, die eine Seite hat half das von der CDU-Regierung gegen die deutschen Kon- Kapital sowie technisch-industrielles Know-how, die an- zerne durchgesetzte Röhrenembargo wenig und der deutschen dere den Energiereichtum. Hinzu kommt die geografische Wirtschaft noch viel weniger. Nähe, die ein für beide Seiten vorteilhaftes Geschäft er- Foto: Peter Homann möglicht. Was so einfach erscheint, erregte seit jeher die Abhängigkeit verringern und diversifizieren Aufmerksamkeit der US-Politik, die keine Gelegenheit ver- Ein Blick nach Berlin: Von den rund 1,9 Millionen Wohnun- streichen ließ, ihren globalen Hegemonialanspruch auch gen in Berlin werden heute gut 700.000 mit Gas beheizt, ent- gegenüber Bündnispartnern durchzusetzen. weder mit Zentral- oder Gasetagenheizungen. Hinzu kommen die Haushalte, die mit Fernwärme versorgt werden, da diese zu Es waren gewinnträchtige Aufträge für die deutsche Stahlin- rund 70% mit Gas erzeugt wird. Die Abhängigkeit von Gaslie- dustrie, die seit 1959 Pipelinerohre in die Sowjetunion gelie- ferungen ist entsprechend hoch und die Umstellung auf erneu- fert hatte. Durch diese sollte sowjetisches Erdöl unter anderem erbare Energieträger ein zäher Prozess. Das über Jahre viel zu durch die Druschba-(Freundschaft-)Pipeline bis nach Schwedt zögerliche Agieren der politisch Verantwortlichen in der Kli- gelangen, um der Energiearmut der DDR entgegenzuwirken. mapolitik forciert die nun verordnete Schocktherapie, die den 1963 dann der abrupte Stopp, nachdem der von den USA Haushalten jetzt verabreicht und teuer zu stehen kommen wird. beherrschte NATO-Rat entschieden hatte, den Export von Doch warum sind Berlin und die Bundesrepublik so hungrig Röhren in die UdSSR zu unterbinden. Um das Verhältnis zur nach Gasimporten? In Westeuropa bekam Erdgas erst mit der „Schutzmacht“ USA nicht zu beeinträchtigen, fügte sich die Entdeckung der niederländischen Erdgasfelder in Groningen Adenauer-Regierung gegen den Widerstand von FDP, SPD, Ende der 50er Jahre eine größere Bedeutung. Es verdrängte Gewerkschaften und der deutschen Wirtschaft. Letztere pro- seither das Stadt- oder Kokereigas, welches in Deutschland testierte sehr deutlich unter dem Verweis, dass nun die auslän- schon im 19. Jahrhundert Verwendung fand und auf das die dische Konkurrenz die Aufträge übernehmen würde, was dann Gründung der Aktiengesellschaft für Kohleverwertung 1926 – auch geschah. Weder Großbritannien noch Italien oder Japan der späteren Ruhrgas AG – zurückgeht. 1974 deckte Erdgas 5,4% des Primärenergieverbrauchs in Westdeutschland, wobei ein Teil davon bereits damals aus der Sowjetunion kam und von der Ruhrgas AG importiert wurde. Am 1. Februar 1970 hatte diese mit der Außenhandelsgesell- schaft Sojuznefteexport einen Vertrag geschlossen, der die Lieferung von jährlich 3 Mrd. m³ Gas für den Zeitraum von 1973 bis 1993 vorsah. Im Gegenzug orderte die Sowjetunion 1,2 Millionen Tonnen Mannesmann-Erdgasröhren. Das soge- nannte Erdgasröhrengeschäft sorgte 1979 abermals für eine transatlantische Verstimmung vor dem Hintergrund des Ein- marschs sowjetischer Truppen in Afghanistan und den folgen- den – und schließlich erfolgreichen – Bemühungen der USA, die Sowjetunion in einem verlustreichen Abnutzungskrieg mi- ´ litärisch und politisch zu verschleißen. Zbigniew Brzezinski, der damalige Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter machte später keinen Hehl daraus, dass es darum ging, „der UdSSR ihren Vietnamkrieg zu schenken“, wie er in einem Westdeutsche Röhren sorgten für den Transport sowjetischen Erdöls bis nach Interview 1998 offenherzig erklärte. Um die sowjetische Öko- Schwedt. Unter dem Druck der USA wurde die gedeihliche Zusammenarbeit nomie möglichst hart zu treffen, forderte Präsident Carter von 1963 von der Adenauer-Regierung beendet. den westeuropäischen Staaten, sich einem Getreideembargo Foto: Bundesarchiv, Bild 183-U0705-0309 / Zimmermann, Peter / CC-BY-SA 3.0 gegen die UdSSR anzuschließen und außerdem Geschäfte mit 12 MieterEcho 427 Oktober 2022
TITEL Schon 2016 wurde in den USA in Philadelphia beim „Clean Energy March“ gegen Fracking demonstriert. Foto: flickr / www.lens.blue / CC BY 2.0 einem Wert von über 100 Millionen Dollar zu stornieren. Die Bezugsländer von Energierohstoffen seit jeher überwiegend westdeutsche Seite unter der SPD geführten Regierung Helmut postkoloniale, vom Westen gehegte Diktaturen darstellen. Schmidts lehnte dies ab, wäre damit doch die Entspannungs- politik komplett in Frage gestellt worden. Auch dem Druck der US-Geopolitik bietet „Freiheitsgas“ auf Carter folgenden Reagan-Regierung wurde nicht nachge- Auch bei dieser Fragestellung stehen die wirtschaftlichen und geben und im November 1982 wurden die Sanktionen gegen geopolitischen Interessen der USA im Fokus. Schon 2019 hatte die UdSSR aufgehoben. die US-Regierung unter Donald Trump Gesetze auf den Weg gebracht, die den Bau der zweiten Ostseepipeline, Nord Stream Realistisch denkende Kapitalisten II, verhindern sollten. Sanktionen wurden allen Unternehmen In dem Buch „Erdgastrasse – Freundschaft in Aktion“ der Ge- angedroht, die sich am Weiterbau beteiligten. „Erstmals neh- sellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft liest sich die- men die USA mittels der entsprechenden Gesetzgebung nicht ses Kapitel der Ost-West-Gaskooperation wie folgt: „Den ge- mehr allein ‚Schurkenstaaten‘ ins Visier, nunmehr richten sich meinsamen außerordentlichen Anstrengungen der UdSSR und ihre Sanktionen ausdrücklich gegen Verbündete und angeblich ihrer Verbündeten sowie realistisch denkender kapitalistischer befreundete Regierungen“, so Michael Lüders in seinem 2019 Wirtschafts- und Geschäftskreise waren die Störmanöver der veröffentlichten Buch: „Die scheinheilige Weltmacht“. Mit ei- USA nicht gewachsen.“ Und diese realistisch denkenden Ka- nem Zitat des Publizisten Theo Sommer führt Lüders weiter pitalisten aus der BRD waren nicht untätig geblieben. Schon aus, dass man kein Putin-Versteher sein müsse, „um auf die 1981 hatten sie einen weiteren Vertrag mit der UdSSR unter Idee zu kommen, dass es Trump in erster Linie darum geht, Dach und Fach gebracht, der jährliche Liefermengen von 10,5 Russland als Energielieferanten vom Markt zu drängen und Milliarden m³ westsibirischen Erdgases ab 1984 vorsah. Man- den Deutschen dafür das teurere amerikanische Flüssiggas nesmann lieferte jetzt nicht nur die Rohre, sondern übernahm anzudrehen.“ Folgt man der Einschätzung, scheinen in die- auch die Planung und Montage der 5.000 km langen Leitung, ser Hinsicht die Würfel gefallen zu sein, denn auch unter Joe das Gesamtvolumen des Auftrags betrug 15 Milliarden DM. Biden haben die Falken der US-Außenpolitik das Sagen. Die Mit der Erhöhung der Gaslieferungen sollten unter anderem deutsche wie auch die EU-Politik fügen sich plan- und stra- die in Folge der islamischen Revolution 1979 aufgekündigten tegielos den Interessen der USA. Von einer eigenständigen, Gaslieferverträge aus Iran kompensiert werden. Im Ergebnis langfristig angelegten Energiepolitik, die zugleich eine wirk- bedeuteten die Erdgas-Röhrengeschäfte mehr Unabhängigkeit same Klimapolitik sein müsste, keine Spur. Dass es der Welt- von Energielieferungen aus dem Nahen Osten und damit auch macht USA um die Verteidigung von „westlichen Werten“ und eine Diversifizierung der Risiken. Zudem gilt Erdgas als der „Freiheit“ geht, kann durchaus geglaubt werden, sind diese sauberere fossile Brennstoff im Vergleich zu Kohle und Erd- Begrifflichkeiten doch nicht mehr als Signifikanten. Sie stehen öl, was zu dieser Zeit also auch ein Schritt zu einer nachhal- für die Werte der Dollardominanz in der globalen Wirtschaft tigeren Energiewirtschaft bedeutete. Dass eine nachhaltige und die Freiheit, die Welt nach den eigenen Vorstellungen zu Energiepolitik heute nach anderen Maßstäben als noch vor 30 gestalten und uns nebenbei schmutziges Frackinggas, propa- Jahren beurteilt werden muss, braucht nicht erklärt zu werden. gandistisch aufgeblasen als „Freiheitsgas“, zu verkaufen. Der Erklärt aber werden müsste, warum in der aktuellen Situation nächste Gegenspieler der USA und seiner Vasallen ist mit der Unabhängigkeit von Russland und Diversifizierung der Be- Volksrepublik China längst ausgemacht und vielleicht träumt zugsquellen zur Diskussion stehen, die als Alternative nichts die olivgrüne Außenministerin Annalena Baerbock davon, anderes als teures und noch weniger nachhaltiges Flüssig- und nach der russischen dann auch noch die chinesische Wirtschaft Frackinggas zu bieten haben, ganz abgesehen davon, dass die zu ruinieren. h MieterEcho 427 Oktober 2022 13
Sie können auch lesen