MIETER ECHO - und soziale Folgen - Zeitung der Berliner MieterGemeinschaft e.V. www.bmgev.de Nr. 427 Oktober 2022

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MIETER ECHO - und soziale Folgen - Zeitung der Berliner MieterGemeinschaft e.V. www.bmgev.de Nr. 427 Oktober 2022
MIETERECHO
  Zeitung der Berliner MieterGemeinschaft e.V.   www.bmgev.de Nr. 427 Oktober 2022

     u t s f a l l e
Arm krise
Ene rg i e
                       n t e r e s s e n ,
         i s ch  e   I
Geopolit zerngewinne
    Kon          a l e  F o  l g e n
   u n d s o z i
MIETER ECHO - und soziale Folgen - Zeitung der Berliner MieterGemeinschaft e.V. www.bmgev.de Nr. 427 Oktober 2022
IMPRESSUM                                                                              GESCHÄFTSSTELLE
 Herausgeberin: Berliner MieterGemeinschaft e.V.		                                      Berliner MieterGemeinschaft e.V.
                                                                                        Möckernstraße 92 (Ecke Yorckstraße), 10963 Berlin
 Redaktion MieterEcho: Joachim Oellerich (V.i.S.d.P./ Chefredaktion),                   Telefon: 030 - 2168001, Telefax: 030 - 2168515
 Jutta Blume (Schlussredaktion/ CvD), Andreas Hüttner, Rainer Balcerowiak,              www.bmgev.de
 Hermann Werle, Philipp Möller, Matthias Coers (Bildredaktion),
 G. Jahn (Mietrecht)                                                                    ÖFFNUNGSZEITEN
 			                                                                                    Montag, Dienstag, Donnerstag 10 bis 13 Uhr und 14 bis 17 Uhr
 Kontakt: Telefon: 030 - 21002584, E-Mail: me@bmgev.de                                  Mittwoch 10 bis 13 Uhr
 Grafik: nmp (Gestaltung/ Satz/ Bildredaktion)                                          Freitag 10 bis 13 Uhr und 14 bis 16 Uhr

 Titelbild: Einzelbilder: Die Linke. Fraktion im Bundestag/flickr, Matthias Coers,
                                                                                        Fahrverbindung:
 Andreas Hüttner; Titelbild: nmp
                                                                                        u Möckernbrücke, Mehring­damm, Yorckstraße, i Yorckstraße, ; M19
 Belichtung und Druck: Königsdruck Berlin
                                                                                        Bankverbindung:
 Redaktionsschluss: 23.9.2022
                                                                                        Postbank Berlin, IBAN: DE62 1001 0010 0083 0711 09, BIC: PBNKDEFF

 © Berliner MieterGemeinschaft e.V.
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 Nachdruck nur nach vorheriger Rücksprache. Der Bezugspreis ist durch den
                                                                                        Mietrechts­beratung an (siehe Seite 31 und hintere Umschlag­seite).
 Mitgliedsbeitrag abgegolten. Namentlich gekennzeichnete Beiträge stimmen
                                                                                        Die rollstuhl­­­gerechten Beratungsstellen sind durch - gekennzeichnet.
 nicht notwendigerweise mit der Meinung der Redaktion überein. Für unverlangt
                                                                                        Achtung! In unserer Geschäftsstelle und in den ­Vor-Ort-Büros findet
 eingesandte Manuskripte oder Fotos wird keine Haftung übernommen.
                                                                                        während der Ö     ­ ffnungszeiten keine Rechtsberatung statt.

 PROBLEME MIT DEM VERMIETER?
 Bei der Berliner Mieter­Ge­mein­schaft können Ratsuchende kostenlos                 Bitte ankreuzen und mit Briefmarken im Wert von 1,00 € einfach an
 folgende Informationsblätter bestellen:                                             folgende Adresse schicken:

                                                                                                                                                              B ERLINER M IETERG EMEINSCHAFT E. V.
                                                                                                                                                                                              Möckernstraße 92 · 10963 Berlin · Telefon 216 80 01
                                                                                     Berliner MieterGemeinschaft e.V.
j Betriebskostenabrechnung                 j Mietvertrag
                                                                                     Möckernstraße 92
j Eigentümerwechsel                  j Modernisierung                      10963 Berlin

j Heizkosten­abrechnung                    j Schönheitsreparaturen
                                                                                     NAME

j Kündigung durch den                   j Umwandlung und
  Vermieter                                      Wohnungsverkauf                     VORNAME

j Mängelbeseitigung                      j Untermiete                        STRASSE

j Mieterhöhung                             j Wohnfläche
                                                                                     PLZ                            ORT

j Mietpreisbremse                       j Wohnungsbewerbung

j Mietsicherheit/Kaution		               j Zutritt und Besichtigung

 BEZIRKSGRUPPENTREFFEN
                                                                                      Marzahn Jeden letzten Montag im Monat, 19 Uhr
 Bei den Bezirksgruppentreffen findet keine Rechtsberatung statt.                     Lebensnähe e.V. Begegnungsstätte, Alt-Marzahn 30
 Rechtsberatung erfolgt ausschließlich durch Rechtsberater/innen in den               i Marzahn Ee M6, M8, 18 ; X54, 154, 192, 195
 dafür ausgewiesenen Beratungsstellen (siehe 3. und 4. Umschlagseite).
                                                                                      Neukölln Jeden letzten Montag im Monat, 19 Uhr
 Friedrichshain Jeden 3. Donnerstag im Monat, 20 Uhr                                  Beratungsstelle, Sonnenallee 101
 Stadtteilbüro, Warschauer Straße 23, -                                               u Rathaus Neukölln ; M41, 104, 167
 u Frankfurter Tor Ee M10                                                             E-Mail: neukoelln@bmgev.de
 E-Mail: friedrichshain@bmgev.de
                                                                                      Prenzlauer Berg Jeden 2. Mittwoch im Monat, 20 Uhr, in virtueller Form als
 Kreuzberg Jeden 1. Donnerstag im Monat, 19 Uhr                                       Video- und Telefonkonferenz; Zugangsdaten bitte erfragen via E-Mail an
 Geschäftsstelle der Berliner MieterGemeinschaft, Möckernstraße 92                    prenzlauerberg@bmgev.de
 u Möckernbrücke, Mehringdamm, Yorckstraße i Yorckstraße ; M19
 E-Mail: kreuzberg@bmgev.de                                                           Wedding Jeden 2. Donnerstag im Monat, 19 Uhr
                                                                                      Tageszentrum Wiese 30, Wiesenstraße 30
 Lichtenberg Jeden 1. Montag im Monat, 18 Uhr                                         u und i Wedding u Nauener Platz i Humboldthain
 Café Wostok, Weitlingstraße 97                                                       E-Mail: wedding@bmgev.de
 i Nöldnerplatz ; 240, 194
 E-Mail: lichtenberg@bmgev.de                                                         Folgende Bezirksgruppen treffen sich unregelmäßig:
                                                                                      Schöneberg, Spandau, Tempelhof
                                                                                      Ort und Termin der Treffen bitte erfragen unter 030 - 21002584.
                                                                                      Aktuelle Termine unter: www.bmgev.de/verein/bezirksgruppen.html
MIETER ECHO - und soziale Folgen - Zeitung der Berliner MieterGemeinschaft e.V. www.bmgev.de Nr. 427 Oktober 2022
INHALT                                                                      Liebe Leserinnen und Leser,
TITEL                                                                       die Ernennung von Petra Kahlfeldt im Dezember letzten Jah-
                                                                            res zur Nachfolgerin von Regula Lüscher als Senatsbaudirek-
4        Heißer Herbst und kalter Winter                                    torin löste in der Berliner Fachwelt empörte Überraschung
         Deutschland steht vor der größten Krise der letzten Jahrzehnte     aus. Die Zeitschrift ARCH+ bezeichnete sie als eine Kampf-
         Rainer Balcerowiak                                                 ansage an eine soziale und ökologische Stadtpolitik. Von der
                                                                            Architektenkammer Berlin und dem Bund Deutscher Archi-
6        „Dann ist eine Schuldenbremse einfach unverantwortlich“            tektinnen und Architekten (BDA) Berlin wurde zuvor eine
         Interview mit dem Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck      Findungs- und Auswahlkommission vorgeschlagen, ohne Er-
         Rainer Balcerowiak                                                 folg. Frau Kahlfeldt hatte als Architektin Villen für eine zah-
                                                                            lungskräftige Bauherrenschaft mit mäßigem Geschmack er-
9        Konzerngewinne first, Mieter/innen second!		                       richtet. Uwe Rada beschrieb in der taz die Ergebnisse ihres
         Das dritte Entlastungspaket verteilt Gewinne unzureichend um       Wirkens: „Ein Säulchen da, ein Ziergiebelchen dort, dazu
         Christoph Trautvetter                                              noch ein Simschen – und fertig ist die Kahlfeldt-Villa.“
                                                                            Von größerer Bedeutung für ihre Wahl war aber ihre Nähe zu
10       Hilfen auch für profitable Unternehmen?			                         dem privatisierungswütigen ehemaligen Senatsbaudirektor
         Gasumlage und -preise lassen Heizkosten extrem ansteigen           Hans Stimmann, zu deren Vertrauten sie seinerzeit gehört hat-
         Bernd Müller                                                       te, sowie ihr gutes Verhältnis zu den Kreisen um die Pla-
                                                                            nungsgruppe Stadtkern. Dort kämpft man seit Jahren für die
12       „Freiheitsgas“ aus den Vereinigten Staaten                         Wiedererrichtung des historischen Zentrums zum Zwecke der
         Grüne Politik folgt geopolitischen Interessen			                   Eigentumsübertragung kleinteiliger Parzellen mitten in Berlin
         Hermann Werle                                                      an ein betuchtes Bürgertum.
                                                                            Die ARCH+ war im Dezember der Meinung:
14       „Robert Habeck versteht wenig von wirtschaftlichen                 „Petra Kahlfeldt steht nicht für:
         Zusammenhängen“ 				                                               - eine am Gemeinwohl orientierte soziale Stadt
         Interview mit Oskar Lafontaine				                                 - nachhaltige, klimagerechte Stadtentwicklung
         Rainer Balcerowiak                                                 - die Gestaltung der Mobilitätswende
                                                                            - ökologisches Bauen
16       Westliche Werte wertlos
                                                                            - bezahlbaren und gemeinwohlorientierten Wohnungsbau
         Wenig Unterstützung für Sanktionen
                                                                            - partizipative Planungsprozesse
         Andreas Hüttner                                                    - eine Offenheit für die Diversität einer Metropole
                                                                            - internationale Vernetzung.“
                                                                            Wie sehr Frau Kahlfeldt dieser Einschätzung gerecht wird,
17       Die Preise steigen – die Wut nimmt zu
                                                                            zeigen schmerzhaft die aktuellen Vorgänge um die Neugestal-
         Mehr Unterstützung bei Energie- und Lebensmittelkosten gefordert
                                                                            tung des Molkenmarkts. Von der Jury wurden zwei Pla-
         Anne Seeck
                                                                            nungsentwürfe ausgewählt. Die Entscheidung sollte im Sep-
BERLIN
                                                                            tember fallen. Beide Entwürfe entsprachen weitgehend den
                                                                            sozialen und ökologischen Vorgaben, doch offenbar nicht den
                                                                            Wünschen von Frau Kahlfeldt.
18       Hartz IV heißt bald Bürgergeld                                     Kurzerhand verwandelte sie die Entscheidung der Jury in eine
         Die Vergötzung der Arbeit wird fortgesetzt			                      unverbindliche Empfehlung und behält sich offenbar vor, die
         Basta! Erwerbsloseninitiative                                      Gestaltung in Eigenregie durchzuführen.

20       Eskalation am Molkenmarkt                                          IHR MIETERECHO
         Senatsbaudirektorin setzt sich über Wettbewerbsverfahren hinweg
         Matthias Grünzig                                                             EINE VERANSTALTUNG DES MIETERECHOS
                                                                                     ARMUTSFALLE ENERGIEKRISE – URSACHEN,
                                                                                          GEGENMASSNAHMEN, PROTESTE
21       Die zweite Miete
         Von Bruttomieten zu Nettokaltmieten und sonstigen Betriebskosten
                                                                             Die aktuelle Ausgabe des MieterEchos behandelt die explodierenden Preise
         Rechtsberaterin Maja Lachmund                                       und die sozialen Folgen als Schwerpunktthema. Auf unserer Veranstaltung
                                                                             wollen wir über die geopolitischen Ursachen, mögliche Gegenmaßnahmen
MIETRECHT
		AKTUELL                                                                    und die hoffentlich anstehenden Proteste diskutieren.

                                                                                                                           ğ
                                                                             Hierzu hat die MieterEcho-Redaktion Sevim Dagdelen   (Mitglied des Bundes-
24       Mieter/innen fragen – wir antworten			                              tages und Obfrau im Auswärtigen Ausschuss) und Michael Prütz (Protest-
         Inhalt und Prüfung einer Betriebskostenabrechnung		                 bündnis „Heizung, Brot und Frieden“) eingeladen. Im Anschluss an die
         Sachverständiger Götz Autenrieth                                    Podiumsdiskussion soll das Thema mit allen Anwesenden erörtert werden.
                                                                             Donnerstag, 20.10.2022, 19 Uhr
                                                                             Beratungsstelle der Berliner MieterGemeinschaft
27       RECHT UND RECHTSPRECHUNG			                                         Sonnenallee 101, 12045 Berlin-Neukölln
31       SERVICE						                                                       Für Getränke und einen kleinen Imbiss wird gesorgt.
32       RECHTSBERATUNG

MieterEcho 427 Oktober 2022                                                                                                                               3
MIETER ECHO - und soziale Folgen - Zeitung der Berliner MieterGemeinschaft e.V. www.bmgev.de Nr. 427 Oktober 2022
TITEL

        Eine Möglichkeit wäre, die
        Sanktionen gegen Russland zu
        beenden. Diese Forderung wird
        aber fast durchgehend gleich-
        gesetzt mit einer Unterstützung
        von Putins Angriffskrieg.

                     Heißer Herbst und kalter Winter
                               Deutschland steht vor der größten sozialen Krise der letzten Jahrzehnte

         Von Rainer Balcerowiak					                                       13,8 Millionen Menschen müssen derzeit zu den Armen ge-
         		                                                                rechnet werden, 600.000 mehr als vor der Pandemie. Sie ver-
         Mit Superlativen sollte man recht sparsam umgehen. Aber           fügen über weniger als 60% des Medianeinkommens, das die
         alles spricht dafür, dass sich Deutschland auf dem schier         Grenze zwischen den oberen und den unteren 50% der Ein-
         unaufhaltsamen Weg in eine soziale Krise ungeheuren               künfte markiert. Demnach gilt ein Ein-Personen-Haushalt mit
         Ausmaßes befindet. Schon jetzt bringen die Inflation bei          Nettoeinkünften unter 1.148 Euro als arm, für größere Haus-
         Lebensmitteln und die Preisexplosion auf dem Energiesek-          halte gibt es gewichtete Äquivalenzwerte.
         tor viele Haushalte an den Rand der Existenz und auch der         Schon zwei Monate zuvor hatte das „Monitoring Soziale Stadt-
         viel beschworene „Mittelstand“ sieht sich zunehmend von           entwicklung“ der Berliner Senatsverwaltung für Bauen und
         dieser Entwicklung bedroht. Doch all das ist möglicherwei-        Wohnen dramatische Armutsentwicklungen in Berlin doku-
         se nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was uns noch             mentiert, vor allem die wachsende soziale Spaltung in der Stadt
         bevorsteht. 						                                                betreffend (vgl. MieterEcho 424/Mai 2022). Und das alles vor
                                                                           dem Inflationsschub und vor dem eskalierenden Wirtschafts-
         Das gesamte ökonomische und soziale Gefüge des vormaligen         krieg gegen Russland, der sowohl seitens der Bundes- als auch
         „Exportweltmeisters“ könnte sich alsbald als Kartenhaus er-       der Berliner Landesregierung zum quasi unhinterfragbaren
         weisen. Rohstoffknappheit, gestörte Lieferketten, exorbitant      Dogma erhoben worden ist.
         gestiegene Energiekosten und eine in einigen Segmenten be-
         reits deutlich einbrechende Binnenkonjunktur bilden gepaart       Glasperlen als Entlastung
         mit verfestigten Armuts- und Niedriglohnsektoren ein extrem       Anders als während der Corona-Krise wird diesmal aber nicht
         explosives Gemisch, es droht eine kräftige Rezession. Dazu        „die Bazooka ausgepackt“, um die Krisenfolgen zu bewältigen,
         kommen in Großstädten und Ballungsräumen wie Berlin sys-          wie der damalige Finanzminister und heutige Bundeskanzler
         temische Verwerfungen auf dem Wohnungsmarkt, geprägt von          Olaf Scholz (SPD) seinerzeit martialisch verkündete. Jetzt ist
         Immobilienspekulation, stetig steigenden Mieten und unzurei-      dagegen von „wir alle müssen Opfer bringen“ die Rede, da es
         chendem Neubau im bezahlbaren Segment.                            um „die Verteidigung der westlichen Werte“ gehe. Zu diesen
         Bereits der im Juni veröffentlichte Armutsbericht des Paritäti-   „Werten“ gehört bald auch wieder die während der Corona-
         schen Gesamtverbandes, in den die aktuellen Entwicklungen         Pandemie ausgesetzte „schwarze Null“, also die strikte Be-
         noch gar nicht eingeflossen sind, zeichnet ein düsteres Bild.     grenzung der Nettokreditaufnahme des Bundes. Zwar gab und

         4                                                                                                        MieterEcho 427 Oktober 2022
MIETER ECHO - und soziale Folgen - Zeitung der Berliner MieterGemeinschaft e.V. www.bmgev.de Nr. 427 Oktober 2022
TITEL

gibt es auch in dieser Krise „Entlastungspakete“, zumeist in                    lichem Besitz müssten die Primärenergie – Öl, Gas und auch
Form von mit der Gießkanne ausgeschütteten Glasperlen. Alles                    Steinkohle – schlicht auf dem Weltmarkt einkaufen und dort
dominiert von parteipolitischen Spielchen à la: „Du bekommst                    sind die Preise nicht nur, aber vor allem wegen des Wirtschafts-
deinen Tankrabatt und ich bekomme mein Neun-Euro-Ticket“.                       krieges gegen Russland explodiert. Erneuerbare Energien tra-
Fast alles auch nur befristet, also keine nachhaltige Entlastung.               gen mit einem Anteil von 16,6% am Gesamtenergieverbrauch
Das gilt auch für die bescheidenen Einmalzahlungen für Er-                      zu wenig bei, um für Entlastung zu sorgen.
werbstätige, Rentner/innen, Student/innen und Beziehende                        Die gerade von Deutschland forcierte Sanktions- und Embar-
von Transferleistungen. Und dies vor dem Hintergrund, dass                      gopolitik gegen Russland hat sich längst als veritabler Rohr-
der eigentliche „Energiepreis-Hammer“ bei den meisten Haus-                     krepierer erwiesen. Die bereits in den späten 1960er Jahren –
halten noch gar nicht unmittelbar in seinem ganzen Ausmaß                       also inmitten des Kalten Krieges – gegen den Widerstand der
zugeschlagen hat.                                                               USA und der NATO entwickelte und durch die Nord Stream
Natürlich gibt es viele Forderungen von Parteien und Verbänden,                 1-Pipeline weiter vorangetriebene strategische Energiepartner-
um die drohende verstärkte Armutswelle etwas einzudämmen.                       schaft mit der Sowjetunion und später mit Russland liegt in
Krisenbedingte Extra-Profite besonders der Energiekonzerne                      Trümmern. Das vermeintliche Ziel der aktuellen Politik, also
sollen durch eine „Übergewinnsteuer“ abgeschöpft werden.                        die „Ruinierung“ der russischen Wirtschaft, um den Krieg in
Damit könnte ein „Energiepreisdeckel“ finanziert werden, um                     der Ukraine zu beenden, hat sich längst als Fata Morgana er-
den Grundbedarf an Strom und Wärme für ärmere Haushalte                         wiesen. Zumal sich außerhalb der NATO nur wenige Staaten
zu subventionieren. Auch weitere gezielte Direktzahlungen an                    an diesem absurden Unterfangen beteiligen und auch in der
Betroffene sind regelmäßig im Gespräch. Das alles könnte –                      viel beschworenen „westlichen Wertegemeinschaft“ bröckelt
wenn es denn umfassend realisiert würde, wovon derzeit nicht                    es erheblich.
auszugehen ist – durchaus spürbare Entlastungen bringen,
allerdings ohne die Wurzeln der Krise auch nur zu berühren.                     Wofür demonstrieren?
International agierende Konzerne würden von der Steuer über-                    Die deutsche Energiepolitik ist längst ein Stück aus Absur-
haupt nicht erfasst werden, und der Preisdeckel würde im Kern                   distan. Man bettelt bei Autokraten aller Couleur um ein paar
bedeuten, dass die Differenz zwischen dem gedeckelten Preis                     Eimer Flüssiggas (die – wenn überhaupt – frühestens 2025 ge-
und dem „Marktpreis“ direkt aus dem Bundeshaushalt an die                       liefert werden könnten). Man kauft teuren Diesel aus Indien,
Konzerne und die Versorger überwiesen würde. Auch das ge-                       der dort aus billigem russischen Erdöl raffiniert wurde. Oder
forderte „Kündigungsmoratorium“ für Mieter/innen, die ihre                      teures Öl aus Saudi-Arabien, während dort die einheimische
Nebenkosten nicht mehr bezahlen können, würde bestenfalls                       Stromversorgung mit billigem russischen Öl betrieben wird.
kurzfristige Entlastung bringen. Denn die säumigen Beträge                      Bei der „Energiewende“ wurde der Rückwärtsgang eingelegt,
könnten sich für die betroffenen Haushalte schnell zu großen                    Kohlekraftwerke werden – mit ausdrücklicher Unterstützung
Schuldenbergen aufhäufen, die anschließend irgendwie abge-                      von Greenpeace – reaktiviert und es wird auf Fracking-Gas aus
stottert werden müssen, gerade von denen, die eh wenig haben.                   den USA gesetzt, während hierzulande etliche Terawattstun-
Selbst die – zweifellos wünschenswerte, aber leider wenig                       den Solarstrom (ungefähr dem Bedarf von rund 2,5 Millionen
realistische – Umsetzung der Forderung nach einer Verstaat-                     Haushalten pro Jahr entsprechend) ungenutzt abgeregelt wer-
lichung bzw. Rekommunalisierung der gesamten Energiever-                        den, weil es an Netz- und Speicherkapazitäten fehlt. Die Pro-
sorgung würde an der Misere kurz- und mittelfristig nur wenig                   duzent/innen erhalten den Strom dennoch vergütet, die Zeche
ändern. Denn auch Energieverarbeiter und -versorger in öffent-                  zahlen alle Stromkund/innen. Trotz Gasknappheit und unge-
                                                                                wissen Liefermengen in den kommenden Monaten wird Erdgas
                                                                                für den Export nach Frankreich verstromt, um den Nachbar/
                                                                                innen aus der Klemme mit ihren derzeit nicht betriebsfähigen
                                                                                AKW zu helfen. Die Liste ließe sich lange fortsetzen.
                                                                                Viel ist jetzt von einem „heißen Herbst“ die Rede, also von
                                                                                massiven Sozialprotesten gegen die drohende Verarmung vie-
                                                                                ler Menschen. Angestrebt werden „breite Bündnisse“ mit So-
                                                                                zialverbänden, Mieter- und Umweltorganisationen, Gewerk-
                                                                                schaften, Kirchen, linken Parteien und anderen. Und zumeist
                                                                                in strikter Abgrenzung gegen alles, was irgendwie „rechts“
                                                                                sein könnte. Was darunter zu verstehen ist, hat der herrschen-
                                                                                de „Block der Mitte“ bereits vorgegeben: Vor allem Kritik am
                                                                                Wirtschaftskrieg gegen Russland oder gar die Forderung nach
                                                                                Beendigung der Sanktionen wird gleichgesetzt mit einer Un-
                                                                                terstützung Putins für seinen Angriffskrieg und als „demokra-
                                                                                tiefeindlich“ eingestuft. Und dieses Framing bleibt bei vielen
                                                                                linken Akteur/innen leider nicht ohne Wirkung.
                                                                                Viele Millionen Menschen sind derzeit wütend bis hin zur Ver-
                                                                                zweiflung. Viele wollen auf die Straße gehen. Aber man sollte
                                                                                nicht versuchen, sie für dumm zu verkaufen. Wenn linke Pro-
                                                                                teste sich dadurch auszeichnen sollten, dass sie eine der zent-
Schlange stehen für genug zu essen. 13,8 Millionen Menschen leben in            ralen Fragen der jetzigen Krise einfach ausklammern, dann be-
Deutschland in Armut. Inflation und Preisexplosion bringen viele Haushalte an   kommen wir möglicherweise einen „heißen Herbst“, bei dem
den Rand der Existenz. Fotos: Matthias Coers                                    der Wind aus einer ganz anderen Richtung blasen könnte. h

MieterEcho 427 Oktober 2022                                                                                                                   5
MIETER ECHO - und soziale Folgen - Zeitung der Berliner MieterGemeinschaft e.V. www.bmgev.de Nr. 427 Oktober 2022
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                                                                   Protest vor der Zentrale der FDP gegen Finanzminister Christian Lindners Krisen-
                                                                   politik und für eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Foto: Andreas Hüttner

                „Dann ist eine Schuldenbremse
                  einfach unverantwortlich“

        Interview mit dem Wirtschaftswissenschaftler 		                  Auseinandersetzung verwickelt, bei der sich der deutsche
        Heiner Flassbeck					                                            Staat nun eindeutig positioniert hat und nicht bereit ist, sei-
                                                                         ne Position zu ändern. Und deshalb werden viele mit sehr
        Heiner Flassbeck fordert eine offensive staatliche Kredit-       viel weniger Einkommen auskommen müssen, weil Preise
        politik, um die sozialen Folgen der Energiekrise und der         massiv gestiegen sind. Der Staat kann versuchen, die Folgen
        Inflation abzumildern und hält es für eine gefährliche Illusi-   zu lindern, und das versucht er ja mit seinen Entlastungspa-
        on, dass man Russland mit Sanktionen in die Knie zwingen         keten. Aber das wird natürlich niemals richtig gelingen, weil
        könnte. Ferner befürchtet Flassbeck, dass die Zinspolitik        gleichzeitig eine Rezession sozusagen vor der Tür steht.
        der Europäischen Zentralbank zu einer kräftigen Rezessi-         Da ist es fast unmöglich, das alles abzufedern.
        on führen könne.
                                                                         Sehen Sie denn im jetzigen dritten Entlastungspa-
        MieterEcho: Herr Flassbeck, trotz unterschiedlicher Ein-         ket wenigstens Schritte in die richtige Richtung? Oder
        schätzung der Lage kann man wohl festhalten, dass sich           sind das eher Glasperlen oder Nebelkerzen?
        Deutschland am Vorabend einer großen wirtschaft-                 Das Ganze ist noch völlig offen, da völlig unklar ist, wie es
        lichen und sozialen Krise befindet. Vielen Menschen              finanziert wird. Die Koalitionsspitzen haben erklärt, das Paket
        droht angesichts der Explosion der Energie- und Le-              habe ein Volumen von 65 Milliarden Euro. Aber soweit ich ge-
        bensmittelpreise der Absturz in die Armut. Und für               sehen habe, wurde kein Wort dazu gesagt, wie das finanziert
        die bereits armen Haushalte verschärft sich die Lage.            werden soll. Und das ist entscheidend. Für die Gesamtwirkung
        Was sollte der Staat jetzt unternehmen, um dieser                eines Pakets ist immer entscheidend, wie viel man macht und
        Entwicklung strukturell entgegenzuwirken?                        wie es gegenfinanziert wird. Wenn man sagen würde, das Geld
        Heiner Flassbeck: Um dem wirklich entgegenzuwirken,              werde vollständig am Kapitalmarkt aufgenommen, dann hätte
        müsste man die Ursachen angehen. Das ist zum Teil mög-           das natürlich einen großen Effekt. Aber das hat Finanzminister
        lich, zum Teil aber auch nicht. Wir sind in eine kriegerische    Christian Lindner (FDP) ja praktisch ausgeschlossen, indem

        6                                                                                                                       MieterEcho 427 Oktober 2022
MIETER ECHO - und soziale Folgen - Zeitung der Berliner MieterGemeinschaft e.V. www.bmgev.de Nr. 427 Oktober 2022
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er versichert, dass die Schuldenbremse ab dem nächsten Jahr         Sie haben ja in den vergangenen Wochen und Mona-
wieder gelten soll. Und daher kann man das im Moment nicht          ten des Öfteren dargelegt, dass Sie die in den letzten
beurteilen, welche Steuern möglicherweise erhöht werden oder        Monaten stark gestiegene Inflation als ein vorüberge-
welche Ausgaben gekürzt werden sollen. Sicherlich gibt es in        hendes Phänomen ansehen und vor allen Dingen die Re-
dem Paket einige richtige kleine Schritte, etwa bei Hartz IV.       aktion der Europäischen Zentralbank (EZB) in Form
Wobei eine Erhöhung um 50 Euro sehr bescheiden ist. Aber            der Erhöhung der Leitzinsen für eher kontraproduktiv
für alle Maßnahmen gilt: Es ist völlig offen, woher das Geld        halten. Wie sollte denn die EZB in der aktuellen Lage
kommen soll und ob das am Ende ausreicht.			                        reagieren, zumal Deutschland bei der Zinspolitik ja
					                                                               kaum eigene staatliche Möglichkeiten hat?
Ich komme noch mal auf die „Schwarze Null” zurück,                  Nein, Deutschland kann da nichts machen. Aber Deutschland
die ja jetzt wieder Kernelement der Austeritätspolitik              könnte natürlich seinen Einfluss geltend machen und bei der
werden soll. Wie passt das denn überhaupt zusammen                  EZB darauf drängen, dass die EZB jetzt nicht auch noch die
mit den enormen Kriegskosten und den Kosten für die                 Rezession verschärft. Es gibt in der Geldpolitik eine lustige
soziale Abfederung? Was passiert dann mit dem riesi-                – oder besser befremdliche – vorherrschende Meinung. Man
gen Investitionsstau bei Bildung, Digitalisierung und öf-           macht einfach ein bisschen weniger Geld und dann gehen ein-
fentlicher Infrastruktur? Von den Herausforderungen                 fach die Preise wieder ein bisschen runter. Dazu gehört der
durch den Klimawandel ganz zu schweigen.                            Irrglaube, dass die Preise so stark gestiegen seien, weil man
Das ist das grundsätzliche Problem, um das es eigentlich geht       vorher zu viel Geld in die Märkte gepumpt hat. Das ist alles
und das hinter allem steht: Was passiert mit den staatlichen        Unsinn. Die Preise steigen, weil es Knappheiten gibt und weil
Schulden? Und das geht noch weiter als das, was Sie gesagt          es Spekulation auf steigende Preise gibt. Das sind die Gründe
haben. Es geht nicht nur um die unmittelbaren Bedarfe der           für die Inflation. Und die sind bislang alle temporär. Das heißt,
Gesellschaft für Infrastruktur und Daseinsvorsorge. Es gibt         wir werden im nächsten Jahr – wenn nicht neue Schocks pas-
auch das Problem – und das kann man nicht oft genug sagen –         sieren, die derzeit nicht vorhersehbar sind – weniger stark stei-
dass wir in unserer Gesellschaft zu viele Sparer und zu wenige      gende Preise erleben. Deswegen sind auch Einmalzahlungen
Schuldner haben. Es kann immer nur in dem Umfang gespart            vom Staat jetzt völlig angemessen, um die größten Härten bei
werden, in dem andere sich verschulden, sonst bricht die Wirt-      den ärmeren Haushalten abzufangen. Aber die Öffentlichkeit
schaft schlicht zusammen. Und das will man in Deutschland           hat sich ja nun auf die Inflation so eingeschossen, dass die EZB
nicht begreifen, und das will vor allem Herr Lindner nicht be-      umgefallen ist und nun auch auf Restriktionen setzt, was die
greifen. Und solange er das nicht begreift, kann er keine richti-   Lage nur verschärft, ohne die Preisentwicklung zu bremsen.
ge Finanzpolitik machen.                                            Stattdessen droht jetzt eine Rezession, die auch mehr Arbeits-
In Deutschland sparen die privaten Unternehmen und die pri-         losigkeit bringt. Das ist alles völlig kontraproduktiv. Und im
vaten Haushalte. Und deswegen gibt es nur einen, der sich           nächsten Jahr wird die EZB das dann wieder zurücknehmen
verschulden kann, und das muss der Staat sein. Bisher haben         müssen.
wir das Problem dadurch „elegant gelöst”, dass wir die deut-
sche Leistung auf Leistungsbilanzüberschüssen aufbauen, was         Also Sie sehen die derzeitige Inflation nicht als gefährlich
heißt, dass wir erwarten, dass sich das Ausland verschuldet.        für das wirtschaftliche und soziale Gefüge an?
Aber darauf können wir ja nicht immer weiter bauen, dass die        Gefährlich werden die Preissteigerungen erst dann, wenn es
anderen Länder sich noch mehr bei Deutschland verschulden,          wirklich eine Preisspirale gibt. Wenn die Löhne stark steigen
als sie es ohnehin jedes Jahr tun. Und deswegen muss man            würden und die Preise treiben und die Preise treiben dann wei-
dieses Problem endlich in Brüssel, Paris und Rom deutlich           ter die Löhne, wie wir das jetzt in der Türkei zum Beispiel se-
ansprechen und Deutschland sagen: So geht das nicht. Ent-           hen, mit 80% Inflation. Das ist gefährlich, das muss die Geld-
weder die Unternehmen müssen sich wieder verschulden, wie           politik stoppen. Aber davon ist in Europa überhaupt nicht die
das früher der Fall war, etwa in den 1960er Jahren. Oder aber
der Staat muss eben dauernd Schulden machen. Und dann ist
eine Schuldenbremse einfach unverantwortlich.

Welche Möglichkeiten gäbe es denn, die öffentlichen
Haushalte vor allen Dingen auf der Einnahmenseite zu
stärken und zu stabilisieren? In der derzeitigen Regie-
rungskoalition sind ja Instrumente wie Reaktivierung
der Vermögenssteuer oder eine durchgreifende Re-
form der Erbschaftssteuer kaum vorstellbar.
Einige Dinge haben Sie jetzt schon genannt. Das sind die beiden
wichtigsten, die man sofort umsetzen könnte und schon lange
hätte umsetzen können, Vermögenssteuer und Erbschaftssteu-
                                                                                                           Foto: Privat

er. Aber das ist eine politische Tabuzone, weil im Koalitions-
vertrag sozusagen schon im ersten Satz festgelegt worden ist:
Keine Steuererhöhung. Und dann muss man eben Schulden
machen. Es geht überhaupt kein Weg daran vorbei. Man kann             Der Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck war 1998/99 Finanz-
                                                                      staatssekretär von Oskar Lafontaine. Anschließend war er als Chef-
nicht sagen, dass es weder neue Schulden noch Steuererhöhun-
                                                                      volkswirt bei der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD)
gen gibt. Das ist völlig absurd angesichts der Herausforderun-
                                                                      in Genf und als Herausgeber der Online-Zeitschrift Makroskop tätig.
gen, vor denen der Staat steht.

MieterEcho 427 Oktober 2022                                                                                                                 7
MIETER ECHO - und soziale Folgen - Zeitung der Berliner MieterGemeinschaft e.V. www.bmgev.de Nr. 427 Oktober 2022
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        Habeck, Scholz, Lindner: „Für Kriege haben sie Geld, aber die Armen können sie nicht ernähren.“ Transparent auf der Demonstration „Heißer Herbst“ in Leipzig am
        5. September. Foto: Die Linke. Fraktion im Bundestag/flickr

        Rede. Denn die Löhne in Europa steigen ganz moderat. Also                            Oder dafür sorgen, dass Russland auf den Weltmärkten kein Öl
        da ist überhaupt keine Gefahr. Und deswegen ist es schon ver-                        und kein Gas mehr verkaufen kann. Das kann man nicht, weil
        rückt, dass die EZB die Zinsen erhöht. Der Staat gibt Geld aus,                      die „ganze Welt” in dieser Auseinandersetzung eben nicht hin-
        um die Wirtschaft anzuregen und die EZB erhöht die Zinsen,                           ter Europa und den USA steht. Man sieht es ja: Große Teile der
        um die Wirtschaft niederzuknüppeln. Wie absurd.                                      Welt, also die große Mehrheit der Staaten stehen an der Sei-
        				                                                                                 te Russlands oder verhalten sich neutral und kaufen natürlich
        Und Sie sehen also die reale Gefahr einer Deflation in den                           weiter russisches Gas und Öl, und wir kaufen dann vielleicht
        kommenden Jahren?			                                                                 über Indien oder sonst wo auch wieder russisches Gas oder Öl,
        Wir waren in der jüngeren Zeit ja bereits sehr nah an einer De-                      natürlich aber viel teurer.
        flation, einer Art unterdrückten Deflation, aber das war nichts
        Dramatisches. Eine echte Deflation würde erst eintreten, wenn                        Eine letzte Frage: Für viele Menschen in Deutschland
        die Löhne anfangen absolut zu sinken. Aber wir haben in den                          geht es ja jenseits von grundsätzlichen geopolitischen und
        letzten 20 Jahren durchweg zu geringe Lohnsteigerungen ge-                           strukturellen Fragen der Finanzpolitik schlicht um die
        habt, und deswegen gab es auch keine vernünftige Nachfra-                            Frage, wie sie die explodierenden Kosten schultern sollen.
        geentwicklung in den meisten europäischen Ländern. Außer                             Ich habe schon die ersten Abrechnungen gesehen, wo sich
        in Deutschland, das mit seinen Leistungsbilanzüberschüssen                           die Energiepreise auch für kleine Betriebe vervierfacht ha-
        immer noch eine Politik macht, die darauf hinausläuft, sich zu                       ben. Könnten Sie denn ein kurz- und mittelfristiges Sozial-
        Lasten der Nachbarn gesundzustoßen – anstatt selbst darüber                          programm skizzieren, um entsprechende Ängste und reale
        nachzudenken, wie man die Nachfrage ankurbelt.                                       Notsituationen abzumildern?
        							                                                                              Also zunächst müssen wir uns im Klaren sein: Wenn jetzt eine
        Das gängige Narrativ ist derzeit, dass man das ganze Di-                             Rezession kommt, wird das alles noch schlimmer. Dann ha-
        lemma dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu                              ben wir Rezession und starke Preissteigerungen in bestimmten
        verdanken hat, was ja einer näheren Betrachtung kaum                                 Bereichen, wie etwa Energie. Und ansonsten müsste der Staat
        standhält. Aber dass der Krieg als kräftiger Brandbe-                                sehr viel mehr tun. 65 Milliarden Euro wie beim jetzigen Ent-
        schleuniger der Krise gewirkt hat, liegt auf der Hand. Wie                           lastungspaket reichen nicht aus. Vor allem dann nicht, wenn
        schätzen Sie denn in diesem Zusammenhang die deutsche                                nicht klar ist, woher das Geld kommt. Macht man die berühm-
        Sanktionspolitik gegen Russland ein?		                                               te Gegenfinanzierung, wird die Wirtschaft sicher in eine tiefe
        Der Krieg an sich hätte meiner Einschätzung nach fast über-                          Rezession geraten. Ansonsten muss man seine Politik grund-
        haupt keine Auswirkung, wenn man nicht diese Politik der                             sätzlich überdenken. Es geht eben nicht alles. Man kann nicht
        Sanktionen ergriffen hätte. Man glaubt ja in dieser Regierung,                       einfach wie unsere Außenministerin ankündigen, dass man
        mit finanziellen und anderen Sanktionen Russland von hier aus                        eine Atommacht wie Russland mit Sanktionen „ruinieren“
        bekämpfen und in die Knie zwingen zu können. Ich halte das                           wolle – ohne darüber nachzudenken, was danach kommt. Das
        für eine grandiose Illusion. Bisher ist das Gegenteil eingetre-                      geht einfach nicht. Es gibt Grenzen für das, was ein Land wie
        ten: Russland hat Mehreinnahmen, weil die Gas- und Ölpreise                          Deutschland machen kann, auch für das, was Europa machen
        so schnell gestiegen sind. Also das ist eine ziemlich verrück-                       kann. Und das müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen.
        te Politik. Man verhängt Sanktionen, und dem Sanktionierten
        geht es besser als vorher.                                                           Vielen Dank für das Gespräch.
        Es ist ohnehin eine grandiose Illusion zu glauben, man könne
        als einzelnes Land oder als Europa die Weltmärkte bewegen.                           Das Interview führte Rainer Balcerowiak.

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MIETER ECHO - und soziale Folgen - Zeitung der Berliner MieterGemeinschaft e.V. www.bmgev.de Nr. 427 Oktober 2022
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                               Konzerngewinne first,
                               Mieter/innen second!
                Auch das dritte Entlastungspaket verteilt Krisengewinne nur unzureichend um

Von Christoph Trautvetter 				                                               gieunternehmen „(d)ie für die soziale Marktwirtschaft wichti-
							                                                                      ge Balance zwischen Chancen und Risiken“ verletzen. Wegen
Seit Ende 2021 kennen die Preise für Gas und Strom in                        des aktuellen Strommarktdesigns erhalten die Produzenten von
Deutschland nur eine Richtung: steil nach oben. Öl ist ak-                   Strom aus erneuerbaren Energien, Atomstrom und Kohle den
tuell zwar wieder etwas günstiger als zum Beispiel im März                   gleichen Preis wie die teuersten Gaskraftwerke. Weil sich ihre
oder Juni, aber immer noch fast doppelt so teuer wie zu                      Kosten durch die Krise teilweise gar nicht geändert haben, ex-
„normalen“ Zeiten. Durch diese Preissteigerungen entste-                     plodieren dadurch ihre Gewinne. Das will die Bundesregierung
hen aufs Jahr gerechnet bis zu 200 Milliarden Euro zusätz-                   ändern. Anstatt einer Übergewinnsteuer für große Energiekon-
liche Kosten für die deutsche Volkswirtschaft. 		                            zerne will sie dafür aber „Erlös- bzw. Preisobergrenzen für be-
						                                                                       sonders profitable Stromerzeuger“ nutzen. Das klingt im Prinzip
Nur ein Teil davon ist bisher bei den Mieter/innen angekom-                  richtig, hat aber zwei großen Haken: Zum einen ist der Vor-
men, weil die Energielieferanten die gestiegenen Preise nur                  schlag immer noch sehr unkonkret, während sich das Zeitfens-
schrittweise weitergeben. Das dicke Ende kommt also noch.                    ter für die Abschöpfung der hohen Gewinne aus 2022 schließt.
Wenn demnächst die Heizsaison beginnt und die Preise wie                     Zum anderen bleiben die größten Krisengewinner, nämlich die
erwartet weiter steigen, drohen Mieter/innen Zusatzkosten von                großen Mineralölkonzerne, komplett außen vor. Dass das auch
mehreren Tausend Euro. Viele werden das nicht bezahlen kön-                  anders geht, zeigen unsere europäischen Nachbarn.
nen. Deswegen hat die Bundesregierung jetzt ein drittes Ent-
lastungspaket beschlossen. Wen das Entlastungspaket erreicht                 Übergewinnsteuer in Spanien und Italien
und wann, steht bisher nur zum Teil fest. Ob es reicht, ist ent-             Spanien schöpft bereits seit Herbst 2021 bis zu 90% der
sprechend umstritten. Besonders vage bleibt aber die Finanzie-               Preissteigerungen auf dem Strommarkt ab. Und in Italien
rung. Nachdem sich Finanzminister Christian Lindner lange                    mussten sowohl Stromproduzenten als auch Mineralölkon-
gegen eine Übergewinnsteuer gewehrt hat, sollen jetzt „Zu-                   zerne im Juni 2022 die erste Rate einer Übergewinnsteuer
fallsgewinne“ bei den Stromproduzenten abgeschöpft werden.                   für die Zeit seit Oktober 2021 zahlen. Mehrere Gutachten
Eine Analyse des Netzwerks Steuergerechtigkeit für die Rosa-                 des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages zeigen,
Luxemburg-Stiftung zur Übergewinnsteuer zeigt: Den größten                   dass das im Prinzip auch in Deutschland möglich wäre. We-
Teil der Übergewinne lässt sich die Bundesregierung weiterhin                gen des Rückwirkungsverbots müsste eine zusätzliche
entgehen. Das müsste nicht so bleiben, aber die Zeit drängt.                 Steuer auf Gewinne des Jahres 2022 aber im Jahr 2022 be-
Das Papier der Bundesregierung zum dritten Entlastungspaket                  schlossen werden. Deswegen drängt die Zeit.
vom 3. September 2022 stellt fest, dass die Gewinne der Ener-                Das größte Problem bei den Mineralölkonzernen löst aller-
                                                                             dings auch das italienische Modell nicht. Genauso wie die
                                                                             großen Digitalkonzerne verschieben sie einen großen Teil der
                                                                             in Europa erwirtschafteten Gewinne in Steueroasen wie die
                                                                             Schweiz oder Singapur. In Frankreich und mehreren anderen
                                                                             Ländern gibt es deswegen seit 2019 eine sogenannte Digital-
                                                                             steuer. Sie sorgt dafür, dass ein Teil der Steueroasengewinne
                                                                             dort besteuert werden kann, wo sie entstanden sind. Daraufhin
                                                                             einigten sich 2021 mehr als 100 Staaten auf eine globale Re-
                                                                             form der Unternehmensbesteuerung. Die Mineralölkonzerne
                                                                             sind von den neuen Regeln aber explizit ausgenommen. Um
                                                                             das zu ändern, braucht es einen weiteren mutigen Alleingang
                                          Foto: Privat

                                                                             nach französischem Vorbild. Aber die Prioritäten von Finanz-
                                                                             minister Lindner scheinen klar: Konzerngewinne first, Mieter/
 Christoph Trautvetter ist Geschäftsführer des Netzwerk Steuergerech-        innen second. 					                                          h
 tigkeit und externer Projektleiter für das Projekt „Wem gehört die Stadt"
 der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er ist Co-Autor der Studie zur Überge-         Zum Weiterlesen:
 winnsteuer.                                                                 rosalux.de/pressemeldung/id/46883/uebergewinnsteuer-bis-zu-100-milliarden-euro-
                                                                             an-einnahmen-moeglich

MieterEcho 427 Oktober 2022                                                                                                                                    9
MIETER ECHO - und soziale Folgen - Zeitung der Berliner MieterGemeinschaft e.V. www.bmgev.de Nr. 427 Oktober 2022
Foto: Matthias Coers
TITEL

                                     Hilfen auch für
                               profitable Unternehmen?
                                 Gasumlage und -preise lassen Heizkosten extrem ansteigen

        Von Bernd Müller					                                             Um die Pleite abzuwenden, sollen nun die Verbraucher/innen
        					                                                             zahlen. Für eine Musterfamilie mit einem Jahresverbrauch von
        Mit der Gasumlage sollen Energiekonzerne auf Kosten der           20.000 kWh betragen die Mehrkosten damit rund 480 Euro im
        Gasverbraucher/innen vor der Insolvenz bewahrt werden,            Jahr. Hinzu kommt noch die Mehrwertsteuer. Bei einem Zwei-
        so der eigentliche Plan von Bundeswirtschaftsminister             Personenhaushalt ist grob mit der Hälfte zu rechnen. Letztlich
        Robert Habeck (Grüne). Für Streit in der Regierungskoa-           können die Kosten für die Haushalte auch höher oder niedriger
        lition und für Unmut in der Bevölkerung sorgte allerdings         ausfallen; je nachdem, wie groß die Wohnfläche ist und in wel-
        der Umstand, dass auch profitable Konzerne Gelder er-             chem Sanierungszustand die Wohnung ist.
        halten können.                                                    Kritik löste zuletzt aus, dass nicht nur Unternehmen Geld aus
        						                                                            dem Topf bekommen sollen, die kurz vor der Pleite stehen,
        Von Oktober 2022 bis Ende März 2024 sollen Verbraucher/in-        sondern auch profitable Firmen. Daraufhin erklärte Habeck,
        nen knapp 2,4 Cent je Kilowattstunde (kWh) an ihren Energie-      die entsprechende Verordnung überarbeiten zu wollen. Tritt-
        versorger zahlen – zusätzlich zu den ohnehin steigenden Gas-      brettfahrer sollten vom Trittbrett geschubst werden, so Habeck.
        preisen – und obendrauf kommt noch die Mehrwertsteuer. Die        Nach den neuen Plänen sollen nur noch Firmen unterstützt
        Höhe der Gasumlage kann zudem alle drei Monate angepasst          werden, die für die Versorgungssicherheit in Deutschland „re-
        werden. Die Mehrwertsteuer auf den Gasverbrauch soll hinge-       levant“ sind. Dann müsste das Gasgeschäft jener Firmen eine
        gen von 19 auf 7% gesenkt werden. Rund 34 Milliarden Euro         relevante Größe haben. Als drittes Kriterium nannte Habeck,
        will die Bundesregierung auf diesem Wege einsammeln und an        dass Firmen, die über die Gasumlage gestützt werden, keine
        Energiekonzerne verteilen.                                        Boni und keine Dividenden auszahlen dürfen. Außerdem müss-
        Sie sollen damit für Mehrkosten „entschädigt“ werden, die sie     ten die betreffenden Firmen alle Bücher offenlegen. Allein das
        bislang nicht an ihre Kund/innen weiterreichen können. Weil       könne schon reichen, „um diese Unternehmen auszusortieren“,
        weniger Erdgas aus Russland geliefert wird, müssen sie Ersatz     hofft Habeck.
        am Gasmarkt zu hohen Preisen einkaufen, um ihren eigenen Ver-     Noch ist allerdings nicht ausgemacht, dass es tatsächlich gelingt,
        pflichtungen nachkommen zu können. Das reißt tiefe Löcher in      viele Unternehmen auszuschließen. Je mehr es sein sollen, des-
        ihre Bilanzen. Uniper fährt nach Informationen der Wirtschafts-   to höher werden die Vorgaben des Beihilferechts – und Klagen
        woche einen Verlust von 100 Millionen Euro ein – pro Tag.         von Konzernen dürften dann auch wahrscheinlicher werden.

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TITEL

Verbraucher/innen sollten allerdings keine Hoffnung haben,           ihre früheren Einkäufe abzurechnen. Je höher der aktuelle Mo-
dass nach der Reform die Gasumlage wesentlich niedriger              natspreis ist, desto höher wäre ihr Extraprofit.
werden könnte. Denn rund 90% der geschätzten Summe ge-               „Das wäre dann ein doppelter Gewinn“, sagen laut Handels-
hen nach Informationen des Handelsblatts an drei Konzerne:           blatt mehrere mit den Vorgängen vertraute Personen. Bestätigt
Uniper, Sefe (ehemals Gazprom Germania) und die EnBW-                wird das durch eine auf Energierecht spezialisierte Anwältin,
Tochter VNG. Allein Uniper könnte über die Umlage rund               die erklärte, an dieser Stelle sei die Verordnung tatsächlich
23 Milliarden Euro von den Verbraucher/innen extra beziehen.         nicht klar formuliert. Ein so wichtiger Aspekt müsste es aber
							                                                              sein, schließlich gehe es um Milliarden von Euro der Verbrau-
Druck von Ratingagenturen                                            cher/innen.
Wie die Idee für die Gasumlage aufgekommen ist, hat das
Online-Magazin Business Insider kürzlich berichtet: Nicht die        Mehrkosten durch steigende Gaspreise
Beamt/innen im Bundeswirtschaftsministerium hatten sie, son-         Die Mehrkosten für die Haushalte beschränken sich aber nicht
dern Ratingagenturen. Hinter den Kulissen hätten sie im Juli         auf die Gasumlage. Je nachdem zu welchen Preisen die Stadt-
gedroht, die Kreditwürdigkeit des Energiekonzerns Uniper he-         werke Erdgas einkaufen können, ergeben sich mitunter deut-
rabzustufen. Das hätte wohl nicht nur das Aus für den Konzern        lich höhere Kostensteigerungen.
bedeutet, sondern auch zahlreiche Stadtwerke in die Insolvenz        Ein Beispiel aus Cottbus, hier bereiten die Stadtwerke ihre
getrieben, die von Uniper beliefert werden.                          Kund/innen auf Mehrkosten von über 4.000 Euro im kom-
„Die Agenturen hatten damals gefordert, dass wir an die Ei-          menden Jahr vor. Auf Anfrage erklärte eine Sprecherin, die
gentümerstruktur und an die Verbraucher ran gehen“, sagte laut       Einkaufspreise hätten bis Mitte 2021 bei rund 2,1 Cent je
Bericht eine namentlich nicht genannte Person, die die Verord-       Kilowattstunde gelegen. Für das Jahr 2023 gingen sie dage-
nung mit ausgearbeitet haben soll.                                   gen in Richtung 20 Cent je kWh. Bei einem angenommenen
Im Ministerium hatte man zuvor andere Pläne: Man wollte die          Verbrauch von 15.000 kWh ergäben sich damit Mehrkosten
Mehrkosten der Ersatzbeschaffung direkt an die Kund/innen            – inklusive aller Steuern und Abgaben – von 4.100 Euro. Bei
weitergeben, wie es im Paragrafen 24 des Energiesicherungs-          einem Jahresverbrauch von 10.000 kWh seien es 2.737 Euro.
gesetzes vorgesehen ist. Gegenüber diesem Ansinnen hatten al-        Die Kosten für die Haushalte werden maßgeblich davon be-
lerdings Konkurrenten von Uniper schon Ende Juni Bedenken            einflusst, in welchem energetischen Zustand sich ihre Häuser
geäußert. Deren Chefs sollen darauf verwiesen haben, dass sie        befinden. Das Forschungsinstitut für Wärmeforschung (FIW)
dann – anders als Uniper – bei vielen Millionen Kund/innen           München hat das in einer aktuellen Studie verdeutlicht, je nach
individuelle Preisanpassungen vornehmen müssen. Das Ergeb-           Preisniveau für Raumwärme und Modernisierungszustand.
nis davon wären Milliardenkosten, so die Argumentation.              Bei Energiekosten von 20 Cent je Kilowattstunde belaufen
Die Idee zur Gasumlage sei dann von den Ratingagenturen und          sich die jährlichen Heizkosten in einem sehr gut gedämmten
aus dem Umfeld von Uniper gekommen. Dann setzten sich                Haus (KFW 55) bei einer Wohnfläche von 160 Quadratme-
Beamte aus dem Bundeswirtschafts- und des Bundesfinanzmi-            tern auf 1.120 Euro. Ist das Haus dagegen nicht gedämmt,
nisterium an einen Tisch mit Vertreter/innen von Uniper und          müssten die Bewohner/innen 9.600 Euro für die Heizkos-
arbeiteten die rechtlichen Details aus. Sogar zwei Chefs von         ten aufbringen. Steigen die Energiepreise auf 25 Cent je
anderen Energiekonzernen sollen persönlich mitgewirkt ha-            kWh, wird die Differenz noch größer: In dem KFW55-
ben. Am Ende waren dann die Ratingagenturen zufrieden. Nur           Haus müsste man dann 1.400 Euro pro Jahr berappen; in
einige Fehler hatte man in der Hektik übersehen.                     einem ungedämmten Haus wären es schon 12.000 Euro.
Dass auch profitable Unternehmen die Verbraucher/innen über          Ähnlich verhält es sich mit Mietwohnungen. In den Effizi-
die Umlage schröpfen können, ist einer davon. Ihn will der           enzklassen F, G oder H steigen die Heizkosten in diesem
Bundeswirtschaftsminister nun beheben lassen. Doch das ist           Jahr um bis zu 3.375 Euro bei einer Wohnfläche von 90 Qua-
nicht das einzige Schlupfloch, über das es Konzernen möglich         dratmetern. In einer ungedämmten Wohnung könnten die
wäre, Extraprofite zu machen. Das Handelsblatt wies in einem         Heizkosten damit auf über 5.600 Euro steigen.                 h
aktuellen Bericht auf einen weiteren Konstruktionsfehler hin,
über den Trickserei möglich wäre.
Firmen könnten demnach höhere Kosten in Rechnung stellen,
als sie tatsächlich haben. Denn es sei nicht klar geregelt, ob die
Konzerne einen Nachweis darüber erbringen müssen, wann sie
das Gas eingekauft haben.
Das spielt insofern eine wichtige Rolle, da die Entschädigung,
die sie aus der Gasumlage beziehen, anhand tagesaktueller
Preise des jeweiligen Monats errechnet wird. Für Oktober geht
man von einem Preisniveau von 300 Euro pro Megawattstunde
(MWh) aus – doch das ist nicht unbedingt der Preis, den die
Importeure bezahlt hätten.
Als klar gewesen sei, dass sie aus Russland kein Erdgas mehr
                                                                                                                  Foto: Privat

bekämen, hätten sich einige Importeure Ersatz beschafft – zu
deutlich niedrigeren Preisen. Bei einigen soll die Preisspanne
zwischen 130 und 180 Euro pro MWh gelegen haben; andere
                                                                     Bernd Müller ist Umweltingenieur und arbeitet seit zehn Jahren als freier
hätten sogar noch günstiger eingekauft. Wenn sie im Oktober          Journalist. Er schreibt für junge Welt, Telepolis und andere Zeitungen über
nicht nachweisen müssen, dass sie das Erdgas tatsächlich erst        wirtschaftliche und soziale Themen sowie zu Umwelt- und Klimaschutz.
im Oktober gekauft haben, dann wäre es ihnen möglich, auch

MieterEcho 427 Oktober 2022                                                                                                                   11
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                                              „Freiheitsgas“ aus den
                                               Vereinigten Staaten
                                    Grüne Außen- und Wirtschaftspolitik folgt geopolitischen Interessen

        Von Hermann Werle					                                                       fühlten sich an den US-NATO-Beschluss gebunden. Das Pipe-
        		                                                                           line-Netz für sowjetisches Öl erweiterte sich stetig und damit
        Deutsch-sowjetische und deutsch-russische Kooperatio-                        auch die Ölexporte in die westliche Welt. Den US-Ölmultis,
        nen im Bereich der Energiepolitik haben eine lange Ge-                       deren Absatzmärkte Präsident Kennedy hatte sichern wollen,
        schichte. Verwunderlich ist das nicht, die eine Seite hat                    half das von der CDU-Regierung gegen die deutschen Kon-
        Kapital sowie technisch-industrielles Know-how, die an-                      zerne durchgesetzte Röhrenembargo wenig und der deutschen
        dere den Energiereichtum. Hinzu kommt die geografische                       Wirtschaft noch viel weniger.
        Nähe, die ein für beide Seiten vorteilhaftes Geschäft er-

                                                                                                                                                          Foto: Peter Homann
        möglicht. Was so einfach erscheint, erregte seit jeher die                   Abhängigkeit verringern und diversifizieren
        Aufmerksamkeit der US-Politik, die keine Gelegenheit ver-                    Ein Blick nach Berlin: Von den rund 1,9 Millionen Wohnun-
        streichen ließ, ihren globalen Hegemonialanspruch auch                       gen in Berlin werden heute gut 700.000 mit Gas beheizt, ent-
        gegenüber Bündnispartnern durchzusetzen.                                     weder mit Zentral- oder Gasetagenheizungen. Hinzu kommen
        						                                                                       die Haushalte, die mit Fernwärme versorgt werden, da diese zu
        Es waren gewinnträchtige Aufträge für die deutsche Stahlin-                  rund 70% mit Gas erzeugt wird. Die Abhängigkeit von Gaslie-
        dustrie, die seit 1959 Pipelinerohre in die Sowjetunion gelie-               ferungen ist entsprechend hoch und die Umstellung auf erneu-
        fert hatte. Durch diese sollte sowjetisches Erdöl unter anderem              erbare Energieträger ein zäher Prozess. Das über Jahre viel zu
        durch die Druschba-(Freundschaft-)Pipeline bis nach Schwedt                  zögerliche Agieren der politisch Verantwortlichen in der Kli-
        gelangen, um der Energiearmut der DDR entgegenzuwirken.                      mapolitik forciert die nun verordnete Schocktherapie, die den
        1963 dann der abrupte Stopp, nachdem der von den USA                         Haushalten jetzt verabreicht und teuer zu stehen kommen wird.
        beherrschte NATO-Rat entschieden hatte, den Export von                       Doch warum sind Berlin und die Bundesrepublik so hungrig
        Röhren in die UdSSR zu unterbinden. Um das Verhältnis zur                    nach Gasimporten? In Westeuropa bekam Erdgas erst mit der
        „Schutzmacht“ USA nicht zu beeinträchtigen, fügte sich die                   Entdeckung der niederländischen Erdgasfelder in Groningen
        Adenauer-Regierung gegen den Widerstand von FDP, SPD,                        Ende der 50er Jahre eine größere Bedeutung. Es verdrängte
        Gewerkschaften und der deutschen Wirtschaft. Letztere pro-                   seither das Stadt- oder Kokereigas, welches in Deutschland
        testierte sehr deutlich unter dem Verweis, dass nun die auslän-              schon im 19. Jahrhundert Verwendung fand und auf das die
        dische Konkurrenz die Aufträge übernehmen würde, was dann                    Gründung der Aktiengesellschaft für Kohleverwertung 1926 –
        auch geschah. Weder Großbritannien noch Italien oder Japan                   der späteren Ruhrgas AG – zurückgeht. 1974 deckte Erdgas
                                                                                     5,4% des Primärenergieverbrauchs in Westdeutschland, wobei
                                                                                     ein Teil davon bereits damals aus der Sowjetunion kam und
                                                                                     von der Ruhrgas AG importiert wurde.
                                                                                     Am 1. Februar 1970 hatte diese mit der Außenhandelsgesell-
                                                                                     schaft Sojuznefteexport einen Vertrag geschlossen, der die
                                                                                     Lieferung von jährlich 3 Mrd. m³ Gas für den Zeitraum von
                                                                                     1973 bis 1993 vorsah. Im Gegenzug orderte die Sowjetunion
                                                                                     1,2 Millionen Tonnen Mannesmann-Erdgasröhren. Das soge-
                                                                                     nannte Erdgasröhrengeschäft sorgte 1979 abermals für eine
                                                                                     transatlantische Verstimmung vor dem Hintergrund des Ein-
                                                                                     marschs sowjetischer Truppen in Afghanistan und den folgen-
                                                                                     den – und schließlich erfolgreichen – Bemühungen der USA,
                                                                                     die Sowjetunion in einem verlustreichen Abnutzungskrieg mi-
                                                                                                                                               ´
                                                                                     litärisch und politisch zu verschleißen. Zbigniew Brzezinski,
                                                                                     der damalige Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy
                                                                                     Carter machte später keinen Hehl daraus, dass es darum ging,
                                                                                     „der UdSSR ihren Vietnamkrieg zu schenken“, wie er in einem
        Westdeutsche Röhren sorgten für den Transport sowjetischen Erdöls bis nach
                                                                                     Interview 1998 offenherzig erklärte. Um die sowjetische Öko-
        Schwedt. Unter dem Druck der USA wurde die gedeihliche Zusammenarbeit        nomie möglichst hart zu treffen, forderte Präsident Carter von
        1963 von der Adenauer-Regierung beendet. 				                                den westeuropäischen Staaten, sich einem Getreideembargo
        Foto: Bundesarchiv, Bild 183-U0705-0309 / Zimmermann, Peter / CC-BY-SA 3.0   gegen die UdSSR anzuschließen und außerdem Geschäfte mit

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TITEL

Schon 2016 wurde in den USA in Philadelphia beim „Clean Energy March“ gegen Fracking demonstriert. Foto: flickr / www.lens.blue / CC BY 2.0

einem Wert von über 100 Millionen Dollar zu stornieren. Die                            Bezugsländer von Energierohstoffen seit jeher überwiegend
westdeutsche Seite unter der SPD geführten Regierung Helmut                            postkoloniale, vom Westen gehegte Diktaturen darstellen.
Schmidts lehnte dies ab, wäre damit doch die Entspannungs-
politik komplett in Frage gestellt worden. Auch dem Druck der                          US-Geopolitik bietet „Freiheitsgas“
auf Carter folgenden Reagan-Regierung wurde nicht nachge-                              Auch bei dieser Fragestellung stehen die wirtschaftlichen und
geben und im November 1982 wurden die Sanktionen gegen                                 geopolitischen Interessen der USA im Fokus. Schon 2019 hatte
die UdSSR aufgehoben.					                                                             die US-Regierung unter Donald Trump Gesetze auf den Weg
							                                                                                gebracht, die den Bau der zweiten Ostseepipeline, Nord Stream
Realistisch denkende Kapitalisten                                                      II, verhindern sollten. Sanktionen wurden allen Unternehmen
In dem Buch „Erdgastrasse – Freundschaft in Aktion“ der Ge-                            angedroht, die sich am Weiterbau beteiligten. „Erstmals neh-
sellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft liest sich die-                        men die USA mittels der entsprechenden Gesetzgebung nicht
ses Kapitel der Ost-West-Gaskooperation wie folgt: „Den ge-                            mehr allein ‚Schurkenstaaten‘ ins Visier, nunmehr richten sich
meinsamen außerordentlichen Anstrengungen der UdSSR und                                ihre Sanktionen ausdrücklich gegen Verbündete und angeblich
ihrer Verbündeten sowie realistisch denkender kapitalistischer                         befreundete Regierungen“, so Michael Lüders in seinem 2019
Wirtschafts- und Geschäftskreise waren die Störmanöver der                             veröffentlichten Buch: „Die scheinheilige Weltmacht“. Mit ei-
USA nicht gewachsen.“ Und diese realistisch denkenden Ka-                              nem Zitat des Publizisten Theo Sommer führt Lüders weiter
pitalisten aus der BRD waren nicht untätig geblieben. Schon                            aus, dass man kein Putin-Versteher sein müsse, „um auf die
1981 hatten sie einen weiteren Vertrag mit der UdSSR unter                             Idee zu kommen, dass es Trump in erster Linie darum geht,
Dach und Fach gebracht, der jährliche Liefermengen von 10,5                            Russland als Energielieferanten vom Markt zu drängen und
Milliarden m³ westsibirischen Erdgases ab 1984 vorsah. Man-                            den Deutschen dafür das teurere amerikanische Flüssiggas
nesmann lieferte jetzt nicht nur die Rohre, sondern übernahm                           anzudrehen.“ Folgt man der Einschätzung, scheinen in die-
auch die Planung und Montage der 5.000 km langen Leitung,                              ser Hinsicht die Würfel gefallen zu sein, denn auch unter Joe
das Gesamtvolumen des Auftrags betrug 15 Milliarden DM.                                Biden haben die Falken der US-Außenpolitik das Sagen. Die
Mit der Erhöhung der Gaslieferungen sollten unter anderem                              deutsche wie auch die EU-Politik fügen sich plan- und stra-
die in Folge der islamischen Revolution 1979 aufgekündigten                            tegielos den Interessen der USA. Von einer eigenständigen,
Gaslieferverträge aus Iran kompensiert werden. Im Ergebnis                             langfristig angelegten Energiepolitik, die zugleich eine wirk-
bedeuteten die Erdgas-Röhrengeschäfte mehr Unabhängigkeit                              same Klimapolitik sein müsste, keine Spur. Dass es der Welt-
von Energielieferungen aus dem Nahen Osten und damit auch                              macht USA um die Verteidigung von „westlichen Werten“ und
eine Diversifizierung der Risiken. Zudem gilt Erdgas als der                           „Freiheit“ geht, kann durchaus geglaubt werden, sind diese
sauberere fossile Brennstoff im Vergleich zu Kohle und Erd-                            Begrifflichkeiten doch nicht mehr als Signifikanten. Sie stehen
öl, was zu dieser Zeit also auch ein Schritt zu einer nachhal-                         für die Werte der Dollardominanz in der globalen Wirtschaft
tigeren Energiewirtschaft bedeutete. Dass eine nachhaltige                             und die Freiheit, die Welt nach den eigenen Vorstellungen zu
Energiepolitik heute nach anderen Maßstäben als noch vor 30                            gestalten und uns nebenbei schmutziges Frackinggas, propa-
Jahren beurteilt werden muss, braucht nicht erklärt zu werden.                         gandistisch aufgeblasen als „Freiheitsgas“, zu verkaufen. Der
Erklärt aber werden müsste, warum in der aktuellen Situation                           nächste Gegenspieler der USA und seiner Vasallen ist mit der
Unabhängigkeit von Russland und Diversifizierung der Be-                               Volksrepublik China längst ausgemacht und vielleicht träumt
zugsquellen zur Diskussion stehen, die als Alternative nichts                          die olivgrüne Außenministerin Annalena Baerbock davon,
anderes als teures und noch weniger nachhaltiges Flüssig- und                          nach der russischen dann auch noch die chinesische Wirtschaft
Frackinggas zu bieten haben, ganz abgesehen davon, dass die                            zu ruinieren. 			                                             h

MieterEcho 427 Oktober 2022                                                                                                                        13
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