Momentum - Sucht(-behandlung) in Zeiten der Disruption: N 1/2022 - Suchthilfe Wien

Die Seite wird erstellt Finn-Luca Jansen
 
WEITER LESEN
Momentum - Sucht(-behandlung) in Zeiten der Disruption: N 1/2022 - Suchthilfe Wien
N° 1/2022

Momentum
  Das österreichische Journal für positive Suchttherapie
       Herausgegeben vom Anton Proksch Institut

Sucht(-behandlung) in Zeiten der Disruption:
  zwischen Digitalisierung und Pandemie

                    1
Momentum - Sucht(-behandlung) in Zeiten der Disruption: N 1/2022 - Suchthilfe Wien
2
Momentum - Sucht(-behandlung) in Zeiten der Disruption: N 1/2022 - Suchthilfe Wien
Editorial
                Liebe Leserin, lieber Leser!

                V
                 ielleicht erinnern Sie sich: Die „Momentum“-Ausgabe vom Sommer 2020 trug
                 den Titel „Entschlossene Schritte ins Unbekannte“. Nun, wir im Anton Proksch
                 Institut, aber auch viele andere Kolleginnen und Kollegen aus Suchtberatung bzw.
          -behandlung haben diese Schritte gesetzt. Durch das Pandemiemanagement notwendig
          gewordene, teilweise weitreichende Veränderungen von ambulanten, tagesklinischen
          und stationären Angeboten haben Gestalt angenommen.
                                       Wir sehen nun etwas klarer und können auch einen Blick in
                                       post-pandemische Zeiten wagen. Dieser Tatsache haben
                                       wir auch dadurch Rechnung getragen, dass auf dem Wiener

   4
  Psychiatrische
  Behandlung in einer
  ver-rückten Welt
                                       Suchtsymposium des Anton Proksch Instituts im letzten Jahr
                                       ganz bewusst auch den sich bietenden Chancen gebührender
                                       Raum gegeben wurde. Was in diesen zwei Tagen im Novem-
  Georg Psota
                                       ber diskutiert wurde, soll auf den folgenden Seiten noch ein-

   8
  Digitale Sucht-
  behandlung:
  Chancen und Risiken
                                       mal konzis rekapituliert werden. So ging Georg Psota, Chefarzt
                                       des Psychosozialen Dienst der Stadt Wien (PSD), das frucht-
                                       bare Wagnis ein, den Zumutungen der Pandemie positive
	Oliver Scheibenbogen,                Aspekte abzugewinnen. Schwierige Zeiten können schließlich
  Lisa Brunner, Bettina
                                       auch Innovationen befördern (Seite 4–7). Was die Sucht-
  Hölblinger
                                       behandlung betrifft, sind an dieser Stelle besonders digitale

12Teletherapie: So fern
  und doch so nah!
  Wolfgang Beiglböck
                                       Formate in Prävention, Beratung und Behandlung zu nennen.
                                       Wie sich Instrumente digitaler Suchtbehandlung in der Krise
                                       bewährt haben, diese aber trotzdem kein allein „seligmachen-
                                       des“ Allheilmittel sind, lesen Sie auf den Seiten 8–11.

14Suchtarbeit nach der
  Pandemie
  Stimmen aus der Praxis
                                               Die Frage, die sich daran anschließt: Was können wir in
                                       der Zeit nach der Pandemie in die Regelbehandlung überfüh-
                                       ren? Hier scheint es Konsens zu sein, dass viel für eine Kombina-

161,5 Jahre Pandemie
  Eine visuelle
  Bestandsaufnahme
                                       tion aus analogen und digitalen Elementen spricht (Seite 12–15).
                                       Auch den Pre-Congress-Workshop des Suchtsymposiums zur
                                       „Epidemiologie, Diagnostik und Behandlung der Tabakabhän-
                                       gigkeit“ wollen wir gebührend abbilden. Sophie Meingassner,
18Nikotinsucht und
  wie sie behandelt
  werden kann
                                       Leiterin des Rauchfrei Telefons, gelingt das in ihrem sehr praxis-
                                       bezogenen Text ausgezeichnet (Seite 18–21).
  Sophie Meingassner                           Gerade in herausfordernden Zeiten ist es besonders
                                       wichtig, optimistisch nach vorne zu blicken. Der Optimismus
                                       darf daher auch in diesem Momentum nicht zu kurz kommen.

                Und das ist etwas, das ich Ihnen, neben einer anregenden Lektüre,
                auch ganz persönlich wünsche!

                DSA Gabriele Gottwald-Nathaniel, MAS
                Geschäftsführerin

                PS: Abo-Bestellungen sind weiterhin kostenlos unter abo@api.or.at möglich!

                                                  3
Momentum - Sucht(-behandlung) in Zeiten der Disruption: N 1/2022 - Suchthilfe Wien
Psychiatrische
                       Behandlung in einer
                       ver-rückten Welt
                       Philosophische und sozialpsychiatrische Überlegungen
                       zu Herausforderungen der pandemischen Verwerfung
                       und wie daraus eine Sozialpsychiatrie der Zukunft
                       entwickelt werden kann.
                       GEORG PSOTA

                       A
                               ls ich eine Präsentation zum titelgebenden       diese Neuerungen allerdings zu einem Guten zu
                               Thema vorbereitet habe, die Mitte Novem-         führen, war es schon immer notwendig, fakten-
                               ber 2021 beim Wiener Suchtsymposium              basiert und den wissenschaftlichen Erkenntnissen
                       gehalten werden sollte, stand Österreich gerade          folgend zu agieren. Denn Änderungen haben es
                       am Beginn der 4. Welle der Corona-Pandemie.              an sich, Verwirrungen, Ängste und Unverständnis
                       Zum Zeitpunkt des Schreibens des darauf auf-             mit sich zu bringen. Und daraus ergeben sich Ge-
                       bauenden Artikels befand sich das Land wieder            fahren. Oder wie es Hannah Arendt in ihrem 1955
                       einmal im Lockdown. Gar keine Frage: Die Welt            auch auf Deutsch erschienenem Buch „Elemente
                       hat sich verändert in den vergangenen fast zwei          und Ursprünge totaler Herrschaft“ in Bezug auf
                       Jahren, die uns die Pandemie mittlerweile in             die katastrophalsten Verrückungen des 20. Jahr-
                       Atem hält. Aber ist die Welt tatsächlich verrückt        hunderts formulierte: „In einer sich ständig verän-
                       geworden? (Gemeint ist hier verrückt im eigent-          dernden, unverständlichen Welt waren die Massen
                       lichen Wortsinn: also „an einem anderen Platz“           an einem Punkt angelangt, an dem sie gleichzeitig
                       oder „verschoben“.) Und was bedeutet das für die         alles und nichts glaubten, alles für möglich und
                       Psychiatrie und die Behandlung von Suchterkran-          nichts für wahr hielten.“
                       kungen? Wie kann und muss sie mit den Neuerun-                   Alles für möglich und nichts für wahr halten?
                       gen umgehen? Ist es immer ganz schlecht, wenn            Klingt durchaus vertraut, wenn man sich die aktuellen
                       es zu Verrückungen kommt? Denn dies bedeutet             Debatten ansieht und anhört. Doch was bedeutet das
                       schließlich nichts anderes, als eine andere Pers-        für die Sozialpsychiatrie und wie kann sie damit um-
                       pektive einzunehmen und Dinge auf andere Art             gehen? Die Grundsätze der Sozialpsychiatrie haben
                       und Weise wahrzunehmen, als es üblich ist. Wie           sich seit fast 50 Jahren nicht verändert. Was Heinz
                       aber muss mit den Verrückungen umgegangen                Katschnig im Jahr 1974 als Paradigmen vorgestellt
                       werden, um Positives zu kreieren?                        hat, hat seine Gültigkeit nicht verloren. Ambulante
                                                                                Behandlung soll Vorrang vor tagesklinischer und
DR. GEORG              Verrückungen faktenbasiert begegnen                      diese wiederum Vorrang vor stationärer Behandlung
PSOTA ist Facharzt
                       Fest steht jedenfalls, dass die derzeitige Pande-        haben. Gemeindenah geht vor zentralisiert und
für Psychiatrie und
                       mie nicht die erste Verrückung in der Geschichte         bedarfsorientiert vor krankheitsorientiert. In den
Neurologie und
Chefarzt der Psycho-   der Welt war. Solche gab es selbstverständlich           vergangenen Jahren haben wir es gerade in Wien in
sozialen Dienste       seit Menschengedenken und immer haben sie zu             vielen Bereichen geschafft, Fortschritte zu machen
in Wien.               Neuerungen bzw. neuen Ansätzen geführt. Um               und uns diesen Paradigmen stark anzunähern.

                                                                            4
Momentum - Sucht(-behandlung) in Zeiten der Disruption: N 1/2022 - Suchthilfe Wien
Foto: Getty Images

5
Momentum - Sucht(-behandlung) in Zeiten der Disruption: N 1/2022 - Suchthilfe Wien
Erleben existenzieller Ängste könnte                        hin zu einer Entstigmatisierung psychischer Er-
     Entstigmatisierung befördern                                krankungen und der Gleichstellung mit körperlichen
     Doch es gibt auch Bereiche, in denen das bisher             Krankheiten zu machen.
     nicht gelungen ist. Als im April 1979 der Wiener
     Gemeinderat den Zielplan „Psychiatrische und                Psychosoziale Folgen ungeahnten Ausmaßes
     psychosoziale Versorgung in Wien“ genehmigte                Dabei wäre eine intensive Auseinandersetzung
     und damit einen Meilenstein in der Wiener Psychia-          mit psychischen Erkrankungen gerade jetzt umso
     triereform setzte, war darin unter anderem die vom          wichtiger. Denn die Pandemie hat psychosoziale
     kongenialen Duo Alois Stacher und Stephan Rudas             Folgen bisher noch ungeahnten Ausmaßes hervor-
                                                                 gebracht. Einerseits ist es die Angst vor der eige-
                                                                 nen Erkrankung oder die Sorge um Verwandte,
                                                                 Freundinnen, Freunde und Bekannte, die zu einem
    Wer sich den Fuß bricht,                                     Anstieg der psychischen Erkrankungen führt. An-
                                                                 dererseits sind es die Maßnahmen, die die Pan-
     lässt diesen behandeln.                                     demie eindämmen sollen, die ebenfalls das Risiko
   Wer an einer psychischen                                      erhöhen. Einsamkeit und soziale Isolation, fehlende
                                                                 Tagesstruktur, Einschränkungen in der Sozial- und
Erkrankung leidet, versucht,                                     Gesundheitsversorgung führen zu Neuerkrankun-

         diese zu verstecken.                                    gen sowie Verschlechterungen bereits bestehen-
                                                                 der psychischer und körperlicher Erkrankungen
                                                                 und Schmerzsymptome. Zu den Auswirkungen der
                                                                 Pandemiebekämpfung zählen auch Mehrfachbe-
     erhobene Forderung enthalten: „Psychisch Kran-              lastungen und erhöhter Stress, wodurch Konflikte
     ke oder Behinderte sind körperlich Kranken und              und häusliche Gewalt ansteigen. Die häufigsten
     Behinderten gleichzustellen. Hierzu müssen die              psychischen Reaktionen sind akute Belastungsre-
     gesetzlichen, sozialrechtlichen und medizinischen           aktionen, Nervosität, Irritabilität, Schlafstörungen,
     Voraussetzungen geschaffen beziehungsweise                  Angststörungen, Depressionen, posttraumatische
     verbessert werden.“ Auch wenn sich die Sprache              Belastungssyndrome und Substanzmissbrauch.
     in den vergangenen Jahrzehnten geändert haben                       Die kurzfristige Herausforderung liegt in der
     mag und wenn aus rechtlicher und medizinischer              Bekämpfung der Pandemie und dem Schutz vor
     Perspektive ohne Zweifel Verbesserungen einge-              Infektion. Nach beinahe zwei Jahren sind die Maß-
     treten sind, bleiben die Barrieren in den Köpfen            nahmen bekannt und auch relativ einfach handhab-
     vieler bestehen. Weiterhin gibt es gegenüber                bar. Abstand halten, Hygiene, Maske, regelmäßiges
     psychischen Erkrankungen ein massives Stigma.               Testen und Impfen. Anders sieht dies jedoch bei den
     Psychische Erkrankungen sind körperlichen Erkran-           mittel- und längerfristigen Auswirkungen aus. Long
     kungen auch heute noch nicht gleichgestellt. Wer            COVID, also die Nachwirkungen einer überstandenen
     sich den Fuß bricht, lässt diesen von Ärztinnen oder        COVID-Erkrankung, wird uns noch lange beschäfti-
     Ärzten behandeln. Wer an einer psychischen Er-              gen. Erste Studien weisen darauf hin, dass die Folgen,
     krankung leidet, versucht, diese zu verstecken, zieht       gerade auch im psychischen Bereich, enorm sein
     sich zurück, möchte sich mit der Krankheit und den          werden. Eine Untersuchung von Maxime Taquet zeigt,
     Stigmata nicht auseinandersetzen und fürchtet die           dass bei mehr als einem Drittel der über 230.000
     gesellschaftliche Ausgrenzung.                              untersuchten COVID-Genesenen neurologische oder
            Gerade in der aktuellen Pandemie hat es              psychiatrische Folgeerscheinungen auftreten.
     diesbezüglich allerdings klare Verschiebungen                       Weitere Studien belegen psychische Aus-
     gegeben. Viele Menschen haben erstmals Isolation            wirkungen der Maßnahmen zur Eindämmung der
     erlebt und kamen mit existentiellen Ängsten in Be-          Pandemie. 82 Prozent der Personen mit Demenz be-
     rührung. Auch breitenwirksame Medien haben psy-             richten von einer Verschlechterung ihrer Symptome.
     chische Erkrankungen als Thema entdeckt. Dadurch            34 Prozent empfinden verstärkt Angstsymptome und
     scheint die Corona-Krise zu einer Entstigmatisierung        ein Großteil älterer Menschen berichtet von einer
     psychischer Erkrankungen beigetragen zu haben.              Verdoppelung depressiver Symptome. Zudem kam
     Doch der Schein trügt etwas. Eventuell hat ein              es zu vermehrten Fällen von Delir, einer Bewusstseins-
     größerer Teil der Bevölkerung durch die eigenen             störung, die in den vergangenen Jahrzehnten deutlich
     Erfahrungen, die in den vergangenen beinahe zwei            reduziert werden konnte. Als wichtigste Gegenmaß-
     Jahren durchlebt wurden, mehr Verständnis für               nahme gilt dabei die Verhinderung von Isolation.
     depressive Erkrankungen oder Angsterkrankungen              COVID-19 hat diese Bemühungen zurückgeworfen.
     entwickelt. Für viele andere psychische Krankheits-
     bilder wie etwa Schizophrenie oder bipolare Störun-         Anzahl der verlorenen gesunden
     gen, aber auch Suchterkrankungen dürfte dies nicht          Lebensjahre steigt massiv
     gelten. Dennoch könnte die Pandemie ein Auslöser            Damian Santomauro kam in seiner im Oktober 2021
     dafür sein, einen wichtigen und überfälligen Schritt        veröffentlichten Modellrechnung zum Schluss, dass

                                                             6
Momentum - Sucht(-behandlung) in Zeiten der Disruption: N 1/2022 - Suchthilfe Wien
Angsterkrankungen weltweit um mehr als 25 Pro-            Hälfte aller psychischen Störungen des Erwach-
zent zunahmen und insgesamt 44,5 Millionen DALYs,         senenalters bereits im 14. Lebensjahr manifest ist.
also verlorene gesunde Lebensjahre, verursachten.         Nicht zuletzt muss die Transitionspsychiatrie verbes-
Depressionen sind dieser Untersuchung zur Folge           sert werden: Eine gezielte Begleitung vom Jugend-
um mehr als 27 Prozent gestiegen, was 49,7 Millio-        ins Erwachsenenalter ist dringend notwendig. Hier
nen DALYs zur Folge hatte.                                gilt es, Versorgungskontinuität zu gewährleisten,
        Studien aus den Vereinigten Staaten und           indem entsprechende Strukturen auf- und ausge-
Kanada zeigen außerdem eine deutliche Zunahme             baut bzw. weiterentwickelt werden. Anleihen kann
von Substanzmissbräuchen während der Pandemie.            man sich bei Modellprojekten im europäischen und
Eine Untersuchung mit mehr als 3.000 Personen             außereuropäischen Raum holen, erste Erfahrungen
bringt etwa eine Zunahme des Alkoholkonsums               mit Telemedizin haben sich als vielversprechend
um 23 Prozent und eine Zunahme des Konsums                erwiesen. Gerade in Zeiten des Lockdowns hat die
anderer Drogen um 16 Prozent zu Tage. Studienau-          Unterstützung der Arbeit durch elektronische Hilfs-
tor Steven Taylor kommt zu dem Schluss, dass dies         mittel einen unglaublichen Aufschwung erlebt. Die
einerseits mit den von der Pandemie ausgelösten           mediale Kompetenz ist ebenfalls deutlich gestiegen.
traumatischen Stresssymptomen zusammen-                   So kann E-Mental Health, bei Einhaltung gewisser
hängt, aber auch mit der Nichteinhaltung von              Voraussetzungen, eine ergänzende Chance für die
Distanzierungsmaßnahmen.                                  Verbesserung des Zugangs, der Früherkennung
        Auch wenn all diese Zahlen auf Grund              sowie der Behandlung bieten.
des geringen Datenbestands und vor allem der –                     All dies ist notwendig, um die Sozialpsychia-
wissenschaftlich gesehen – bisherigen Kürze der           trie der Zukunft zu formen und den Neuerungen zu
Pandemie noch weiterführenden Studien unter-              begegnen, die durch Verrückungen entstehen. Die
zogen und verifiziert werden müssen, bildet sich
doch eine klare Tendenz heraus: Psychiatrische
Erkrankungen haben während der Pandemie zuge-
nommen und werden wohl noch weiter zunehmen.              Psychiatrische Erkrankungen
Man geht davon aus, dass sich bis 2030 unter den
fünf wichtigsten Ursachen von DALYs in Industrie-
                                                          haben während der Pandemie
ländern drei Sucht- bzw. psychische Erkrankungen          zugenommen und werden
finden werden: unipolare depressive Erkrankungen
an erster Stelle, Alzheimer und andere Formen der
                                                          wohl noch weiter zunehmen.
Demenz auf Platz drei und Alkoholerkrankungen auf
Platz fünf. Unterscheidet man nach Geschlechtern
werden bei Frauen weiterhin unipolare depressive          Sozialpsychiatrie der Zukunft hat mit einem vielfäl-
Erkrankungen sowie Alzheimer und andere Formen            tigeren Kreis von Patientinnen und Patienten zu tun
der Demenz die ersten beiden Plätze einnehmen.            als in der Vergangenheit. Sie werden jünger sein, die
Bei Männern werden Alkoholerkrankungen und uni-           Behandlungen werden zu einem früheren Zeitpunkt
polare depressive Erkrankungen für die meisten ver-       einsetzen, Prävention wird bedeutender. Die behan-
lorenen gesunden Lebensjahre verantwortlich sein.         delnden Teams werden stärker multi- und interdiszi-
Hinzu kommen häufige Komorbiditäten zwischen              plinär geprägt sein und das Ziel der Behandlung die
Suchterkrankungen und psychischen Erkrankungen,           soziale Komponente noch stärker im Fokus haben.
die mittlerweile gut untersucht sind.                             Auch wenn die Sozialpsychiatrie unter
                                                          anderem auf Grund der derzeitigen Pandemie in
Auf dem Weg zur Sozialpsychiatrie der Zukunft             zehn Jahren ganz anders aussehen wird als heute,
All das führt zu einer Vielzahl an Herausforderun-        eines bleibt bestehen: Die psychische Gesundheit
gen für die psychiatrische Behandlung und zurück          muss Priorität haben. Zum Wohle der Patienten und
zur Ausgangsfrage dieses Beitrags: Was bedeutet           Patientinnen, vor allem aber auch der Gesellschaft.
all dies für eine zeitgemäße sozialpsychiatrische         Daran müssen wir alle arbeiten.                     
Behandlung und Versorgung und in welcher Form
muss für die kommenden Jahre vorgesorgt werden?
Zunächst muss man sich der Breite psychiatrischer
Unterstützung bewusst werden. Die Psychiatrie ist
für alle Altersgruppen zuständig, allerdings mit
unterschiedlichen Zugängen. Und die Psychiatrie ist
außerdem für das gesamte psychische Erkrankungs-
spektrum verantwortlich. Von Zwangsstörungen
über Substanzabhängigkeiten bis hin zu Angst-
störungen reicht hier das Spektrum. Weiters ist es
notwendig, sich verstärkt der Früherkennung zu
widmen. Schon seit Längerem wissen wir, dass die

                                                      7
Momentum - Sucht(-behandlung) in Zeiten der Disruption: N 1/2022 - Suchthilfe Wien
8
Foto: Getty Images
Momentum - Sucht(-behandlung) in Zeiten der Disruption: N 1/2022 - Suchthilfe Wien
Digitale Sucht-
behandlung: Chancen
und Risiken
Nach beinahe zwei Jahren Suchthilfe unter den Bedingungen der Pandemie ist eine
Bestandsaufnahme von Herausforderungen und Möglichkeitsräumen angebracht.
Im Folgenden drei Perspektiven auf Aspekte der Behandlung, Prävention und Beratung
im Zeitalter der Digitalisierung.

Appgestützte Therapie: Dehumanisierung
oder sinnvolle Erweiterung?
OLIVER SCHEIBENBOGEN

S
       tellen Sie sich vor, Sie werden von einer           aufweisen. Viele geben Daten sogar zu Werbe- und
       Künstlichen Intelligenz bzw. einem Computer         Marketingzwecken an Dritte weiter. Doch wem
       aufgrund ihrer psychischen Probleme behan-          gehören über Tracking Apps gesammelte Daten?
delt und nicht, wie bisher üblich, von einem Ihnen         Wie sicher sind sie gespeichert? Denn während
gegenübersitzenden empathischen Menschen.                  sensible gesundheitsbezogene Daten auf spe-
Stellen Sie sich weiter vor, dieser „künstliche The-       ziell abgesicherten Gesundheitsservern abgelegt
rapeut“ befindet sich in Form Ihres Smartphones            werden, gelten diese Regelungen für Applika-
stets verfügbar in ihrer eigenen Hosentasche, alle         tionen aus Stores der Rubrik „Gesundheit und
in der Kommunikation erfassten Daten aber landen           Fitness“ zumeist nicht. Neben dem großen Thema
auf dem Server eines großen internationalen Tech-          Datenschutz bzw. Datensicherheit gibt es weitere
                                                                                                               DR. OLIVER
nologieunternehmens. Wer Zugriff auf Ihre sehr             ungelöste Probleme beim Einsatz von Smartphone-
                                                                                                               SCHEIBENBOGEN
intimen Daten hat und zu welchem Zweck diese               Apps zur Krankenbehandlung. Stellt sich nämlich
                                                                                                               studierte Psychologie
verwendet werden, ist nicht nachvollziehbar. Diese         eine Applikation als wirksam heraus, so muss doch   an der Uni Wien und
Dystopie könnte aus einem Science-Fiction-Roman            davon ausgegangen werden, dass es, ähnlich wie      der Humanuniversität
stammen. Wir sind einer solchen Zukunft jedoch             bei (Psycho-)Pharmaka, auch hier unerwünschte       Liechtenstein und
viel näher, als man vermuten möchte. Miralles              Nebenwirkungen gibt. Die Forschung zu diesem        ist ausgebildeter
                                                                                                               Klinischer und
et al. (2020) konnten in einem groß angelegten             Thema hat aber eben erst begonnen. Ein Haupt-
                                                                                                               Gesundheitspsycho-
Review zeigen, dass ein Drittel bis zur Hälfte aller       argument für den Einsatz App-gestützter Behand-
                                                                                                               loge. Er leitet den
untersuchten Apps zur Behandlung von psychi-               lungsverfahren ist etwa die propagierte Verrin-     Bereich Klinische
schen Problemen (ca. 10 Prozent davon solche zur           gerung der Zugangsschwelle zur Behandlung.          Psychologie am Anton
Suchtbehandlung) keine Datenschutzrichtlinien              Selbstbehandlungs-Apps können jedoch genau          Proksch Institut.

                                                       9
das Gegenteil bewirken, indem sie suggerieren,               Sicht werden Verstärkerfrequenzen möglich, die bei
                          dass bereits etwas Wirksames gegen die Proble-               wöchentlichen Therapiekontakten im Standardset-
                          matik unternommen wird und weitere fachliche                 ting undenkbar wären.
                          Hilfeleistung gegenwärtig nicht nötig sei.                           Der Einsatz von (Sucht-)Therapie-Apps sollte
                                  Ganz fundamental: Apps werden in der Regel           aber ausnahmslos in Kombination mit professio-
                          zur Behandlung eines eng umschriebenen Störungs-             neller Hilfe erfolgen. So können zwar physische
                          bildes konzipiert, z.B. ausschließlich zur Behandlung        Kontakte unter Umständen geringfügig reduziert
                          von Alkoholabhängigkeit. Ganzheitliche Behand-               werden, gänzlich darauf zu verzichten, würde jedoch
                          lungsansätze, die auch komorbide Störungen sowie             bedeuten, dass Patientinnen und Patienten weitge-
                          die Betrachtung weiterer systemisch relevanter Fak-          hend sich selbst überlassen werden – aus fachlicher
                          toren berücksichtigen, werden, obwohl in der tradi-          Behandlung wird Selbstbehandlung. Wie zahlreiche
                          tionellen Face-2-Face-Behandlung als Gold-Standard           Studien zeigen, ist therapeutische Guidance un-
                          seit Jahrzehnten etabliert, in digitalen Behandlungs-        erlässlich. Sie reduziert die Drop-Out-Rate drastisch
                          formen gänzlich ignoriert. Nichtsdestotrotz sollte           und verdoppelt sogar die Effektstärke von App-ge-
                          auf die Verwendung von Smartphone-Apps in der                stützten Interventionen. Auch für Smartphone-Apps
                          Behandlung psychischer Erkrankungen und damit                gilt, dass diese kein Ersatz für Face-2-Face-Begeg-
                          auch in der Therapie von Suchterkrankungen nicht             nungen zwischen Behandelnden und Patientinnen
                          verzichtet werden, denn sie bringen, bei richtiger           bzw. Patienten sein können.
                          Anwendung, viele Vorteile. Smartphones sind sehr                     Es ist weiters zwingend nötig, dass diese neu-
                          gut für therapeutische Zwecke nutzbar. Mittlerweile          en Technologien von Gesundheitsdiensteanbietern,
                          gibt es erste Hinweise, dass das Smartphone auf-             staatlichen Institutionen und Kostenträgern sowie
                          grund intensiven Gebrauchs zunehmend als Teil des            Universitäten eingesetzt bzw. beforscht werden und
                          eigenen Körpers wahrgenommen wird. Diese Omni-               nicht von großen Technologieunternehmen. Wollen
                          präsenz lässt therapeutisch induziertes Arbeiten an          wir diesen das Feld nicht gänzlich überlassen, müs-
                          den eigenen Problemen in nahezu allen Lebens-                sen wir uns künftig noch viel intensiver mit dieser
                          lagen zu. Aus kognitiv-verhaltenstherapeutischer             Thematik beschäftigen.

                          E-Mental Health in Behandlung und Prävention
                          LISA BRUNNER

                          Digitalisierung bringt es mit sich, dass immer mehr          und Substanz). Gleichzeitig äußert ein Großteil
                          Angebote und Dienstleistungen in den digitalen               der Betroffenen den Wunsch, etwas an Konsum
                          Raum wandern. Auch die Vermittlung von psychi-               und Verhalten zu verändern. Die Gründe, wieso
                          scher Gesundheitsvorsorge, Psychoedukation und               trotz Veränderungswunsch und Leidensdruck kein
                          sogar die Behandlung von psychischen Erkrankun-              klassisches Behandlungsangebot wahrgenommen
                          gen – wie zum Beispiel Substanzkonsumstörungen –             wird, sind individuell verschieden und vielseitig.
                          wird zunehmend mit Hilfe von Informationstechno-             Psychische Erkrankungen sind jedenfalls immer
                          logien angeboten. Der englische Begriff E-Mental             noch stigmatisiert und für Betroffene zum Teil mit
                          Health (EMH) versucht, diese neue Art von digitalen,         sehr viel Scham verbunden. Anonyme digitale An-
                          psychosozialen Maßnahmen zu umfassen. Diese rei-             gebote können daher eine sehr gute Möglichkeit
                          chen von selbstgesteuerter, unstrukturierter Psycho-         darstellen, Vorurteile abzubauen und Schritte der
                          edukation in Form von informativen Websites über             Veränderung zu setzen. Oft bestehen auch Glaube
                          soziale Unterstützung durch Online-Selbsthilfegrup-          und Wunsch, Schwierigkeiten selbst lösen zu müs-
                          pen bis zu strukturierter, internetgestützter Einzel-        sen. Da viele EMH-Maßnahmen eigenständig von
                          Psychotherapie. Alle eint das Ziel, die Reichweite           zuhause gesetzt werden, können sie das Gefühl
                          bestehender Angebote zu erhöhen, kostengünstige              der Selbstwirksamkeit erhöhen.
                          Alternativen anzubieten und (Be-)Handlungsbarrie-                    Digitale Angebote ergänzen zudem beson-
MAG.A LISA                ren so gering wie möglich zu halten.                         ders im ländlichen Raum das Hilfssystem, da sie spe-
BRUNNER                                                                                zialisierte und effektive Maßnahmen ohne jegliche
ist Leiterin des          Eine große Chance                                            räumliche Barriere direkt zu den Klientinnen und
Instituts für Suchtprä-   Die Anwendung von EMH-Maßnahmen in der                       Klienten bringen. Damit Personengruppen ohne
vention der Sucht- und
                          Prävention und Behandlung von Substanzkonsum-                (schnelle) Internetanbindung nicht ausgeschlossen
Drogenkoordination
                          störungen ist eine große Chance. Laut aktuellen              werden, muss dieser Umstand bei der Planung von
Wien und Vorstands-
vorsitzende der           Studien befindet sich nur ein Bruchteil der Perso-           Versorgungsnetzwerken berücksichtigt werden. Ein
Österreichischen ARGE     nen mit Substanzkonsumstörungen in professio-                weiterer Vorteil von EMH-Maßnahmen: Sie sind stets
Suchtvorbeugung.          neller Behandlung (etwa 25 Prozent je nach Studie            verfügbar und flexibel in den Alltag integrierbar.

                                                                                  10
Nicht unwesentlich für Angebote des öffentlichen               werden geschont. Kleinere medizinische oder
Gesundheitssystems ist der Kostenfaktor. EMH-                  psychosoziale Teams können zeitnah effektive
Maßnahmen sind kosteneffizient. Nach initialer                 Hilfe anbieten. Besonders bei Suchterkrankungen
Entwicklung sind flächendeckende Ausweitung                    hat sich gezeigt, dass frühzeitige Interventionen
und Skalierung oft relativ günstig möglich. Auch               besonders wirksam sind. Genau das ermöglichen
personelle und klientenbezogene Ressourcen                     digitale Angebote.

Niederschwellige Suchtarbeit im digitalen Zeitalter
BETTINA HÖLBLINGER

Die Suchthilfe Wien bietet seit über 20 Jahren mit             in der Homebase nach Online-Buchung eines
der Initiative checkit! mobiles Integriertes Drug              Termins zweimal wöchentlich, IDC über Apotheken
Checking (IDC) auf Events in Wien und Umgebung                 aktuell an zwei Standorten in Wien genutzt werden.
an. Im Rahmen des IDC wird das gewonnene Ana-                  Die Proben werden online angemeldet, verpackt
lyseergebnis mit einem Informations- oder Be-                  sowie mit einem Probencode versehen und dann
ratungsgespräch verknüpft, um optimale Sucht-                  in eine Probenbox eingeworfen. Informations- und
prävention zu ermöglichen. Durch Drug Checking                 Beratungsgespräche finden aufgrund der Pande-
gelingt der Zugang zu einer schwer erreichbaren                mie online via verschlüsselter E-Mail-Nachricht,
Personengruppe, die mit klassischen Angeboten                  telefonisch oder per Videochat statt. Auf Wunsch
der Suchthilfe nur schwer erreicht wird.                       kann unter Einhaltung aller Sicherheitsmaßnahmen
        Folgende Zielsetzungen bilden den Kern des             auch ein persönlicher Termin stattfinden.
IDC: Risikoreduktion durch objektive Information,
Harm Reduction, Frühintervention bei Konsumen-                 Konsummuster berücksichtigen
tinnen und Konsumenten, die an der Schwelle eines              Mit diesem Angebot sollen unter anderem jene
problematischen Konsums stehen, Förderung von                  Freizeitdrogenkonsumentinnen und -konsumenten
Risikobewusstsein und Risikokompetenz sowie einer              erreicht werden, die andere Konsummuster auf-
drogenkonsumkritischen Haltung, Warnung vor                    weisen als jene auf Events. Dabei handelt es sich
gesundheitlich bedenklichen Substanzen sowie der               z.B. um Menschen, die mittels Substanzkonsum
Gewinn von wissenschaftlichen Erkenntnissen über               ihre Leistung steigern wollen; Personen, die sich
Substanzen, Konsumverhalten, Motive und Trends.                Substanzen nach Hause bestellen und auch dort
                                                               konsumieren; Psychonautinnen und Psychonau-
Herausforderung Digitalisierung                                ten; Hochrisikokonsumentinnen und -konsumenten
Die Digitalisierung erweist sich als große Herausfor-          oder Konsumentinnen und Konsumenten synthe-
derung für die Suchtprävention generell und damit              tischer Cannabinoide. Zusätzlich ermöglicht das
auch im Rahmen des IDC. Sie beeinflusst den Dro-               neue System ein umfassenderes Monitoring von
genhandel selbst und verändert die Verfügbarkeit               Hochrisikosubstanzen und soll genauere Daten zu
von Substanzen. Dies kann zum Entstehen neuer                  Konsummotivationen und-mustern liefern. Es ist
Konsumierendengruppen bzw. neuer Konsummoti-                   ein weiterer Schritt auf dem Weg, sucht- bzw. kon-
ve beitragen. Auch während der Pandemie werden                 sumspezifische Angebote ins allgemeine medizini-
verstärkt verschlüsselte Nachrichtendienste und                sche und soziale Hilfsangebot zu integrieren.
Social-Media-Plattformen adaptiert, Drogenmärkte                      IDC in der Homebase und in Apotheken
weiter digitalisiert. Institutionen wie die Europäische        wird sehr gut angenommen, die Anzahl der Bera-
Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht                  tungs- und Informationsgespräche ist gestiegen.
gehen davon aus, dass dieser Prozess nach Ende                 Dazu trägt bei, dass das Angebot auch während der
der Corona-Krise weiter vorangetrieben wird.                   Pandemie – mit Adaptionen – umsetzbar bleibt. 
       checkit! reagiert darauf mit einem er-
                                                                                                                    BETTINA
weiterten Angebot von Drug Checking in der                                                                          HÖLBLINGER,
Homebase (= Beratungs- und Informationsstelle in                                                                    BA MSc ist
der Wiener Gumpendorferstraße 8) und in Apo-                                                                        Sozialarbeiterin. Seit
theken speziell im Rahmen der Früherkennung und                                                                     Dezember 2021 ist
Frühintervention. Zusätzlich können seit Ende 2019                                                                  sie Bereichsleiterin
                                                                                                                    der Suchtprävention
psychoaktive Substanzen nun auch abseits von
                                                                                                                    der Suchthilfe Wien
Events in der Homebase abgegeben werden, seit                  Informationen über weiterführende Literatur          GmbH und leitet die
Juni 2020 im Rahmen eines Pilotprojekts auch in                zu den drei vorangegangenen Texten stellen           Einrichtung checkit! –
ausgewählten Apotheken; in beiden Fällen kosten-               wir auf Anfrage gerne zur Verfügung:                 Kompetenzzentrum
frei und anonym. Derzeit kann das IDC-Angebot                  abo@api.or.at                                        für Freizeitdrogen.

                                                          11
So fern und
                        doch so nah!
                        Formen video- und telefongestützter
                        Suchtbehandlung mussten angesichts von
                        COVID-19 oft ad hoc umgesetzt werden,
                        haben sich seither aber in vielerlei Hinsicht
                        als vorteilhaft erwiesen. Doch wichtige
                        Fragen bleiben offen.

                                                                                                                      Foto: Getty Images
                        WOLFGANG BEIGLBÖCK

                        W
                                    o waren Sie am 16. März 2020? Ich für           ersten Chaos der Umstellungen überwunden war,
                                    meinen Teil befand mich damals mit              begannen wir daher, uns einige Fragen zu stellen:
                                    insgesamt 33 Patientinnen und Patienten
                        in der Tagesklinik des Anton Proksch Instituts und          1. Dürfen wir das?
                        musste ihnen angesichts des Inkrafttretens des ers-         Die Richtlinien des Psychotherapiebeirates wur-
                        ten bundesweiten Lockdowns erklären, dass sie jetzt         den bisher nicht geändert und die Richtlinien des
                        wieder nach Hause gehen müssten. Wir würden                 Psychologenbeirates zu diesem Themenkomplex
                        anrufen und mitteilen, wie es weitergeht.                   sind noch in Ausarbeitung. Wenn also diese als
                               Bereits am Tag danach setzten wir die                Richtschnur unseres professionellen Handelns
                        begonnene Psychotherapie zunächst telefonisch               herangezogen werden sollen, dann dürfen wir nicht.
                        fort. Nach Abklärung der technischen Bedingungen            Im Zuge einer typisch österreichischen Lösung wird
                        starteten wir auch die videobasierte Einzel- und            die teletherapeutische Behandlung jedoch be-
                        Gruppentherapie. Wenige Wochen danach forderte              zahlt – und wenn wir unsere Kassenverträge erfüllen
                        die ÖGK jene Vereine, die im Zuge eines Rahmen-             wollen, dann müssen wir es wohl tun. Ähnlich die Si-
                        vertrages Psychotherapie anbieten, auf, diese online        tuation im medizinischen Bereich: In Honorierungs-
                        (synchron) zu offerieren – etwas, das bis dahin             richtlinien sind telemedizinische Verfahren bereits
                        dezidiert verboten war. Kurze Zeit später wurde die         inkludiert und reglementiert.
                        Online-Therapie bzw. -Krankschreibung auch im                       Juristinnen und Juristen stellen die rechtli-
                        medizinischen Bereich akzeptiert und bezahlt, sowie         chen Rahmenbedingungen allerdings – mit Aus-
                        die Chefarztpflicht für die (Weiter) Verschreibung          nahme des Telegesundheitsdienstes – als weiterhin
UNIV. LEKTOR            einer Substitutionstherapie aufgehoben.                     nur teilweise abgesichert dar. Obwohl wir also alle
DR. WOLFGANG                   Wir waren also durch die normative Kraft des         teletherapeutische bzw. telemedizinische Behand-
BEIGLBÖCK               Faktischen gezwungen, zu tun, was in der Richtlinie         lungsschritte setzen, ist diese Tätigkeit nur mäßig
ist Klinischer
                        des Psychotherapiebeirates noch als nicht lege artis        juristisch abgesichert. Gemäß europäischem Recht
Psychologe und
                        bezeichnet wurde: nämlich die Durchführung einer            müssten zudem zumindest sechs EU-Direktiven zu
Psychotherapeut
                        Therapie via Internet (die psychotherapeutische Be-         Telehealth-Maßnahmen berücksichtigt werden, die
mit jahrzehnte-
langer Erfahrung in
                        ratung wurde allerdings erlaubt). Konsequenz dieser         auch schon in österreichisches Recht übernommen
Suchttherapie und       Vorschrift: Kaum eine der handelnden Personen ver-          wurden. Die rechtliche Absicherung unseres Tuns ist
Suchtbehandlung;        fügte über Erfahrung, geschweige denn Training mit          also deutlich ausbaubar – ganz abgesehen von den
Lehrtätigkeit an meh-   dieser spezifischen Form der (Sucht)Behandlung. Die         Berufshaftpflichtverträgen, die solche Behandlungs-
reren Universitäten.    Verbote begannen sich zu „rächen“. Nachdem das              methoden noch gar nicht berücksichtigen.

                                                                               12
2. Ist das überhaupt effektiv?                              sche Behandlung. Aus internationaler Sicht wären vor
Befragt man Therapeutinnen und Therapeuten                  allem folgende Bereiche zu beachten:
zur Wirksamkeit teletherapeutischer bzw. teleme-
dizinischer Maßnahmen, so ist die überwiegende                Technische Voraussetzungen (Datensicherheit,
                                                            • 
Mehrheit der Ansicht, dass diese deutlich weniger             digital literacy etc.)
effektiv seien als Face-to-Face Therapie. Sieht man           Administrative Voraussetzungen (informed con-
                                                            • 
sich jedoch diverse Reviews und Metaanalysen an,              sent, (versicherungs)rechtliche Absicherung etc.)
so kann man feststellen, dass sich die Behandlungs-           Klinische Voraussetzungen (Standardprotokoll,
                                                            • 
erfolge bei einer Reihe von psychiatrischen Erkran-           Indikation, Kontraindikation etc.)
kungen wie etwa Angststörungen, Depressionen,                 Ethische Überlegungen (Aus- und Fortbildung,
                                                            • 
PTSD aber auch bei sogenannten „serious mental                Supervision, Evaluation etc.)
health disorders“ (Schizophreniespektrumerkran-
kungen, major depressive disorder, borderline PS)           Abschließend bleibt festzuhalten, dass es viele Vor-
nicht signifikant unterscheiden.                            teile bringt, Patientinnen und Patienten auch mit
        Der Einwand, dass das für die Suchtbehand-          video- und telefongestützter Suchtbehandlung zu
lung so nicht gelten kann, da man ja die Abstinenz          begleiten (in Einzeltherapie oder, im Rahmen von
nicht überprüfen könne, hält wissenschaftlichen             Gruppentherapie, auch in Hybridgruppen). Man
Untersuchungen ebenfalls nicht stand. In den                denke nur an immobile Patientinnen und Patienten,
USA werden nach einer initialen persönlichen                an die Möglichkeit schnellerer Intervention oder
Diagnostik und begleitenden Harnkontrollen                  an die Versorgungsmöglichkeit in Gegenden, wo
mittlerweile sogar Substitutionsbehandlungen                der Zugang zu diesen Leistungen sonst sehr ein-
mit Buprenorphen telemedizinisch/-therapeutisch             geschränkt ist. Um dieses Potenzial zu realisieren,
umgesetzt. Das hatte zur Folge, dass bereits vor            wird es allerdings nötig sein, rechtliche und pro-
der COVID-19-Pandemie von rund 70 Prozent der               fessionelle Rahmenbedingungen zu schaffen bzw.
amerikanischen Suchtbehandlungseinrichtungen                diese eindeutig zu definieren.                    
diese Art der Behandlung angeboten wurde.

3. Worauf müssen wir achten?
Leider existieren kaum umfassende europäische               Informationen über weiterführende Literatur
oder österreichische Richtlinien bzw. professionelle        zu diesem Text stellen wir auf Anfrage gerne
Handlungsanweisungen zum Thema teletherapeuti-              zur Verfügung: abo@api.or.at

                                                       13
Wie es
weitergeht
Suchtarbeit nach der
Pandemie wird sich anders
darstellen als davor. Stimmen
aus der Praxis plädieren für
einen therapeutischen Ansatz,
der auch im Regelbetrieb
analoge und digitale Elemente
kombiniert.

                                Ein kompletteres                       Wertvolle
                                Bild erschaffen                        Ergänzung

                                „   Behandelnde, Patientinnen         „   Die Vorteile virtueller Be-
                                     und Patienten haben seit               treuungsleistungen liegen
                                     Ausbruch der Pandemie                  auf der Hand: Neben höherer
                                     gelernt, digital in Kontakt zu         zeitlicher und örtlicher Flexi-
                                     bleiben, wenn ein Treffen vor          bilität etwa die Möglichkeit
                                     Ort nicht mehr möglich war.            zur rascheren nachgehenden
                                     Ein Patient berichtete, dass           Arbeit sowie der ressourcen-
                                     die Distanz es zugelassen              schonende Einsatz motivie-
                                     hätte, sich rascher zu                 render Kurzinterventionen.
                                     öffnen. Ich wurde von vielen           Können oder wollen Patien-
                                     Patientinnen und Patienten im          tinnen und Patienten nicht in
                                     digitalen Kontakt auf einen            die Therapieeinrichtung ge-
                                     Rundgang in ihr Zuhause                hen, sind virtuelle Angebote
                                     eingeladen. Das hat mein Bild          eine wertvolle Ergänzung. An
                                     kompletter gemacht, als es             ihre Grenze kommen sie je-
                                     im analogen Kontakt möglich            doch bei akuten intensiveren
                                     gewesen wäre. Dies sind nur            bzw. psychotischen Krisen
                                     zwei Beispiele dafür, dass es          oder suizidalen Patientinnen
                                     sinnvoll ist, auch zukünftig           und Patienten. Auch die Ein-
                                     digitale Möglichkeiten                 schränkung des Interventions-
                                     in der Behandlung von                  spektrums sowie – bei rein
                                     Suchtkranken in petto                  telefonischen Kontakten –
                                     zu halten – auch wenn                  der Wegfall der nonverba-
                                     der analoge Kontakt das                len Ebene sind limitierende
                                     Bestmögliche bleiben wird.             Variable.

                                MAG.A DR.IN UTE ANDORFER               DR.IN BARBARA GEGENHUBER, MA
                                Klinische und Gesundheitspsychologin   Klinische- und Gesundheitspsychologin,
                                sowie Verhaltenstherapeutin am Anton   Geschäftsführerin Schweizer Haus Hadersdorf
                                Proksch Institut

                                                     14
Menschliche                                        Neue Wege,                                    Krise engmaschig
Beziehung                                          breites Angebot                               abfangen

„   In der Zeit der Pandemie                      „   Die Mittel und Wege der                  „   Online-Behandlungsangebo-
     haben, mitbedingt durch                            Digitalisierung wurden nicht                  te wurden von vielen Patien-
     Gefühle von Einsamkeit und                         unbedingt für klassische                      tinnen und Patienten gut und
     Isolation, Suchterkrankungen                       Suchtbehandlung gedacht                       gerne angenommen. Sie
     stark zugenommen. Sie trägt                        und erfunden. Doch viele                      zeigten sich hinsichtlich be-
     zur Störung des mensch-                            schätzen auch diese neue                      stimmter Störungsbilder für
     lichen Beziehungs- und Bin-                        und andere Form der Sucht-                    die Behandlung besonders
     dungsbedürfnisses bei und                          arbeit. Schließlich wurde trotz               unterstützend und ermög-
     betrifft sehr viele Bereiche                       Pandemie einer vulnerablen                    lichend. Zum Teil hat sich dies
     des Zusammenlebens. So-                            Zielgruppe ein breites Spek-                  zwar symptomverstärkend
     ziale Kommunikation wurde                          trum an Angeboten zur Ver-                    ausgewirkt, der Krisenzu-
     von der realen in die virtuelle                    fügung gestellt. Patientinnen                 stand konnte aber engma-
     Welt verlagert, die psycho-so-                     und Patienten erleben, dass                   schiger abgefangen werden.
     ziale Betreuung von Sucht-                         Behandlung unkompliziert                      In Zukunft wird sehr wahr-
     klientinnen und -klienten                          und aufsuchend sein kann.                     scheinlich die analoge und
     musste zu weiten Teilen über                       Wie viel und welche dieser                    digitale Behandlungsoption
     Internet bzw. Telefon stattfin-                    Methoden wollen und sollen                    das Optimum darstellen, was
     den. Die virtuelle Dimension                       wir in die Zukunft mitnehmen?                 vielleicht auch als positiver
     stellt eine wichtige Erweite-                      Haben wir mit der veränder-                   Outcome der Corona-Pan-
     rung der Möglichkeiten des                         ten Form der Betreuung alle                   demie verzeichnet werden
     therapeutischen Umgangs                            Klientinnen und Klienten so                   kann. Nur durch eine Kom-
     mit Suchterkrankungen dar,                         erreicht, wie es sein soll? Wie               bination kann eine optimale,
     kann aber den Wert realer                          kann es gelingen, manche ins                  kontinuierliche Behandlung
     menschlicher Beziehung                             alte Modell der Betreuung                     störungs- wie auch situations-
     nicht ersetzen!                                    zurückzuholen?                                spezifisch etabliert werden.

PRIV. DOZ. DR.DR.                                  URSULA ZEISEL, MAS                            MAG.A DR. BIRGIT KÖCHL
HUMAN-FRIEDRICH UNTERRAINER                        Diplomierte Sozialarbeiterin, psychosoziale   Klinische und Gesundheitspsychologin,
Klinischer und Gesundheitspsychologe;              Leiterin beim Verein Dialog                   Psychotherapeutin in freier Praxis sowie
Psychotherapeut., Leitung Zentrum für Integrati-                                                 beim Verein p.a.s.s.
ve Suchtforschung, Verein Grüner Kreis

                                                                         15
1,5 Jahre Pandemie –
eine visuelle
Bestands­­aufnahme
Für den zweiten Kurzbericht (Untersuchungszeitraum
Frühjahr 2020 – Herbst 2021) des von der Stiftung
Anton Proksch-Institut Wien beauftragten
Forschungsprojekts Sucht(behandlung) in der Krise ¹
wurden kurz- und mittelfristige Auswirkungen
der Corona-Pandemie auf individueller und
organisationaler Ebene analysiert. Dabei zeigen sich
Verände­rungen unterschiedlichen Ausmaßes.

           Veränderungen bei Unterstützungsangeboten

             Psychosoziale Belastungen   Starke ­Einschränkungen            Ausbau von
                  treten noch mehr             bei Therapien          Telehealth-Angeboten in
                 in den Vordergrund         im Gruppen­setting       der ambulanten Versorgung

               Weniger ­bürokratische       Verstärktes Vertrauen     Deutlicher Rückgang bei
                   Hürden bei der        in eigenverantwortliches   Erstbehandlungen im Bereich
              Substitutionsbehandlung     Handeln der KlientInnen      der illegalen Substanzen

                                                    16
Veränderungen bei Suchtmittelkonsum

   Alkoholkonsum nimmt etwas ab und
   verlagert sich in den privaten Bereich

                              Reduktion
                                                                                  Mehr
                              um 3–6 % bei
                                                                                  Alkoholkonsum
                              Alkoholkonsum
                                                                                  zuhause
                              pro Kopf ²

           Auch wenn Alkoholkonsum insgesamt etwas abgenommen hat, bestehen Indizien,
           wonach Personen mit erhöhtem Konsum und Personen mit psychosozialen ­Belastungen
           ihren Konsum gesteigert haben.

   Keine Veränderungen bei Tabakkonsum
   und illegalen Substanzen

                                                                                  Verfügbarkeit
                              Pandemie hat
                                                                                  und Preis­stabilität
                              keinen Einfluss
                                                                                  trotz sozialer
                              auf Tabakkonsum
                                                                                  Einschränkungen

           Laut Behörden kam es, trotz starker Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens,
           weder zu auffälligen Veränderungen bei der Qualität von illegalen Substan­zen,
           noch zu größeren Verschie­bungen des Suchtmittelhandels ins Internet/Darknet.

                                                                                                         ¹ Das Forschungsprojekt
                                                                                                            wurde vom Bundes­
                                                                                                            ministerium für
                                                                                                            Soziales, Gesund­
   Weniger Glückspiel und Sportwetten,                                                                      heit, Pflege und

   dafür mehr Online-Glücksspiel                                                                            Konsumenten­schutz
                                                                                                            (BMSGPK) kofinanziert
                                                                                                            und vom Kompetenz­
                                                                                                            zentrum Sucht der
                                                                                                            Gesundheit Österreich
                              Bruttospielerträge                                                            GmbH (GÖG)
                                                                                  Anstieg von               durch­geführt. Als
                              bei Glücksspiel
                                                                                  Erträgen bei              Datenquellen wurden
                              und Sportwetten                                                               23 Experteninterviews
                                                                                  Online-Glücksspiel
                              nehmen ab                                                                     durchgeführt.

                                                                                                         ² Der durchschnittliche
           Bruttospielerträge, also jene, die nach Abzug der Gewinnauszahlungen ­gegenüber                  Pro-Kopf-Konsum von
           dem Spieleinsatz beim Glücksspielunternehmen bleiben, gingen bei legalem                         Alkohol wird von der
           ­Glücksspiel und Sportwetten im Jahr 2020 um knapp 15 Prozent zurück.                            Statistik Austria immer
                                                                                                            mit Jahres­­mitte datiert.
            Online-Glücksspiel als besonders riskante Form des Glücksspiels gewinnt dagegen
                                                                                                            Vergleichszeitraum:
            an Bedeutung: Hier stiegen die Brutto­spielerträge um sieben Prozent an.
                                                                                                            ­Sommer 2019 bis
                                                                                                             Sommer 2020 und
                                                                                                             Sommer 2018 bis
                                                                                                             Sommer 2019.

                                                   17
Nikotinsucht und
                         wie sie behandelt
                         werden kann
                         Im Rahmen des Wiener Suchtsymposiums 2021 wurde auch ein
                         eintägiger Pre-Congress-Workshop zum Thema Tabakabhängigkeit
                         abgehalten. Ein Überblick zu Prävalenz, Diagnose und Behandlung.
                         SOPHIE MEINGASSNER

                         N
                                 ikotinabhängigkeit in Form von täglichem               Belohnungszentrum und bewirkt so die Entwicklung
                                 inhalativem Zigarettenrauchen ist die Sucht-           des Suchtverhaltens. Konflikte infolge des Nikotin-
                                 erkrankung mit der höchsten Prävalenz                  konsums kommen in partnerschaftlichen Beziehun-
                         in Österreich, sie betrifft 1,5 Millionen Menschen.            gen, Eltern-Kind-Beziehungen, Nachbarschaften und
                         Jede fünfte Person, älter als 15 Jahre, raucht täglich.        betrieblichen Settings vor, bleiben jedoch in einem
                         Männer rauchen häufiger als Frauen (23,5 Prozent               Rahmen, der – anders als etwa bei der Alkoholabhän-
                         bzw. 17,8 Prozent). Weitere 6,6 Prozent der Männer             gigkeit – selten Beziehungsabbruch oder Jobverlust
                         und 4,7 Prozent der Frauen rauchen gelegentlich.               bewirkt. In anderen Situationen wird das Rauchver-
                         Die Entwicklung der Abhängigkeit erfolgt meist im              halten manchmal als „Coping“-Strategie zur Stressbe-
                         Jugendalter, der Großteil der nikotinabhängigen                wältigung, zur Aufrechterhaltung der Stabilität oder
                         erwachsenen Personen hat im Alter bis zu 20 Jahren             zur Regulierung der emotionalen Balance benutzt.
                         mit dem Konsum begonnen. Viele Raucherinnen und                        Als gesundheitlicher Risikofaktor ist das Rau-
                         Raucher wollen ihr Rauchverhalten ändern, ein Drittel          chen umso relevanter. Der Konsum bedingt diverse
                         hat im letzten Jahr einen Rauchstopp unternommen,              Folgeerkrankungen und erhöht die Mortalität. Die
                         der jedoch nicht zur Abstinenz geführt hat. Evidenz-           Schädigungen durch Tabak- und Nikotinkonsum
                         basierte Entwöhnangebote wurden dabei selten in                betreffen den ganzen Körper und wirken sich bei
                         Anspruch genommen.                                             Schwangeren auf das ungeborene Kind aus. Die Ge-
                                                                                        sundheitsschäden entwickeln sich meist schleichend,
MMAG.A SOPHIE            Suchtproblematik versus                                        sie sind selten direkt und ausschließlich auf das
MEINGASSNER              Gesundheitsgefährdung                                          Rauchen zurückzuführen. Das fördert ihre Verharmlo-
Fachliche Leiterin des   Eine Besonderheit der Nikotinabhängigkeit ist, dass            sung. So gibt es die Diagnose „Raucherhusten“ nicht,
Rauchfrei Telefons und
                         die Sucht an sich individuell und gesellschaftlich             es handelt sich dabei oft um erste Anzeichen einer
des Themenbereichs
Tabak und Nikotin in
                         gesehen eher unproblematisch ist. Zigaretten sind              chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung. So gut
der Österreichischen     legal erhältlich – und zwar sehr einfach, günstig und          wie alle Bereiche der Medizin sind durch den Risiko-
Gesundheitskasse,        weitverbreitet. Die psychoaktiven Wirkungen des                faktor Rauchen betroffen (Kardiologie, Onkologie,
Studium der Psycholo-    Nikotins beeinträchtigen die Funktionstüchtigkeit der          Pneumologie, Chirurgie, Zahnheilkunde u.v.m.).
gie und der bildenden    rauchenden Person nicht, bzw. helfen sogar kurzfris-                   Raucherinnen und Raucher leben daher
Kunst, Ausbildung zur
                         tig bei der Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeit               kürzer als Nichtraucherinnen und Nichtraucher:
Klinischen Psycho-
                         und Konzentration. Nikotin ist ein Suchtstoff mit ho-          Rund die Hälfte der Personen, die langfristig
login und Gesund-
heitspsychologin, div.   hem Suchtpotential, der durch die Inhalation inner-            rauchen, sterben frühzeitig an den Folgen. Viele Er-
Fortbildungen zur        halb von sieben Sekunden seine Wirkung im Gehirn               krankungen mit Todesfolge (ischämische Herzkrank-
Nikotinentwöhnung.       entfaltet. Er verursacht Dopaminausschüttungen im              heiten, chronisch-obstruktive Lungenerkrankungen,

                                                                                   18
Foto: Getty Images

19
Tracheal-, Bronchial- und Lungenkrebs, Schlaganfall         Diagnostik eingesetzt werden. Ein weiterer wich-
und Diabetes) können direkt mit dem Risikofaktor            tiger Aspekt ist die Dokumentation des Konsums.
Rauchen in Zusammenhang gebracht werden.                    Aufgrund der Diagnosestellung Nikotinabhängig-
                                                            keit ergibt sich die Therapieindikation Nikotinent-
                                                            wöhnung. Die Therapie soll in Form von evidenzba-
                                                            sierter Tabakentwöhnung erfolgen.
  Schädigungen durch
                                                            Behandlung der Nikotinabhängigkeit
   Tabak- und Nikotin-                                      Die gesundheitsschädigenden Folgen der Nikotinab-
 konsum betreffen den                                       hängigkeit sind vermeidbar. Zum einen kann durch
                                                            die Prävention des Nikotinkonsums auf der Verhält-
       ganzen Körper.                                       nisebene sehr viel bewirkt und die Prävalenz langfris-
                                                            tig gesenkt werden (Gesetzgebung, Preisgestaltung,
                                                            Verfügbarkeit des Suchtstoffes). Zum anderen kann
                                                            durch die Entwöhnung der abhängigen Personen die
Rauchen bedingt rund 1.090 Todesfälle pro Monat:            Ausstiegsrate unmittelbar gesteigert werden. Es gibt
Im Rahmen des „Global Burden of Disease“-Mo-                evidenzbasierte und effektive Entwöhnangebote, die
nitorings wird für Österreich für das Jahr 2019 ge-         beim Ausstieg auf psychischer und körperlicher Ebe-
schätzt, dass ca. 13.100 Todesfälle bzw. 16 Prozent         ne helfen. Dabei sind unterschiedliche Intensitäten
aller Todesfälle auf das Rauchen von Tabak (inklusi-        der Unterstützung verfügbar und sinnvoll: von der
ve Passivrauchen) zurückzuführen sind. Die Folgen           Kurzintervention in der allgemeinen Versorgung, der
der Nikotinabhängigkeit belasten insofern auch auf          telefonischen Beratung über ambulante Programme
volkswirtschaftlicher Ebene das Gesundheitswesen.           bis hin zur stationären Nikotinentwöhnung, alles oft
                                                            kombiniert mit Unterstützung durch Nikotinersatzpro-
Diagnose der Nikotinabhängigkeit                            dukte oder andere unterstützende Medikamente.
Das ICD 10 beschreibt „Psychische und Verhaltens-                   Der „Rauchstopp“ ist ein längerer Prozess,
störungen durch Tabak“ im Bereich „Psychische und           in dem verschiedene Stadien der Veränderung
Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen“           durchlaufen werden. Das Stufenmodell der Ver-
unter F 17. Die Möglichkeit der Abbildung reicht von        haltensänderung von Prochaska und DiClemente
F 17.0 (akute Intoxikation) über F 17.3 (Entzugssyn-        bietet einen guten Hintergrund für individuelle
drom) bis zu F17.9 (nicht näher bezeichnete psychi-         Zieldefinition und Auswahl der geeigneten
sche und Verhaltensstörungen). Das Abhängigkeits-           Interventionsstrategien. Von der Phase der
syndrom wird mit der Codierung F 17.2 dargestellt.          Absichtslosigkeit, in der noch kein Problembe-
                                                            wusstsein vorhanden ist, der Absichtsbildung, in
Sind mindestens drei der sechs folgenden Symp-              der sich Ambivalenz bzw. Dissonanz entwickeln,
tome im letzten Jahr aufgetreten, ist die Diagnose          über die Vorbereitung, die Handlung, bis hin zur
Nikotinabhängigkeit zutreffend:                             Aufrechterhaltung der Abstinenz (inklusive des
                                                            Umgangs mit Rückfällen) ergeben sich in Bezug
• starker Wunsch, die Substanz einzunehmen                 auf die physischen und psychischen Aspekte der
• Schwierigkeiten, den Konsum zu kontrollieren             Abhängigkeit unterschiedliche Ansatzpunkte der
   oder zu beenden                                          Therapieplanung.
• anhaltender Substanzgebrauch trotz                               Wissensvermittlung zur Wirkung von Nikotin
   schädlicher Folgen                                       und den Folgewirkungen, Risikosensibilisierung,
• körperliches Entzugssyndrom                              Förderung der Veränderungsmotivation, Ziel- und
• Substanzgebrauch wird Vorrang vor anderen                Erwartungsabklärung, Stärkung der Selbstwirk-
   Aktivitäten und Verpflichtungen gegeben                  samkeitserwartung und die Beobachtung des
• Toleranzerhöhung                                         Rauchverhaltens sind wichtige erste Bestandteile,
                                                            die vor allem verhaltenstherapeutisch basiert sind.
Die S3-Leitlinien zu Rauchen und Tabakabhängig-             Die S3-Leitlinien betonen die Bedeutung einzelner
keit: Screening, Diagnostik und Behandlung, die             Komponenten für die Effektivität der Behandlung.
2021 aktualisiert wurden, empfehlen ein systema-            So wird empfohlen, dass verhaltenstherapeutische
tisches Screening zur Erhebung der Abhängigkeit:            Behandlungen zur Unterstützung der Tabak-
Alle Patientinnen und Patienten sollen beim ersten          abstinenz mehrere Komponenten, insbesondere
(für eine umfassende Anamnese geeigneten) Kon-              Psychoedukation, Motivationsstärkung, Maßnah-
takt sowie in regelmäßigen Abständen im Behand-             men zur kurzfristigen Rückfallprophylaxe, Interven-
lungsverlauf nach ihrem Konsum von Tabak oder               tionen zur Stärkung der Selbstwirksamkeit, sowie
E-Zigaretten oder verwandten Produkten gefragt              alltagspraktische Beratung mit konkreten Verhal-
werden. Weiter soll der Fagerström-Test für Zigaret-        tensinstruktionen und praktischen Bewältigungs-
tenabhängigkeit (FTZA) bzw. die Kurzform Heavi-             strategien (Problemlöse- und Fertigkeitentraining,
ness of Smoking Index (HSI) zur weiterführenden             Stressmanagement) beinhalten sollten.

                                                       20
Nikotinabhängigkeit im Kontext psychiatrischer                   Patientinnen und Patienten können per Fax oder
Komorbidität                                                     online direkt für ein Beratungsgespräch angemeldet
Personen mit psychiatrischen Erkrankungen weisen                 werden. Das Team des Rauchfrei Telefons meldet sich
eine hohe Prävalenz der Nikotinabhängigkeit und                  nach wenigen Werktagen für ein erstes unverbind-
tabakassoziierter Folgeerkrankungen auf. Nikotin-                liches Informations- oder Beratungsgespräch.
entwöhnung für psychiatrische Patientinnen und
Patienten ist in vielen Settings noch die Ausnahme.              Unterstützung der Entwöhnung auf der
Gleichzeit ist der Rauchstopp angesichts vieler kör-             Verhältnisebene
perlicher Risikofaktoren oft besonders dringlich und             Auch auf der Verhältnisebene können Maßnahmen
die Behandlung der Nikotinabhängigkeit angesichts                zur Steigerung der individuellen Veränderungs-
der Komorbiditäten herausfordernd. Die S3-Leitlinie              motivation und zur Unterstützung der Nikotinent-
bietet auch für die Behandlung von Personen mit                  wöhnung im Gesundheitswesen umgesetzt werden.
psychiatrischen Komorbiditäten klare Behandlungs-                Rauchfreie Rahmenbedingungen zeigen Möglich-
empfehlungen. So soll die Nikotinabhängigkeit                    keiten für Handlungsalternativen auf und erleichtern
erfasst und dokumentiert werden, die Empfehlung                  abstinentes Verhalten. Das Österreichische Netz-
zum Ausstieg gegeben werden und entsprechende                    werk gesundheitsfördernder Krankenhäuser und
Therapieangebote unterbreitet werden.                            Gesundheitseinrichtungen (ONGKG) unterstützt
                                                                 dabei: Gesundheitseinrichtungen können sich etwa
Das Angebot des Rauchfrei Telefons                               als Rauchfreie Einrichtung im „Global Network for To-
Eine effektive Möglichkeit der Beratung und Be-                  bacco Free Health Care Services“ zertifizieren lassen.
handlung stellen sogenannte Quitlines (telefonische              Ein Beispiel für die Kombination von Maßnahmen auf
Beratungsstellen zur Nikotinentwöhnung) dar. Sie                 Verhältnisebene und Verhaltensebene ist das Kran-
werden im WHO-Rahmenabkommen zur Tabakkon-                       kenhaus Maria Ebene in Vorarlberg. Das Krankenhaus
trolle (FCTC WHO) empfohlen, um Raucherinnen                     mit Schwerpunkt Suchttherapie ist eine Gold-zerti-
und Raucher beim Ausstieg zu unterstützen. Das                   fizierte rauchfreie Gesundheitseinrichtung, die die
Medium Telefon bewährt sich durch spontane Er-                   Behandlung der Nikotinabhängigkeit im ambulanten
reichbarkeit, Ortsunabhängigkeit, flächendeckende                und stationären Setting anbietet. Prim. Dr. Philipp
Verfügbarkeit, Anonymität und – seit März 2020                   Kloimstein, der ärztliche Leiter der Suchteinrichtung
relevant – „kontaktlose“ Beratung. Das „Rauchfrei                Maria Ebene, weist auf die gegenseitige Verstärkung
Telefon“ ist die österreichische Quitline, die Be-               der Maßnahmen hin: „Wir bieten allen Raucherinnen
ratung, Information und Weitervermittlung bietet.                und Rauchern Tabakentwöhnung an, unabhängig
Seit 2016 findet sich die kostenfreie Nummer 0800                vom Therapieziel. Patientinnen und Patienten, die zu
810 013 infolge der Europäischen Tabakprodukte-                  uns kommen, wissen, dass sie in eine rauchfreie Ge-
direktive (TPD II) auf jeder Zigarettenpackung. Das              sundheitseinrichtung kommen und sind daher für das
hat dazu beigetragen, dass sich die Inanspruch-                  Thema eventuell offener bzw. werden sensibilisiert.
nahme signifikant und langfristig erhöht hat. Das                Gleichzeitig gelingt die Veränderung leichter, wenn
Rauchfrei Telefon ist eine Kooperation der Sozial-               sie sich im rauchfreien stationären Setting befinden, in
versicherungsträger, der Länder und des Bundes-                  der das Nichtrauchen die Norm ist.“                  
ministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und
Konsumentenschutz. Die Österreichische Gesund-                   Informationen über weiterführende Literatur
heitskasse betreibt das kostenfreie österreichweite              zu diesem Text stellen wir auf Anfrage gerne
Angebot, das neben der reaktiven und proaktiven                  zur Verfügung: abo@api.or.at
Telefonberatung noch weitere Elemente umfasst.
        Ein Team von spezialisierten Klinischen und
Gesundheitspsychologinnen betreut das gesamte
Angebot. Nach dem Erstgespräch besteht die
                                                                   Durchhaltevermögen ist gefragt
Möglichkeit für eine weiterführende Beratung über                  Das Dramatische an der Nikotinsucht sind die negativen mittel- und
mehrere Wochen hinweg, um die Raucherinnen und                     langfristigen Gesundheitsfolgen. Um diese zu vermeiden, gilt es
Raucher beim Veränderungsprozess zu begleiten                      daher, die Sucht evidenzbasiert zu behandeln. Nikotinabhängigen
und zu unterstützen. Für die Folgetermine werden                   Personen sollten, wie allen Suchtkranken, Entwöhnangebote ge-
die Klientinnen und Klienten proaktiv kontaktiert,                 macht werden, die evidenzbasiert beim Ausstieg unterstützen und
um die Hürde der Inanspruchnahme professioneller                   die individuelle Situation berücksichtigen. Nikotinabhängigkeit ist
Hilfe noch weiter zu senken. Zwischen den verein-                  durch eine hohe Rückfallquote gekennzeichnet, die Fähigkeit zu
barten Terminen kann man sich jederzeit inbound                    Frustrationstoleranz und Durchhaltevermögen daher essenziell –
beim Rauchfrei Telefon melden.                                     für Konsumierende und Behandelnde gleichermaßen. Neben den
        Das „Rauchfrei Ticket“ ist ein Angebot für Insti-          gesundheitlichen Verbesserungen ist eine weitere Folge der Ent-
tutionen und niedergelassene Gesundheitsprofessio-                 wöhnung das Erleben von Suchtfreiheit, von dem Klientinnen und
nistinnen und -professionisten, die die Entwöhnung                 Klienten häufig mit großer Erleichterung und Stolz berichten.
nicht im eigenen Rahmen durchführen können oder                    Mehr zum Thema auf rauchfrei.at
keine Möglichkeit der Rückfallprophylaxe haben.

                                                            21
Sie können auch lesen