Momentum - Sucht(-behandlung) in Zeiten der Disruption: N 1/2022 - Suchthilfe Wien
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N° 1/2022 Momentum Das österreichische Journal für positive Suchttherapie Herausgegeben vom Anton Proksch Institut Sucht(-behandlung) in Zeiten der Disruption: zwischen Digitalisierung und Pandemie 1
Editorial Liebe Leserin, lieber Leser! V ielleicht erinnern Sie sich: Die „Momentum“-Ausgabe vom Sommer 2020 trug den Titel „Entschlossene Schritte ins Unbekannte“. Nun, wir im Anton Proksch Institut, aber auch viele andere Kolleginnen und Kollegen aus Suchtberatung bzw. -behandlung haben diese Schritte gesetzt. Durch das Pandemiemanagement notwendig gewordene, teilweise weitreichende Veränderungen von ambulanten, tagesklinischen und stationären Angeboten haben Gestalt angenommen. Wir sehen nun etwas klarer und können auch einen Blick in post-pandemische Zeiten wagen. Dieser Tatsache haben wir auch dadurch Rechnung getragen, dass auf dem Wiener 4 Psychiatrische Behandlung in einer ver-rückten Welt Suchtsymposium des Anton Proksch Instituts im letzten Jahr ganz bewusst auch den sich bietenden Chancen gebührender Raum gegeben wurde. Was in diesen zwei Tagen im Novem- Georg Psota ber diskutiert wurde, soll auf den folgenden Seiten noch ein- 8 Digitale Sucht- behandlung: Chancen und Risiken mal konzis rekapituliert werden. So ging Georg Psota, Chefarzt des Psychosozialen Dienst der Stadt Wien (PSD), das frucht- bare Wagnis ein, den Zumutungen der Pandemie positive Oliver Scheibenbogen, Aspekte abzugewinnen. Schwierige Zeiten können schließlich Lisa Brunner, Bettina auch Innovationen befördern (Seite 4–7). Was die Sucht- Hölblinger behandlung betrifft, sind an dieser Stelle besonders digitale 12Teletherapie: So fern und doch so nah! Wolfgang Beiglböck Formate in Prävention, Beratung und Behandlung zu nennen. Wie sich Instrumente digitaler Suchtbehandlung in der Krise bewährt haben, diese aber trotzdem kein allein „seligmachen- des“ Allheilmittel sind, lesen Sie auf den Seiten 8–11. 14Suchtarbeit nach der Pandemie Stimmen aus der Praxis Die Frage, die sich daran anschließt: Was können wir in der Zeit nach der Pandemie in die Regelbehandlung überfüh- ren? Hier scheint es Konsens zu sein, dass viel für eine Kombina- 161,5 Jahre Pandemie Eine visuelle Bestandsaufnahme tion aus analogen und digitalen Elementen spricht (Seite 12–15). Auch den Pre-Congress-Workshop des Suchtsymposiums zur „Epidemiologie, Diagnostik und Behandlung der Tabakabhän- gigkeit“ wollen wir gebührend abbilden. Sophie Meingassner, 18Nikotinsucht und wie sie behandelt werden kann Leiterin des Rauchfrei Telefons, gelingt das in ihrem sehr praxis- bezogenen Text ausgezeichnet (Seite 18–21). Sophie Meingassner Gerade in herausfordernden Zeiten ist es besonders wichtig, optimistisch nach vorne zu blicken. Der Optimismus darf daher auch in diesem Momentum nicht zu kurz kommen. Und das ist etwas, das ich Ihnen, neben einer anregenden Lektüre, auch ganz persönlich wünsche! DSA Gabriele Gottwald-Nathaniel, MAS Geschäftsführerin PS: Abo-Bestellungen sind weiterhin kostenlos unter abo@api.or.at möglich! 3
Psychiatrische Behandlung in einer ver-rückten Welt Philosophische und sozialpsychiatrische Überlegungen zu Herausforderungen der pandemischen Verwerfung und wie daraus eine Sozialpsychiatrie der Zukunft entwickelt werden kann. GEORG PSOTA A ls ich eine Präsentation zum titelgebenden diese Neuerungen allerdings zu einem Guten zu Thema vorbereitet habe, die Mitte Novem- führen, war es schon immer notwendig, fakten- ber 2021 beim Wiener Suchtsymposium basiert und den wissenschaftlichen Erkenntnissen gehalten werden sollte, stand Österreich gerade folgend zu agieren. Denn Änderungen haben es am Beginn der 4. Welle der Corona-Pandemie. an sich, Verwirrungen, Ängste und Unverständnis Zum Zeitpunkt des Schreibens des darauf auf- mit sich zu bringen. Und daraus ergeben sich Ge- bauenden Artikels befand sich das Land wieder fahren. Oder wie es Hannah Arendt in ihrem 1955 einmal im Lockdown. Gar keine Frage: Die Welt auch auf Deutsch erschienenem Buch „Elemente hat sich verändert in den vergangenen fast zwei und Ursprünge totaler Herrschaft“ in Bezug auf Jahren, die uns die Pandemie mittlerweile in die katastrophalsten Verrückungen des 20. Jahr- Atem hält. Aber ist die Welt tatsächlich verrückt hunderts formulierte: „In einer sich ständig verän- geworden? (Gemeint ist hier verrückt im eigent- dernden, unverständlichen Welt waren die Massen lichen Wortsinn: also „an einem anderen Platz“ an einem Punkt angelangt, an dem sie gleichzeitig oder „verschoben“.) Und was bedeutet das für die alles und nichts glaubten, alles für möglich und Psychiatrie und die Behandlung von Suchterkran- nichts für wahr hielten.“ kungen? Wie kann und muss sie mit den Neuerun- Alles für möglich und nichts für wahr halten? gen umgehen? Ist es immer ganz schlecht, wenn Klingt durchaus vertraut, wenn man sich die aktuellen es zu Verrückungen kommt? Denn dies bedeutet Debatten ansieht und anhört. Doch was bedeutet das schließlich nichts anderes, als eine andere Pers- für die Sozialpsychiatrie und wie kann sie damit um- pektive einzunehmen und Dinge auf andere Art gehen? Die Grundsätze der Sozialpsychiatrie haben und Weise wahrzunehmen, als es üblich ist. Wie sich seit fast 50 Jahren nicht verändert. Was Heinz aber muss mit den Verrückungen umgegangen Katschnig im Jahr 1974 als Paradigmen vorgestellt werden, um Positives zu kreieren? hat, hat seine Gültigkeit nicht verloren. Ambulante Behandlung soll Vorrang vor tagesklinischer und DR. GEORG Verrückungen faktenbasiert begegnen diese wiederum Vorrang vor stationärer Behandlung PSOTA ist Facharzt Fest steht jedenfalls, dass die derzeitige Pande- haben. Gemeindenah geht vor zentralisiert und für Psychiatrie und mie nicht die erste Verrückung in der Geschichte bedarfsorientiert vor krankheitsorientiert. In den Neurologie und Chefarzt der Psycho- der Welt war. Solche gab es selbstverständlich vergangenen Jahren haben wir es gerade in Wien in sozialen Dienste seit Menschengedenken und immer haben sie zu vielen Bereichen geschafft, Fortschritte zu machen in Wien. Neuerungen bzw. neuen Ansätzen geführt. Um und uns diesen Paradigmen stark anzunähern. 4
Erleben existenzieller Ängste könnte hin zu einer Entstigmatisierung psychischer Er- Entstigmatisierung befördern krankungen und der Gleichstellung mit körperlichen Doch es gibt auch Bereiche, in denen das bisher Krankheiten zu machen. nicht gelungen ist. Als im April 1979 der Wiener Gemeinderat den Zielplan „Psychiatrische und Psychosoziale Folgen ungeahnten Ausmaßes psychosoziale Versorgung in Wien“ genehmigte Dabei wäre eine intensive Auseinandersetzung und damit einen Meilenstein in der Wiener Psychia- mit psychischen Erkrankungen gerade jetzt umso triereform setzte, war darin unter anderem die vom wichtiger. Denn die Pandemie hat psychosoziale kongenialen Duo Alois Stacher und Stephan Rudas Folgen bisher noch ungeahnten Ausmaßes hervor- gebracht. Einerseits ist es die Angst vor der eige- nen Erkrankung oder die Sorge um Verwandte, Freundinnen, Freunde und Bekannte, die zu einem Wer sich den Fuß bricht, Anstieg der psychischen Erkrankungen führt. An- dererseits sind es die Maßnahmen, die die Pan- lässt diesen behandeln. demie eindämmen sollen, die ebenfalls das Risiko Wer an einer psychischen erhöhen. Einsamkeit und soziale Isolation, fehlende Tagesstruktur, Einschränkungen in der Sozial- und Erkrankung leidet, versucht, Gesundheitsversorgung führen zu Neuerkrankun- diese zu verstecken. gen sowie Verschlechterungen bereits bestehen- der psychischer und körperlicher Erkrankungen und Schmerzsymptome. Zu den Auswirkungen der Pandemiebekämpfung zählen auch Mehrfachbe- erhobene Forderung enthalten: „Psychisch Kran- lastungen und erhöhter Stress, wodurch Konflikte ke oder Behinderte sind körperlich Kranken und und häusliche Gewalt ansteigen. Die häufigsten Behinderten gleichzustellen. Hierzu müssen die psychischen Reaktionen sind akute Belastungsre- gesetzlichen, sozialrechtlichen und medizinischen aktionen, Nervosität, Irritabilität, Schlafstörungen, Voraussetzungen geschaffen beziehungsweise Angststörungen, Depressionen, posttraumatische verbessert werden.“ Auch wenn sich die Sprache Belastungssyndrome und Substanzmissbrauch. in den vergangenen Jahrzehnten geändert haben Die kurzfristige Herausforderung liegt in der mag und wenn aus rechtlicher und medizinischer Bekämpfung der Pandemie und dem Schutz vor Perspektive ohne Zweifel Verbesserungen einge- Infektion. Nach beinahe zwei Jahren sind die Maß- treten sind, bleiben die Barrieren in den Köpfen nahmen bekannt und auch relativ einfach handhab- vieler bestehen. Weiterhin gibt es gegenüber bar. Abstand halten, Hygiene, Maske, regelmäßiges psychischen Erkrankungen ein massives Stigma. Testen und Impfen. Anders sieht dies jedoch bei den Psychische Erkrankungen sind körperlichen Erkran- mittel- und längerfristigen Auswirkungen aus. Long kungen auch heute noch nicht gleichgestellt. Wer COVID, also die Nachwirkungen einer überstandenen sich den Fuß bricht, lässt diesen von Ärztinnen oder COVID-Erkrankung, wird uns noch lange beschäfti- Ärzten behandeln. Wer an einer psychischen Er- gen. Erste Studien weisen darauf hin, dass die Folgen, krankung leidet, versucht, diese zu verstecken, zieht gerade auch im psychischen Bereich, enorm sein sich zurück, möchte sich mit der Krankheit und den werden. Eine Untersuchung von Maxime Taquet zeigt, Stigmata nicht auseinandersetzen und fürchtet die dass bei mehr als einem Drittel der über 230.000 gesellschaftliche Ausgrenzung. untersuchten COVID-Genesenen neurologische oder Gerade in der aktuellen Pandemie hat es psychiatrische Folgeerscheinungen auftreten. diesbezüglich allerdings klare Verschiebungen Weitere Studien belegen psychische Aus- gegeben. Viele Menschen haben erstmals Isolation wirkungen der Maßnahmen zur Eindämmung der erlebt und kamen mit existentiellen Ängsten in Be- Pandemie. 82 Prozent der Personen mit Demenz be- rührung. Auch breitenwirksame Medien haben psy- richten von einer Verschlechterung ihrer Symptome. chische Erkrankungen als Thema entdeckt. Dadurch 34 Prozent empfinden verstärkt Angstsymptome und scheint die Corona-Krise zu einer Entstigmatisierung ein Großteil älterer Menschen berichtet von einer psychischer Erkrankungen beigetragen zu haben. Verdoppelung depressiver Symptome. Zudem kam Doch der Schein trügt etwas. Eventuell hat ein es zu vermehrten Fällen von Delir, einer Bewusstseins- größerer Teil der Bevölkerung durch die eigenen störung, die in den vergangenen Jahrzehnten deutlich Erfahrungen, die in den vergangenen beinahe zwei reduziert werden konnte. Als wichtigste Gegenmaß- Jahren durchlebt wurden, mehr Verständnis für nahme gilt dabei die Verhinderung von Isolation. depressive Erkrankungen oder Angsterkrankungen COVID-19 hat diese Bemühungen zurückgeworfen. entwickelt. Für viele andere psychische Krankheits- bilder wie etwa Schizophrenie oder bipolare Störun- Anzahl der verlorenen gesunden gen, aber auch Suchterkrankungen dürfte dies nicht Lebensjahre steigt massiv gelten. Dennoch könnte die Pandemie ein Auslöser Damian Santomauro kam in seiner im Oktober 2021 dafür sein, einen wichtigen und überfälligen Schritt veröffentlichten Modellrechnung zum Schluss, dass 6
Angsterkrankungen weltweit um mehr als 25 Pro- Hälfte aller psychischen Störungen des Erwach- zent zunahmen und insgesamt 44,5 Millionen DALYs, senenalters bereits im 14. Lebensjahr manifest ist. also verlorene gesunde Lebensjahre, verursachten. Nicht zuletzt muss die Transitionspsychiatrie verbes- Depressionen sind dieser Untersuchung zur Folge sert werden: Eine gezielte Begleitung vom Jugend- um mehr als 27 Prozent gestiegen, was 49,7 Millio- ins Erwachsenenalter ist dringend notwendig. Hier nen DALYs zur Folge hatte. gilt es, Versorgungskontinuität zu gewährleisten, Studien aus den Vereinigten Staaten und indem entsprechende Strukturen auf- und ausge- Kanada zeigen außerdem eine deutliche Zunahme baut bzw. weiterentwickelt werden. Anleihen kann von Substanzmissbräuchen während der Pandemie. man sich bei Modellprojekten im europäischen und Eine Untersuchung mit mehr als 3.000 Personen außereuropäischen Raum holen, erste Erfahrungen bringt etwa eine Zunahme des Alkoholkonsums mit Telemedizin haben sich als vielversprechend um 23 Prozent und eine Zunahme des Konsums erwiesen. Gerade in Zeiten des Lockdowns hat die anderer Drogen um 16 Prozent zu Tage. Studienau- Unterstützung der Arbeit durch elektronische Hilfs- tor Steven Taylor kommt zu dem Schluss, dass dies mittel einen unglaublichen Aufschwung erlebt. Die einerseits mit den von der Pandemie ausgelösten mediale Kompetenz ist ebenfalls deutlich gestiegen. traumatischen Stresssymptomen zusammen- So kann E-Mental Health, bei Einhaltung gewisser hängt, aber auch mit der Nichteinhaltung von Voraussetzungen, eine ergänzende Chance für die Distanzierungsmaßnahmen. Verbesserung des Zugangs, der Früherkennung Auch wenn all diese Zahlen auf Grund sowie der Behandlung bieten. des geringen Datenbestands und vor allem der – All dies ist notwendig, um die Sozialpsychia- wissenschaftlich gesehen – bisherigen Kürze der trie der Zukunft zu formen und den Neuerungen zu Pandemie noch weiterführenden Studien unter- begegnen, die durch Verrückungen entstehen. Die zogen und verifiziert werden müssen, bildet sich doch eine klare Tendenz heraus: Psychiatrische Erkrankungen haben während der Pandemie zuge- nommen und werden wohl noch weiter zunehmen. Psychiatrische Erkrankungen Man geht davon aus, dass sich bis 2030 unter den fünf wichtigsten Ursachen von DALYs in Industrie- haben während der Pandemie ländern drei Sucht- bzw. psychische Erkrankungen zugenommen und werden finden werden: unipolare depressive Erkrankungen an erster Stelle, Alzheimer und andere Formen der wohl noch weiter zunehmen. Demenz auf Platz drei und Alkoholerkrankungen auf Platz fünf. Unterscheidet man nach Geschlechtern werden bei Frauen weiterhin unipolare depressive Sozialpsychiatrie der Zukunft hat mit einem vielfäl- Erkrankungen sowie Alzheimer und andere Formen tigeren Kreis von Patientinnen und Patienten zu tun der Demenz die ersten beiden Plätze einnehmen. als in der Vergangenheit. Sie werden jünger sein, die Bei Männern werden Alkoholerkrankungen und uni- Behandlungen werden zu einem früheren Zeitpunkt polare depressive Erkrankungen für die meisten ver- einsetzen, Prävention wird bedeutender. Die behan- lorenen gesunden Lebensjahre verantwortlich sein. delnden Teams werden stärker multi- und interdiszi- Hinzu kommen häufige Komorbiditäten zwischen plinär geprägt sein und das Ziel der Behandlung die Suchterkrankungen und psychischen Erkrankungen, soziale Komponente noch stärker im Fokus haben. die mittlerweile gut untersucht sind. Auch wenn die Sozialpsychiatrie unter anderem auf Grund der derzeitigen Pandemie in Auf dem Weg zur Sozialpsychiatrie der Zukunft zehn Jahren ganz anders aussehen wird als heute, All das führt zu einer Vielzahl an Herausforderun- eines bleibt bestehen: Die psychische Gesundheit gen für die psychiatrische Behandlung und zurück muss Priorität haben. Zum Wohle der Patienten und zur Ausgangsfrage dieses Beitrags: Was bedeutet Patientinnen, vor allem aber auch der Gesellschaft. all dies für eine zeitgemäße sozialpsychiatrische Daran müssen wir alle arbeiten. Behandlung und Versorgung und in welcher Form muss für die kommenden Jahre vorgesorgt werden? Zunächst muss man sich der Breite psychiatrischer Unterstützung bewusst werden. Die Psychiatrie ist für alle Altersgruppen zuständig, allerdings mit unterschiedlichen Zugängen. Und die Psychiatrie ist außerdem für das gesamte psychische Erkrankungs- spektrum verantwortlich. Von Zwangsstörungen über Substanzabhängigkeiten bis hin zu Angst- störungen reicht hier das Spektrum. Weiters ist es notwendig, sich verstärkt der Früherkennung zu widmen. Schon seit Längerem wissen wir, dass die 7
Digitale Sucht- behandlung: Chancen und Risiken Nach beinahe zwei Jahren Suchthilfe unter den Bedingungen der Pandemie ist eine Bestandsaufnahme von Herausforderungen und Möglichkeitsräumen angebracht. Im Folgenden drei Perspektiven auf Aspekte der Behandlung, Prävention und Beratung im Zeitalter der Digitalisierung. Appgestützte Therapie: Dehumanisierung oder sinnvolle Erweiterung? OLIVER SCHEIBENBOGEN S tellen Sie sich vor, Sie werden von einer aufweisen. Viele geben Daten sogar zu Werbe- und Künstlichen Intelligenz bzw. einem Computer Marketingzwecken an Dritte weiter. Doch wem aufgrund ihrer psychischen Probleme behan- gehören über Tracking Apps gesammelte Daten? delt und nicht, wie bisher üblich, von einem Ihnen Wie sicher sind sie gespeichert? Denn während gegenübersitzenden empathischen Menschen. sensible gesundheitsbezogene Daten auf spe- Stellen Sie sich weiter vor, dieser „künstliche The- ziell abgesicherten Gesundheitsservern abgelegt rapeut“ befindet sich in Form Ihres Smartphones werden, gelten diese Regelungen für Applika- stets verfügbar in ihrer eigenen Hosentasche, alle tionen aus Stores der Rubrik „Gesundheit und in der Kommunikation erfassten Daten aber landen Fitness“ zumeist nicht. Neben dem großen Thema auf dem Server eines großen internationalen Tech- Datenschutz bzw. Datensicherheit gibt es weitere DR. OLIVER nologieunternehmens. Wer Zugriff auf Ihre sehr ungelöste Probleme beim Einsatz von Smartphone- SCHEIBENBOGEN intimen Daten hat und zu welchem Zweck diese Apps zur Krankenbehandlung. Stellt sich nämlich studierte Psychologie verwendet werden, ist nicht nachvollziehbar. Diese eine Applikation als wirksam heraus, so muss doch an der Uni Wien und Dystopie könnte aus einem Science-Fiction-Roman davon ausgegangen werden, dass es, ähnlich wie der Humanuniversität stammen. Wir sind einer solchen Zukunft jedoch bei (Psycho-)Pharmaka, auch hier unerwünschte Liechtenstein und viel näher, als man vermuten möchte. Miralles Nebenwirkungen gibt. Die Forschung zu diesem ist ausgebildeter Klinischer und et al. (2020) konnten in einem groß angelegten Thema hat aber eben erst begonnen. Ein Haupt- Gesundheitspsycho- Review zeigen, dass ein Drittel bis zur Hälfte aller argument für den Einsatz App-gestützter Behand- loge. Er leitet den untersuchten Apps zur Behandlung von psychi- lungsverfahren ist etwa die propagierte Verrin- Bereich Klinische schen Problemen (ca. 10 Prozent davon solche zur gerung der Zugangsschwelle zur Behandlung. Psychologie am Anton Suchtbehandlung) keine Datenschutzrichtlinien Selbstbehandlungs-Apps können jedoch genau Proksch Institut. 9
das Gegenteil bewirken, indem sie suggerieren, Sicht werden Verstärkerfrequenzen möglich, die bei dass bereits etwas Wirksames gegen die Proble- wöchentlichen Therapiekontakten im Standardset- matik unternommen wird und weitere fachliche ting undenkbar wären. Hilfeleistung gegenwärtig nicht nötig sei. Der Einsatz von (Sucht-)Therapie-Apps sollte Ganz fundamental: Apps werden in der Regel aber ausnahmslos in Kombination mit professio- zur Behandlung eines eng umschriebenen Störungs- neller Hilfe erfolgen. So können zwar physische bildes konzipiert, z.B. ausschließlich zur Behandlung Kontakte unter Umständen geringfügig reduziert von Alkoholabhängigkeit. Ganzheitliche Behand- werden, gänzlich darauf zu verzichten, würde jedoch lungsansätze, die auch komorbide Störungen sowie bedeuten, dass Patientinnen und Patienten weitge- die Betrachtung weiterer systemisch relevanter Fak- hend sich selbst überlassen werden – aus fachlicher toren berücksichtigen, werden, obwohl in der tradi- Behandlung wird Selbstbehandlung. Wie zahlreiche tionellen Face-2-Face-Behandlung als Gold-Standard Studien zeigen, ist therapeutische Guidance un- seit Jahrzehnten etabliert, in digitalen Behandlungs- erlässlich. Sie reduziert die Drop-Out-Rate drastisch formen gänzlich ignoriert. Nichtsdestotrotz sollte und verdoppelt sogar die Effektstärke von App-ge- auf die Verwendung von Smartphone-Apps in der stützten Interventionen. Auch für Smartphone-Apps Behandlung psychischer Erkrankungen und damit gilt, dass diese kein Ersatz für Face-2-Face-Begeg- auch in der Therapie von Suchterkrankungen nicht nungen zwischen Behandelnden und Patientinnen verzichtet werden, denn sie bringen, bei richtiger bzw. Patienten sein können. Anwendung, viele Vorteile. Smartphones sind sehr Es ist weiters zwingend nötig, dass diese neu- gut für therapeutische Zwecke nutzbar. Mittlerweile en Technologien von Gesundheitsdiensteanbietern, gibt es erste Hinweise, dass das Smartphone auf- staatlichen Institutionen und Kostenträgern sowie grund intensiven Gebrauchs zunehmend als Teil des Universitäten eingesetzt bzw. beforscht werden und eigenen Körpers wahrgenommen wird. Diese Omni- nicht von großen Technologieunternehmen. Wollen präsenz lässt therapeutisch induziertes Arbeiten an wir diesen das Feld nicht gänzlich überlassen, müs- den eigenen Problemen in nahezu allen Lebens- sen wir uns künftig noch viel intensiver mit dieser lagen zu. Aus kognitiv-verhaltenstherapeutischer Thematik beschäftigen. E-Mental Health in Behandlung und Prävention LISA BRUNNER Digitalisierung bringt es mit sich, dass immer mehr und Substanz). Gleichzeitig äußert ein Großteil Angebote und Dienstleistungen in den digitalen der Betroffenen den Wunsch, etwas an Konsum Raum wandern. Auch die Vermittlung von psychi- und Verhalten zu verändern. Die Gründe, wieso scher Gesundheitsvorsorge, Psychoedukation und trotz Veränderungswunsch und Leidensdruck kein sogar die Behandlung von psychischen Erkrankun- klassisches Behandlungsangebot wahrgenommen gen – wie zum Beispiel Substanzkonsumstörungen – wird, sind individuell verschieden und vielseitig. wird zunehmend mit Hilfe von Informationstechno- Psychische Erkrankungen sind jedenfalls immer logien angeboten. Der englische Begriff E-Mental noch stigmatisiert und für Betroffene zum Teil mit Health (EMH) versucht, diese neue Art von digitalen, sehr viel Scham verbunden. Anonyme digitale An- psychosozialen Maßnahmen zu umfassen. Diese rei- gebote können daher eine sehr gute Möglichkeit chen von selbstgesteuerter, unstrukturierter Psycho- darstellen, Vorurteile abzubauen und Schritte der edukation in Form von informativen Websites über Veränderung zu setzen. Oft bestehen auch Glaube soziale Unterstützung durch Online-Selbsthilfegrup- und Wunsch, Schwierigkeiten selbst lösen zu müs- pen bis zu strukturierter, internetgestützter Einzel- sen. Da viele EMH-Maßnahmen eigenständig von Psychotherapie. Alle eint das Ziel, die Reichweite zuhause gesetzt werden, können sie das Gefühl bestehender Angebote zu erhöhen, kostengünstige der Selbstwirksamkeit erhöhen. Alternativen anzubieten und (Be-)Handlungsbarrie- Digitale Angebote ergänzen zudem beson- MAG.A LISA ren so gering wie möglich zu halten. ders im ländlichen Raum das Hilfssystem, da sie spe- BRUNNER zialisierte und effektive Maßnahmen ohne jegliche ist Leiterin des Eine große Chance räumliche Barriere direkt zu den Klientinnen und Instituts für Suchtprä- Die Anwendung von EMH-Maßnahmen in der Klienten bringen. Damit Personengruppen ohne vention der Sucht- und Prävention und Behandlung von Substanzkonsum- (schnelle) Internetanbindung nicht ausgeschlossen Drogenkoordination störungen ist eine große Chance. Laut aktuellen werden, muss dieser Umstand bei der Planung von Wien und Vorstands- vorsitzende der Studien befindet sich nur ein Bruchteil der Perso- Versorgungsnetzwerken berücksichtigt werden. Ein Österreichischen ARGE nen mit Substanzkonsumstörungen in professio- weiterer Vorteil von EMH-Maßnahmen: Sie sind stets Suchtvorbeugung. neller Behandlung (etwa 25 Prozent je nach Studie verfügbar und flexibel in den Alltag integrierbar. 10
Nicht unwesentlich für Angebote des öffentlichen werden geschont. Kleinere medizinische oder Gesundheitssystems ist der Kostenfaktor. EMH- psychosoziale Teams können zeitnah effektive Maßnahmen sind kosteneffizient. Nach initialer Hilfe anbieten. Besonders bei Suchterkrankungen Entwicklung sind flächendeckende Ausweitung hat sich gezeigt, dass frühzeitige Interventionen und Skalierung oft relativ günstig möglich. Auch besonders wirksam sind. Genau das ermöglichen personelle und klientenbezogene Ressourcen digitale Angebote. Niederschwellige Suchtarbeit im digitalen Zeitalter BETTINA HÖLBLINGER Die Suchthilfe Wien bietet seit über 20 Jahren mit in der Homebase nach Online-Buchung eines der Initiative checkit! mobiles Integriertes Drug Termins zweimal wöchentlich, IDC über Apotheken Checking (IDC) auf Events in Wien und Umgebung aktuell an zwei Standorten in Wien genutzt werden. an. Im Rahmen des IDC wird das gewonnene Ana- Die Proben werden online angemeldet, verpackt lyseergebnis mit einem Informations- oder Be- sowie mit einem Probencode versehen und dann ratungsgespräch verknüpft, um optimale Sucht- in eine Probenbox eingeworfen. Informations- und prävention zu ermöglichen. Durch Drug Checking Beratungsgespräche finden aufgrund der Pande- gelingt der Zugang zu einer schwer erreichbaren mie online via verschlüsselter E-Mail-Nachricht, Personengruppe, die mit klassischen Angeboten telefonisch oder per Videochat statt. Auf Wunsch der Suchthilfe nur schwer erreicht wird. kann unter Einhaltung aller Sicherheitsmaßnahmen Folgende Zielsetzungen bilden den Kern des auch ein persönlicher Termin stattfinden. IDC: Risikoreduktion durch objektive Information, Harm Reduction, Frühintervention bei Konsumen- Konsummuster berücksichtigen tinnen und Konsumenten, die an der Schwelle eines Mit diesem Angebot sollen unter anderem jene problematischen Konsums stehen, Förderung von Freizeitdrogenkonsumentinnen und -konsumenten Risikobewusstsein und Risikokompetenz sowie einer erreicht werden, die andere Konsummuster auf- drogenkonsumkritischen Haltung, Warnung vor weisen als jene auf Events. Dabei handelt es sich gesundheitlich bedenklichen Substanzen sowie der z.B. um Menschen, die mittels Substanzkonsum Gewinn von wissenschaftlichen Erkenntnissen über ihre Leistung steigern wollen; Personen, die sich Substanzen, Konsumverhalten, Motive und Trends. Substanzen nach Hause bestellen und auch dort konsumieren; Psychonautinnen und Psychonau- Herausforderung Digitalisierung ten; Hochrisikokonsumentinnen und -konsumenten Die Digitalisierung erweist sich als große Herausfor- oder Konsumentinnen und Konsumenten synthe- derung für die Suchtprävention generell und damit tischer Cannabinoide. Zusätzlich ermöglicht das auch im Rahmen des IDC. Sie beeinflusst den Dro- neue System ein umfassenderes Monitoring von genhandel selbst und verändert die Verfügbarkeit Hochrisikosubstanzen und soll genauere Daten zu von Substanzen. Dies kann zum Entstehen neuer Konsummotivationen und-mustern liefern. Es ist Konsumierendengruppen bzw. neuer Konsummoti- ein weiterer Schritt auf dem Weg, sucht- bzw. kon- ve beitragen. Auch während der Pandemie werden sumspezifische Angebote ins allgemeine medizini- verstärkt verschlüsselte Nachrichtendienste und sche und soziale Hilfsangebot zu integrieren. Social-Media-Plattformen adaptiert, Drogenmärkte IDC in der Homebase und in Apotheken weiter digitalisiert. Institutionen wie die Europäische wird sehr gut angenommen, die Anzahl der Bera- Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht tungs- und Informationsgespräche ist gestiegen. gehen davon aus, dass dieser Prozess nach Ende Dazu trägt bei, dass das Angebot auch während der der Corona-Krise weiter vorangetrieben wird. Pandemie – mit Adaptionen – umsetzbar bleibt. checkit! reagiert darauf mit einem er- BETTINA weiterten Angebot von Drug Checking in der HÖLBLINGER, Homebase (= Beratungs- und Informationsstelle in BA MSc ist der Wiener Gumpendorferstraße 8) und in Apo- Sozialarbeiterin. Seit theken speziell im Rahmen der Früherkennung und Dezember 2021 ist Frühintervention. Zusätzlich können seit Ende 2019 sie Bereichsleiterin der Suchtprävention psychoaktive Substanzen nun auch abseits von der Suchthilfe Wien Events in der Homebase abgegeben werden, seit Informationen über weiterführende Literatur GmbH und leitet die Juni 2020 im Rahmen eines Pilotprojekts auch in zu den drei vorangegangenen Texten stellen Einrichtung checkit! – ausgewählten Apotheken; in beiden Fällen kosten- wir auf Anfrage gerne zur Verfügung: Kompetenzzentrum frei und anonym. Derzeit kann das IDC-Angebot abo@api.or.at für Freizeitdrogen. 11
So fern und doch so nah! Formen video- und telefongestützter Suchtbehandlung mussten angesichts von COVID-19 oft ad hoc umgesetzt werden, haben sich seither aber in vielerlei Hinsicht als vorteilhaft erwiesen. Doch wichtige Fragen bleiben offen. Foto: Getty Images WOLFGANG BEIGLBÖCK W o waren Sie am 16. März 2020? Ich für ersten Chaos der Umstellungen überwunden war, meinen Teil befand mich damals mit begannen wir daher, uns einige Fragen zu stellen: insgesamt 33 Patientinnen und Patienten in der Tagesklinik des Anton Proksch Instituts und 1. Dürfen wir das? musste ihnen angesichts des Inkrafttretens des ers- Die Richtlinien des Psychotherapiebeirates wur- ten bundesweiten Lockdowns erklären, dass sie jetzt den bisher nicht geändert und die Richtlinien des wieder nach Hause gehen müssten. Wir würden Psychologenbeirates zu diesem Themenkomplex anrufen und mitteilen, wie es weitergeht. sind noch in Ausarbeitung. Wenn also diese als Bereits am Tag danach setzten wir die Richtschnur unseres professionellen Handelns begonnene Psychotherapie zunächst telefonisch herangezogen werden sollen, dann dürfen wir nicht. fort. Nach Abklärung der technischen Bedingungen Im Zuge einer typisch österreichischen Lösung wird starteten wir auch die videobasierte Einzel- und die teletherapeutische Behandlung jedoch be- Gruppentherapie. Wenige Wochen danach forderte zahlt – und wenn wir unsere Kassenverträge erfüllen die ÖGK jene Vereine, die im Zuge eines Rahmen- wollen, dann müssen wir es wohl tun. Ähnlich die Si- vertrages Psychotherapie anbieten, auf, diese online tuation im medizinischen Bereich: In Honorierungs- (synchron) zu offerieren – etwas, das bis dahin richtlinien sind telemedizinische Verfahren bereits dezidiert verboten war. Kurze Zeit später wurde die inkludiert und reglementiert. Online-Therapie bzw. -Krankschreibung auch im Juristinnen und Juristen stellen die rechtli- medizinischen Bereich akzeptiert und bezahlt, sowie chen Rahmenbedingungen allerdings – mit Aus- die Chefarztpflicht für die (Weiter) Verschreibung nahme des Telegesundheitsdienstes – als weiterhin UNIV. LEKTOR einer Substitutionstherapie aufgehoben. nur teilweise abgesichert dar. Obwohl wir also alle DR. WOLFGANG Wir waren also durch die normative Kraft des teletherapeutische bzw. telemedizinische Behand- BEIGLBÖCK Faktischen gezwungen, zu tun, was in der Richtlinie lungsschritte setzen, ist diese Tätigkeit nur mäßig ist Klinischer des Psychotherapiebeirates noch als nicht lege artis juristisch abgesichert. Gemäß europäischem Recht Psychologe und bezeichnet wurde: nämlich die Durchführung einer müssten zudem zumindest sechs EU-Direktiven zu Psychotherapeut Therapie via Internet (die psychotherapeutische Be- Telehealth-Maßnahmen berücksichtigt werden, die mit jahrzehnte- langer Erfahrung in ratung wurde allerdings erlaubt). Konsequenz dieser auch schon in österreichisches Recht übernommen Suchttherapie und Vorschrift: Kaum eine der handelnden Personen ver- wurden. Die rechtliche Absicherung unseres Tuns ist Suchtbehandlung; fügte über Erfahrung, geschweige denn Training mit also deutlich ausbaubar – ganz abgesehen von den Lehrtätigkeit an meh- dieser spezifischen Form der (Sucht)Behandlung. Die Berufshaftpflichtverträgen, die solche Behandlungs- reren Universitäten. Verbote begannen sich zu „rächen“. Nachdem das methoden noch gar nicht berücksichtigen. 12
2. Ist das überhaupt effektiv? sche Behandlung. Aus internationaler Sicht wären vor Befragt man Therapeutinnen und Therapeuten allem folgende Bereiche zu beachten: zur Wirksamkeit teletherapeutischer bzw. teleme- dizinischer Maßnahmen, so ist die überwiegende Technische Voraussetzungen (Datensicherheit, • Mehrheit der Ansicht, dass diese deutlich weniger digital literacy etc.) effektiv seien als Face-to-Face Therapie. Sieht man Administrative Voraussetzungen (informed con- • sich jedoch diverse Reviews und Metaanalysen an, sent, (versicherungs)rechtliche Absicherung etc.) so kann man feststellen, dass sich die Behandlungs- Klinische Voraussetzungen (Standardprotokoll, • erfolge bei einer Reihe von psychiatrischen Erkran- Indikation, Kontraindikation etc.) kungen wie etwa Angststörungen, Depressionen, Ethische Überlegungen (Aus- und Fortbildung, • PTSD aber auch bei sogenannten „serious mental Supervision, Evaluation etc.) health disorders“ (Schizophreniespektrumerkran- kungen, major depressive disorder, borderline PS) Abschließend bleibt festzuhalten, dass es viele Vor- nicht signifikant unterscheiden. teile bringt, Patientinnen und Patienten auch mit Der Einwand, dass das für die Suchtbehand- video- und telefongestützter Suchtbehandlung zu lung so nicht gelten kann, da man ja die Abstinenz begleiten (in Einzeltherapie oder, im Rahmen von nicht überprüfen könne, hält wissenschaftlichen Gruppentherapie, auch in Hybridgruppen). Man Untersuchungen ebenfalls nicht stand. In den denke nur an immobile Patientinnen und Patienten, USA werden nach einer initialen persönlichen an die Möglichkeit schnellerer Intervention oder Diagnostik und begleitenden Harnkontrollen an die Versorgungsmöglichkeit in Gegenden, wo mittlerweile sogar Substitutionsbehandlungen der Zugang zu diesen Leistungen sonst sehr ein- mit Buprenorphen telemedizinisch/-therapeutisch geschränkt ist. Um dieses Potenzial zu realisieren, umgesetzt. Das hatte zur Folge, dass bereits vor wird es allerdings nötig sein, rechtliche und pro- der COVID-19-Pandemie von rund 70 Prozent der fessionelle Rahmenbedingungen zu schaffen bzw. amerikanischen Suchtbehandlungseinrichtungen diese eindeutig zu definieren. diese Art der Behandlung angeboten wurde. 3. Worauf müssen wir achten? Leider existieren kaum umfassende europäische Informationen über weiterführende Literatur oder österreichische Richtlinien bzw. professionelle zu diesem Text stellen wir auf Anfrage gerne Handlungsanweisungen zum Thema teletherapeuti- zur Verfügung: abo@api.or.at 13
Wie es weitergeht Suchtarbeit nach der Pandemie wird sich anders darstellen als davor. Stimmen aus der Praxis plädieren für einen therapeutischen Ansatz, der auch im Regelbetrieb analoge und digitale Elemente kombiniert. Ein kompletteres Wertvolle Bild erschaffen Ergänzung „ Behandelnde, Patientinnen „ Die Vorteile virtueller Be- und Patienten haben seit treuungsleistungen liegen Ausbruch der Pandemie auf der Hand: Neben höherer gelernt, digital in Kontakt zu zeitlicher und örtlicher Flexi- bleiben, wenn ein Treffen vor bilität etwa die Möglichkeit Ort nicht mehr möglich war. zur rascheren nachgehenden Ein Patient berichtete, dass Arbeit sowie der ressourcen- die Distanz es zugelassen schonende Einsatz motivie- hätte, sich rascher zu render Kurzinterventionen. öffnen. Ich wurde von vielen Können oder wollen Patien- Patientinnen und Patienten im tinnen und Patienten nicht in digitalen Kontakt auf einen die Therapieeinrichtung ge- Rundgang in ihr Zuhause hen, sind virtuelle Angebote eingeladen. Das hat mein Bild eine wertvolle Ergänzung. An kompletter gemacht, als es ihre Grenze kommen sie je- im analogen Kontakt möglich doch bei akuten intensiveren gewesen wäre. Dies sind nur bzw. psychotischen Krisen zwei Beispiele dafür, dass es oder suizidalen Patientinnen sinnvoll ist, auch zukünftig und Patienten. Auch die Ein- digitale Möglichkeiten schränkung des Interventions- in der Behandlung von spektrums sowie – bei rein Suchtkranken in petto telefonischen Kontakten – zu halten – auch wenn der Wegfall der nonverba- der analoge Kontakt das len Ebene sind limitierende Bestmögliche bleiben wird. Variable. MAG.A DR.IN UTE ANDORFER DR.IN BARBARA GEGENHUBER, MA Klinische und Gesundheitspsychologin Klinische- und Gesundheitspsychologin, sowie Verhaltenstherapeutin am Anton Geschäftsführerin Schweizer Haus Hadersdorf Proksch Institut 14
Menschliche Neue Wege, Krise engmaschig Beziehung breites Angebot abfangen „ In der Zeit der Pandemie „ Die Mittel und Wege der „ Online-Behandlungsangebo- haben, mitbedingt durch Digitalisierung wurden nicht te wurden von vielen Patien- Gefühle von Einsamkeit und unbedingt für klassische tinnen und Patienten gut und Isolation, Suchterkrankungen Suchtbehandlung gedacht gerne angenommen. Sie stark zugenommen. Sie trägt und erfunden. Doch viele zeigten sich hinsichtlich be- zur Störung des mensch- schätzen auch diese neue stimmter Störungsbilder für lichen Beziehungs- und Bin- und andere Form der Sucht- die Behandlung besonders dungsbedürfnisses bei und arbeit. Schließlich wurde trotz unterstützend und ermög- betrifft sehr viele Bereiche Pandemie einer vulnerablen lichend. Zum Teil hat sich dies des Zusammenlebens. So- Zielgruppe ein breites Spek- zwar symptomverstärkend ziale Kommunikation wurde trum an Angeboten zur Ver- ausgewirkt, der Krisenzu- von der realen in die virtuelle fügung gestellt. Patientinnen stand konnte aber engma- Welt verlagert, die psycho-so- und Patienten erleben, dass schiger abgefangen werden. ziale Betreuung von Sucht- Behandlung unkompliziert In Zukunft wird sehr wahr- klientinnen und -klienten und aufsuchend sein kann. scheinlich die analoge und musste zu weiten Teilen über Wie viel und welche dieser digitale Behandlungsoption Internet bzw. Telefon stattfin- Methoden wollen und sollen das Optimum darstellen, was den. Die virtuelle Dimension wir in die Zukunft mitnehmen? vielleicht auch als positiver stellt eine wichtige Erweite- Haben wir mit der veränder- Outcome der Corona-Pan- rung der Möglichkeiten des ten Form der Betreuung alle demie verzeichnet werden therapeutischen Umgangs Klientinnen und Klienten so kann. Nur durch eine Kom- mit Suchterkrankungen dar, erreicht, wie es sein soll? Wie bination kann eine optimale, kann aber den Wert realer kann es gelingen, manche ins kontinuierliche Behandlung menschlicher Beziehung alte Modell der Betreuung störungs- wie auch situations- nicht ersetzen! zurückzuholen? spezifisch etabliert werden. PRIV. DOZ. DR.DR. URSULA ZEISEL, MAS MAG.A DR. BIRGIT KÖCHL HUMAN-FRIEDRICH UNTERRAINER Diplomierte Sozialarbeiterin, psychosoziale Klinische und Gesundheitspsychologin, Klinischer und Gesundheitspsychologe; Leiterin beim Verein Dialog Psychotherapeutin in freier Praxis sowie Psychotherapeut., Leitung Zentrum für Integrati- beim Verein p.a.s.s. ve Suchtforschung, Verein Grüner Kreis 15
1,5 Jahre Pandemie – eine visuelle Bestandsaufnahme Für den zweiten Kurzbericht (Untersuchungszeitraum Frühjahr 2020 – Herbst 2021) des von der Stiftung Anton Proksch-Institut Wien beauftragten Forschungsprojekts Sucht(behandlung) in der Krise ¹ wurden kurz- und mittelfristige Auswirkungen der Corona-Pandemie auf individueller und organisationaler Ebene analysiert. Dabei zeigen sich Veränderungen unterschiedlichen Ausmaßes. Veränderungen bei Unterstützungsangeboten Psychosoziale Belastungen Starke Einschränkungen Ausbau von treten noch mehr bei Therapien Telehealth-Angeboten in in den Vordergrund im Gruppensetting der ambulanten Versorgung Weniger bürokratische Verstärktes Vertrauen Deutlicher Rückgang bei Hürden bei der in eigenverantwortliches Erstbehandlungen im Bereich Substitutionsbehandlung Handeln der KlientInnen der illegalen Substanzen 16
Veränderungen bei Suchtmittelkonsum Alkoholkonsum nimmt etwas ab und verlagert sich in den privaten Bereich Reduktion Mehr um 3–6 % bei Alkoholkonsum Alkoholkonsum zuhause pro Kopf ² Auch wenn Alkoholkonsum insgesamt etwas abgenommen hat, bestehen Indizien, wonach Personen mit erhöhtem Konsum und Personen mit psychosozialen Belastungen ihren Konsum gesteigert haben. Keine Veränderungen bei Tabakkonsum und illegalen Substanzen Verfügbarkeit Pandemie hat und Preisstabilität keinen Einfluss trotz sozialer auf Tabakkonsum Einschränkungen Laut Behörden kam es, trotz starker Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens, weder zu auffälligen Veränderungen bei der Qualität von illegalen Substanzen, noch zu größeren Verschiebungen des Suchtmittelhandels ins Internet/Darknet. ¹ Das Forschungsprojekt wurde vom Bundes ministerium für Soziales, Gesund Weniger Glückspiel und Sportwetten, heit, Pflege und dafür mehr Online-Glücksspiel Konsumentenschutz (BMSGPK) kofinanziert und vom Kompetenz zentrum Sucht der Gesundheit Österreich Bruttospielerträge GmbH (GÖG) Anstieg von durchgeführt. Als bei Glücksspiel Erträgen bei Datenquellen wurden und Sportwetten 23 Experteninterviews Online-Glücksspiel nehmen ab durchgeführt. ² Der durchschnittliche Bruttospielerträge, also jene, die nach Abzug der Gewinnauszahlungen gegenüber Pro-Kopf-Konsum von dem Spieleinsatz beim Glücksspielunternehmen bleiben, gingen bei legalem Alkohol wird von der Glücksspiel und Sportwetten im Jahr 2020 um knapp 15 Prozent zurück. Statistik Austria immer mit Jahresmitte datiert. Online-Glücksspiel als besonders riskante Form des Glücksspiels gewinnt dagegen Vergleichszeitraum: an Bedeutung: Hier stiegen die Bruttospielerträge um sieben Prozent an. Sommer 2019 bis Sommer 2020 und Sommer 2018 bis Sommer 2019. 17
Nikotinsucht und wie sie behandelt werden kann Im Rahmen des Wiener Suchtsymposiums 2021 wurde auch ein eintägiger Pre-Congress-Workshop zum Thema Tabakabhängigkeit abgehalten. Ein Überblick zu Prävalenz, Diagnose und Behandlung. SOPHIE MEINGASSNER N ikotinabhängigkeit in Form von täglichem Belohnungszentrum und bewirkt so die Entwicklung inhalativem Zigarettenrauchen ist die Sucht- des Suchtverhaltens. Konflikte infolge des Nikotin- erkrankung mit der höchsten Prävalenz konsums kommen in partnerschaftlichen Beziehun- in Österreich, sie betrifft 1,5 Millionen Menschen. gen, Eltern-Kind-Beziehungen, Nachbarschaften und Jede fünfte Person, älter als 15 Jahre, raucht täglich. betrieblichen Settings vor, bleiben jedoch in einem Männer rauchen häufiger als Frauen (23,5 Prozent Rahmen, der – anders als etwa bei der Alkoholabhän- bzw. 17,8 Prozent). Weitere 6,6 Prozent der Männer gigkeit – selten Beziehungsabbruch oder Jobverlust und 4,7 Prozent der Frauen rauchen gelegentlich. bewirkt. In anderen Situationen wird das Rauchver- Die Entwicklung der Abhängigkeit erfolgt meist im halten manchmal als „Coping“-Strategie zur Stressbe- Jugendalter, der Großteil der nikotinabhängigen wältigung, zur Aufrechterhaltung der Stabilität oder erwachsenen Personen hat im Alter bis zu 20 Jahren zur Regulierung der emotionalen Balance benutzt. mit dem Konsum begonnen. Viele Raucherinnen und Als gesundheitlicher Risikofaktor ist das Rau- Raucher wollen ihr Rauchverhalten ändern, ein Drittel chen umso relevanter. Der Konsum bedingt diverse hat im letzten Jahr einen Rauchstopp unternommen, Folgeerkrankungen und erhöht die Mortalität. Die der jedoch nicht zur Abstinenz geführt hat. Evidenz- Schädigungen durch Tabak- und Nikotinkonsum basierte Entwöhnangebote wurden dabei selten in betreffen den ganzen Körper und wirken sich bei Anspruch genommen. Schwangeren auf das ungeborene Kind aus. Die Ge- sundheitsschäden entwickeln sich meist schleichend, MMAG.A SOPHIE Suchtproblematik versus sie sind selten direkt und ausschließlich auf das MEINGASSNER Gesundheitsgefährdung Rauchen zurückzuführen. Das fördert ihre Verharmlo- Fachliche Leiterin des Eine Besonderheit der Nikotinabhängigkeit ist, dass sung. So gibt es die Diagnose „Raucherhusten“ nicht, Rauchfrei Telefons und die Sucht an sich individuell und gesellschaftlich es handelt sich dabei oft um erste Anzeichen einer des Themenbereichs Tabak und Nikotin in gesehen eher unproblematisch ist. Zigaretten sind chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung. So gut der Österreichischen legal erhältlich – und zwar sehr einfach, günstig und wie alle Bereiche der Medizin sind durch den Risiko- Gesundheitskasse, weitverbreitet. Die psychoaktiven Wirkungen des faktor Rauchen betroffen (Kardiologie, Onkologie, Studium der Psycholo- Nikotins beeinträchtigen die Funktionstüchtigkeit der Pneumologie, Chirurgie, Zahnheilkunde u.v.m.). gie und der bildenden rauchenden Person nicht, bzw. helfen sogar kurzfris- Raucherinnen und Raucher leben daher Kunst, Ausbildung zur tig bei der Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeit kürzer als Nichtraucherinnen und Nichtraucher: Klinischen Psycho- und Konzentration. Nikotin ist ein Suchtstoff mit ho- Rund die Hälfte der Personen, die langfristig login und Gesund- heitspsychologin, div. hem Suchtpotential, der durch die Inhalation inner- rauchen, sterben frühzeitig an den Folgen. Viele Er- Fortbildungen zur halb von sieben Sekunden seine Wirkung im Gehirn krankungen mit Todesfolge (ischämische Herzkrank- Nikotinentwöhnung. entfaltet. Er verursacht Dopaminausschüttungen im heiten, chronisch-obstruktive Lungenerkrankungen, 18
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Tracheal-, Bronchial- und Lungenkrebs, Schlaganfall Diagnostik eingesetzt werden. Ein weiterer wich- und Diabetes) können direkt mit dem Risikofaktor tiger Aspekt ist die Dokumentation des Konsums. Rauchen in Zusammenhang gebracht werden. Aufgrund der Diagnosestellung Nikotinabhängig- keit ergibt sich die Therapieindikation Nikotinent- wöhnung. Die Therapie soll in Form von evidenzba- sierter Tabakentwöhnung erfolgen. Schädigungen durch Behandlung der Nikotinabhängigkeit Tabak- und Nikotin- Die gesundheitsschädigenden Folgen der Nikotinab- konsum betreffen den hängigkeit sind vermeidbar. Zum einen kann durch die Prävention des Nikotinkonsums auf der Verhält- ganzen Körper. nisebene sehr viel bewirkt und die Prävalenz langfris- tig gesenkt werden (Gesetzgebung, Preisgestaltung, Verfügbarkeit des Suchtstoffes). Zum anderen kann durch die Entwöhnung der abhängigen Personen die Rauchen bedingt rund 1.090 Todesfälle pro Monat: Ausstiegsrate unmittelbar gesteigert werden. Es gibt Im Rahmen des „Global Burden of Disease“-Mo- evidenzbasierte und effektive Entwöhnangebote, die nitorings wird für Österreich für das Jahr 2019 ge- beim Ausstieg auf psychischer und körperlicher Ebe- schätzt, dass ca. 13.100 Todesfälle bzw. 16 Prozent ne helfen. Dabei sind unterschiedliche Intensitäten aller Todesfälle auf das Rauchen von Tabak (inklusi- der Unterstützung verfügbar und sinnvoll: von der ve Passivrauchen) zurückzuführen sind. Die Folgen Kurzintervention in der allgemeinen Versorgung, der der Nikotinabhängigkeit belasten insofern auch auf telefonischen Beratung über ambulante Programme volkswirtschaftlicher Ebene das Gesundheitswesen. bis hin zur stationären Nikotinentwöhnung, alles oft kombiniert mit Unterstützung durch Nikotinersatzpro- Diagnose der Nikotinabhängigkeit dukte oder andere unterstützende Medikamente. Das ICD 10 beschreibt „Psychische und Verhaltens- Der „Rauchstopp“ ist ein längerer Prozess, störungen durch Tabak“ im Bereich „Psychische und in dem verschiedene Stadien der Veränderung Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen“ durchlaufen werden. Das Stufenmodell der Ver- unter F 17. Die Möglichkeit der Abbildung reicht von haltensänderung von Prochaska und DiClemente F 17.0 (akute Intoxikation) über F 17.3 (Entzugssyn- bietet einen guten Hintergrund für individuelle drom) bis zu F17.9 (nicht näher bezeichnete psychi- Zieldefinition und Auswahl der geeigneten sche und Verhaltensstörungen). Das Abhängigkeits- Interventionsstrategien. Von der Phase der syndrom wird mit der Codierung F 17.2 dargestellt. Absichtslosigkeit, in der noch kein Problembe- wusstsein vorhanden ist, der Absichtsbildung, in Sind mindestens drei der sechs folgenden Symp- der sich Ambivalenz bzw. Dissonanz entwickeln, tome im letzten Jahr aufgetreten, ist die Diagnose über die Vorbereitung, die Handlung, bis hin zur Nikotinabhängigkeit zutreffend: Aufrechterhaltung der Abstinenz (inklusive des Umgangs mit Rückfällen) ergeben sich in Bezug • starker Wunsch, die Substanz einzunehmen auf die physischen und psychischen Aspekte der • Schwierigkeiten, den Konsum zu kontrollieren Abhängigkeit unterschiedliche Ansatzpunkte der oder zu beenden Therapieplanung. • anhaltender Substanzgebrauch trotz Wissensvermittlung zur Wirkung von Nikotin schädlicher Folgen und den Folgewirkungen, Risikosensibilisierung, • körperliches Entzugssyndrom Förderung der Veränderungsmotivation, Ziel- und • Substanzgebrauch wird Vorrang vor anderen Erwartungsabklärung, Stärkung der Selbstwirk- Aktivitäten und Verpflichtungen gegeben samkeitserwartung und die Beobachtung des • Toleranzerhöhung Rauchverhaltens sind wichtige erste Bestandteile, die vor allem verhaltenstherapeutisch basiert sind. Die S3-Leitlinien zu Rauchen und Tabakabhängig- Die S3-Leitlinien betonen die Bedeutung einzelner keit: Screening, Diagnostik und Behandlung, die Komponenten für die Effektivität der Behandlung. 2021 aktualisiert wurden, empfehlen ein systema- So wird empfohlen, dass verhaltenstherapeutische tisches Screening zur Erhebung der Abhängigkeit: Behandlungen zur Unterstützung der Tabak- Alle Patientinnen und Patienten sollen beim ersten abstinenz mehrere Komponenten, insbesondere (für eine umfassende Anamnese geeigneten) Kon- Psychoedukation, Motivationsstärkung, Maßnah- takt sowie in regelmäßigen Abständen im Behand- men zur kurzfristigen Rückfallprophylaxe, Interven- lungsverlauf nach ihrem Konsum von Tabak oder tionen zur Stärkung der Selbstwirksamkeit, sowie E-Zigaretten oder verwandten Produkten gefragt alltagspraktische Beratung mit konkreten Verhal- werden. Weiter soll der Fagerström-Test für Zigaret- tensinstruktionen und praktischen Bewältigungs- tenabhängigkeit (FTZA) bzw. die Kurzform Heavi- strategien (Problemlöse- und Fertigkeitentraining, ness of Smoking Index (HSI) zur weiterführenden Stressmanagement) beinhalten sollten. 20
Nikotinabhängigkeit im Kontext psychiatrischer Patientinnen und Patienten können per Fax oder Komorbidität online direkt für ein Beratungsgespräch angemeldet Personen mit psychiatrischen Erkrankungen weisen werden. Das Team des Rauchfrei Telefons meldet sich eine hohe Prävalenz der Nikotinabhängigkeit und nach wenigen Werktagen für ein erstes unverbind- tabakassoziierter Folgeerkrankungen auf. Nikotin- liches Informations- oder Beratungsgespräch. entwöhnung für psychiatrische Patientinnen und Patienten ist in vielen Settings noch die Ausnahme. Unterstützung der Entwöhnung auf der Gleichzeit ist der Rauchstopp angesichts vieler kör- Verhältnisebene perlicher Risikofaktoren oft besonders dringlich und Auch auf der Verhältnisebene können Maßnahmen die Behandlung der Nikotinabhängigkeit angesichts zur Steigerung der individuellen Veränderungs- der Komorbiditäten herausfordernd. Die S3-Leitlinie motivation und zur Unterstützung der Nikotinent- bietet auch für die Behandlung von Personen mit wöhnung im Gesundheitswesen umgesetzt werden. psychiatrischen Komorbiditäten klare Behandlungs- Rauchfreie Rahmenbedingungen zeigen Möglich- empfehlungen. So soll die Nikotinabhängigkeit keiten für Handlungsalternativen auf und erleichtern erfasst und dokumentiert werden, die Empfehlung abstinentes Verhalten. Das Österreichische Netz- zum Ausstieg gegeben werden und entsprechende werk gesundheitsfördernder Krankenhäuser und Therapieangebote unterbreitet werden. Gesundheitseinrichtungen (ONGKG) unterstützt dabei: Gesundheitseinrichtungen können sich etwa Das Angebot des Rauchfrei Telefons als Rauchfreie Einrichtung im „Global Network for To- Eine effektive Möglichkeit der Beratung und Be- bacco Free Health Care Services“ zertifizieren lassen. handlung stellen sogenannte Quitlines (telefonische Ein Beispiel für die Kombination von Maßnahmen auf Beratungsstellen zur Nikotinentwöhnung) dar. Sie Verhältnisebene und Verhaltensebene ist das Kran- werden im WHO-Rahmenabkommen zur Tabakkon- kenhaus Maria Ebene in Vorarlberg. Das Krankenhaus trolle (FCTC WHO) empfohlen, um Raucherinnen mit Schwerpunkt Suchttherapie ist eine Gold-zerti- und Raucher beim Ausstieg zu unterstützen. Das fizierte rauchfreie Gesundheitseinrichtung, die die Medium Telefon bewährt sich durch spontane Er- Behandlung der Nikotinabhängigkeit im ambulanten reichbarkeit, Ortsunabhängigkeit, flächendeckende und stationären Setting anbietet. Prim. Dr. Philipp Verfügbarkeit, Anonymität und – seit März 2020 Kloimstein, der ärztliche Leiter der Suchteinrichtung relevant – „kontaktlose“ Beratung. Das „Rauchfrei Maria Ebene, weist auf die gegenseitige Verstärkung Telefon“ ist die österreichische Quitline, die Be- der Maßnahmen hin: „Wir bieten allen Raucherinnen ratung, Information und Weitervermittlung bietet. und Rauchern Tabakentwöhnung an, unabhängig Seit 2016 findet sich die kostenfreie Nummer 0800 vom Therapieziel. Patientinnen und Patienten, die zu 810 013 infolge der Europäischen Tabakprodukte- uns kommen, wissen, dass sie in eine rauchfreie Ge- direktive (TPD II) auf jeder Zigarettenpackung. Das sundheitseinrichtung kommen und sind daher für das hat dazu beigetragen, dass sich die Inanspruch- Thema eventuell offener bzw. werden sensibilisiert. nahme signifikant und langfristig erhöht hat. Das Gleichzeitig gelingt die Veränderung leichter, wenn Rauchfrei Telefon ist eine Kooperation der Sozial- sie sich im rauchfreien stationären Setting befinden, in versicherungsträger, der Länder und des Bundes- der das Nichtrauchen die Norm ist.“ ministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz. Die Österreichische Gesund- Informationen über weiterführende Literatur heitskasse betreibt das kostenfreie österreichweite zu diesem Text stellen wir auf Anfrage gerne Angebot, das neben der reaktiven und proaktiven zur Verfügung: abo@api.or.at Telefonberatung noch weitere Elemente umfasst. Ein Team von spezialisierten Klinischen und Gesundheitspsychologinnen betreut das gesamte Angebot. Nach dem Erstgespräch besteht die Durchhaltevermögen ist gefragt Möglichkeit für eine weiterführende Beratung über Das Dramatische an der Nikotinsucht sind die negativen mittel- und mehrere Wochen hinweg, um die Raucherinnen und langfristigen Gesundheitsfolgen. Um diese zu vermeiden, gilt es Raucher beim Veränderungsprozess zu begleiten daher, die Sucht evidenzbasiert zu behandeln. Nikotinabhängigen und zu unterstützen. Für die Folgetermine werden Personen sollten, wie allen Suchtkranken, Entwöhnangebote ge- die Klientinnen und Klienten proaktiv kontaktiert, macht werden, die evidenzbasiert beim Ausstieg unterstützen und um die Hürde der Inanspruchnahme professioneller die individuelle Situation berücksichtigen. Nikotinabhängigkeit ist Hilfe noch weiter zu senken. Zwischen den verein- durch eine hohe Rückfallquote gekennzeichnet, die Fähigkeit zu barten Terminen kann man sich jederzeit inbound Frustrationstoleranz und Durchhaltevermögen daher essenziell – beim Rauchfrei Telefon melden. für Konsumierende und Behandelnde gleichermaßen. Neben den Das „Rauchfrei Ticket“ ist ein Angebot für Insti- gesundheitlichen Verbesserungen ist eine weitere Folge der Ent- tutionen und niedergelassene Gesundheitsprofessio- wöhnung das Erleben von Suchtfreiheit, von dem Klientinnen und nistinnen und -professionisten, die die Entwöhnung Klienten häufig mit großer Erleichterung und Stolz berichten. nicht im eigenen Rahmen durchführen können oder Mehr zum Thema auf rauchfrei.at keine Möglichkeit der Rückfallprophylaxe haben. 21
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