Neues aus der Krise - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
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No 95 | Dezember 2020 I RS AKTUELL Magazin für Raumbezogene Sozialforschung Neues aus der Krise _Zur Räumlichkeit der Coronakrise _Krisen als Lern- und Innovationsgelegenheiten _Hochschulen zwischen Brexit und COVID-19 _Debatte: Sind soziale Innovationen die Antwort?
In dieser Ausgabe Nachrichten aus dem Institut 29 Abschluss des RurAction-Netzwerks: Konferenz und Transfer zu sozialem Unternehmertum in ländlichen Räumen 30 Studie zu Sozialunternehmen in Brandenburg 4 8 Das IRS und die Krise Ein Handbuch für 31 Lastenrad-Sharing und Mikro-Depot: die Krisenforschung Neues Projekt „Stadtquartier 4.1“ zu urbanen Nachhaltigkeitslösungen folgt auf „Stadtquartier 4.0“ 32 Neues Projekt „Energiewende im sozialen Raum“ gestartet 33 Mediatisierung in der Stadtplanung: Projektabschluss und Special Issue 34 IRS-Wissenstransfer zur Digitalisie- rung in ländlichen Räumen 36 Zwischen „Ankunftsquartier“ und „Falle“: Zwei Veranstaltungen am IRS 9 10 Die sozialen Räume beleuchten neue Herausforderungen „Ohne Druck gibt es der Coronapandemie der Integration in städtischen Wohn- kein Lernen“ – ein vierteln IRS-Gespräch über Krisen, Lerngelegen- 38 Erste wissenschaftliche Erhebung heiten und Lern- von Universitäts-Auslandscampus- blockaden sen veröffentlicht 39 Zwei Special Issues zur Energie wendeforschung 41 Konflikte als Teil der Planung begreifen 42 Neue Publikationsreihe „IRS Dialog“ 43 Relaunch Stadtwende-Website 44 Besuche von MWFK und BMI 18 24 Brexit und Corona: 44 Neues Leibniz-Forschungsnetzwerk Debatte: Sind soziale In- „Leibniz R“ löst 5R-Netzwerk ab novationen die Antwort Die doppelte Krise auf gesellschaftliche der Hochschulen 45 Audit durchgeführt Krisen? 46 Forschungsverbund zur historischen Authentizität im städtischen Bauerbe nimmt die Arbeit auf 47 IRS an neuem Innovative Training Network „CORAL” zu Labs in ländli- chen Regionen beteiligt 48 Fundstück: Achim Felz und die DDR-Bauausstellung 1987 49 Besuch des Museumsverbands 49 Impressum 50 Personalien 2 IRS AKTUELL No 95 | Dezember 2020
Liebe Leserinnen und Leser von IRS aktuell, diese Ausgabe behandelt – inmitten einer Krise – das Thema Krisen. Charakteristisch für Krisen ist ein hohes Maß an Unsicherheit bei gleichzeitiger Dringlichkeit zu ent- scheiden und zu handeln, gepaart mit dem Gefühl von Bedrohung. Gemeinhin sind Krisen etwas, das es zu vermeiden gilt. Wenn sie eintreten, dann kommt es darauf an, sie gut zu managen, was oft nicht mehr heißt, als so schnell wie möglich zur Normalität zurückzukehren. Krisenmanagement hat sich in jüngerer Zeit zu einer Kernkompe- tenz von Entscheidungsverantwortlichen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft ent- wickelt – scheint es doch, dass Krisen in immer kürzeren Zeitspannen auftreten, sie immer komplexer in ihren globalen Zusammenhängen und Wechselwirkungen wer- den, und daher immer häufiger wichtige Entscheidungen im Krisenmodus zu treffen sind. Aber Krisen sind auch durch eine Ambivalenz gekennzeichnet: In ihnen kann sich das Schicksal wenden, zum Guten oder Schlechten. Krisen beinhalten also immer auch Chancen, beispielsweise zum Lernen, zum Verbessern oder gar zum Innovieren. Die gegenwärtige Pandemie hat das IRS nicht nur darin bestätigt, mit Krisen an einem wichtigen Forschungsthema zu arbeiten, sie hat uns auch als Organisation getroffen. So hat die Coronapandemie uns eine weitere Facette des Leibniz-Motto theoria cum praxi gelehrt. Die abstrakte Erkenntnis zum Charakter von Krisen wurde für viele Beschäftigte und nicht zuletzt die Institutsleitung um die Erfahrung der unmittel- baren Betroffenheit ergänzt. Was heißt es, wenn die Krise ohne Vorankündigung auf die erste Stelle einer ohnehin anspruchsvollen Agenda rückt? Wie fühlt es sich am eigenen Leib an, wenn Emotionen zum „Salz in der Krise“ werden, wie die im Troub- leshooting erfahrene Krisenexpertin Bettina Zimmermann sich ausdrückt? Und wie ist es, wenn Kolleginnen und Kollegen, die man schon jahrelang persönlich kennt, plötzlich als „kritische Infrastruktur“ gelten? In der Pandemie musste auch das IRS in den Krisenmodus schalten. Während des Lockdowns im Frühjahr 2020 haben wir einen Krisenstab eingerichtet. Dieser musste existentielle Entscheidungen treffen, das Institut herunterfahren bis auf seine Grund- funktionen. Danach haben wir uns schrittweise zurückgetastet in eine neue Realität, mit viel Homeoffice, virtuellen Veranstaltungen, empirischer Feldforschung via Zoom, einem Hygienekonzept und Stufenplan mit verschiedenen, der Pandemiedynamik angepassten Betriebsmodi, und selektiv auch Präsenztreffen. Schließlich mussten wir die so wichtige Auditierung durch unseren Wissenschaftlichen Beirat im Herbst die- ses Jahres angesichts neuer Infektionsdynamiken im Online-Format durchführen. Ich hoffe, dass diese Ausgabe von IRS aktuell Ihnen ein inspirierender Begleiter in die vor uns liegende Zukunft mit dem Corona-Virus sein kann. Ihr Oliver Ibert Direktor des IRS IRS AKTUELL No 95 | Dezember 2020 3
Das IRS und die Krise Als im März 2020 der Lockdown zur Eindämmung der Coronapandemie begann, wurden die Arbeits- routinen des IRS, wie die vieler anderer Einrichtungen auch, massiv aus dem Takt gebracht. Doch schnell etablierte sich ein neuer Modus des Arbeitens: Mit Homeoffice und Online-Kommunikation konnten nicht nur Schreib- und Organisationsaufgaben bewältigt werden – auch für Veranstaltungen und teils sogar für empirische Forschung bewährte sich virtuelles Arbeiten. Und manche Forschungserkenntnisse kamen schneller zur Anwendung als gedacht. Am 26. Februar 2020 schrieb Verena trieb, was für fast alle Beschäftigten Brinks an ihr Projektteam, sie habe an bedeutete: Homeoffice. Bis auf Haus- diesem Tag zum ersten Mal das Wort meister und Empfang blieb das IRS- „Coronakrise“ in den Medien gelesen. Gebäude von da an leer, lediglich der Als sich in den Wochen davor die von Krisenstab selbst kam zunächst täg- der WHO gerade als „SARS-CoV-2“ lich zusammen, um, wie es im Kri- benannte Krankheit zunächst in senmanagement heißt, „vor die Lage China und dann in immer mehr Län- zu kommen“. dern ausgebreitet hatte, hatte das Wort gewissermaßen in der Luft gelegen. Den Betrieb sichern Krisenstäbe waren eingerichtet wor- den. Ein wachsendes Bedrohungsemp- 20 „Updates“ hat der Krisenstab seit- finden, Handlungsdruck und grundle- her per Mail an alle Beschäftigten gende Unsicherheit über das Verhalten Prof. Dr. Oliver Ibert verschickt, unzählige Einzelprobleme des neuen Virus wie auch über Mög- Tel. 03362 793 118 bearbeitet, von der Vereinfachung von lichkeiten ihm zu begegnen herrsch- oliver.ibert@leibniz-irs.de internen Antragsprozeduren bis zur ten – alles Definitionsmerkmale einer Verlängerung von Stellen und Pro- Oliver Ibert ist Direktor des IRS und Krise. Brinks, Juniorprofessorin an Professor für Raumbezogene Trans- jekten. Aus dem strengen Notbetrieb, der Universität Mainz und Alumna formations- und Sozialforschung an der fast keine Präsenzarbeit und keine des IRS, forscht gemeinsam mit IRS- der BTU Cottbus-Senftenberg. Zu sei- Präsenzveranstaltungen erlaubte, stieg Forscherin Tjorven Harmsen und IRS- nen Forschungsschwerpunkten gehören das IRS im Juni in einen „gelockerten Direktor Oliver Ibert im BMBF-Projekt Innovationsprozesse, Prozesse der öko- Notbetrieb“ um, der sehr eingeschränkt „RESKIU“ über die Rolle von Beratung nomischen Wertkreation, regionalökono- und unter Einhaltung eines Hygiene- mische Transformation sowie die raum- in Krisen (siehe S. 10). Von Oliver Ibert konzepts Präsenzarbeit gestattet. Wei- zeitlichen Dynamiken von Krisen und wird das IRS außerdem im Leibniz- Resilienzkonstruktionen. tere Lockerungsstufen auf dem eigens Forschungsverbund „Krisen einer glo- ausgearbeiteten Stufenplan konn- balisierten Welt“ vertreten (siehe S. 8). ten bislang nicht erreicht werden – zu Die Coronakrise wurde von Erkner aus instabil ist die Lage, zu dynamisch ent- also von Beginn an durch die Brille der wickeln sich in jüngerer Zeit die Infek- sozialwissenschaftlichen Krisenfor- tionen. Und doch hat das IRS in dem schung betrachtet. dreiviertel Jahr seit Beginn der Corona- krise (zumindest in Deutschland) wert- Dennoch kam die Wucht, mit der die volle Lektionen gelernt, die das weitere Coronakrise den Alltag in Deutschland Handeln des Instituts prägen werden. veränderte, auch für das Institut über- raschend. Am 16. März, als absehbar Die Öffentlichkeit erkannte in den war, dass das gewohnte Muster von Wochen des Lockdowns mit neuer, Präsenzarbeit, reger Reisetätigkeit, hoffentlich anhaltender Wertschät- internationalen Gastaufenthalten und zung, dass nicht nur Katastrophen- gut besuchten Veranstaltungen nicht schutz und Rettungsdienste, sondern zu halten war, richtete auch das IRS auch beispielsweise Supermarktange- einen Krisenstab ein. Dieser schickte stellte und Pflegekräfte zu den abso- das Institut umgehend in den Notbe- lut unverzichtbaren Leistungstragen- 4 IRS AKTUELL No 95 | Dezember 2020
den der Gesellschaft gehören. Eine schen Forschung selbst. Zahlreiche vergleichbare Erfahrung machte das IRS-Projekte, besonders im Drittmit- IRS in den ersten Wochen des Lock- telbereich, sehen intensive Feldarbeit downs, als die Sicherung von Verwal- und damit lange Forschungsreisen tungsabläufen und der IT-Infrastruk- vor – in Europa, Afrika, Asien und tur sowie das Gebäudemanagement zu Amerika. „Wir mussten unsere Aus- den dringlichsten Aufgaben des Kri- landsfeldforschungen in Nigeria und senstabs zählten und die entsprechen- Estland aufgeben. Es lässt sich nicht den Fachkräfte essenzielle Präsenz- alles über Skype-Interviews erheben, arbeit leisteten. Der Umstand, dass vor allem wenn man ethnographisch Verwaltungsprozesse noch unzurei- arbeiten will“, erklärt Gabriela Christ- chend digitalisiert waren, erwies sich mann, die unter anderem das DFG- als große Hürde. Diese Baustelle wird Projekt „Digitale städtebauliche Pla- das Institut angehen. nungen“ mit Fallstudien in New York und Lagos leitet. Wie wichtig es ist, Den allgemeinen Ansturm auf Lap- sich vor Ort umzusehen, die konkreten tops und Webcams zu Beginn des Lock- Bedingungen selbst zu erleben, betont downs bekam auch die IT des IRS zu auch Jana Kleibert, Leiterin der Leibniz spüren. Besonders die Hardware-Aus- Junior Research Group TRANSEDU, die stattung des Instituts, die nicht für Internationalisierungsstrategien von mobiles Arbeiten als Regelfall aus- Universitäten beleuchtet. „Wir hatten gelegt war, wurde zum Flaschenhals. gerade die zweite Datenerhebungs- Anspruchsvoll gestaltete sich auch die welle gestartet, als der Lockdown kam“, Suche nach Videokonferenz-Diensten, schildert Kleibert. „Wir mussten unser die stabil laufen und den verschie- Team zurückholen, teilweise mit dem densten Ansprüchen an Team- und letzten Flug.“ Monatelange Vorberei- Außenkommunikation genügen. Ins- tungsarbeiten der mehrwöchigen For- gesamt lief der Umstieg auf virtuelle schungsreisen nach Frankreich und in Formate in der hausinternen Zusam- die Golfregion seien umsonst gewesen. menarbeit jedoch erstaunlich gut. „Bei uns läuft die Teamkommunika- Andererseits zeigten sich vereinzelt tion sogar besser als zuvor“, sagt Wolf- auch Vorteile von Online-Formaten, gang Haupt, wissenschaftlicher Mit- etwa im Projekt MaFoCi, das die Kli- arbeiter in der Forschungsabteilung mastrategien mehrerer Großstädte „Institutionenwandel und regionale im Ostseeraum vergleicht (siehe auch Gemeinschaftsgüter“. Vor dem Lock- S. 10). „Die langwierige Planung von down seien Team-Treffen auf Grund Dienstreisen ist oft nicht mit dem der hohen Termindichte schwierig zu Arbeitsalltag potenzieller Interview- organisieren gewesen. „Jetzt treffen partner vereinbar“, sagt Wolfgang wir uns spontaner und deutlich öfter Haupt. „Wir vereinbaren Interviews online.“ Die IRS-Leitung gab ihrerseits jetzt flexibler online“. Eine Fokus- die Devise aus, die Forschenden sollten gruppe mit Fachleuten der Stadtver- die neuen Umstände konsequent als waltung von Turku (Finnland) sei Gelegenheit nutzen, um neue Arbeits- online sogar deutlich produktiver ver- weisen zu erproben. laufen, weil es möglich war, die Wis- senschaftlerin live zuzuschalten, die Chancen und die Vergleichsfallstudie in Groningen Herausforderungen für (Niederlande) bearbeitete. „Wir waren die Forschung aber schon an allen unseren Fallstu- dien-Orten, wir haben Kontakte und Als schwierig zu kompensieren erwie- kennen die lokalen Bedingungen“, sen sich die Einschränkungen durch grenzt Haupt ein. „Ich weiß nicht was die Pandemie jedoch bei der empiri- aus unserer Forschung geworden wäre, 6 IRS AKTUELL No 95 | Dezember 2020
wenn der Lockdown im Oktober 2019 sagt Matthias Bernt, kommissarischer wurde als Audioaufzeichnung im IRS- begonnen hätte“. Leiter der Forschungsabteilung „Rege- Podcast Society@Space veröffentlicht. nerierung von Städten“. Das kommende Regionalgespräch zu Laufende Projekte nahmen sich des der Frage, ob „Ostdeutschland“ heute Themas an. Das Team des DFG-Pro- Neue Formate noch eine valide Kategorie darstellt, jekts DeReBord, das Alltagspraktiken wird in Form einer Videokonferenz der Grenzziehung entlang der deutsch- Bei Veranstaltungen, die durch das IRS durchgeführt und im Videokanal des polnischen Grenze untersucht, nahm organisiert werden, überwiegt wiede- IRS veröffentlicht. die Konsequenzen der Grenzschlie- rum der Aspekt des kreativen Expe- ßung in seine Datenerhebung auf. Das rimentierens. „Veranstaltungen wie Kompetenz in der Leitprojekt der Forschungsabteilung Workshops und Konferenzen lassen Krisenforschung „Institutionenwandel und regionale sich aus unserer Sicht sehr gut virtuell Gemeinschaftsgüter“, das Diskurse um durchführen, was wir auch tun“, sagt Auch die wissenschaftliche Krisen- kritische Infrastrukturen am Beispiel Gabriela Christmann. „Faktisch haben kompetenz fand in der Coronakrise der Energiewende und der Klimaan- wir nichts, was bei uns für 2020 auf schnell den Weg in die Öffentlichkeit. passung untersucht, erweiterte seinen der Agenda stand, abgesagt.“ So rich- In „Crisis Calls“ etwa, dem Leibniz- Blick, um die Debatte um das Gesund- tete Christmanns Forschungsabteilung Videopodcast zur Coronakrise, dis- heitswesen als kritische Infrastruktur im September die Abschlusskonferenz kutierte Oliver Ibert das Missverhält- mit abzubilden. In einem Sonderheft des Projekts RurAction zu sozialen nis zwischen einer definitionsgemäß der Tijdschrift voor Economische en Innovationen in ländlichen Räumen globalen Pandemie und der Dominanz Sociale Geografie erschienen zwei Arti- online aus, mehrere thematisch ver- nationaler Lösungsstrategien. In einem kel von Forschenden des IRS zu sozial- wandte Transferveranstaltungen wur- Interview mit Leibniz-Transfer erklärt räumlichen Dynamiken der Corona- den ebenfalls online abgehalten (siehe er, wie Experten in Krisen handeln pandemie (siehe S. 9). S. 29 und 34). und wie wissenschaftliche Expertise in Krisen wirksam wird. In der Deut- Neben Problemen bei der Datenerhe- Zentrale IRS-Veranstaltungen wie die schen Welle äußerte sich IRS-Forsche- bung schlägt auch der organisatori- IRS International Lecture on Society rin Ariane Sept zur „Stadtflucht“ in der sche Mehraufwand für Projektverlän- and Space und das Brandenburger Coronakrise. In zahlreichen Blogs wie gerungsanträge zu Buche. Bei neuen Regionalgespräch wurden auf Online- dem Corona-Blog der Hessischen Stif- Projekten wird mittlerweile intensiv Formate umgestellt, Video- und Audio- tung Friedens- und Konfliktforschung, mit Online-Formaten geplant, auch aufzeichnungen werden veröffentlicht. dem Blog des Sonderforschungsbe- wenn diese Forschungsreisen letzt- Gerade die International Lecture eig- reichs „(Re)figuration von Räumen“ lich nicht ersetzen können. Methodi- net sich dafür. „Wir erreichen mit der und dem Blog des Viadrina Centers sche Notfalloptionen für den Fall einer Lecture jetzt ein größeres und noch „B/ORDERS IN MOTION“ posteten lang andauernden Pandemie gehören stärker internationales Publikum, Forschende des IRS außerdem wissen- mittlerweile zur Antrags- und Projekt- und auch mehr Sichtbarkeit in sozialen schaftliche Einordnungen, Beobach- planung. Thematisch wird die Corona- Medien“, sagt Sarah Brechmann vom tungen aus der Forschung und Refle- krise in nächster Zeit eine prominente Bereich Wissenschaftsmanagement xionen über neue Alltagspraktiken. Stellung in der IRS-Forschung einneh- und -kommunikation. Zwei Lectures men. Jüngst bewilligte beispielsweise fanden bisher online statt: Im Mai 2020 In der Summe hat die Coronakrise im die Regional Studies Association einen sprach der kanadische Journalist Doug IRS starke Lerndynamiken ausgelöst, Forschungsantrag für ein Projekt über Saunders über „Arrival Cities“, im Sep- deren Auswirkungen sich weit über die die Auswirkungen von COVID-19 auf tember sprach der britische Geograph Pandemie hinaus manifestieren werden Auslandscampusse von Hochschulen Mark Shucksmith über soziale Exklu- – besonders in der Digitalisierung von (siehe S. 24). Weitere Projekte sind in sion in ländlichen Räumen. Im Juni Abläufen, der Online-Zusammenarbeit der Beantragung. Mit Sorge schauen diskutierte außerdem IRS-Forscherin und im mobilen Arbeiten. Auch in der Forschende allerdings auf die künfti- Madlen Pilz im ersten Online-Regio- Forschung wird die Krise in Zukunft gen Möglichkeiten sich international nalgespräch mit Stefanie Kaygusuz- (weiter) stark präsent sein. Dennoch zu vernetzen. „Konferenzen fallen weg, Schurmann von der Stadtverwaltung hoffen die IRS-Beschäftigten auf ein vor allem die besonders ergiebigen Cottbus und René Wilke, Oberbürger- baldiges Ende der Pandemie. Flurgespräche am Rand der offiziel- meister von Frankfurt (Oder), über len Sessions. Das macht es schwierig Ankunftsquartiere in ostdeutschen sich in der Community zu orientieren“, Städten (siehe S. 36). Das Gespräch IRS AKTUELL No 95 | Dezember 2020 7
Ein Handbuch für die Krisenforschung Unsere Wahrnehmung der Welt wird seit Längerem von Krisendiagnosen geprägt. Konjunktur für die Krisenforschung also, doch keine Disziplin allein kann die komplexe Dynamik von Krisen beleuchten. Deshalb arbeitet der Leibniz-Forschungsverbund „Krisen einer globalisierten Welt“, an dem auch das IRS mitwirkt, seit 2013 an interdisziplinären Ansätzen. Das Handbuch Krisenforschung ist ein zentrales Pro- dukt des Forschungsverbundes. Das IRS ist mit drei Beiträgen prominent in dem Sammelband vertreten. Im Forschungsverbund arbeiten 24 gorie für bestimmte Arten von Ereignis- Leibniz-Institute aus fast dem gesam- sen dienen, denn als Beobachtungsfokus ten Disziplinenspektrum der Leib- für die Art wie reale Gefahren und der niz-Gemeinschaft zusammen, um die Umgang mit ihnen sich auf eine typi- Mechanismen und Dynamiken von Kri- sche - eben krisenhafte - Weise aufei- sen und deren wechselseitige Interde- nander beziehen. pendenzen besser zu verstehen. Das 2020 erschienene Handbuch Krisen- Der Band ist in vier Teile gegliedert: forschung arbeitet den Forschungsstand Teil I zu Krisenkonzepten, Teil II zu Krisen als politische Handlungssi- zu Verläufen sowie Zeitlichkeit und tuationen auf und betont zugleich die Räumlichkeit von Krisen, Teil III zur enge Verbindung zur politischen Praxis, Spezifik verschiedener Krisenfelder die sich in der Verwendung des Krisen- und Teil IV zum Umgang mit Krisen, begriffs beobachten lässt. Während die etwa durch Krisenmanagement. Bei- Erforschung einzelner Krisenereignisse träge aus dem IRS tragen zu den Teilen und -phänomene in vielen Disziplinen II und IV des Bandes bei: Im Kapitel zum Tagesgeschäft gehört, sind über- „Zur Räumlichkeit von Krisen“ rücken greifende konzeptionelle Überlegungen Verena Brinks und Oliver Ibert den bis- zu Krisen meist auf organisatorische Bösch, Frank; Deitelhoff, Nicole; Kroll, lang eher stiefmütterlich behandelten Aspekte des Krisenmanagements oder Stefan (2020) (Hrsg.): Handbuch Krisen- Aspekt der Räumlichkeit von Krisen in auf Krisendiskurse beschränkt. Daran forschung. Wiesbaden: Springer VS den Vordergrund. Dabei gehen sie auf anknüpfend und darüber hinauswei- vier unterschiedliche, aber sich wech- send bearbeitet das Handbuch Krisen- selseitig beeinflussende Perspektiven forschung aus verschiedenen konzeptio- auf Räumlichkeit ein: Relationalität, nellen und methodischen Perspektiven. Territorialität, Skalarität und Topologie. Ebenfalls in Teil II diskutiert Heiderose Herausgegeben wird der Band von Kilper die Interdependenz von Krisen Frank Bösch (Zentrum für Zeithistori- in einer globalisierten Welt. Während sche Forschung Potsdam), Nicole Deitel- Krisen uns immer schmerzhaft an die hoff und Stefan Kroll (beide Leibniz-Ins- wechselseitige Abhängigkeit verschie- titut Hessische Stiftung Friedens- und dener Gesellschaftsbereiche erinnern, Konfliktforschung) aus dem Lenkungs- so ihre These, kommt in einer globali- kreis des Forschungsverbunds. In sei- sierten Welt der Aspekt der Transna- nem Einführungsbeitrag spricht Stefan tionalität dazu. In ihrem Kapitel zur Kroll sich für eine „reflexive Krisen- Krisenberatung (Teil IV) diskutieren forschung“ aus: Sie soll die realen und schließlich Verena Brinks und Oliver als Fakten nicht zu leugnenden Bedro- Ibert das Wechselspiel unterschied- hungen, die etwa in Umwelt- oder Wirt- licher Arten von Expertenwissen in schaftskrisen zu zerstörerischer Ent- Konakt: Krisen. Mit ihrer Unterscheidung in faltung kommen, gemeinsam mit der Prof. Dr. Oliver Ibert Experten in Krisen und Experten Ebene der gesellschaftlichen Wahrneh- Tel. 03362 793 118 für Krisen machen sie deutlich, dass oliver.ibert@leibniz-irs.de mung krisenhafter Ereignisse, sowie der in Krisen auf sehr unterschiedliche Ebene des krisenbezogenen Handelns Jun.-Prof. Dr. Verena Brinks Weise Expertise mobilisiert wird, jede betrachten. Damit soll der Begriff der Tel. 06131 39 26454 mit ihrer spezifischen Relevanz, aber Krise weniger als eine objektive Kate- verena.brinks@uni-mainz.de auch Begrenztheit. 8 IRS AKTUELL No 95 | Dezember 2020
Die sozialen Räume der Coronapandemie Die Ausbreitung von COVID-19 ist ein räumliches Phänomen. Karten und Statistiken erfassen die Betroffen- heitsgrade von Ländern und Regionen, Hotspots werden identifiziert und die Einflüsse von Mobilitäts- praktiken wie Urlaubsreisen geprüft. Ein Sonderheft der Tijdschrift voor Economische en Sociale Geo- grafie widmet sich dem Beitrag der Geographie zum Verständnis der Pandemie. Zwei Beiträge aus dem IRS betrachten die Pandemie aus einer sozialräumlichen Perspektive. Verena Brinks und Oliver Ibert zei- die das Infektionsgeschehen antrieben. gen in ihrem Beitrag „From Corona Sie identifizieren drei Hauptdynamiken: Virus to Corona Crisis: The Value regionale Ausbruchsdynamiken durch of An Analytical and Geographical Superspreading-Events wie Karnevals- Understanding of Crisis“ am Beispiel feiern und Club-Partys, die Verbreitung des COVID-19-Ausbruchs in Deutsch- des Virus durch Mobilitätsnetzwerke, land, was eine räumliche Perspektive insbesondere Tourismus, sowie Aus- auf Krisen beitragen kann. Dazu nut- brüche in geschlossenen Umgebungen zen sie das TPSN-Konzept (Territory, wie Kreuzfahrtschiffen und Altenhei- Place, Scale, Network) des britischen men. Anders als in den gut dokumen- Soziologen Bob Jessop und Kollegen. tierten Ausbrüchen von SARS (Severe Dieses Konzept dient dazu, soziale Acute Respiratory Syndrome) und MERS Phänomene entlang ihrer territorialen (Middle East Respiratory Syndrome) in Dimension, ihrer Ausprägung an kon- den 2000er Jahren spielte hierarchi- kreten Orten, ihrer Manifestation auf sche Ausbreitung (über eng mitein- verschiedenen Skalenebenen und ihrer ander vernetzte Metropolen) dagegen Ausbreitung zu analysieren. Brinks und eine deutlich abgeschwächte Rolle, Ibert machen darauf aufmerksam, dass wie auch die Ausbreitung in der Flä- in den Reaktionen auf die Ausbreitung Aalbers, Manuel B.; Beerepoot, Niels; che über Gemeinde- und Kreisgrenzen des neuen Coronavirus verschiedene Gerritsen, Martijn (eds.) (2020): hinweg. Der besonders dramatische Ebenen ineinander spielen. So wirken The Geography of the COVID 19 Ausbruch im Kreis Heinsberg blieb mehrere territoriale Ebenen (Bund, Pandemic. Tijdschrift voor economische beispielsweise auf den Kreis begrenzt, Länder, transnationale Entitäten) bei en sociale geografie 111 (3) Pendlerverflechtungen über die der Pandemiebekämpfung teils zusam- deutsch-niederländische Grenze hin- men und geraten teils in Konflikt, auch weg führten nicht zu einer räumli- in Abhängigkeit davon, wie ein Staat chen Ausbreitung des Infektionsge- organisiert ist (föderal oder zentralis- schehens. Kuebart und Stabler ziehen tisch). Brinks und Ibert positionieren daraus den Schluss, dass die Schließung sich kritisch gegenüber einer territo- von Grenzen, die in den stark verfloch- rialen Logik der Pandemiebekämpfung. tenen europäischen Grenzregionen zu Sie heben den Widerspruch zwischen schweren Disruptionen des Alltags und einem Problem, das international abge- auch der Kooperation in der Pandemie- stimmtes Handeln erfordert, und einer bekämpfung führten, nicht sinnvoll zumindest anfangs stark in nationa- waren. Regional begrenzte Mobilitäts- len Grenzen gedachten Handlungs- einschränkungen, das Verbot von Ver- weise hervor. anstaltungen sowie Einschränkungen im Reiseverkehr seien dagegen adäquat Andreas Kuebart und Martin Stabler gewesen. werteten für ihren Beitrag „Infectious Kontakt: Diseases as Socio-Spatial Processes: Dr. Andreas Kuebart Ein Denken in Territorien, einschließ- The COVID-19 Outbreak In Germany“ Tel. 03362 793 186 lich Grenzschließungen, war in der andreas.kuebart@leibniz-irs.de die ersten etwa 1000 Infektionsfälle Frühphase der Coronapandemie somit in Deutschland während der ersten Jun.-Prof. Dr. Verena Brinks nur insofern sinnvoll, als es zur Unter- COVID-19-Welle aus, um die sozial- Tel. 06131 39 26454 brechung verursachender Mobilitäts- räumlichen Prozesse zu identifizieren, verena.brinks@uni-mainz.de netzwerke führte. IRS AKTUELL No 95 | Dezember 2020 9
„Ohne Druck gibt es kein Lernen“ – ein IRS-Gespräch über Krisen, Lerngelegenheiten und Lernblockaden Zahlreiche Forschungsteams im IRS beschäftigen sich direkt oder indirekt mit dem Thema Krisen. Künftig soll dieser thematische Fokus weiter ausgebaut werden. Die Coronakrise gab den Anlass dafür, sich zu der Frage auszutauschen, ob und wie aus Krisen gelernt werden kann. Im Sommer 2020 disku tierten darüber per Videokonferenz Tjorven Harmsen, Wolfgang Haupt, Oliver Ibert, Kristine Kern und Elisa Kochskämper. Das Gespräch wird hier verdichtet wiedergegeben. Sie alle beschäftigen sich Tjorven Harmsen: Ich forsche zu in Ihren Forschungen aus der Frage, wie in Krisen Resilienz- unterschiedlichen potenziale aktiviert werden, also wie Akteure mit Krisen umgehen und auch Perspektiven mit Krisen oder daraus lernen können. Wir beschäf- krisenhaften Ereignissen. tigen uns im Team auch mit der Rolle Was ist eigentlich eine von Beratung und Expertise in Krisen. Krise? Und was interessiert Dabei schauen wir uns sehr unter- Sie daran? schiedliche Arten von Krisen an: Die Fluchtkrise von 2015 ist ein Beispiel für Oliver Ibert: In unserer Krisenfor- Verwaltungskrisen, die Krise der Por- schung arbeiten wir mit drei Merkma- zellanindustrie ein Beispiel für Wirt- len, die eine Krise kennzeichnen: fun- schaftskrisen und als Beispiel für damentale Unsicherheit, Dringlichkeit Dr. Wolfgang Haupt Umweltkrisen schauen wir uns kom- von Entscheidungen und Bedrohlich- Tel. 03362 793 187 plexe Schiffsunglücke an. Dabei bezie- wolfgang.haupt@leibniz-irs.de keit – alles Dinge, die wir beispiels- hen wir uns auf die drei Merkmale, die weise in der Coronakrise sehen. Ich Wolfgang Haupt ist wissenschaftlicher Oliver Ibert schon genannt hat. habe im Zuge der Finanzkrise 2008/09 Mitarbeiter in der Forschungsabtei- angefangen, mich für Krisen zu inter- lung „Institutionenwandel und regionale Wolfgang Haupt: Ich beschäftige mich essieren, weil wir als Wirtschaftsgeo- Gemeinschaftsgüter“. In seiner For- mit städtischen Klimaanpassungsstra- graphen damals, wieder einmal, nicht schung beschäftigt er sich primär mit tegien. Wir arbeiten in unserem Pro- kommunaler Klimapolitik, transnationa- nach unserer Expertise gefragt wur- jektteam nicht explizit mit dem Begriff len Klimanetzwerken und interkommuna- den. Ich dachte: Wir brauchen ein all- len Lernprozessen. Im Rahmen von zwei „Krise“, aber natürlich betrachten wir gemein gültiges Verständnis von Kri- Projekten untersucht er die klimapoliti- disruptive Ereignisse, die eine Krise sen und wie sie ablaufen. Das war ein schen Strategien deutscher und europäi- auslösen könnten. Konkret untersu- Grund, weshalb ich mich beim Leib- scher Städte. chen wir, wie Städte sich auf poten- niz-Forschungsverbund „Krisen einer ziell zerstörerische Starkregenereig- globalisierten Welt“ eingebracht habe. nisse vorbereiten, die im Zuge des Ich habe mich außerdem schon meine Klimawandels immer häufiger wer- ganze Karriere über mit Innovation den. Es geht also mehr um die strategi- beschäftigt, also mit der Frage: Wie sche Perspektive, um Antizipation und kommt Neues in die Welt? Aus die- die Frage, wie man eine Krise verhin- ser Perspektive finde ich die Ambiva- dern kann. lenz von Krisen interessant. Sie sind Wendepunkte zum Besseren oder zum Elisa Kochskämper: Meine Perspektive Schlechteren. Sie sind bedrohlich, aber ist ähnlich. Mich interessiert, welche sie können auch Gelegenheiten für Rolle Vorbereitung für den Umgang Innovation bieten. mit Krisen spielt, für die neuen Rou- 10 IRS AKTUELL No 95 | Dezember 2020
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tinen, die sich in Krisen herausbilden. sung gibt es solche Ereignisse, wenn Die Coronakrise kam unerwartet, der auch auf einem anderen Niveau. In der Klimawandel ist dagegen schon lange Krise werden Institutionen geschaf- bekannt, und im Rahmen von Klima- fen, die die nächste Krise verhindern anpassung bereiten sich viele Akteure sollen, beispielsweise bei Hochwasser- aktiv auf krisenhafte Zustände vor. ereignissen. Welchen Unterschied macht es, ob man gewarnt war oder nicht? Welchen Ein- Krise, Katastrophe, fluss hat eine eher theoretische Vor- Unsicherheit, disruptives bereitung im Vergleich zu praktischer Ereignis, wie hält man das Erfahrung? Was ist Lernen im Moment, was ist eher die Anwendung vorhan- auseinander? dener Erfahrungen? Tjorven Harmsen: Wir betrachten Kri- Tjorven Harmsen senfälle oft mit einem auslösenden Kristine Kern: Ich bin von Haus aus Tel. 03362 793 286 Ereignis, das wir als disruptiv bezeich- Ökonomin und habe mich schon tjorven.harmsen@leibniz-irs.de nen. Etwa eine Explosion auf einem immer mit Krisen beschäftigt – Welt- großen Handelsschiff, durch die Men- Tjorven Harmsen ist wissenschaftliche wirtschaftskrise, Kubakrise, Ölkrise; Mitarbeiterin in der Forschungsabteilung schen und Umwelt bedroht werden. Bei Umweltkrisen gibt es auch schon lange, „Dynamiken von Wirtschaftsräumen“. der Finanzkrise 2008 wäre das analoge man denke nur an Tschernobyl, spä- Im Projekt „Resilienter Krisenumgang“ Ereignis beispielsweise die Pleite der ter Fukushima. In jüngerer Zeit gab es (RESKIU) untersucht sie am Beispiel von Lehmann Brothers-Bank. Unsicherheit die Finanzkrise, die Flüchtlingskrise, schweren Schiffsunglücken die Verläufe besteht mit Blick auf die Frage, wie es von Umweltkrisen sowie die Rolle von Corona. Es entsteht der Eindruck, dass nach dem auslösenden Ereignis wei- Expertenwissen in ihnen. Im Rahmen des die Krisen überhaupt nicht aufhören. Projektes treibt sie ihre Promotion im tergeht, was zu tun ist, welche Konse- Aber auch der Kalte Krieg war eine Zeit Fach Soziologie voran. quenzen drohen. Auf ein disruptives permanenter Krise. Mich interessiert Ereignis folgen Reaktionsmechanis- hauptsächlich, wie Krisen sich gegen- men, die teils professionalisiert sind. seitig beeinflussen. Also beispielsweise Es gibt Organisationen, die darauf spe- die Coronakrise und die Klimakrise. zialisiert sind, die Folgen solcher Ereig- Interessant sind aber auch die Ereig- nisse zu begrenzen. nisse, die Politik in neue Bahnen len- ken, wie etwa das Reaktorunglück von Elisa Kochskämper: Eine Katastrophe Fukushima die Energiepolitik verän- hat langfristige Auswirkungen. Bei dert hat. Auch in der Klimaanpas- einem disruptiven Ereignis ist das 12 IRS AKTUELL No 95 | Dezember 2020
nicht so klar. Es kommt darauf an, wie Nur weil man weiß, was bei einem gut das jeweilige System damit umge- Hochwasser passiert, heißt das noch hen kann, wie resilient es ist. lange nicht, dass man eingespielte, gefestigte Reaktionsweisen hat. In klei- Oliver Ibert: Ja, eine Katastrophe ist neren Kommunen sind die freiwilligen ein eingetretener Schadensfall. Eine Feuerwehren für den Katastrophen- Krise ist dagegen zukunftsoffen, der schutz zuständig. Formal müssen die größte Schaden kann noch abgewendet einen Krisenplan haben. De facto ist werden, wenn die richtigen Entschei- das aber oft ein DINA4-Blatt mit drei dungen getroffen werden. Disruptive Stichpunkten, das der Feuerwehrchef Ereignisse wiederum müssen nicht verwahrt. Wenn er im Urlaub ist, weiß unbedingt eine Krise auslösen. Viele niemand was zu tun ist. Gerade bei Organisationen beschäftigen sich mit Hochwassern kommt noch der Zeitfak- Prof. Dr. Oliver Ibert Notsituationen, die regelmäßig auftre- Tel. 03362 793 118 tor dazu. Früher waren Hochwasser in ten, die „normal emergencies“. Hoch- oliver.ibert@leibniz-irs.de erster Linie Flusshochwasser. Die ent- wasser gibt es fast jedes Jahr wieder, es wickeln sich relativ langsam. Seit eini- gibt auch Schäden, aber es gibt Routi- Oliver Ibert ist Direktor des IRS und ger Zeit sind Hochwasser aber immer nen des Umgangs und meistens wird Professor für Raumbezogene Trans- öfter das Ergebnis von Starkregen, die daraus keine Krise. Erst wenn die Rou- formations- und Sozialforschung an sehr schnell kommen. Die Geschwin- der BTU Cottbus-Senftenberg. Zu sei- tinen versagen, wenn die Unsicherheit digkeit beeinflusst, wie gut die vorhan- nen Forschungsschwerpunkten gehören größer wird, ist es eine Krise, die zur Innovationsprozesse, Prozesse der öko- denen Routinen funktionieren. Katastrophe anwachsen kann. nomischen Wertkreation, regionalökono- mische Transformation sowie die raum- Oliver Ibert: Es ist grundsätzlich nicht Wie kommt es dazu, dass zeitlichen Dynamiken von Krisen und vorhersehbar wann eine Krise auftritt. Resilienzkonstruktionen. aus manchen Ereignissen Wenn ein Problem lange ignoriert wird, eine Krise wird und aus steigt aber die Wahrscheinlichkeit, dass es sich als Krise ungefragt auf anderen nicht? die Agenda drängt. Man muss dabei Elisa Kochskämper: Eine Krise kann Krisen immer aus der Perspektive der durch mangelnde Koordination ent- sozialen Akteure denken, die von ihr stehen oder dadurch, dass vorhandene betroffen sind. Bei einem Hochwas- Strukturen einfach inadäquat sind. Die ser ist ja nicht der Fluss in einer Krise, Hochwasserereignisse von 2013 in Süd- möglicherweise aber die Hochwasser- deutschland sind dafür ein Beispiel. schutzbehörde. Ganz dicht am Gesche- IRS AKTUELL No 95 | Dezember 2020 13
hen sind zunächst meist Organisatio- Tschernobyl oder Fukushima wieder nen, die direkt damit beschäftigt sind passieren wird, aber ob es jetzt pas- Gefahren abzuwehren – Sicherheitsbe- siert oder in 1000 Jahren, das weiß hörden oder Notenbanken etwa. Die man nicht. Hochwasser treten häufiger arbeiten mit Eintrittswahrschein- auf, es gibt einen etablierten Umgang lichkeiten, Schwellenwerten etc. Sie damit. Trotzdem gibt es immer wieder leben mit der Gefahr. Viel interes- Katastrophen wie die Sturmflut 1962, santer finde ich aber die Verästelun- das Oderhochwasser 1997 oder das Elb- gen von Krisen in andere Systeme. Die hochwasser 2002. Coronapandemie betrifft nicht nur das Gesundheitswesen, sie schlägt auf völ- Was bedeutet es, aus Krisen lig unvorhergesehene Art durch auf zu lernen? Was passiert da? die Luftfahrt, die Fleischindustrie und Kreuzfahrtenanbieter. Die gera- Prof. Dr. Kristine Kern Kristine Kern: In Krisen kommt es zu ten von heute auf morgen in eine exis- Tel. 03362 793 205 Institutionalisierungen: Neue Institu- tenzielle Krise, ohne sich zuvor damit kristine.kern@leibniz-irs.de tionen, also Regeln, werden eingeführt, auseinandergesetzt zu haben. um künftig ähnliche Krisen bzw. den Kristine Kern ist Kommissarische Abtei- lungsleiterinin der Forschungsabtei- Eintritt von Schäden zu verhindern. Es gibt aber auch einen kommuni- lung „Institutionenwandel und regional Die Frage ist allerdings, wer lernen kativen Aspekt. Wenn jemand das Gemeinschaftsgüter“ des IRS und kann und auf welcher Ebene gelernt Wort „Krise“ verwendet, signalisiert Gastprofessorin an der Åbo Akademi wird. Ein Hochwasser ist relativ lokal. er damit: „Ich beschäftige mich mit University in Turku, Finnland. Es passiert auch verhältnismäßig häu- Ihre Forschungsinteressen konzentrieren einem sehr dringlichen Problem!“ fig, sodass es eine lange Geschichte von sich auf lokale und regionale Klima- und Das Wort „Bildungskrise“ lässt ein Pro- Energiepolitik, die nachhaltige Entwick- Institutionalisierungen gibt. Die ört- blem im Bildungssystem gleich doppelt lung von Städten und Regionen, trans- liche Feuerwehr kann beispielsweise so groß aussehen. Wir sehen durch- nationale Städtenetzwerke, europäische aus Hochwasserereignissen lernen. gängig, dass man eine Krise nicht an Regionalmeere und die makroregionalen Bei Corona können die Bürgerinnen objektiven Faktoren festmachen kann. Strategien der EU. und Bürger immerhin mitwirken, bei Wirtschaftsdaten wie Arbeitslosigkeit einem Reaktorunglück kaum. Je weit- können sich über längere Zeit schlecht reichender die möglichen Konsequen- entwickeln, und dann ist auf einmal zen eines Ereignisses sind, desto zen- ein Krisendiskurs da. Wir sagen, Kri- tralistischer werden präventive und sen sind sozial konstruiert und perfor- reaktive Maßnahmen gesteuert, etwa mativ hergestellt. Das macht sie nicht durch nationale Behörden oder sogar weniger real. Es gibt Akteure, die Kri- internationale Organisationen. sen ausrufen. Manche Organisationen haben sich darauf verlegt, andere in Oliver Ibert: Die hier angesproche- Reputationskrisen zu stürzen – etwa, nen Lerneffekte finden allerdings alle wenn Greenpeace gezielt die Umwelt- bei den Organisationen statt, die für sünden eines ganz bestimmten, im Schadensabwehr zuständig sind. Es Rampenlicht stehenden Unterneh- gibt aber auch andere Varianten des mens anprangert. Für dieses sind dann Lernens. In der Schifffahrt hat es bei- die drei Krisenmerkmale Unsicherheit, spielsweise eine Professionalisierung Bedrohung und Handlungsdruck sehr des Krisenmanagements gegeben, eine real, sie lassen sich nicht ignorieren. ganz neue Wissensdomäne ist entstan- den. Man nimmt in Kauf, dass Krisen Kristine Kern: Es stimmt, Krisen wer- eintreten, weil man sie ohnehin nicht den sozial konstruiert. Medien, oder gänzlich verhindern kann. Stattdes- auch Organisationen wie Greenpeace sen gibt es Krisenmanagementfirmen, wirken dabei mit, dass ein Ereignis in die sich sogar auf einzelne Phasen oder der öffentlichen Wahrnehmung zur Teilaspekte von Krisen spezialisiert Krise wird. Es gibt aber auch objek- haben, und deren Aufgabe es ist, zu tiv unterschiedliche Häufigkeiten von verhindern, dass aus einer Krise eine Ereignissen. Nehmen wir Kernener- Katastrophe wird. Manche Organisa- gie: Man weiß, dass ein Unglück wie in tionen haben sich darauf spezialisiert, 14 IRS AKTUELL No 95 | Dezember 2020
aus jeder Krise ex-post Lehren zu zie- Gibt es denn bestimmte hen, die dann wieder im Krisenma- Faktoren, die darüber nagement angewendet werden. entscheiden, ob aus einer Dann gibt es noch Lernprozesse, die Krise gelernt wird oder nicht direkt etwas mit Sicherheit zu nicht? tun haben, zum Beispiel digitales Zusammenarbeiten. Zu Beginn der Tjorven Harmsen: Krisen bieten zwar Coronakrise waren wir alle auf ein- Lerngelegenheiten, aber gerade in mal im Homeoffice und haben ver- einer hoch professionalisierten Pro- sucht, unsere Arbeitsroutinen auf- blembearbeitung haben Krisen auch recht zu erhalten. Wir haben Meetings eine Eigendynamik, die zumindest tie durch Videokonferenzen ersetzt und fergehende Lernprozesse wieder aus- angefangen online zu forschen. Diese Dr. des. Elisa Kochskämper bremst. In Organisationen, die ein dis- Mischung aus Dringlichkeit und Unsi- Tel. 03362 793 245 ruptives Ereignis verarbeiten, rückt cherheit stiftet Lerngelegenheiten. elisa.kochskaemper@leibniz-irs.de die akute Krise in der Prioritätenliste Wir waren gezwungen, Dinge zu pro- auf Platz eins. Sie wirkt als Aufmerk- Elisa Kochskämper ist wissenschaft- bieren, zu improvisieren und dabei liche Mitarbeiterin in der Abteilung samkeitsfänger, wie ein Stressimpuls, auch eine höhere Fehlertoleranz zu „Institutionenwandel und regionale der dazu führt, dass Muskeln stärker zeigen. In der Online-Lehre hat zum Gemeinschaftsgüter“. Sie untersucht durchblutet werden. Sobald aber die Beispiel niemand erwartet, dass alles politische Konstruktionen der Infra akute Krise vorbei ist, werden wieder perfekt klappt. Gesteigerte Fehler- struktur-Kritikalität. Dabei liegt ihr Fokus Ressourcen vom jeweiligen Thema ab- auf urbaner Klimawandelanpassung. toleranz kann befreien, kann helfen gezogen. Die Organisation müsste sich Dinge zu probieren und Erfahrun- dann aktiv dafür entscheiden aus der gen jenseits der Routine ermöglichen. Krise lernen zu wollen. Das ist eine Diese werden dann wieder verstetigt, Hürde. etwa in Lehr-Stundenplänen, die ganz selbstverständlich Online- und Elisa Kochskämper: Was wir aus For- Präsenzformate kombinieren. Und schung zum Politiklernen im Kontext in Forschungsanträgen werden jetzt von Hochwasser wissen ist, dass nur selbstverständlich Online-Erhebungs- unter Druck wirklich gelernt wird. phasen eingeplant. Das sind Innova- Lernen durch Erfahrung führt zu tionen, für die eine Krise den Anstoß mehr Ergebnissen als Lernen durch gegeben hat. theoretische Auseinandersetzung mit einem Thema. Lernen über räumliche Elisa Kochskämper: Vielleicht müssen und fachliche Zuständigkeitsgrenzen aber gar nicht unbedingt neue Routi- oder über Politikfelder hinweg funk- nen in der Krise entstehen, damit man tioniert außerdem eher schlecht. Das von einem Lerneffekt sprechen kann. heißt: Für die Organisationen, die Krisen können Systemschwächen unmittelbar betroffen sind, bieten Kri- offenlegen. Es können Dinge in den sen Gelegenheitsfenster zum Lernen. Vordergrund treten, die lange nicht Die Frage bleibt aber, ob neues Wissen bearbeitet wurden. Dass beispiels- wirklich in neue Routinen überführt weise Digitalisierung im Arbeitsall- wird. Welche Konsequenzen genau tag unzureichend umgesetzt ist, liegt gezogen werden, hängt letztlich stark schon lange auf dem Tisch, aber es vom jeweils herrschenden Diskurs ab, galt als nicht so dramatisch, deswegen wie auch von den Interessen und Agen- wurde nichts gemacht. In der Corona- den der beteiligten Akteure. krise hat sich gezeigt, dass darin eine Verwundbarkeit liegt. Diese wird jetzt Am intensivsten lernen Mitglieder ernst genommen. einer Community of Practice vonei- nander, also Menschen, die sich in ihrem Alltag mit derselben Art von Problemen beschäftigen. Das funktio- niert auch über Distanz hinweg und IRS AKTUELL No 95 | Dezember 2020 15
unabhängig davon, ob jemand persön- Je mehr eine Krise durch äußere Fak- Coronakrise wurde grundsätzlich sehr lich von einer Krise betroffen ist. Bei toren erklärt wird, desto weniger wird schnell Neues gelernt. Der schwieri- einer Krise, die an einem bestimm- daraus gelernt. Wenn andere schuld gere Teil ist aber das Verlernen alter ten Ort stattfindet, ist also die Frage, sind oder sogar niemand schuld ist, Routinen. wie die lokale Gemeinschaft sich mög- kann ich keine Konsequenzen ziehen. licherweise überlappt mit Praktiker- Je mehr ich aber eine Krise als Kon- Vor Corona wurde viel über gemeinschaften, die wichtige Erfah- sequenz innerer Unzulänglichkeiten die Klimakrise geredet. Ist es rungen weitertragen können. sehe, desto eher bin ich dazu bereit. überhaupt sinnvoll, hier von Wolfgang Haupt: In Münster gab es Es gibt aber auch die gegenteilige einer „Krise“ zu sprechen? 2014 ein Unwetter, das schwere Schä- Gefahr, dass Krisen vollends die Logik Kristine Kern: Ich denke, dass es auch den verursacht hat. Das hat Aufmerk- politischer Steuerung dominieren, Krisen gibt, die länger laufen. Wir wis- samkeit erzeugt. Münster gilt als sehr dass nichts mehr strategisch und plan- sen seit den 1980er Jahren, dass der fortschrittlich in der Klimaanpas- voll abgearbeitet werden kann, und Klimawandel ein globales Problem ist. sung, also auch in der Vorbereitung dass beim Lernen aus Krisen Einzel- Seitdem gibt es immer wieder disrup- auf Ereignisse wie dieses. Wenn es ereignisse aufgebläht und fälschli- tive Ereignisse, in letzter Zeit immer dort zu schweren Schäden kommen cherweise allgemeine Rückschlüsse mehr. Man kann darüber streiten, ob kann, dann sehen andere Kommu- aus ihnen gezogen werden. Ich finde man von einer Klimakrise sprechen nen, dass es bei ihnen auch passieren die Frage spannend, ob es tatsächlich soll, aber es wird in letzter Zeit ver- kann. Das ist ein wesentlicher Punkt: stimmt, dass wir von einer Krise in stärkt gemacht. Und es sind immer Damit Akteure aus einem Ereignis ler- die nächste schlittern, und dass nur Ereignisse, die den Anlass dazu geben. nen können, das woanders stattfindet, noch im Krisenmodus regiert wird. In Das müssen keine Wetterereignisse müssen sie einen Bezug zu dem Ort welchem Verhältnis stehen alltägliches wie Dürren oder Überschwemmun- haben. Es muss Referenzpunkte geben, Politikverständnis und Krisenma- gen sein. Es kann auch die Veröffent- die vermitteln: „Das kann uns auch nagement? Wie kann ich erfolgreich lichung des neuesten IPCC-Berichts betreffen“. Tschernobyl lag in der Sow- Krisen als Lerngelegenheiten nut- sein, das Scheitern des Kopenhagen- jetunion, das war gefühlt – technisch, zen und zugleich die politische Steue- Klimagipfels, der Abschluss des Pari- politisch – sehr weit weg. Man konnte rungsfähigkeit im Alltag nicht verlie- ser Abkommens. Allerdings funktio- sagen: „Bei uns kann so etwas nicht ren? Das ist ein Forschungsthema für niert politisches Agendasetting so, dass passieren.“ Japan ist näher an unserem die Zukunft. immer nur ein Krisendiskurs ange- Selbstverständnis als Industrienation sagt sein kann und der vorherige ver- dran, deshalb hatte das Reaktorun- Kristine Kern: Man kann sicherlich drängt wird. Bereits 2008 war viel von glück in Fukushima für unsere Ener- Unterschiede zwischen nationalen Klima die Rede, dann kam die Finanz- giepolitik direktere Konsequenzen. Der Kulturen sehen bei der Art wie Risi- krise. Aktuell hat die Coronakrise die verrauchte Himmel über San Francisco ken bewertet werden. In Deutschland Klimakrise verdrängt. Aber sie wird betrifft uns gefühlt auch direkter als sind Deiche höher als in den Nieder- wiederkommen, genau wie die Flücht- Feuer am Amazonas oder in Sibirien. landen. Dafür gibt es keine rationale lingskrise. Erklärung. Auch den Diskurs um das Oliver Ibert: Sicher ist entscheidend, Waldsterben in den 1980ern gab es in Oliver Ibert: Ich finde es irreführend, ob eine organisationale Einheit dazu Frankreich nicht. die langfristige Erderwärmung als bereit ist, neue Lektionen zu lernen, Krise zu bezeichnen. Der Klimawan- etwa wenn sie sich schon mit dem Man muss aber auch konkret auf die del begünstigt disruptive Ereignisse jeweiligen Thema beschäftigt hat. Art der Krise schauen. Wenn wir über wie Dürren und Wirbelstürme. Aber Die Krise bestätigt dann die Vorbe- eine Verwaltungskrise reden, dann der Begriff „Krise“ sollte auf soziale reitung. Die Frage der Bereitschaft hat ist die Frage, wie eine Verwaltungs- Systeme beschränkt bleiben, die aber auch eine normative, institutio- organisation aussehen kann, die Ler- durch ein von außen oder auch von nelle Komponente. In Frankreich ist nen fördert. Es gibt Diskussionen über innen kommendes Ereignis heraus- Atomenergie beispielsweise ein Moder- das Konzept der „agilen Verwaltung“, gefordert werden und darauf reagie- nitätssymbol. Das Land bezieht ca. 70% das völlig andere Strukturen vorsieht, ren. Eine Krise ist immer ein zeitlich seines Stroms aus Atomenergie. Wenn als wir sie haben. Aber auch hier gibt gedrängtes Aufmerksamkeitshoch, man so aufgestellt ist, lässt man sich es Unterschiede zwischen Ländern. das durch die anfangs genannten auch nicht von einem Ereignis wie in Stadtverwaltungen in Finnland ler- drei Merkmale gekennzeichnet wird. Fukushima erschüttern. Wichtig ist nen beispielsweise schneller als in Der Klimawandel ist aber ein Feld, in auch, wie eine Krise erklärt wird. Wer- Deutschland. Das liegt womöglich dem immer wieder Krisen entstehen. den interne oder externe Erklärungs- auch daran, dass dort die Digitalisie- Das kann ein gutes Kriterium für Ler- faktoren herangezogen? rung weiter fortgeschritten ist. In der nen in der Krise sein: Wenn in einem 16 IRS AKTUELL No 95 | Dezember 2020
Feld immer wieder Krisen entstehen, Ist die Coronakrise auch eine wäre. Die Coronakrise hat auch das dann lohnt es sich, aus diesen Krisen Chance für den Klimaschutz, Mobilitätsverhalten der Bevölkerung zu lernen. Und es stimmt, die globale etwa wenn Finanzmittel für beeinflusst. Negativ betroffen ist der Migrationsfrage ist nicht annähernd öffentliche Verkehr, viele sind aufs Auto gelöst. Hier werden wir noch viele die wirtschaftliche Erholung umgestiegen, viele aber auch aufs Fahr- Krisen erleben. Obwohl es eigentlich konsequent in rad. In Berlin sind Pop-up-Radwege keinen überraschen kann, werden klimafreundliche Projekte entstanden, die bereits zum Gegen- doch immer wieder Situationen ent- gelenkt werden? stand gerichtlicher Entscheidungen stehen, die so niemand antizipiert hat, geworden sind. Wie dieser Kampf um die schnell eskalieren, und in denen Oliver Ibert: Rhetorisch wird dieser den öffentlichen Raum ausgehen wird, schnell improvisiert und gelernt wer- Punkt ja ganz stark gemacht. Ich habe ist offen. Aber die Krise hat gezeigt, den muss. meine Zweifel. Wie hier schon gesagt dass Veränderungen zu Gunsten von wurde, lernen wir aus Krisen immer Fuß- und Radverkehr möglich sind. Elisa Kochskämper: Ich kann die das, was wir bereit sind zu lernen. Eine Das Berliner Mobilitätsgesetz muss jetzt Trennung zwischen Krisen als Ein- Krise ist außerdem auch eine Gelegen- konsequenter und zügiger umgesetzt zelereignissen einerseits und einem heit, eine Agenda durchzudrücken, die werden. Gerade im Verkehrsbereich auslösenden Problemfeld oder einer man immer schon hatte, wie zum Bei- sinken die CO2-Emissionen ja nicht, längerfristigen Entwicklung ande- spiel erweiterte „Notstands“-Befug- sondern steigen tendenziell eher. Im rerseits nachvollziehen, aber ich bin nisse für Regierungen und Behörden. Verhältnis von Stadt und Land entste- nicht sicher, ob sie wirklich vernünftig Insofern kann die Coronakrise einen hen neue Herausforderungen: Wenn ist. Das, was den Klimawandel so kri- Impuls für eine langsame Umorientie- jetzt verstärkt Städter aufs Land ziehen, senhaft gemacht hat, ist doch der seit rung geben, die ohnehin schon statt- kann das den Druck zu mehr Nachver- Jahrzehnten fehlende Umgang damit, findet, aber sie wird kein grundlegen- dichtung verringern, die innerstädti- also die Abwesenheit von Lernen. Es des Umdenken bei Akteuren auslösen, sche Grünflächen gefährdet – die wir gibt Modelle des Erfahrungslernens, die bisher kein Interesse an Klima- für die Klimaanpassung dringend die mehrere Stärken von Verhaltens- schutz gezeigt haben. benötigen. Auf der anderen Seite ent- änderungen unterscheiden, von „ein- stehen neue Pendelverkehre, die ver- fach“ bis hin zu „systemverändernd“. Kristine Kern: Die Coronakrise bietet mieden oder zumindest klimaneutral Diese Modelle ließen sich eigentlich durchaus Chancen für den Klima- organisiert werden müssen. Und mehr gut mit der Krisendefinition verbin- schutz, die aber konsequent genutzt Fläche wird insgesamt verbraucht. Es den, die wir schon diskutiert haben. werden müssen: Diese Krise hat dazu hängt von der politischen Gestaltung Dann könnte man Lernen nicht mehr geführt, dass Deutschland sein für ab, ob die Chance, die in dieser Krise nur als Ergebnis von Krisen verstehen, 2020 vorgesehenes Reduktionsziel bei liegt, genutzt wird. sondern auch als Einflussfaktor dafür, den Treibhausgasemissionen höchst- ob Entwicklungen langfristig immer wahrscheinlich einhalten wird, was krisenhafter eskalieren. ansonsten nicht möglich gewesen IRS AKTUELL No 95 | Dezember 2020 17
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