Neues aus der Krise - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...

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Neues aus der Krise - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
No 95 | Dezember 2020

I RS AKTUELL
Magazin für Raumbezogene Sozialforschung

Neues aus der Krise

_Zur Räumlichkeit der Coronakrise
_Krisen als Lern- und Innovationsgelegenheiten
_Hochschulen zwischen Brexit und COVID-19
_Debatte: Sind soziale Innovationen die Antwort?
Neues aus der Krise - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
In dieser Ausgabe
                                                                     Nachrichten aus dem Institut
                                                                     29 Abschluss des RurAction-Netzwerks:
                                                                         Konferenz und Transfer zu sozialem
                                                                         Unternehmertum in ländlichen
                                                                         Räumen
                                                                     30 Studie zu Sozialunternehmen in
                                                                         Brandenburg

4                                    8
     Das IRS und die Krise               Ein Handbuch für            31 Lastenrad-Sharing und Mikro-Depot:
                                         die Krisenforschung             Neues Projekt „Stadtquartier 4.1“ zu
                                                                         urbanen Nachhaltigkeitslösungen
                                                                         folgt auf „Stadtquartier 4.0“
                                                                     32 Neues Projekt „Energiewende im
                                                                         sozialen Raum“ gestartet
                                                                     33 Mediatisierung in der Stadt­planung:
                                                                         Projektabschluss und Special Issue
                                                                     34 IRS-Wissenstransfer zur Digitalisie-
                                                                         rung in ländlichen Räumen
                                                                     36 Zwischen „Ankunftsquartier“ und
                                                                       „Falle“: Zwei Veranstaltungen am IRS

9                                    10
    Die sozialen Räume                                                   beleuchten neue Herausforderungen
                                             „Ohne Druck gibt es
    der Coronapandemie                                                   der Integration in städtischen Wohn-
                                              kein Lernen“ – ein
                                                                         vierteln
                                              IRS-Gespräch über
                                              Krisen, Lerngelegen-   38 Erste wissenschaftliche Erhebung
                                              heiten und Lern-­          von Universitäts-Auslandscampus-
                                              blockaden                  sen veröffentlicht
                                                                     39 Zwei Special Issues zur Energie­
                                                                         wendeforschung
                                                                     41 Konflikte als Teil der Planung
                                                                         begreifen
                                                                     42 Neue Publikationsreihe „IRS Dialog“
                                                                     43 Relaunch Stadtwende-Website
                                                                     44 Besuche von MWFK und BMI

18                                   24
                                                Brexit und Corona:   44 Neues Leibniz-Forschungsnetzwerk
         Debatte: Sind soziale In-                                     „Leibniz R“ löst 5R-Netzwerk ab
         novationen die Antwort                 Die doppelte Krise
         auf gesellschaftliche                  der Hochschulen      45 Audit durchgeführt
         Krisen?                                                     46 Forschungsverbund zur historischen
                                                                        Authentizität im städtischen Bauerbe
                                                                         nimmt die Arbeit auf
                                                                     47 IRS an neuem Innovative Training
                                                                         Network „CORAL” zu Labs in ländli-
                                                                         chen Regionen beteiligt
                                                                     48 Fundstück: Achim Felz und die
                                                                         DDR-Bauausstellung 1987
                                                                     49 Besuch des Museumsverbands
                                                                     49 Impressum
                                                                     50 Personalien

2                                                                           IRS AKTUELL No 95 | Dezember 2020
Neues aus der Krise - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
Liebe Leserinnen und Leser von IRS aktuell,

                                diese Ausgabe behandelt – inmitten einer Krise – das Thema Krisen. Charakteristisch
                                für Krisen ist ein hohes Maß an Unsicherheit bei gleichzeitiger Dringlichkeit zu ent-
                                scheiden und zu handeln, gepaart mit dem Gefühl von Bedrohung. Gemeinhin sind
                                Krisen etwas, das es zu vermeiden gilt. Wenn sie eintreten, dann kommt es darauf an,
                                sie gut zu managen, was oft nicht mehr heißt, als so schnell wie möglich zur Normalität
                                zurückzukehren. Krisenmanagement hat sich in jüngerer Zeit zu einer Kernkompe-
                                tenz von Entscheidungsverantwortlichen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft ent-
                                wickelt – scheint es doch, dass Krisen in immer kürzeren Zeitspannen auftreten, sie
                                immer komplexer in ihren globalen Zusammenhängen und Wechselwirkungen wer-
                                den, und daher immer häufiger wichtige Entscheidungen im Krisenmodus zu treffen
                                sind. Aber Krisen sind auch durch eine Ambivalenz gekennzeichnet: In ihnen kann
                                sich das Schicksal wenden, zum Guten oder Schlechten. Krisen beinhalten also immer
                                auch Chancen, beispielsweise zum Lernen, zum Verbessern oder gar zum Innovieren.

                                Die gegenwärtige Pandemie hat das IRS nicht nur darin bestätigt, mit Krisen an einem
                                wichtigen Forschungsthema zu arbeiten, sie hat uns auch als Organisation getroffen.
                                So hat die Coronapandemie uns eine weitere Facette des Leibniz-Motto theoria cum
                                praxi gelehrt. Die abstrakte Erkenntnis zum Charakter von Krisen wurde für viele
                                Beschäftigte und nicht zuletzt die Institutsleitung um die Erfahrung der unmittel-
                                baren Betroffenheit ergänzt. Was heißt es, wenn die Krise ohne Vorankündigung auf
                                die erste Stelle einer ohnehin anspruchsvollen Agenda rückt? Wie fühlt es sich am
                                eigenen Leib an, wenn Emotionen zum „Salz in der Krise“ werden, wie die im Troub-
                                leshooting erfahrene Krisenexpertin Bettina Zimmermann sich ausdrückt? Und wie
                                ist es, wenn Kolleginnen und Kollegen, die man schon jahrelang persönlich kennt,
                                plötzlich als „kritische Infrastruktur“ gelten?

                                In der Pandemie musste auch das IRS in den Krisenmodus schalten. Während des
                                Lockdowns im Frühjahr 2020 haben wir einen Krisenstab eingerichtet. Dieser musste
                                existentielle Entscheidungen treffen, das Institut herunterfahren bis auf seine Grund-
                                funktionen. Danach haben wir uns schrittweise zurückgetastet in eine neue Realität,
                                mit viel Homeoffice, virtuellen Veranstaltungen, empirischer Feldforschung via Zoom,
                                einem Hygienekonzept und Stufenplan mit verschiedenen, der Pandemiedynamik
                                angepassten Betriebsmodi, und selektiv auch Präsenztreffen. Schließlich mussten wir
                                die so wichtige Auditierung durch unseren Wissenschaftlichen Beirat im Herbst die-
                                ses Jahres angesichts neuer Infektionsdynamiken im Online-Format durchführen.

                                Ich hoffe, dass diese Ausgabe von IRS aktuell Ihnen ein inspirierender Begleiter in die
                                vor uns liegende Zukunft mit dem Corona-Virus sein kann.

                                Ihr Oliver Ibert
                                Direktor des IRS

IRS AKTUELL No 95 | Dezember 2020                                                                                         3
Neues aus der Krise - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
Das IRS und die Krise
Als im März 2020 der Lockdown zur Eindämmung der Coronapandemie begann, wurden die Arbeits-
routinen des IRS, wie die vieler anderer Einrichtungen auch, massiv aus dem Takt gebracht. Doch schnell
etablierte sich ein neuer Modus des Arbeitens: Mit Homeoffice und Online-Kommunikation konnten
nicht nur Schreib- und Organisationsaufgaben bewältigt werden – auch für Veranstaltungen und teils
sogar für empirische Forschung bewährte sich virtuelles Arbeiten. Und manche Forschungserkenntnisse
kamen schneller zur Anwendung als gedacht.

Am 26. Februar 2020 schrieb Verena                                                     trieb, was für fast alle Beschäftigten
Brinks an ihr Projektteam, sie habe an                                                 bedeutete: Homeoffice. Bis auf Haus-
diesem Tag zum ersten Mal das Wort                                                     meister und Empfang blieb das IRS-
„Coronakrise“ in den Medien gelesen.                                                   Gebäude von da an leer, lediglich der
Als sich in den Wochen davor die von                                                   Krisenstab selbst kam zunächst täg-
der WHO gerade als „SARS-CoV-2“                                                        lich zusammen, um, wie es im Kri-
benannte Krankheit zunächst in                                                         senmanagement heißt, „vor die Lage
China und dann in immer mehr Län-                                                      zu kommen“.
dern ausgebreitet hatte, hatte das Wort
gewissermaßen in der Luft gelegen.                                                     Den Betrieb sichern
Krisenstäbe waren eingerichtet wor-
den. Ein wachsendes Bedrohungsemp-                                                     20 „Updates“ hat der Krisenstab seit-
finden, Handlungsdruck und grundle-                                                    her per Mail an alle Beschäftigten
gende Unsicherheit über das Verhalten                 Prof. Dr. Oliver Ibert           verschickt, unzählige Einzelprobleme
des neuen Virus wie auch über Mög-                     Tel. 03362 793 118              bearbeitet, von der Vereinfachung von
lichkeiten ihm zu begegnen herrsch-                oliver.ibert@leibniz-irs.de         internen Antragsprozeduren bis zur
ten – alles Definitionsmerkmale einer                                                  Verlängerung von Stellen und Pro-
                                               Oliver Ibert ist Direktor des IRS und
Krise. Brinks, Juniorprofessorin an            Professor für Raumbezogene Trans-
                                                                                       jekten. Aus dem strengen Notbetrieb,
der Universität Mainz und Alumna               formations- und Sozialforschung an      der fast keine Präsenzarbeit und keine
des IRS, forscht gemeinsam mit IRS-           der BTU Cottbus-Senftenberg. Zu sei-     Präsenzveranstaltungen erlaubte, stieg
Forscherin Tjorven Harmsen und IRS-          nen Forschungsschwerpunkten gehören       das IRS im Juni in einen „gelockerten
Direktor Oliver Ibert im BMBF-Projekt        Innovationsprozesse, Prozesse der öko-    Notbetrieb“ um, der sehr eingeschränkt
„RESKIU“ über die Rolle von Beratung        nomischen Wertkreation, regionalökono-     und unter Einhaltung eines Hygiene-
                                             mische Transformation sowie die raum-
in Krisen (siehe S. 10). Von Oliver Ibert                                              konzepts Präsenzarbeit gestattet. Wei-
                                              zeitlichen Dynamiken von Krisen und
wird das IRS außerdem im Leibniz-                    Resilienzkonstruktionen.          tere Lockerungsstufen auf dem eigens
Forschungsverbund „Krisen einer glo-                                                   ausgearbeiteten Stufenplan konn-
balisierten Welt“ vertreten (siehe S. 8).                                              ten bislang nicht erreicht werden – zu
Die Coronakrise wurde von Erkner aus                                                   instabil ist die Lage, zu dynamisch ent-
also von Beginn an durch die Brille der                                                wickeln sich in jüngerer Zeit die Infek-
sozialwissenschaftlichen Krisenfor-                                                    tionen. Und doch hat das IRS in dem
schung betrachtet.                                                                     dreiviertel Jahr seit Beginn der Corona-
                                                                                       krise (zumindest in Deutschland) wert-
Dennoch kam die Wucht, mit der die                                                     volle Lektionen gelernt, die das weitere
Coronakrise den Alltag in Deutschland                                                  Handeln des Instituts prägen werden.
veränderte, auch für das Institut über-
raschend. Am 16. März, als absehbar                                                    Die Öffentlichkeit erkannte in den
war, dass das gewohnte Muster von                                                      Wochen des Lockdowns mit neuer,
Präsenzarbeit, reger Reisetätigkeit,                                                   hoffentlich anhaltender Wertschät-
internationalen Gastaufenthalten und                                                   zung, dass nicht nur Katastrophen-
gut besuchten Veranstaltungen nicht                                                    schutz und Rettungsdienste, sondern
zu halten war, richtete auch das IRS                                                   auch beispielsweise Supermarktange-
einen Krisenstab ein. Dieser schickte                                                  stellte und Pflegekräfte zu den abso-
das Institut umgehend in den Notbe-                                                    lut unverzichtbaren Leistungstragen-

4                                                                                                IRS AKTUELL No 95 | Dezember 2020
Neues aus der Krise - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
IRS AKTUELL No 95 | Dezember 2020   5
Neues aus der Krise - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
den der Gesellschaft gehören. Eine         schen Forschung selbst. Zahlreiche
vergleichbare Erfahrung machte das         IRS-Projekte, besonders im Drittmit-
IRS in den ersten Wochen des Lock-         telbereich, sehen intensive Feldarbeit
downs, als die Sicherung von Verwal-       und damit lange Forschungsreisen
tungsabläufen und der IT-Infrastruk-       vor – in Europa, Afrika, Asien und
tur sowie das Gebäudemanagement zu         Amerika. „Wir mussten unsere Aus-
den dringlichsten Aufgaben des Kri-        landsfeldforschungen in Nigeria und
senstabs zählten und die entsprechen-      Estland aufgeben. Es lässt sich nicht
den Fachkräfte essenzielle Präsenz-        alles über Skype-Interviews erheben,
arbeit leisteten. Der Umstand, dass        vor allem wenn man ethnographisch
Verwaltungsprozesse noch unzurei-          arbeiten will“, erklärt Gabriela Christ-
chend digitalisiert waren, erwies sich     mann, die unter anderem das DFG-
als große Hürde. Diese Baustelle wird      Projekt „Digitale städtebauliche Pla-
das Institut angehen.                      nungen“ mit Fallstudien in New York
                                           und Lagos leitet. Wie wichtig es ist,
Den allgemeinen Ansturm auf Lap-           sich vor Ort umzusehen, die konkreten
tops und Webcams zu Beginn des Lock-       Bedingungen selbst zu erleben, betont
downs bekam auch die IT des IRS zu         auch Jana Kleibert, Leiterin der Leibniz
spüren. Besonders die Hardware-Aus-        Junior Research Group TRANSEDU, die
stattung des Instituts, die nicht für      Internationalisierungsstrategien von
mobiles Arbeiten als Regelfall aus-        Universitäten beleuchtet. „Wir hatten
gelegt war, wurde zum Flaschenhals.        gerade die zweite Datenerhebungs-
Anspruchsvoll gestaltete sich auch die     welle gestartet, als der Lockdown kam“,
Suche nach Videokonferenz-Diensten,        schildert Kleibert. „Wir mussten unser
die stabil laufen und den verschie-        Team zurückholen, teilweise mit dem
densten Ansprüchen an Team- und            letzten Flug.“ Monatelange Vorberei-
Außenkommunikation genügen. Ins-           tungsarbeiten der mehrwöchigen For-
gesamt lief der Umstieg auf virtuelle      schungsreisen nach Frankreich und in
Formate in der hausinternen Zusam-         die Golfregion seien umsonst gewesen.
menarbeit jedoch erstaunlich gut.
„Bei uns läuft die Teamkommunika-          Andererseits zeigten sich vereinzelt
tion sogar besser als zuvor“, sagt Wolf-   auch Vorteile von Online-Formaten,
gang Haupt, wissenschaftlicher Mit-        etwa im Projekt MaFoCi, das die Kli-
arbeiter in der Forschungsabteilung        mastrategien mehrerer Großstädte
„Institutionenwandel und regionale         im Ostseeraum vergleicht (siehe auch
Gemeinschaftsgüter“. Vor dem Lock-         S. 10). „Die langwierige Planung von
down seien Team-Treffen auf Grund          Dienstreisen ist oft nicht mit dem
der hohen Termindichte schwierig zu        Arbeitsalltag potenzieller Interview-
organisieren gewesen. „Jetzt treffen       partner vereinbar“, sagt Wolfgang
wir uns spontaner und deutlich öfter       Haupt. „Wir vereinbaren Interviews
online.“ Die IRS-Leitung gab ihrerseits    jetzt flexibler online“. Eine Fokus-
die Devise aus, die Forschenden sollten    gruppe mit Fachleuten der Stadtver-
die neuen Umstände konsequent als          waltung von Turku (Finnland) sei
Gelegenheit nutzen, um neue Arbeits-       online sogar deutlich produktiver ver-
weisen zu erproben.                        laufen, weil es möglich war, die Wis-
                                           senschaftlerin live zuzuschalten, die
Chancen und                                die Vergleichsfallstudie in Groningen
Herausforderungen für                      (Niederlande) bearbeitete. „Wir waren
die Forschung                              aber schon an allen unseren Fallstu-
                                           dien-Orten, wir haben Kontakte und
Als schwierig zu kompensieren erwie-       kennen die lokalen Bedingungen“,
sen sich die Einschränkungen durch         grenzt Haupt ein. „Ich weiß nicht was
die Pandemie jedoch bei der empiri-        aus unserer Forschung geworden wäre,

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Neues aus der Krise - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
wenn der Lockdown im Oktober 2019         sagt Matthias Bernt, kommissarischer       wurde als Audioaufzeichnung im IRS-
begonnen hätte“.                          Leiter der Forschungsabteilung „Rege-      Podcast Society@Space veröffentlicht.
                                          nerierung von Städten“.                    Das kommende Regionalgespräch zu
Laufende Projekte nahmen sich des                                                    der Frage, ob „Ostdeutschland“ heute
Themas an. Das Team des DFG-Pro-          Neue Formate                               noch eine valide Kategorie darstellt,
jekts DeReBord, das Alltagspraktiken                                                 wird in Form einer Videokonferenz
der Grenzziehung entlang der deutsch-     Bei Veranstaltungen, die durch das IRS     durchgeführt und im Videokanal des
polnischen Grenze untersucht, nahm        organisiert werden, überwiegt wiede-       IRS veröffentlicht.
die Konsequenzen der Grenzschlie-         rum der Aspekt des kreativen Expe-
ßung in seine Datenerhebung auf. Das      rimentierens. „Veranstaltungen wie         Kompetenz in der
Leitprojekt der Forschungsabteilung       Workshops und Konferenzen lassen           Krisenforschung
„Institutionenwandel und regionale        sich aus unserer Sicht sehr gut virtuell
Gemeinschaftsgüter“, das Diskurse um      durchführen, was wir auch tun“, sagt       Auch die wissenschaftliche Krisen-
kritische Infrastrukturen am Beispiel     Gabriela Christmann. „Faktisch haben       kompetenz fand in der Coronakrise
der Energiewende und der Klimaan-         wir nichts, was bei uns für 2020 auf       schnell den Weg in die Öffentlichkeit.
passung untersucht, erweiterte seinen     der Agenda stand, abgesagt.“ So rich-      In „Crisis Calls“ etwa, dem Leibniz-
Blick, um die Debatte um das Gesund-      tete Christmanns Forschungsabteilung       Videopodcast zur Coronakrise, dis-
heitswesen als kritische Infrastruktur    im September die Abschlusskonferenz        kutierte Oliver Ibert das Missverhält-
mit abzubilden. In einem Sonderheft       des Projekts RurAction zu sozialen         nis zwischen einer definitionsgemäß
der Tijdschrift voor Economische en       Innovationen in ländlichen Räumen          globalen Pandemie und der Dominanz
Sociale Geografie erschienen zwei Arti-   online aus, mehrere thematisch ver-        nationaler Lösungsstrategien. In einem
kel von Forschenden des IRS zu sozial-    wandte Transferveranstaltungen wur-        Interview mit Leibniz-Transfer erklärt
räumlichen Dynamiken der Corona-          den ebenfalls online abgehalten (siehe     er, wie Experten in Krisen handeln
pandemie (siehe S. 9).                    S. 29 und 34).                             und wie wissenschaftliche Expertise
                                                                                     in Krisen wirksam wird. In der Deut-
Neben Problemen bei der Datenerhe-        Zentrale IRS-Veranstaltungen wie die       schen Welle äußerte sich IRS-Forsche-
bung schlägt auch der organisatori-       IRS International Lecture on Society       rin Ariane Sept zur „Stadtflucht“ in der
sche Mehraufwand für Projektverlän-       and Space und das Brandenburger            Coronakrise. In zahlreichen Blogs wie
gerungsanträge zu Buche. Bei neuen        Regionalgespräch wurden auf Online-        dem Corona-Blog der Hessischen Stif-
Projekten wird mittlerweile intensiv      Formate umgestellt, Video- und Audio-      tung Friedens- und Konfliktforschung,
mit Online-Formaten geplant, auch         aufzeichnungen werden veröffentlicht.      dem Blog des Sonderforschungsbe-
wenn diese Forschungsreisen letzt-        Gerade die International Lecture eig-      reichs „(Re)figuration von Räumen“
lich nicht ersetzen können. Methodi-      net sich dafür. „Wir erreichen mit der     und dem Blog des Viadrina Centers
sche Notfalloptionen für den Fall einer   Lecture jetzt ein größeres und noch        „B/ORDERS IN MOTION“ posteten
lang andauernden Pandemie gehören         stärker internationales Publikum,          Forschende des IRS außerdem wissen-
mittlerweile zur Antrags- und Projekt-    und auch mehr Sichtbarkeit in sozialen     schaftliche Einordnungen, Beobach-
planung. Thematisch wird die Corona-      Medien“, sagt Sarah Brechmann vom          tungen aus der Forschung und Refle-
krise in nächster Zeit eine prominente    Bereich Wissenschaftsmanagement            xionen über neue Alltagspraktiken.
Stellung in der IRS-Forschung einneh-     und -kommunikation. Zwei Lectures
men. Jüngst bewilligte beispielsweise     fanden bisher online statt: Im Mai 2020    In der Summe hat die Coronakrise im
die Regional Studies Association einen    sprach der kanadische Journalist Doug      IRS starke Lerndynamiken ausgelöst,
Forschungsantrag für ein Projekt über     Saunders über „Arrival Cities“, im Sep-    deren Auswirkungen sich weit über die
die Auswirkungen von COVID-19 auf         tember sprach der britische Geograph       Pandemie hinaus manifestieren werden
Auslandscampusse von Hochschulen          Mark Shucksmith über soziale Exklu-        – besonders in der Digitalisierung von
(siehe S. 24). Weitere Projekte sind in   sion in ländlichen Räumen. Im Juni         Abläufen, der Online-Zusammenarbeit
der Beantragung. Mit Sorge schauen        diskutierte außerdem IRS-Forscherin        und im mobilen Arbeiten. Auch in der
Forschende allerdings auf die künfti-     Madlen Pilz im ersten Online-Regio-        Forschung wird die Krise in Zukunft
gen Möglichkeiten sich international      nalgespräch mit Stefanie Kaygusuz-         (weiter) stark präsent sein. Dennoch
zu vernetzen. „Konferenzen fallen weg,    Schurmann von der Stadtverwaltung          hoffen die IRS-Beschäftigten auf ein
vor allem die besonders ergiebigen        Cottbus und René Wilke, Oberbürger-        baldiges Ende der Pandemie.
Flurgespräche am Rand der offiziel-       meister von Frankfurt (Oder), über
len Sessions. Das macht es schwierig      Ankunftsquartiere in ostdeutschen
sich in der Community zu orientieren“,    Städten (siehe S. 36). Das Gespräch

IRS AKTUELL No 95 | Dezember 2020                                                                                          7
Neues aus der Krise - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
Ein Handbuch für die Krisenforschung
Unsere Wahrnehmung der Welt wird seit Längerem von Krisendiagnosen geprägt. Konjunktur für die
Krisenforschung also, doch keine Disziplin allein kann die komplexe Dynamik von Krisen beleuchten.
Deshalb arbeitet der Leibniz-Forschungsverbund „Krisen einer globalisierten Welt“, an dem auch das IRS
mitwirkt, seit 2013 an interdisziplinären Ansätzen. Das Handbuch Krisenforschung ist ein zentrales Pro-
dukt des Forschungsverbundes. Das IRS ist mit drei Beiträgen prominent in dem Sammelband vertreten.

Im Forschungsverbund arbeiten 24                                                        gorie für bestimmte Arten von Ereignis-
Leibniz-Institute aus fast dem gesam-                                                   sen dienen, denn als Beobachtungsfokus
ten Disziplinenspektrum der Leib-                                                       für die Art wie reale Gefahren und der
niz-Gemeinschaft zusammen, um die                                                       Umgang mit ihnen sich auf eine typi-
Mechanismen und Dynamiken von Kri-                                                      sche - eben krisenhafte - Weise aufei-
sen und deren wechselseitige Interde-                                                   nander beziehen.
pendenzen besser zu verstehen. Das
2020 erschienene Handbuch Krisen-                                                        Der Band ist in vier Teile gegliedert:
forschung arbeitet den Forschungsstand                                                   Teil I zu Krisenkonzepten, Teil II
zu Krisen als politische Handlungssi-                                                    zu Verläufen sowie Zeitlichkeit und
tuationen auf und betont zugleich die                                                    Räumlichkeit von Krisen, Teil III zur
enge Verbindung zur politischen Praxis,                                                  Spezifik verschiedener Krisenfelder
die sich in der Verwendung des Krisen-                                                   und Teil IV zum Umgang mit Krisen,
begriffs beobachten lässt. Während die                                                   etwa durch Krisenmanagement. Bei-
Erforschung einzelner Krisenereignisse                                                   träge aus dem IRS tragen zu den Teilen
und -phänomene in vielen Disziplinen                                                     II und IV des Bandes bei: Im Kapitel
zum Tagesgeschäft gehört, sind über-                                                    „Zur Räumlichkeit von Krisen“ rücken
greifende konzeptionelle Überlegungen                                                    Verena Brinks und Oliver Ibert den bis-
zu Krisen meist auf organisatorische         Bösch, Frank; Deitelhoff, Nicole; Kroll,    lang eher stiefmütterlich behandelten
Aspekte des Krisenmanagements oder          Stefan (2020) (Hrsg.): Handbuch Krisen-      Aspekt der Räumlichkeit von Krisen in
auf Krisendiskurse beschränkt. Daran           forschung. Wiesbaden: Springer VS         den Vordergrund. Dabei gehen sie auf
anknüpfend und darüber hinauswei-                                                        vier unterschiedliche, aber sich wech-
send bearbeitet das Handbuch Krisen-                                                     selseitig beeinflussende Perspektiven
forschung aus verschiedenen konzeptio-                                                   auf Räumlichkeit ein: Relationalität,
nellen und methodischen Perspektiven.                                                    Territorialität, Skalarität und Topologie.
                                                                                         Ebenfalls in Teil II diskutiert Heiderose
Herausgegeben wird der Band von                                                          Kilper die Interdependenz von Krisen
Frank Bösch (Zentrum für Zeithistori-                                                    in einer globalisierten Welt. Während
sche Forschung Potsdam), Nicole Deitel-                                                  Krisen uns immer schmerzhaft an die
hoff und Stefan Kroll (beide Leibniz-Ins-                                                wechselseitige Abhängigkeit verschie-
titut Hessische Stiftung Friedens- und                                                   dener Gesellschaftsbereiche erinnern,
Konfliktforschung) aus dem Lenkungs-                                                     so ihre These, kommt in einer globali-
kreis des Forschungsverbunds. In sei-                                                    sierten Welt der Aspekt der Transna-
nem Einführungsbeitrag spricht Stefan                                                    tionalität dazu. In ihrem Kapitel zur
Kroll sich für eine „reflexive Krisen-                                                   Krisenberatung (Teil IV) diskutieren
forschung“ aus: Sie soll die realen und                                                  schließlich Verena Brinks und Oliver
als Fakten nicht zu leugnenden Bedro-                                                    Ibert das Wechselspiel unterschied-
hungen, die etwa in Umwelt- oder Wirt-                                                   licher Arten von Expertenwissen in
schaftskrisen zu zerstörerischer Ent-                        Konakt:                     Krisen. Mit ihrer Unterscheidung in
faltung kommen, gemeinsam mit der                     Prof. Dr. Oliver Ibert             Experten in Krisen und Experten
Ebene der gesellschaftlichen Wahrneh-                  Tel. 03362 793 118                für Krisen machen sie deutlich, dass
                                                   oliver.ibert@leibniz-irs.de
mung krisenhafter Ereignisse, sowie der                                                  in Krisen auf sehr unterschiedliche
Ebene des krisenbezogenen Handelns                Jun.-Prof. Dr. Verena Brinks           Weise Expertise mobilisiert wird, jede
betrachten. Damit soll der Begriff der               Tel. 06131 39 26454                 mit ihrer spezifischen Relevanz, aber
Krise weniger als eine objektive Kate-           verena.brinks@uni-mainz.de              auch Begrenztheit.

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Neues aus der Krise - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
Die sozialen Räume der Coronapandemie
Die Ausbreitung von COVID-19 ist ein räumliches Phänomen. Karten und Statistiken erfassen die Betroffen-
heitsgrade von Ländern und Regionen, Hotspots werden identifiziert und die Einflüsse von Mobilitäts-
praktiken wie Urlaubsreisen geprüft. Ein Sonderheft der Tijdschrift voor Economische en Sociale Geo-
grafie widmet sich dem Beitrag der Geographie zum Verständnis der Pandemie. Zwei Beiträge aus dem
IRS betrachten die Pandemie aus einer sozialräumlichen Perspektive.

Verena Brinks und Oliver Ibert zei-                                                 die das Infektionsgeschehen antrieben.
gen in ihrem Beitrag „From Corona                                                   Sie identifizieren drei Hauptdynamiken:
Virus to Corona Crisis: The Value                                                   regionale Ausbruchsdynamiken durch
of An Analytical and Geographical                                                   Superspreading-Events wie Karnevals-
Understanding of Crisis“ am Beispiel                                                feiern und Club-Partys, die Verbreitung
des COVID-19-Ausbruchs in Deutsch-                                                  des Virus durch Mobilitätsnetzwerke,
land, was eine räumliche Perspektive                                                insbesondere Tourismus, sowie Aus-
auf Krisen beitragen kann. Dazu nut-                                                brüche in geschlossenen Umgebungen
zen sie das TPSN-Konzept (Territory,                                                wie Kreuzfahrtschiffen und Altenhei-
Place, Scale, Network) des britischen                                               men. Anders als in den gut dokumen-
Soziologen Bob Jessop und Kollegen.                                                 tierten Ausbrüchen von SARS (Severe
Dieses Konzept dient dazu, soziale                                                  Acute Respiratory Syndrome) und MERS
Phänomene entlang ihrer territorialen                                               (Middle East Respiratory Syndrome) in
Dimension, ihrer Ausprägung an kon-                                                 den 2000er Jahren spielte hierarchi-
kreten Orten, ihrer Manifestation auf                                               sche Ausbreitung (über eng mitein-
verschiedenen Skalenebenen und ihrer                                                ander vernetzte Metropolen) dagegen
Ausbreitung zu analysieren. Brinks und                                              eine deutlich abgeschwächte Rolle,
Ibert machen darauf aufmerksam, dass                                                wie auch die Ausbreitung in der Flä-
in den Reaktionen auf die Ausbreitung       Aalbers, Manuel B.; Beerepoot, Niels;   che über Gemeinde- und Kreisgrenzen
des neuen Coronavirus verschiedene            Gerritsen, Martijn (eds.) (2020):     hinweg. Der besonders dramatische
Ebenen ineinander spielen. So wirken          The Geography of the COVID 19         Ausbruch im Kreis Heinsberg blieb
mehrere territoriale Ebenen (Bund,         Pandemic. Tijdschrift voor economische   beispielsweise auf den Kreis begrenzt,
Länder, transnationale Entitäten) bei            en sociale geografie 111 (3)       Pendlerverflechtungen über die
der Pandemiebekämpfung teils zusam-                                                 deutsch-niederländische Grenze hin-
men und geraten teils in Konflikt, auch                                             weg führten nicht zu einer räumli-
in Abhängigkeit davon, wie ein Staat                                                chen Ausbreitung des Infektionsge-
organisiert ist (föderal oder zentralis-                                            schehens. Kuebart und Stabler ziehen
tisch). Brinks und Ibert positionieren                                              daraus den Schluss, dass die Schließung
sich kritisch gegenüber einer territo-                                              von Grenzen, die in den stark verfloch-
rialen Logik der Pandemiebekämpfung.                                                tenen europäischen Grenzregionen zu
Sie heben den Widerspruch zwischen                                                  schweren Disruptionen des Alltags und
einem Problem, das international abge-                                              auch der Kooperation in der Pandemie-
stimmtes Handeln erfordert, und einer                                               bekämpfung führten, nicht sinnvoll
zumindest anfangs stark in nationa-                                                 waren. Regional begrenzte Mobilitäts-
len Grenzen gedachten Handlungs-                                                    einschränkungen, das Verbot von Ver-
weise hervor.                                                                       anstaltungen sowie Einschränkungen
                                                                                    im Reiseverkehr seien dagegen adäquat
Andreas Kuebart und Martin Stabler                                                  gewesen.
werteten für ihren Beitrag „Infectious                   Kontakt:
Diseases as Socio-Spatial Processes:               Dr. Andreas Kuebart              Ein Denken in Territorien, einschließ-
The COVID-19 Outbreak In Germany“                  Tel. 03362 793 186               lich Grenzschließungen, war in der
                                              andreas.kuebart@leibniz-irs.de
die ersten etwa 1000 Infektionsfälle                                                Frühphase der Coronapandemie somit
in Deutschland während der ersten               Jun.-Prof. Dr. Verena Brinks        nur insofern sinnvoll, als es zur Unter-
COVID-19-Welle aus, um die sozial-                 Tel. 06131 39 26454              brechung verursachender Mobilitäts-
räumlichen Prozesse zu identifizieren,         verena.brinks@uni-mainz.de           netzwerke führte.

IRS AKTUELL No 95 | Dezember 2020                                                                                         9
Neues aus der Krise - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
„Ohne Druck gibt es kein Lernen“ –
    ein IRS-Gespräch über Krisen,
Lerngelegenheiten und Lernblockaden
Zahlreiche Forschungsteams im IRS beschäftigen sich direkt oder indirekt mit dem Thema Krisen.
Künftig soll dieser thematische Fokus weiter ausgebaut werden. Die Coronakrise gab den Anlass dafür,
sich zu der Frage auszutauschen, ob und wie aus Krisen gelernt werden kann. Im Sommer 2020 disku­
tierten darüber per Videokonferenz Tjorven Harmsen, Wolfgang Haupt, Oliver Ibert, Kristine Kern und
Elisa Kochskämper. Das Gespräch wird hier verdichtet wiedergegeben.

Sie alle beschäftigen sich                                                             Tjorven Harmsen: Ich forsche zu
in Ihren Forschungen aus                                                               der Frage, wie in Krisen Resilienz-
unterschiedlichen                                                                      potenziale aktiviert werden, also wie
                                                                                       Akteure mit Krisen umgehen und auch
Perspektiven mit Krisen oder                                                           daraus lernen können. Wir beschäf-
krisenhaften Ereignissen.                                                              tigen uns im Team auch mit der Rolle
Was ist eigentlich eine                                                                von Beratung und Expertise in Krisen.
Krise? Und was interessiert                                                            Dabei schauen wir uns sehr unter-
Sie daran?                                                                             schiedliche Arten von Krisen an: Die
                                                                                       Fluchtkrise von 2015 ist ein Beispiel für
Oliver   Ibert: In unserer Krisenfor-                                                  Verwaltungskrisen, die Krise der Por-
schung arbeiten wir mit drei Merkma-                                                   zellanindustrie ein Beispiel für Wirt-
len, die eine Krise kennzeichnen: fun-                                                 schaftskrisen und als Beispiel für
damentale Unsicherheit, Dringlichkeit               Dr. Wolfgang Haupt                 Umweltkrisen schauen wir uns kom-
von Entscheidungen und Bedrohlich-                  Tel. 03362 793 187                 plexe Schiffsunglücke an. Dabei bezie-
                                               wolfgang.haupt@leibniz-irs.de
keit – alles Dinge, die wir beispiels-                                                 hen wir uns auf die drei Merkmale, die
weise in der Coronakrise sehen. Ich          Wolfgang Haupt ist wissenschaftlicher     Oliver Ibert schon genannt hat.
habe im Zuge der Finanzkrise 2008/09          Mitarbeiter in der Forschungsabtei-
angefangen, mich für Krisen zu inter-      lung „Institutionenwandel und regionale      Wolfgang Haupt: Ich beschäftige mich
essieren, weil wir als Wirtschaftsgeo-        Gemeinschaftsgüter“. In seiner For-       mit städtischen Klimaanpassungsstra-
graphen damals, wieder einmal, nicht         schung beschäftigt er sich primär mit      tegien. Wir arbeiten in unserem Pro-
                                           kommunaler Klimapolitik, transnationa-
nach unserer Expertise gefragt wur-                                                     jektteam nicht explizit mit dem Begriff
                                          len Klimanetzwerken und interkommuna-
den. Ich dachte: Wir brauchen ein all-      len Lernprozessen. Im Rahmen von zwei      „Krise“, aber natürlich betrachten wir
gemein gültiges Verständnis von Kri-        Projekten untersucht er die klimapoliti-    disruptive Ereignisse, die eine Krise
sen und wie sie ablaufen. Das war ein      schen Strategien deutscher und europäi-      auslösen könnten. Konkret untersu-
Grund, weshalb ich mich beim Leib-                        scher Städte.                 chen wir, wie Städte sich auf poten-
niz-Forschungsverbund „Krisen einer                                                     ziell zerstörerische Starkregenereig-
globalisierten Welt“ eingebracht habe.                                                  nisse vorbereiten, die im Zuge des
Ich habe mich außerdem schon meine                                                      Klimawandels immer häufiger wer-
ganze Karriere über mit Innovation                                                      den. Es geht also mehr um die strategi-
beschäftigt, also mit der Frage: Wie                                                    sche Perspektive, um Antizipation und
kommt Neues in die Welt? Aus die-                                                       die Frage, wie man eine Krise verhin-
ser Perspektive finde ich die Ambiva-                                                   dern kann.
lenz von Krisen interessant. Sie sind
Wendepunkte zum Besseren oder zum                                                      Elisa Kochskämper: Meine Perspektive
Schlechteren. Sie sind bedrohlich, aber                                                ist ähnlich. Mich interessiert, welche
sie können auch Gelegenheiten für                                                      Rolle Vorbereitung für den Umgang
Innovation bieten.                                                                     mit Krisen spielt, für die neuen Rou-

10                                                                                               IRS AKTUELL No 95 | Dezember 2020
IRS AKTUELL No 95 | Dezember 2020   11
tinen, die sich in Krisen herausbilden.                                               sung gibt es solche Ereignisse, wenn
Die Coronakrise kam unerwartet, der                                                   auch auf einem anderen Niveau. In der
Klimawandel ist dagegen schon lange                                                   Krise werden Institutionen geschaf-
bekannt, und im Rahmen von Klima-                                                     fen, die die nächste Krise verhindern
anpassung bereiten sich viele Akteure                                                 sollen, beispielsweise bei Hochwasser-
aktiv auf krisenhafte Zustände vor.                                                   ereignissen.
Welchen Unterschied macht es, ob man
gewarnt war oder nicht? Welchen Ein-                                                  Krise, Katastrophe,
fluss hat eine eher theoretische Vor-                                                 Unsicherheit, disruptives
bereitung im Vergleich zu praktischer                                                 Ereignis, wie hält man das
Erfahrung? Was ist Lernen im Moment,
was ist eher die Anwendung vorhan-
                                                                                      auseinander?
dener Erfahrungen?                                                                    Tjorven Harmsen: Wir betrachten Kri-
                                                      Tjorven Harmsen                 senfälle oft mit einem auslösenden
Kristine Kern: Ich bin von Haus aus                  Tel. 03362 793 286               Ereignis, das wir als disruptiv bezeich-
Ökonomin und habe mich schon                   tjorven.harmsen@leibniz-irs.de         nen. Etwa eine Explosion auf einem
immer mit Krisen beschäftigt – Welt-                                                  großen Handelsschiff, durch die Men-
                                            Tjorven Harmsen ist wissenschaftliche
wirtschaftskrise, Kubakrise, Ölkrise;      Mitarbeiterin in der Forschungsabteilung   schen und Umwelt bedroht werden. Bei
Umweltkrisen gibt es auch schon lange,      „Dynamiken von Wirtschaftsräumen“.        der Finanzkrise 2008 wäre das analoge
man denke nur an Tschernobyl, spä-          Im Projekt „Resilienter Krisenumgang“     Ereignis beispielsweise die Pleite der
ter Fukushima. In jüngerer Zeit gab es     (RESKIU) untersucht sie am Beispiel von    Lehmann Brothers-Bank. Unsicherheit
die Finanzkrise, die Flüchtlingskrise,     schweren Schiffsunglücken die Verläufe     besteht mit Blick auf die Frage, wie es
                                            von Umweltkrisen sowie die Rolle von
Corona. Es entsteht der Eindruck, dass                                                nach dem auslösenden Ereignis wei-
                                           Expertenwissen in ihnen. Im Rahmen des
die Krisen überhaupt nicht aufhören.         Projektes treibt sie ihre Promotion im
                                                                                      tergeht, was zu tun ist, welche Konse-
Aber auch der Kalte Krieg war eine Zeit             Fach Soziologie voran.            quenzen drohen. Auf ein disruptives
permanenter Krise. Mich interessiert                                                  Ereignis folgen Reaktionsmechanis-
hauptsächlich, wie Krisen sich gegen-                                                 men, die teils professionalisiert sind.
seitig beeinflussen. Also beispielsweise                                              Es gibt Organisationen, die darauf spe-
die Coronakrise und die Klimakrise.                                                   zialisiert sind, die Folgen solcher Ereig-
Interessant sind aber auch die Ereig-                                                 nisse zu begrenzen.
nisse, die Politik in neue Bahnen len-
ken, wie etwa das Reaktorunglück von                                                  Elisa Kochskämper: Eine Katastrophe
Fukushima die Energiepolitik verän-                                                   hat langfristige Auswirkungen. Bei
dert hat. Auch in der Klimaanpas-                                                     einem disruptiven Ereignis ist das

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nicht so klar. Es kommt darauf an, wie                                                 Nur weil man weiß, was bei einem
gut das jeweilige System damit umge-                                                   Hochwasser passiert, heißt das noch
hen kann, wie resilient es ist.                                                        lange nicht, dass man eingespielte,
                                                                                       gefestigte Reaktionsweisen hat. In klei-
Oliver Ibert: Ja, eine Katastrophe ist                                                 neren Kommunen sind die freiwilligen
ein eingetretener Schadensfall. Eine                                                   Feuerwehren für den Katastrophen-
Krise ist dagegen zukunftsoffen, der                                                   schutz zuständig. Formal müssen die
größte Schaden kann noch abgewendet                                                    einen Krisenplan haben. De facto ist
werden, wenn die richtigen Entschei-                                                   das aber oft ein DINA4-Blatt mit drei
dungen getroffen werden. Disruptive                                                    Stichpunkten, das der Feuerwehrchef
Ereignisse wiederum müssen nicht                                                       verwahrt. Wenn er im Urlaub ist, weiß
unbedingt eine Krise auslösen. Viele                                                   niemand was zu tun ist. Gerade bei
Organisationen beschäftigen sich mit                                                   Hochwassern kommt noch der Zeitfak-
                                                      Prof. Dr. Oliver Ibert
Notsituationen, die regelmäßig auftre-                 Tel. 03362 793 118              tor dazu. Früher waren Hochwasser in
ten, die „normal emergencies“. Hoch-               oliver.ibert@leibniz-irs.de         erster Linie Flusshochwasser. Die ent-
wasser gibt es fast jedes Jahr wieder, es                                              wickeln sich relativ langsam. Seit eini-
gibt auch Schäden, aber es gibt Routi-         Oliver Ibert ist Direktor des IRS und   ger Zeit sind Hochwasser aber immer
nen des Umgangs und meistens wird              Professor für Raumbezogene Trans-       öfter das Ergebnis von Starkregen, die
daraus keine Krise. Erst wenn die Rou-         formations- und Sozialforschung an      sehr schnell kommen. Die Geschwin-
                                              der BTU Cottbus-Senftenberg. Zu sei-
tinen versagen, wenn die Unsicherheit                                                  digkeit beeinflusst, wie gut die vorhan-
                                             nen Forschungsschwerpunkten gehören
größer wird, ist es eine Krise, die zur      Innovationsprozesse, Prozesse der öko-    denen Routinen funktionieren.
Katastrophe anwachsen kann.                 nomischen Wertkreation, regionalökono-
                                             mische Transformation sowie die raum-     Oliver Ibert: Es ist grundsätzlich nicht
Wie kommt es dazu, dass                       zeitlichen Dynamiken von Krisen und      vorhersehbar wann eine Krise auftritt.
                                                     Resilienzkonstruktionen.
aus manchen Ereignissen                                                                Wenn ein Problem lange ignoriert wird,
eine Krise wird und aus                                                                steigt aber die Wahrscheinlichkeit,
                                                                                       dass es sich als Krise ungefragt auf
anderen nicht?                                                                         die Agenda drängt. Man muss dabei
Elisa Kochskämper: Eine Krise kann                                                     Krisen immer aus der Perspektive der
durch mangelnde Koordination ent-                                                      sozialen Akteure denken, die von ihr
stehen oder dadurch, dass vorhandene                                                   betroffen sind. Bei einem Hochwas-
Strukturen einfach inadäquat sind. Die                                                 ser ist ja nicht der Fluss in einer Krise,
Hochwasserereignisse von 2013 in Süd-                                                  möglicherweise aber die Hochwasser-
deutschland sind dafür ein Beispiel.                                                   schutzbehörde. Ganz dicht am Gesche-

IRS AKTUELL No 95 | Dezember 2020                                                                                             13
hen sind zunächst meist Organisatio-                                                  Tschernobyl oder Fukushima wieder
nen, die direkt damit beschäftigt sind                                                passieren wird, aber ob es jetzt pas-
Gefahren abzuwehren – Sicherheitsbe-                                                  siert oder in 1000 Jahren, das weiß
hörden oder Notenbanken etwa. Die                                                     man nicht. Hochwasser treten häufiger
arbeiten mit Eintrittswahrschein-                                                     auf, es gibt einen etablierten Umgang
lichkeiten, Schwellenwerten etc. Sie                                                  damit. Trotzdem gibt es immer wieder
leben mit der Gefahr. Viel interes-                                                   Katastrophen wie die Sturmflut 1962,
santer finde ich aber die Verästelun-                                                 das Oderhochwasser 1997 oder das Elb-
gen von Krisen in andere Systeme. Die                                                 hochwasser 2002.
Coronapandemie betrifft nicht nur das
Gesundheitswesen, sie schlägt auf völ-                                                Was bedeutet es, aus Krisen
lig unvorhergesehene Art durch auf                                                    zu lernen? Was passiert da?
die Luftfahrt, die Fleischindustrie
und Kreuzfahrtenanbieter. Die gera-                Prof. Dr. Kristine Kern            Kristine Kern: In Krisen kommt es zu
ten von heute auf morgen in eine exis-               Tel. 03362 793 205               Institutionalisierungen: Neue Institu-
tenzielle Krise, ohne sich zuvor damit          kristine.kern@leibniz-irs.de          tionen, also Regeln, werden eingeführt,
auseinandergesetzt zu haben.                                                          um künftig ähnliche Krisen bzw. den
                                           Kristine Kern ist Kommissarische Abtei-
                                             lungsleiterinin der Forschungsabtei-     Eintritt von Schäden zu verhindern.
Es gibt aber auch einen kommuni-           lung „Institutionenwandel und regional     Die Frage ist allerdings, wer lernen
kativen Aspekt. Wenn jemand das                Gemeinschaftsgüter“ des IRS und        kann und auf welcher Ebene gelernt
Wort „Krise“ verwendet, signalisiert         Gastprofessorin an der Åbo Akademi       wird. Ein Hochwasser ist relativ lokal.
er damit: „Ich beschäftige mich mit              University in Turku, Finnland.       Es passiert auch verhältnismäßig häu-
                                          Ihre Forschungsinteressen konzentrieren
einem sehr dringlichen Problem!“                                                      fig, sodass es eine lange Geschichte von
                                          sich auf lokale und regionale Klima- und
Das Wort „Bildungskrise“ lässt ein Pro-    Energiepolitik, die nachhaltige Entwick-
                                                                                      Institutionalisierungen gibt. Die ört-
blem im Bildungssystem gleich doppelt      lung von Städten und Regionen, trans-      liche Feuerwehr kann beispielsweise
so groß aussehen. Wir sehen durch-        nationale Städtenetzwerke, europäische      aus Hochwasserereignissen lernen.
gängig, dass man eine Krise nicht an      Regionalmeere und die makroregionalen       Bei Corona können die Bürgerinnen
objektiven Faktoren festmachen kann.                  Strategien der EU.              und Bürger immerhin mitwirken, bei
Wirtschaftsdaten wie Arbeitslosigkeit                                                 einem Reaktorunglück kaum. Je weit-
können sich über längere Zeit schlecht                                                reichender die möglichen Konsequen-
entwickeln, und dann ist auf einmal                                                   zen eines Ereignisses sind, desto zen-
ein Krisendiskurs da. Wir sagen, Kri-                                                 tralistischer werden präventive und
sen sind sozial konstruiert und perfor-                                               reaktive Maßnahmen gesteuert, etwa
mativ hergestellt. Das macht sie nicht                                                durch nationale Behörden oder sogar
weniger real. Es gibt Akteure, die Kri-                                               internationale Organisationen.
sen ausrufen. Manche Organisationen
haben sich darauf verlegt, andere in                                                  Oliver Ibert: Die hier angesproche-
Reputationskrisen zu stürzen – etwa,                                                  nen Lerneffekte finden allerdings alle
wenn Greenpeace gezielt die Umwelt-                                                   bei den Organisationen statt, die für
sünden eines ganz bestimmten, im                                                      Schadensabwehr zuständig sind. Es
Rampenlicht stehenden Unterneh-                                                       gibt aber auch andere Varianten des
mens anprangert. Für dieses sind dann                                                 Lernens. In der Schifffahrt hat es bei-
die drei Krisenmerkmale Unsicherheit,                                                 spielsweise eine Professionalisierung
Bedrohung und Handlungsdruck sehr                                                     des Krisenmanagements gegeben, eine
real, sie lassen sich nicht ignorieren.                                               ganz neue Wissensdomäne ist entstan-
                                                                                      den. Man nimmt in Kauf, dass Krisen
Kristine Kern: Es stimmt, Krisen wer-                                                 eintreten, weil man sie ohnehin nicht
den sozial konstruiert. Medien, oder                                                  gänzlich verhindern kann. Stattdes-
auch Organisationen wie Greenpeace                                                    sen gibt es Krisenmanagementfirmen,
wirken dabei mit, dass ein Ereignis in                                                die sich sogar auf einzelne Phasen oder
der öffentlichen Wahrnehmung zur                                                      Teilaspekte von Krisen spezialisiert
Krise wird. Es gibt aber auch objek-                                                  haben, und deren Aufgabe es ist, zu
tiv unterschiedliche Häufigkeiten von                                                 verhindern, dass aus einer Krise eine
Ereignissen. Nehmen wir Kernener-                                                     Katastrophe wird. Manche Organisa-
gie: Man weiß, dass ein Unglück wie in                                                tionen haben sich darauf spezialisiert,

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aus jeder Krise ex-post Lehren zu zie-                                                   Gibt es denn bestimmte
hen, die dann wieder im Krisenma-                                                        Faktoren, die darüber
nagement angewendet werden.                                                              entscheiden, ob aus einer
Dann gibt es noch Lernprozesse, die
                                                                                         Krise gelernt wird oder
nicht direkt etwas mit Sicherheit zu                                                     nicht?
tun haben, zum Beispiel digitales
Zusammenarbeiten. Zu Beginn der                                                          Tjorven  Harmsen: Krisen bieten zwar
Coronakrise waren wir alle auf ein-                                                      Lerngelegenheiten, aber gerade in
mal im Homeoffice und haben ver-                                                         einer hoch professionalisierten Pro-
sucht, unsere Arbeitsroutinen auf-                                                       blembearbeitung haben Krisen auch
recht zu erhalten. Wir haben Meetings                                                    eine Eigendynamik, die zumindest tie­
durch Videokonferenzen ersetzt und                                                       fergehende Lernprozesse wieder aus-
angefangen online zu forschen. Diese              Dr. des. Elisa Kochskämper             bremst. In Organisationen, die ein dis-
Mischung aus Dringlichkeit und Unsi-                  Tel. 03362 793 245                 ruptives Ereignis verarbeiten, rückt
cherheit stiftet Lerngelegenheiten.          elisa.kochskaemper@leibniz-irs.de           die akute Krise in der Prioritätenliste
Wir waren gezwungen, Dinge zu pro-                                                       auf Platz eins. Sie wirkt als Aufmerk-
                                             Elisa Kochskämper ist wissenschaft-
bieren, zu improvisieren und dabei            liche Mitarbeiterin in der Abteilung       samkeitsfänger, wie ein Stressimpuls,
auch eine höhere Fehlertoleranz zu           „Institutionenwandel und regionale          der dazu führt, dass Muskeln stärker
zeigen. In der Online-Lehre hat zum          Gemeinschaftsgüter“. Sie untersucht         durchblutet werden. Sobald aber die
Beispiel niemand erwartet, dass alles        politische Konstruktionen der Infra­        akute Krise vorbei ist, werden wieder
perfekt klappt. Gesteigerte Fehler-       struktur-Kritikalität. Dabei liegt ihr Fokus   Ressourcen vom jeweiligen Thema ab-
                                             auf urbaner Klimawandelanpassung.
toleranz kann befreien, kann helfen                                                      gezogen. Die Organisation müsste sich
Dinge zu probieren und Erfahrun-                                                         dann aktiv dafür entscheiden aus der
gen jenseits der Routine ermöglichen.                                                    Krise lernen zu wollen. Das ist eine
Diese werden dann wieder verstetigt,                                                     Hürde.
etwa in Lehr-Stundenplänen, die
ganz selbstverständlich Online- und                                                      Elisa Kochskämper: Was wir aus For-
Präsenzformate kombinieren. Und                                                          schung zum Politiklernen im Kontext
in Forschungsanträgen werden jetzt                                                       von Hochwasser wissen ist, dass nur
selbstverständlich Online-Erhebungs-                                                     unter Druck wirklich gelernt wird.
phasen eingeplant. Das sind Innova-                                                      Lernen durch Erfahrung führt zu
tionen, für die eine Krise den Anstoß                                                    mehr Ergebnissen als Lernen durch
gegeben hat.                                                                             theoretische Auseinandersetzung mit
                                                                                         einem Thema. Lernen über räumliche
Elisa Kochskämper: Vielleicht müssen                                                     und fachliche Zuständigkeitsgrenzen
aber gar nicht unbedingt neue Routi-                                                     oder über Politikfelder hinweg funk-
nen in der Krise entstehen, damit man                                                    tioniert außerdem eher schlecht. Das
von einem Lerneffekt sprechen kann.                                                      heißt: Für die Organisationen, die
Krisen können Systemschwächen                                                            unmittelbar betroffen sind, bieten Kri-
offenlegen. Es können Dinge in den                                                       sen Gelegenheitsfenster zum Lernen.
Vordergrund treten, die lange nicht                                                      Die Frage bleibt aber, ob neues Wissen
bearbeitet wurden. Dass beispiels-                                                       wirklich in neue Routinen überführt
weise Digitalisierung im Arbeitsall-                                                     wird. Welche Konsequenzen genau
tag unzureichend umgesetzt ist, liegt                                                    gezogen werden, hängt letztlich stark
schon lange auf dem Tisch, aber es                                                       vom jeweils herrschenden Diskurs ab,
galt als nicht so dramatisch, deswegen                                                   wie auch von den Interessen und Agen-
wurde nichts gemacht. In der Corona-                                                     den der beteiligten Akteure.
krise hat sich gezeigt, dass darin eine
Verwundbarkeit liegt. Diese wird jetzt                                                   Am intensivsten lernen Mitglieder
ernst genommen.                                                                          einer Community of Practice vonei-
                                                                                         nander, also Menschen, die sich in
                                                                                         ihrem Alltag mit derselben Art von
                                                                                         Problemen beschäftigen. Das funktio-
                                                                                         niert auch über Distanz hinweg und

IRS AKTUELL No 95 | Dezember 2020                                                                                            15
unabhängig davon, ob jemand persön-        Je mehr eine Krise durch äußere Fak-      Coronakrise wurde grundsätzlich sehr
lich von einer Krise betroffen ist. Bei    toren erklärt wird, desto weniger wird    schnell Neues gelernt. Der schwieri-
einer Krise, die an einem bestimm-         daraus gelernt. Wenn andere schuld        gere Teil ist aber das Verlernen alter
ten Ort stattfindet, ist also die Frage,   sind oder sogar niemand schuld ist,       Routinen.
wie die lokale Gemeinschaft sich mög-      kann ich keine Konsequenzen ziehen.
licherweise überlappt mit Praktiker-       Je mehr ich aber eine Krise als Kon-      Vor Corona wurde viel über
gemeinschaften, die wichtige Erfah-        sequenz innerer Unzulänglichkeiten        die Klimakrise geredet. Ist es
rungen weitertragen können.                sehe, desto eher bin ich dazu bereit.     überhaupt sinnvoll, hier von
Wolfgang Haupt: In Münster gab es          Es gibt aber auch die gegenteilige
                                                                                     einer „Krise“ zu sprechen?
2014 ein Unwetter, das schwere Schä-       Gefahr, dass Krisen vollends die Logik    Kristine Kern: Ich denke, dass es auch
den verursacht hat. Das hat Aufmerk-       politischer Steuerung dominieren,         Krisen gibt, die länger laufen. Wir wis-
samkeit erzeugt. Münster gilt als sehr     dass nichts mehr strategisch und plan-    sen seit den 1980er Jahren, dass der
fortschrittlich in der Klimaanpas-         voll abgearbeitet werden kann, und        Klimawandel ein globales Problem ist.
sung, also auch in der Vorbereitung        dass beim Lernen aus Krisen Einzel-       Seitdem gibt es immer wieder disrup-
auf Ereignisse wie dieses. Wenn es         ereignisse aufgebläht und fälschli-       tive Ereignisse, in letzter Zeit immer
dort zu schweren Schäden kommen            cherweise allgemeine Rückschlüsse         mehr. Man kann darüber streiten, ob
kann, dann sehen andere Kommu-             aus ihnen gezogen werden. Ich finde       man von einer Klimakrise sprechen
nen, dass es bei ihnen auch passieren      die Frage spannend, ob es tatsächlich     soll, aber es wird in letzter Zeit ver-
kann. Das ist ein wesentlicher Punkt:      stimmt, dass wir von einer Krise in       stärkt gemacht. Und es sind immer
Damit Akteure aus einem Ereignis ler-      die nächste schlittern, und dass nur      Ereignisse, die den Anlass dazu geben.
nen können, das woanders stattfindet,      noch im Krisenmodus regiert wird. In      Das müssen keine Wetterereignisse
müssen sie einen Bezug zu dem Ort          welchem Verhältnis stehen alltägliches    wie Dürren oder Überschwemmun-
haben. Es muss Referenzpunkte geben,       Politikverständnis und Krisenma-          gen sein. Es kann auch die Veröffent-
die vermitteln: „Das kann uns auch         nagement? Wie kann ich erfolgreich        lichung des neuesten IPCC-Berichts
betreffen“. Tschernobyl lag in der Sow-    Krisen als Lerngelegenheiten nut-         sein, das Scheitern des Kopenhagen-
jetunion, das war gefühlt – technisch,     zen und zugleich die politische Steue-    Klimagipfels, der Abschluss des Pari-
politisch – sehr weit weg. Man konnte      rungsfähigkeit im Alltag nicht verlie-    ser Abkommens. Allerdings funktio-
sagen: „Bei uns kann so etwas nicht        ren? Das ist ein Forschungsthema für      niert politisches Agendasetting so, dass
passieren.“ Japan ist näher an unserem     die Zukunft.                              immer nur ein Krisendiskurs ange-
Selbstverständnis als Indus­trienation                                               sagt sein kann und der vorherige ver-
dran, deshalb hatte das Reaktorun-         Kristine Kern: Man kann sicherlich        drängt wird. Bereits 2008 war viel von
glück in Fukushima für unsere Ener-        Unterschiede zwischen nationalen          Klima die Rede, dann kam die Finanz-
giepolitik direktere Konsequenzen. Der     Kulturen sehen bei der Art wie Risi-      krise. Aktuell hat die Coronakrise die
verrauchte Himmel über San Francisco       ken bewertet werden. In Deutschland       Klimakrise verdrängt. Aber sie wird
betrifft uns gefühlt auch direkter als     sind Deiche höher als in den Nieder-      wiederkommen, genau wie die Flücht-
Feuer am Amazonas oder in Sibirien.        landen. Dafür gibt es keine rationale     lingskrise.
                                           Erklärung. Auch den Diskurs um das
Oliver Ibert: Sicher ist entscheidend,     Waldsterben in den 1980ern gab es in      Oliver Ibert: Ich finde es irreführend,
ob eine organisationale Einheit dazu       Frankreich nicht.                         die langfristige Erderwärmung als
bereit ist, neue Lektionen zu lernen,                                                Krise zu bezeichnen. Der Klimawan-
etwa wenn sie sich schon mit dem           Man muss aber auch konkret auf die        del begünstigt disruptive Ereignisse
jeweiligen Thema beschäftigt hat.          Art der Krise schauen. Wenn wir über      wie Dürren und Wirbelstürme. Aber
Die Krise bestätigt dann die Vorbe-        eine Verwaltungskrise reden, dann         der Begriff „Krise“ sollte auf soziale
reitung. Die Frage der Bereitschaft hat    ist die Frage, wie eine Verwaltungs-      Systeme beschränkt bleiben, die
aber auch eine normative, institutio-      organisation aussehen kann, die Ler-      durch ein von außen oder auch von
nelle Komponente. In Frankreich ist        nen fördert. Es gibt Diskussionen über    innen kommendes Ereignis heraus-
Atomenergie beispielsweise ein Moder-      das Konzept der „agilen Verwaltung“,      gefordert werden und darauf reagie-
nitätssymbol. Das Land bezieht ca. 70%     das völlig andere Strukturen vorsieht,    ren. Eine Krise ist immer ein zeitlich
seines Stroms aus Atomenergie. Wenn        als wir sie haben. Aber auch hier gibt    gedrängtes Aufmerksamkeitshoch,
man so aufgestellt ist, lässt man sich     es Unterschiede zwischen Ländern.         das durch die anfangs genannten
auch nicht von einem Ereignis wie in       Stadtverwaltungen in Finnland ler-        drei Merkmale gekennzeichnet wird.
Fukushima erschüttern. Wichtig ist         nen beispielsweise schneller als in       Der Klimawandel ist aber ein Feld, in
auch, wie eine Krise erklärt wird. Wer-    Deutschland. Das liegt womöglich          dem immer wieder Krisen entstehen.
den interne oder externe Erklärungs-       auch daran, dass dort die Digitalisie-    Das kann ein gutes Kriterium für Ler-
faktoren herangezogen?                     rung weiter fortgeschritten ist. In der   nen in der Krise sein: Wenn in einem

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Feld immer wieder Krisen entstehen,        Ist die Coronakrise auch eine              wäre. Die Coronakrise hat auch das
dann lohnt es sich, aus diesen Krisen      Chance für den Klimaschutz,                Mobilitätsverhalten der Bevölkerung
zu lernen. Und es stimmt, die globale      etwa wenn Finanzmittel für                 beeinflusst. Negativ betroffen ist der
Migrationsfrage ist nicht annähernd                                                   öffentliche Verkehr, viele sind aufs Auto
gelöst. Hier werden wir noch viele
                                           die wirtschaftliche Erholung               umgestiegen, viele aber auch aufs Fahr-
Krisen erleben. Obwohl es eigentlich       konsequent in                              rad. In Berlin sind Pop-up-Radwege
keinen überraschen kann, werden            klimafreundliche Projekte                  entstanden, die bereits zum Gegen-
doch immer wieder Situationen ent-         gelenkt werden?                            stand gerichtlicher Entscheidungen
stehen, die so niemand antizipiert hat,                                               geworden sind. Wie dieser Kampf um
die schnell eskalieren, und in denen       Oliver Ibert: Rhetorisch wird dieser       den öffentlichen Raum ausgehen wird,
schnell improvisiert und gelernt wer-      Punkt ja ganz stark gemacht. Ich habe      ist offen. Aber die Krise hat gezeigt,
den muss.                                  meine Zweifel. Wie hier schon gesagt       dass Veränderungen zu Gunsten von
                                           wurde, lernen wir aus Krisen immer         Fuß- und Radverkehr möglich sind.
Elisa  Kochskämper: Ich kann die           das, was wir bereit sind zu lernen. Eine   Das Berliner Mobilitätsgesetz muss jetzt
Trennung zwischen Krisen als Ein-          Krise ist außerdem auch eine Gelegen-      konsequenter und zügiger umgesetzt
zelereignissen einerseits und einem        heit, eine Agenda durchzudrücken, die      werden. Gerade im Verkehrsbereich
auslösenden Problemfeld oder einer         man immer schon hatte, wie zum Bei-        sinken die CO2-Emissionen ja nicht,
längerfristigen Entwicklung ande-          spiel erweiterte „Notstands“-Befug-        sondern steigen tendenziell eher. Im
rerseits nachvollziehen, aber ich bin      nisse für Regierungen und Behörden.        Verhältnis von Stadt und Land entste-
nicht sicher, ob sie wirklich vernünftig   Insofern kann die Coronakrise einen        hen neue Herausforderungen: Wenn
ist. Das, was den Klimawandel so kri-      Impuls für eine langsame Umorientie-       jetzt verstärkt Städter aufs Land ziehen,
senhaft gemacht hat, ist doch der seit     rung geben, die ohnehin schon statt-       kann das den Druck zu mehr Nachver-
Jahrzehnten fehlende Umgang damit,         findet, aber sie wird kein grundlegen-     dichtung verringern, die innerstädti-
also die Abwesenheit von Lernen. Es        des Umdenken bei Akteuren auslösen,        sche Grünflächen gefährdet – die wir
gibt Modelle des Erfahrungslernens,        die bisher kein Interesse an Klima-        für die Klimaanpassung dringend
die mehrere Stärken von Verhaltens-        schutz gezeigt haben.                      benötigen. Auf der anderen Seite ent-
änderungen unterscheiden, von „ein-                                                   stehen neue Pendelverkehre, die ver-
fach“ bis hin zu „systemverändernd“.       Kristine Kern: Die Coronakrise bietet      mieden oder zumindest klimaneutral
Diese Modelle ließen sich eigentlich       durchaus Chancen für den Klima-            organisiert werden müssen. Und mehr
gut mit der Krisendefinition verbin-       schutz, die aber konsequent genutzt        Fläche wird insgesamt verbraucht. Es
den, die wir schon diskutiert haben.       werden müssen: Diese Krise hat dazu        hängt von der politischen Gestaltung
Dann könnte man Lernen nicht mehr          geführt, dass Deutschland sein für         ab, ob die Chance, die in dieser Krise
nur als Ergebnis von Krisen verstehen,     2020 vorgesehenes Reduktionsziel bei       liegt, genutzt wird.
sondern auch als Einflussfaktor dafür,     den Treibhausgasemissionen höchst-
ob Entwicklungen langfristig immer         wahrscheinlich einhalten wird, was
krisenhafter eskalieren.                   ansonsten nicht möglich gewesen

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