Ideen Sprühende - Baden-Württemberg Stiftung
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plus wissenschaft.de Sprühende Ideen Die aktuelle Dynamik in der Materialforschung Eine Sonderpublikation in Zusammenarbeit mit der Baden-Württemberg Stiftung
FORSCHUNG INTERDISZIPLINÄR FORSCHUNGS- TAG 2015 22. JULI 2015 LIEDERHALLE STUTTGART Weitere Informationen auf: www.bwstiftung.de/forschungstag 2 bild der wissenschaft plus
Zur Sache INHALT 3 Zur Sache 4 Farne als Vorbild In der Materialforschung hat eine neue W. Scheible Wolfgang Hess, Ära begonnen – etwa mit Werkstoffen Chefredakteur nach Beispielen aus der Natur. 12 Sanfter Körperkontakt Speziell präparierte Oberflächen machen Implantate besser verträglich. Clevere Tricks und Erfindergeist 16 Anders ist anders Ein Heidelberger Physikstudent will den Es gibt Themen, die die breite Öffentlichkeit wenig faszinieren. Werk- „Wunderstoff“ Graphen nutzbar machen. stoffforscher haben mit einem solchen Aufmerksamkeitsdefizit ihre 19 Die Kamera, die alles sieht Probleme. Manche unter ihnen geben das unumwunden zu. Beleg Sie vermisst Zähne und spürt selbst für das Manko ist schon der Blick auf die Themen der Wissenschafts- winzigste Kratzer in Zahnrädern auf. jahre, die in Deutschland seit 2000 veranstaltet werden. Da gab es 20 Das kleinste Labor der Welt ein Jahr der Physik, der Technik, der Geowissenschaften, ein Jahr Viren können auch nützlich sein, der digitalen Gesellschaft und sogar der Chemie. Doch das Jahr der etwa als Baustoff für Biosensoren. Werkstoffforschung sucht man vergebens. 22 „Wir sind Weltmarktführer der winzigen Strukturen“ Dabei ist die Werkstoffforschung gerade für ein so industrialisier- Zeiss-Vorstand Hermann Gerlinger tes und gleichzeitig rohstoffarmes Land wie Deutschland essenziell. erklärt, wodurch Mikrochips immer Denn technische Innovationen und damit neue Produkte lassen sich leistungsfähiger werden. häufig nur dann entwickeln, wenn neue oder zumindest optimierte 27 Impressum Werkstoffe zur Anwendung kommen. Wie spannend die Suche da- nach ist, wie trick- und erfindungsreich sich dabei Wissenschaftler 28 Scharfblick auf heiße Zellen ans Werk machen, offenbart Ihnen diese Sonderausgabe von bild Durch hoch präzises Laserbohren lassen sich Solarzellen effizienter herstellen. der wissenschaft. 32 Chips aus der Biosuppe Ganz gleich, ob es sich um für den Körper besser verträgliche Implan- Elektronische Bauteile sollen sich künftig tate handelt, um Computerchips, die sich selbst konstruieren, oder von alleine zusammensetzen. um aufprallhemmende Helme, die Seeigel-Stacheln nachempfunden 36 Das Haus der Highlights sind, – die Baden-Württemberg Stiftung unterstützt eine Vielzahl Ein neuer Laborbau in Freiburg dient als erfolgversprechender Forschungsansätze, die das Grundlagenstadium Schaufenster innovativer Technologien. schon verlassen haben und auf dem Weg in Industrieanwendungen sind. 38 Kleine Blitze mit großer Wirkung Nanodiamanten lassen sich als Quelle Die hier vorgestellten Entwicklungen haben bereits zu einer Reihe für einzelne Photonen nutzen. von Patentanmeldungen geführt. Erteilte Patente gehören dann der 42 Auf Luft gebaut Stiftung. Lizenzen dafür sollen vor allem an die Industrie im Südwest- Seeigel-Stacheln dienen als Vorbild für staat vergeben werden. besonders robuste Produkte. Das Stiftungsvermögen in Höhe aktuell 2,4 Milliarden Euro stammt „SPRÜHENDE IDEEN“ übrigens aus dem Verkauf der Anteile am Energieversorger EnBW Wissenschaftler aus Titelfoto: T. Klink für bdw; Bearbeitung: P. Kotzur im Jahr 2000. Mit diesem Modul einer cleveren Forschungs- und Baden-Württemberg Industriepolitik will Baden-Württemberg punkten: Auf dass dort der entwickeln neuartige Wohlstand weiter wächst. Materialien und Verfahren, etwa um Energie effizienter zu nutzen, Menschen bei Unfällen zu schützen oder für die Medizintechnik. bild der wissenschaft plus 3
NEUE WERKSTOFFE Farne als Vorbild Das Periodensystem der nutzbaren Elemente ist nicht größer geworden. Doch in der Materialforschung hat ein neues Zeitalter begonnen – auch mithilfe der Natur. von Frank Frick 4 bild der wissenschaft plus
T homas Schimmel ist im- mer für eine Überraschung gut. Wenn der Professor vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) die Bedeutung neuer Materialien vermitteln will, verzichtet er darauf, auf einem Com- puterbildschirm Animationen von elekt- risch angetriebenen Leichtbaukarossen, futuristischen Gebäuden oder gewagten Brückenkonstruktionen zu zeigen. Er präsentiert auch nicht Ausstellungsstücke wie einen Mikrochip oder den Teil einer Turbinenschaufel. Stattdessen greift er zu einem Trinkglas auf seinem Schreibtisch, in dem eine unscheinbare grüne Pflanze schwimmt. Dabei fragt der Physiker sein Gegen- über: „Was fällt Ihnen als Erstes ein, wenn Sie den Begriff Materialien hören – Stahl, Beton, Aluminium oder andere Konstruktionswerkstoffe?“ Um danach hinzuzufügen: „Dabei vergessen wir oft, dass sich bei den Materialien komplett Neues getan hat.“ Er zeigt auf die Pflan- ze, die er als Salvinia molesta vorstellt. Dieser Schwimmfarn hat eine beson- dere Eigenschaft: Drückt man ihn unter Wasser, werden seine Blattoberflächen nicht nass. Thomas Schimmel weist auf den silbrigen Glanz auf den unterge- tauchten Blättern hin, den man sieht, wenn man schräg auf die Pflanze schaut. Hervorgerufen wird der Glanz durch eine dünne Luftschicht auf der Blattoberflä- che, die das Licht spiegelt. Dieses Luft- kleid verhindert, dass die Blattoberflä- chen mit Wasser benetzt werden. Daher tauchen sie auch trocken wieder aus dem Wasser auf. Besonders erstaunlich: Das Luftkleid unter Wasser bleibt wochen- lang erhalten. Salviania molesta breitet sich in den Tropen und Subtropen, im Sommer aber auch bei uns im Gartenteich, sehr rasch aus und ist dort auch als Wasserunkraut verrufen. Um zu erklären, wie es die Pflanze schafft, unter Wasser für lange Schwimmfarn im Visier: Der Physiker Fotos: W. Scheible für bdw Thomas Schimmel hat eine Salvinia- Pflanze in eine Druckzelle gebracht. Darin kann er untersuchen, wie gut ihre Oberfläche den sie umgebenen- den Luftfilm bei Über- oder Unter- druck festhalten kann. bild der wissenschaft plus 5
NEUE WERKSTOFFE Zeit ein Luftkleid anzulegen, weist Tho- trem wasserabweisend – im Fachjargon: dauert Schimmel, „leider nur für einige mas Schimmel auf die feinen Härchen auf superhydrophob – und sind dafür mit Minuten.“ Danach bildeten sich kleine der Blattoberfläche hin, die mit bloßem winzigen Wachskristallen überzogen, die Bläschen und die Luft war weg. Darauf- Auge gut zu erkennen sind. Die weite- viel kleiner sind als ein Mikrometer. hin untersuchten die Wissenschaftler um ren Details lassen sich dagegen nur mit „Wir haben schnell gelernt, solche Schimmel und den Bonner Botaniker Wil- Mikroskopen und modernen Analyseme- Oberflächen mit hydrophoben haarför- helm Barthlott die Pflanze noch genauer. thode entschlüsseln: Die Härchen sind in migen Strukturen nachzubauen“, sagt Sie stellten fest, dass die Härchen an ih- Form eines Schneebesens angeordnet. Die Schimmel. Sie konnten tatsächlich Luft ren Spitzen keine Wachskristalle besitzen Blattoberflächen samt der Haare sind ex- unter Wasser festhalten. „Aber“, be- und dort wasserliebend – superhydrophil – sind. Ein geschickter Trick der Natur: Nach wie vor kann beim Eintauchen der Blätter kein Wasser zwischen die Här- Die Spitzen der feinen chen eindringen. Doch die eingeschlos- Strukturen auf der sene Luft kann auch später nicht wieder Schwimmpflanze ziehen entweichen, weil an der Grenzschicht Wasser an, während der zwischen Luftkleid und Wasserfilm das Rest der Blattoberfläche Wasser gleichsam an den Haarspitzen wasserabweisend wirkt. klebt. „Die Luft müsste sozusagen viele kleine ‚Klettverschlüsse‘ öffnen, um sich zu befreien“, erläutert Schimmel. Vier Jahre im Wasser – und trocken Wie wichtig die hydrophilen Härchen- Enden für die Stabilität des Luftkleides sind, wiesen die Wissenschaftler nach, indem sie die Pflanze, wie Schimmel schmunzelnd berichtet, „ein bisschen är- gerten“: Sie deckten die Haarspitzen mit einer hauchdünnen Schicht eines was- serabweisenden Materials ab. Dadurch konnte der Schwimmfarn die Luft nicht mehr festhalten. Im nächsten Schritt stell- ten die Forscher eine künstliche Oberflä- che nach dem Vorbild der Salvinia her und legten sie ins Wasser: „Heute, mehr als vier Jahre später, liegt sie dort noch immer – trocken“, freut sich Schimmel. Das Luftkleid ist nicht zerrissen. Dieses Resultat ist weit mehr als eine nette akademische Spielerei, entstanden aus einer zufälligen Naturbeobachtung. Wilhelm Barthlott hatte bereits 1995 Industrie und Öffentlichkeit aufhorchen lassen, als er herausfand, warum Wasser und Schmutz an Lotusblumen-Blättern abperlen. Die Blätter bestehen aus einer hydrophoben Oberfläche mit winzigen, regelmäßig verteilten Noppen, auf denen der Dreck sitzt wie ein Fakir auf einem Nagelbrett. Seitdem haben Unternehmen selbstreinigende Fassaden und Gläser ent- wickelt, die auf dem Lotus-Effekt basieren. Dass der Salvinia-Effekt wirtschaftlich und ökologisch einmal bedeutsam wer- den könnte, war Barthlott vom Bonner 6 bild der wissenschaft plus
EINFÜHRUNG Durch die vollständige Reflexion des Lichts erscheinen die rundherum mit Luftbläschen bedeck- ten Blattoberflächen des üppig grünen Schwimmfarns silbrig glänzend. Das Kleid aus Luft sorgt dafür, dass die Blattoberflächen der Salvinia-Pflanze auch unter Wasser nicht nass werden. Dieser Effekt begeistert und inspiriert die Wissenschaftler. Nees-Institut für Biodiversität der Pflan- unter anderem an Verfahren gearbeitet, zen und Thomas Schimmel von Anfang mit denen sich auch große Flächen mit an klar. Denn der Salvinia-Effekt könn- Strukturen beschichten lassen, die den te gleich drei Probleme der Schifffahrt Salvinia-Effekt hervorrufen. deutlich verringern: Fouling, Korrosion und Reibung. Ein Schiff, das im Wasser Drei Merkmale für das Neue von einer dünnen Lufthülle umgeben ist, würde nicht von Algen und anderen im Doch was macht von Salvinia inspirierte Wasser lebenden Mikroorganismen be- Materialien zu einem typischen Vertreter siedelt. Dieses Mikrofouling, das die Rei- des komplett Neuen, das Thomas Schim- bung und somit den Treibstoffverbrauch mel in der Werkstoffforschung ausge- erhöht, wird derzeit üblicherweise mit macht hat? Eine Besonderheit ist sicher teuren und umweltgefährdenden Chemi- der Umstand, dass Forscher Prinzipien aus kalien bekämpft. Außerdem rostet Stahl der Tier- und Pflanzenwelt auf technische an Luft langsamer als in Wasser – beson- Systeme übertragen haben. Allerdings: Die ders in aggressivem Salzwasser. Schließ- sogenannte Bionik hat zwar Erfolge vorzu- lich setzt Luft dem Schiffskörper weniger weisen, deckt aber nur einen kleinen Teil Widerstand entgegen als Wasser. Insofern der Materialforschung ab. Trockentauchen: Die künstlichen Oberflächen, würde ein Luftkleid à la Salvinia die Kos- Vielmehr sind es vor allem drei Merk- die Forscher in Karlsruhe nach dem Vorbild der ten für Treibstoff und Chemikalien ver- male, die das Neue charakterisieren: Blätter des Schwimmfarns hergestellt und ins ringern – ebenso wie den Ausstoß von • Konventionelle Materialien aus her- Wasser gelegt haben, verharren dort bereits klimaschädlichem Kohlendioxid. Daher kömmlichen Molekülen oder Atom- seit über vier Jahren – ohne ihre schützende haben Barthlott und Schimmel in den Kombinationen bekommen durch kont- Lufthülle abzugeben. letzten Monaten Patente angemeldet und rollierte Strukturierung auf verschiedenen bild der wissenschaft plus 7
NEUE WERKSTOFFE Die Baden-Württemberg Stiftung Längenskalen – Nanometer, Mikrometer, Als das Land Baden-Württemberg im Jahr 2000 seine Anteile unter anderem Millimeter – neue Eigenschaften und neue am Energieversorgungsunternehmen EnBW verkaufte, floss der Erlös in eine Funktionen. Stiftung ein: die Landesstiftung Baden-Württemberg, die inzwischen Baden- • Eine vergleichsweise winzige Menge an Württemberg Stiftung heißt. Deren Vermögen von aktuell etwa 2,4 Milliarden Material – etwa eine wenige Molekül- Euro ist zum größten Teil in Investmentfonds, Immobilien und Unternehmens- Durchmesser dünne Beschichtung auf beteiligungen angelegt – die Zinsen, die diese Anlagen abwerfen, dienen einer Oberfläche – bewirkt bei einem Ob- zur Finanzierung einer breiten Palette von gemeinnützigen Programmen und jekt eine große Änderung der Eigenschaf- Projekten in Bildung, Forschung, sozialen und kulturellen Aktivitäten. Jahr für ten. Das heißt zugleich: Der Umgang mit Jahr gibt die in Stuttgart ansässige Stiftung dafür rund 50 Millionen Euro aus. Rohstoffen ist sehr effizient und es wird Viele Programme und Projekte gehen aus Ideen der Stiftung hervor und werden vergleichsweise wenig Energie für die Ma- von dieser initiiert. Im Bereich Bildung ist ein wichtiges Ziel, Talent und Erfin- terialherstellung verbraucht. Diese hohe dergeist junger Menschen in Baden-Württemberg zu fördern. Zudem wird der Effizienz ist ein großer Pluspunkt, wenn internationale Austausch von Schülern und Studenten unterstützt, zum Beispiel man angesichts endlicher Ressourcen da- durch Auslandsstipendien oder die Förderung ausländischer Stipendiaten, die ran denkt, dass auch unsere Enkel noch Baden-Württemberg kennenlernen wollen. Im Sozial- und Kulturbereich liegen Rohstoffe benötigen, um ihre Bedürfnisse Schwerpunkte auf der Prävention von Gewalt, der Integration von Menschen zu befriedigen. mit Migrationshintergrund und der Inklusion: der Einbindung von Kindern mit • Eine sehr kleine Menge an Material ist einem Handicap in den regulären Schulalltag. Bei der Forschung setzt die Stif- entscheidend für die Funktionsweise be- tung auf naturwissenschaftliche und technische Methoden und Verfahren, die stimmter Geräte oder gar für eine Techno- die Leistungsfähigkeit Baden-Württembergs als attraktiver Forschungsstandort logie. Somit erhält eine geringe Werkstoff- stärken. Beispiele dafür sind Programme und Projekte aus Photonik, Robotik, menge enorme wirtschaftliche Bedeutung. Umwelt- und Energietechnik sowie den Lebenswissenschaften. Dabei ist stets Alle drei Punkte finden sich bei den ein wichtiges Ziel, Forscher verschiedener Standorte des Landes in Kooperatio- Salvinia-inspirierten Materialien wieder. nen zusammenzubringen, um deren verschiedenen Kompetenzen zu bündeln. Zum einen sind da die Härchen, eine Mit einer feinen Kanüle wer- den kleine Tröpfchen auf die filigrane Oberflächenstruktur des Schwimmfarns aufgebracht. 8 bild der wissenschaft plus
Strukturierung auf der Millimeter-Skala, Lernen von der Natur: Die Forscher versuchen, und die Wachskristalle, eine Struktu- die außergewöhnlichen Eigenschaften der rierung auf der Nanoskala. Fachleute Salvinia-Blätter technisch nutzbar zu machen. sprechen in diesem Fall auch von einer hierarchischen Strukturierung, weil erst tigt, könnte einmal Reibung und Treib- das Zusammenspiel zwischen einer über- stoffverbrauch eines Ozeanriesen mit ei- geordneten Struktur auf der größeren nem Materialgewicht von typischerweise Längenskala und einer untergeordneten etwa 30 000 Tonnen stark verringern. Struktur auf der kleineren Längenskala die Drittens: Natürllich wäre neben der Funktion – hier das Festhalten der Luft – ökologischen auch die wirtschaftliche ermöglicht. Von seiner chemischen Zusam- Bedeutung einer solchen Beschichtung mensetzung her weist der Schwimmfarn immens. Ein Ozeanfrachtschiff zum Bei- dagegen keine Besonderheiten auf: Wie spiel verbraucht pro Tag rund 100 Ton- andere Pflanzen auch, bestehen er und nen Treibstoff. Angenommen, durch das seine Blätter vor allem aus den Elementen Luftkleid ließen sich 20 Prozent davon Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff. einsparen, so würde jedes Frachtschiff Die Materialien stellt der Schwimmfarn nach derzeitigen Marktpreisen täglich über die Photosynthese und andere natür- rund 9000 Euro Spritkosten einsparen. liche Stoffwechselvorgänge her. „In gewisser Hinsicht hängt die ganze Zweitens – auch wenn das bei den Sal- Weltwirtschaft ab von kleinen Töpfchen vinia-inspirierten Stoffen noch Zukunfts- funktionsbestimmender Materialien“, sagt musik ist: Eine Beschichtung von wenigen Schimmel. Ein Beispiel dafür liefern die Millimetern Dicke, die überdies größten- Smartphones, von denen 2013 weltweit teils aus Luft besteht und entsprechend mehr als eine Milliarde Exemplare ver- wenig Material für ihre Herstellung benö- kauft wurden. Deren Touch-Displays ent- Die beiden Physiker Moritz Fischer halten das leitfähige und zugleich trans- (vorn) und Ingo Medebach analy- parente Indiumzinnoxid. Bezogen auf das sieren die Pflanzenoberfläche von Gesamtgewicht eines Handys beträgt der Salvinia molesta mithilfe spezieller Indium-Anteil nur rund 0,002 Prozent. Lichtmikroskopie-Techniken. Doch ohne die maximal fünf Tonnen In- dium, die für die Smartphone-Bildschir- me weltweit benötigt werden, gäbe es die heutige Gerätegeneration nicht – und mit ihr wäre der gigantische Wachstums- markt der Apps und der IT-basierten Dienstleistungen nicht der, der er ist. Wirtschaft und Alltag am Chip-Tropf Ein anderes Beispiel sind Chips zur Da- tenspeicherung, deren Funktion letztlich von der Strukturierung einer Silizium- Oberfläche abhängt. Würde man alle Chips dieser Welt durch einen virtuellen Klick auf einmal außer Betrieb setzen, gingen nicht nur alle unsere Computerda- ten verloren. Es gäbe zudem vielerorts ein Verkehrschaos, die Bankenwelt geriete durcheinander und es ginge sprichwört- lich das Licht aus, weil auch die Kraftwer- ke per Computer gesteuert werden. bild der wissenschaft plus 9
NEUE CHEMIE WERKSTOFFE Wie eine winzige Menge Material auf eingesetzt für Schmuck und als Kontakt- ausgeschaltet. Solch ein „Einzelatom- der Oberfläche eines Gegenstands dessen material in elektronischen Geräten. Seine Transistor“ ist nicht nur winzig klein. Viel Eigenschaften bestimmen kann, zeigt sich antibakteriellen Eigenschaften sind zwar wichtiger ist, dass der Energieverbrauch etwa am Auto: Dass die Karosserie nicht prinzipiell schon länger bekannt, doch eines atomaren Transistors aus Silber nur mehr rostet, dafür sind effektive und im- erst in Form nanometerkleiner Partikel ein zehntausendstel so groß ist wie der mer dünnere Korrosionsschutzschichten oder als hauchdünne Beschichtung ist das von herkömmlichen Silizium-Transistoren. verantwortlich. Dünne Beschichtungen Silber für Wundauflagen, OP-Geräte und „Das Periodensystem ist nicht größer ge- auf dem Dach sorgen bei manchen Null- Textilien attraktiv geworden. Mit Silber worden, doch die Möglichkeiten, es zu energiegebäuden dafür, dass Sonnenlicht lassen sich aber auch winzige Bauteile für nutzen, wachsen Monat für Monat“, re- in Richtung hin zur Photovoltaik-Anlage mögliche künftige Computer herstellen, sümiert Schimmel. reflektiert wird. Thomas Schimmel hat die mit Licht arbeiten. Fachleute sprechen Und der Markt für wertschöpfende noch ein besonders drastisches Beispiel dabei von plasmonischen Bauteilen: Plas- Werkstoffe wächst auch – weitaus stär- parat: „Ob ein Patient mit einer künst- monen sind wellenförmige Veränderun- ker als die Weltwirtschaft insgesamt. Das lichen Herzklappe überlebt, entscheidet gen der Elektronendichte auf der Oberflä- jedenfalls prophezeit das skandinavische sich ebenfalls durch eine hauchdünne che von Metallen, die zum Beispiel durch Unternehmen Oxford Research in einer Schicht – für das Blut sind nur die oberen Licht angeregt werden können. Studie, die es 2012 im Auftrag der Eu- zwei Moleküllagen der Klappe entschei- Schließlich haben die Karlsruher ropäischen Union erstellt hat. Darin de- dend. Aus welchem Material der Rest be- Forscher um Schimmel aus Silber den finieren die Analysten etwas schwammig: steht, ist dem Blut weitgehend egal.“ kleinsten Transistor der Welt hergestellt. „Wertschöpfende Materialien sind Werk- Dass auch bei altbekannten Materia- Bei ihm wird ein elektrischer Strom zwi- stoffe, die für das Wirtschaftswachstum lien noch völlig Neues zu entdecken ist, schen zwei winzigen Kontakten durch und die industrielle Wettbewerbsfähig- zeigt etwa das Element Silber – heute meist Umlagern eines einzigen Atoms ein- und keit strategisch wichtig sind – und die die Pflanzen und Tiere zeigen, wie es geht bdw-Grafik; Fotos: iStock/Thinkstock (8) Für viele Probleme hat die Natur bereits eine optimale Lösung gefunden. Aus Eigenschaften und Fähigkeiten von Pflanzen und Tieren können Ingenieure daher exzellente Ideen für technische Anwendungen gewinnen. Einige Beispiele: Lebende Bäume lassen sich als Baustoff in Gebäu- de integrieren (1), die Struktur des Haare des Eisbärfells dient als Vorbild für solarthermische Elemente (2), Holz weist den Weg zu effizienten Filtern (3), Lianen können Beschädigungen selbst reparieren – eine Fähigkeit, die Forscher auch bei Rissen in Brücken nutzbar machen wollen (4). Der Schwimmfarn umgibt sich im Wasser mit einem Luftkleid – das lehrt Schiffbauer, wie sich die Reibung des Schiffsrumpfs verringern lässt (5). Selbst reinigende Oberflächen nach dem Prinzip der Lotusblume werden bei Dachziegeln eingesetzt, auf denen Schmutz abperlt (6), Autokonstruk- teure nutzen besonders leichte Bauteile, die wie Gräser aufgebaut sind (7), und die Oberfläche von Geckofüßen schafft eine enorme Haftkraft (8). 10 bild der wissenschaft plus
großen Herausforderungen unserer Zeit Bei aller Begeisterung für das Neue solcher Ideen nicht zum Erfolg führen?, ansprechen.“ Zu diesen Herausforderun- in der Wissenschaft betont Thomas dem könnte man antworten: Wussten Sie gen zählt es beispielsweise, die Menschheit Schimmel auch, dass es in der Material- schon, dass nahezu 100 Prozent aller gro- sicher und klimaneutral mit Energie zu forschung häufig darum geht, Stoffeigen- ßen technologischen Durchbrüche nicht versorgen oder in einer älter werdenden schaften und Herstellungsprozesse mit im Voraus geplant waren? Verbesserungen Gesellschaft möglichst viele Menschen viel Mühe und Planung in kleinen Schrit- kann man planen, komplett neue Ideen gesund zu erhalten. Um zu erläutern, wie ten zu verbessern. Wie erfolgreich diese und Konzepte aber brauchen Freiräume.“ wertschöpfende Materialien von neuen Herangehensweise sein kann, zeigt die Fördergelder, die den Wissenschaftlern und fortschrittlichen Materialien abzu- stete Weiterentwicklung in der konventi- diesen Freiraum lassen oder erst verschaf- grenzen sind, benötigen die Studienauto- onellen Halbleitertechnologie, auf der un- fen, seien besonders wertvoll. ren rund acht DIN-A4-Seiten. Jedenfalls sere heutige Informationstechnik beruht. Tatsächlich, sagt Schimmel, verbinde soll der Umsatz der wertschöpfenden Ma- Doch Schimmel ist überzeugt, dass Wis- die Baden-Württemberg Stiftung ihre terialien von rund 100 Milliarden Euro senschaftler auch Freiräume brauchen, Förderzusagen mit einem Vertrauens- im Jahr 2008 über 186 Milliarden Euro in denen sie ungewöhnliche Ideen gebä- vorschuss statt mit einem Misstrauens- 2020 auf bis zu 1000 Milliarden im Jahr ren und verfolgen können. „Wer fragt: vorschuss. Und da die Ideen für unge- 2050 steigen. Wussten Sie, dass mehr als 90 Prozent wöhnliche Forschungsprojekte oft beim zwanglosen Gespräch zwischen Wissen- schaftlern verschiedener Fachrichtungen und unterschiedlichen Alters entstünden, sei es genau richtig, dass die Stiftung auch Konferenzen und den wissenschaftlichen Austausch fördere. Eine dieser Tagun- gen findet jährlich in Bad Herrenalb im Nordschwarzwald statt. Dort treffen sich die Wissenschaftler des Kompetenznetzes Funktionelle Nanostrukturen. Nach dem Mittagessen oder der Kaffeepause bleiben dort immer wieder interessante Papier- servietten zurück, beschrieben mit neuen Ideen und Projektskizzen während spon- taner Diskussionen. Auf so einer Tagung lernten sich auch der Karlsruher Physiker Schimmel und der Bonner Biologe Barth- lott kennen – es war die Geburtsstunde der erfolgreichen Forschung am tropischen Schwimmfarn Salvinia molesta und seinen künftigen Anwendungen. ● Fotos: T. Klink für bdw Anregende Diskussion in der Kaffeepause: Auf Forschertagungen wie dem jährlichen Workshop des baden-württembergischen Kompetenznetzes Funktionelle Nanostrukturen in Bad Herrenalb wurden bereits viele pfiffige Ideen geboren. Auch die Struktur der Blattoberflächen des Schwimmfarns knöpften sich die Wissenschaftler einst bei einer solchen Tagung vor – auf einer Papierserviette. bild der wissenschaft plus 11
Stents, wie der in den Händen des Stuttgarter Forschers Ralf Kemkemer, lösen bei jedem dritten Patienten einen starken Wuchs von Bindegewebe aus, der den Stent verschließt. Neuartige Beschichtungen sollen den Wildwuchs hemmen. Fotos: T. Klink für bdw Sanfter Körperkontakt Implantate lassen Parkinson-Kranke weniger zittern und herzkranke Menschen länger leben. Dank speziell präparierter Oberflächen sollen die eingepflanzten Prothesen künftig besser verträglich sein und ihre Energie direkt aus dem Körper beziehen. von Frank Frick 12 bild der wissenschaft plus
IMPLANTATE D ie Stromstöße des Zitteraals sind auf jeden Fall die Spannung vieler Zellen würde, folgen zwei weitere Verfahrens- so stark, dass sie sogar Maulesel gleichzeitig abgreifen“, sagt Rustom. schritte: Der gesamte Elektroden-Chip – und Pferde betäuben können, die Ob es tatsächlich gelingen kann, auf Durchmesser: 2,4 Zentimeter – wird mit einen Fluss durchqueren. Das berichtete diese Weise zu technisch nutzbaren Span- einer isolierenden Kunststoffschicht über- jedenfalls der berühmte deutsche Natur- nungen und Stromflüssen zu kommen, zogen, die danach ausschließlich an den forscher Alexander von Humboldt, nach- war unklar, als die Wissenschaftler vom Spitzen der Nanoelektroden weggeätzt dem er um 1800 das Gebiet der Flüsse MPI-IS, von der Universität Heidelberg wird (siehe Grafik S. 15). „Die Herstel- Orinoco und Amazonas in Südamerika und vom Karlsruher Institut für Techno- lung des Chips ist ohne großen Aufwand bereist hatte. Die moderne Welt kennt logie (KIT) vor über drei Jahren ihr For- an Geräten und Arbeit routinemäßig andere Möglichkeiten, um die erstaunli- schungsprojekt starteten. Zwar hatten die möglich, die Kosten für das Gold fallen chen Eigenschaften dieser Fische ins rech- Forscher zuvor die elektrischen Fähigkei- wegen der nur geringen Materialmengen te Licht zu rücken: Ein YouTube-Video ten von Zellen abgeschätzt. „Doch wie nicht ins Gewicht“, erläutert Rustom. zeigt die flackernde Beleuchtung eines viel Strom man den Zellen sozusagen ab- Weihnachtsbaums in einem japanischen zapfen kann, ohne ihre natürlichen Funk- Erste Experimente an Schleimpilzen Einkaufszentrum. Die elektrische Energie tionen einzuschränken, ließ sich nicht se- dafür produziert ein Zitteraal, der in ei- riös vorhersagen“, sagt Rustom. Für die ersten Versuche mit dem Elekt- nem Aquarium schwimmt. Nur praktische Versuche konnten wei- roden-Chip griffen er und seine Kollegen Amin Rustom vom Stuttgarter Max- terhelfen. Die Wissenschaftler entwarfen der Einfachheit halber nicht zu Kulturen Planck-Institut für Intelligente Systeme daher eine Strategie, um eine Anordnung menschlicher Zellen, sondern zu einem (MPI-IS) nutzt dieses Video, wenn er sei- von elektrisch gut leitfähigen Elektroden Schleimpilz. Denn von ihm lassen sich ne Forschung präsentiert. „Tatsächlich herzustellen, die weniger als ein zehn- einzelne Zellen züchten, die größer sind haben uns die elektrischen Fische und da- tausendstel Millimeter – 100 Nanometer als der gesamte Chip. Und tatsächlich: Die mit die Natur inspiriert, uns damit zu be- – dünn und trotzdem robust sind. Diese Forscher konnten die elektrische Span- schäftigen, ob sich nicht Hirn- oder Herz- nung zwischen der Innen- und Außensei- schrittmacher, Cochlea-Implantate oder te der Zellmembran messen, nachdem sie implantierte Blutzuckersensoren mit kör- die Zelle auf den Chip aufgebracht und pereigener elektrischer Energie betreiben dann gleichsam angedrückt hatten, damit lassen“, sagt der Wissenschaftler, dessen Labors sich im Biophysikalischen Institut der Universität Heidelberg befinden. Das hieße zugleich: Künftig wären elektroni- sche Implantate nicht mehr auf Batterien angewiesen, die regelmäßig ausgetauscht werden müssen. Der Zitteraal erzeugt seine Stromim- pulse mithilfe von elektrischen Organen – umgebildeten Muskeln, die einen großen Teil seines Körpers ausmachen. Das wirft sofort die Frage auf: Existieren überhaupt auch menschliche Zellen, die elektrische Nanoelektroden sollten in der Lage sein, Energie produzieren? Ja, denn Zellen Zellmembranen ohne größere Schäden zu werden von Membranen begrenzt. In die- durchstechen und das elektrische Poten- sen Membranen gibt es Proteine, die elek- zial in der Zelle abzugreifen. trisch geladene Teilchen – Ionen – aus der Das Herstellungsverfahren im Einzel- Zelle ausschleusen oder gezielt passieren nen: Zunächst dampfen die Forscher eine lassen. Solche Ionenkanäle oder Ionen- dünne Schicht Gold auf Filtermembranen pumpen sind dafür verantwortlich, dass aus Kunststoff auf. Dann scheiden sie das In Blutadern eingesetzte Stents zwischen der Innen- und der Außenseite Gold auf elektrochemische Weise ab und sorgen unter anderem dafür, der Membran eine elektrische Spannung füllen so die feinen Poren des Filters mit dass die Herzkranzgefäße bei von rund 70 Millivolt auftreten kann. dem Edelmetall auf. Anschließend entfer- Menschen mit Herzinfarktrisiko „Weil das sehr wenig ist, muss man nen sie die Kunststofffolie, sodass nur die offen bleiben. Goldschicht übrig bleibt, aus der in regel- Schonende Oberfläche: Auf diesem mäßigen Abständen Nanonadeln – eben- beschichteten Plättchen, einem Wafer, falls aus Gold – herausragen. Weil die befinden sich – für das menschliche so entstandene Anordnung von Nano- Auge unsichtbar – wenige Nanometer elektroden zu einem Kurzschluss führen tiefe Rillen. Solche Strukturen können Implantate verträglicher machen. bild der wissenschaft plus 13
Rustom: „Wie andere Arbeiten gezeigt haben, genügt diese Leistung, um kleine implantierte Sensoren zu betreiben und deren Messwerte im Minutentakt per Funk nach außen zu übermitteln.“ So ha- ben die Wissenschaftler zwar noch keine neue Energiequelle für große und ener- giefressende Implantate wie Herzschritt- macher erschließen können. Doch mit der im Nanometer-Maßstab strukturierten Oberfläche ihres Nadel-Chips haben sie die Grundlagen beispielsweise für künf- tige energieautonome Implantate gelegt, die Körperfunktionen von Patienten per- manent überwachen. Inspirierende Stützröhrchen Die Oberflächen von Implantaten sind noch in anderer Hinsicht bedeutsam: Sie entscheiden darüber, inwieweit der Kör- per ein Implantat als fremd wahrnimmt und entsprechend reagiert. So bezieht Ralf Kemkemer vom Stuttgarter Max-Planck- Institut seine Inspiration nicht aus den Eigenschaften exotischer Organismen, die Elektroden die Membran durchdrin- Oben: Um nanometerfein gen konnten. Die Spannung betrug über strukturierte metallische viele Stunden hinweg rund 50 Millivolt. Oberflächen zu untersuchen, Veränderten die Forscher gezielt etwa die vermisst sie Doktorand Luftfeuchtigkeit in der Umgebung des Sebastain Weber an einer Schleimpilzes, so reagierte dessen Mem- Sicherheitswerkbank. bran darauf mit messbaren Spannungs- schwankungen – ein Ergebnis, das den Rechts: Der in Heidelberg Weg zum Einsatz des Chips als Sensor für tätige Max-Planck-Wis- Zellreaktionen weist. senschaftler Amin Rustom Von den experimentellen Resultaten präsentiert eine nanostruk- ermutigt, wandten sich die Wissenschaft- turierte Gold-Oberfläche, ler Kulturen menschlicher Bindegewebs- ein Hoffnungsträger für und Muskelzellen zu. Sie ließen die Zel- viele Patienten. len in einem Gefäß, das mit Nährmedium gefüllt war, auf den Elektroden-Chip absinken. Die nadelförmigen Elektroden durchstachen die Membranen der Zellen und lieferten über längere Zeit hinweg elektrischen Strom mit einer Leistung von rund zehn milliardstel Watt. Das erscheint zwar extrem wenig. Doch, so 14 bild der wissenschaft plus
IMPLANTATE sondern aus zahlreichen Gesprächen mit den Herstellern von Stents – jenen klei- Goldene Spitzen nen Röhrchen, die Ärzte unter anderem in Herzkranzgefäße einsetzen, um diese offen zu halten und so die Gefahr eines Infarktes zu verringern. Klassische Stents bestehen aus Edel- stahl und bringen ein Problem mit sich: Bei bis zu 30 Prozent der Patienten bildet sich aufgrund der Wundheilung zu viel neues Bindegewebe. Es verschließt lang- sam den Stent – ein Vorgang, den Medi- ziner Restenose nennen. Maßgeblich für die Restenose verantwortlich ist das über- steigerte Wachstum von glatten Muskel- zellen, die das Gerüst der Blutgefäße bil- den. Für Abhilfe sollen Stents sorgen, die Medikamente freisetzen – zum Beispiel Wirkstoffe, die auch zur Krebsbekämp- bdw-Grafik: Quelle: Amin Rustom (MPI-IS, Uni Heidelberg) fung eingesetzt werden. Doch auch diese Stents gelten als nicht perfekt: Bei ihnen ist das Risiko erhöht, dass sich aufgrund von Gerinnungsprozessen Blutpfropfen bilden. „Insofern verfolgen wir seit Län- gerem die Idee, die innere Oberfläche herkömmlicher Stents so zu strukturie- ren, dass sie ohne Arzneistoffe das über- Um die goldenen Nadeln zur Nutzung der Zellspannung herzustellen, wird auf eine Filtermem- schießende Wachstum von verschiedenen bran aus Kunststoff eine Goldschicht aufgebracht (1–3). Nach dem Ätzen des Kunststoffs (4) Zelltypen wie den glatten Muskelzellen erhalten die Goldnoppen einen Überzug aus Folie (5), die an den Spitzen entfernt wird (6). hemmt“, sagt Kemkemer. Üblicherweise untersuchen Wissen- schaftler die Wirkung von Implantaten Zum einen haben sie im regelmäßigen Ab- auf den strukturierten Oberflächen um auf den Körper mithilfe bestimmter tie- stand von einigen Mikrometern Rillen, die meist deutlich mehr als die Hälfte verrin- rischer Zellen, die sehr lange in Kultur maximal 300 Nanometer tief sind. Zum gert, bei 20- bis 30-Jährigen lediglich um gehalten werden können und gleichsam anderen befinden sich darauf winzige höchstens 25 Prozent. unsterblich sind. Kemkemer und seinem Noppen aus Gold. Den Abstand der Nop- „Unsere Ergebnisse zeigen, wie sich Team ist dieses Vorgehen zu realitätsfern. pen können die Forscher in einem Bereich bei älteren Patienten durch eine geschick- Stattdessen nutzen die Stuttgarter Wissen- von 30 bis 150 Nanometern gezielt ein- te Wahl der Oberflächentopografie mög- schaftler menschliche Zellen, die bei Ope- stellen. Ähnlich wie bei den Elektroden- licherweise gezielt das Wachstum der rationen abgefallen sind und direkt aus Chips von Amin Rustom haben auch die glatten Muskelzellen hemmen lässt“, re- Herzkranzgefäßen stammen. Außerdem Wissenschaftler um Kemkemer zur Her- sümiert Kemkemer. Mit anderen Worten: unterscheiden sie bei ihren Experimenten stellung dieser Oberflächen verschiedene Besitzen die Stent-Oberflächen Nanorillen zwischen den glatten Muskelzellen und Routineverfahren innovativ kombiniert. mit bestimmten Abständen und Tiefen den Endothelzellen, die die innere Wand Brachten die Stuttgarter Forscher sowie charakteristisch angeordnete Nano- der Blutgefäße auskleiden. Doch das ist solche Oberflächen mit Endothelzellen noppen, könnten sie gerade für ältere Pati- noch nicht alles: „Wir berücksichtigen, oder glatten Muskelzellen zusammen, so enten vorteilhaft sein. „Allerdings ist der dass der Körper möglicherweise je nach wuchsen und teilten sich diese deutlich Weg von unseren eher grundlegenden Er- Alter unterschiedlich reagiert, indem wir weniger als auf herkömmlichen glatten gebnissen bis zu einem optimierten Stent das Alter der Zellspender in unsere Aus- Oberflächen. „Dass strukturierte Ober- noch weit“, betont Kemkemer. wertung mit einbeziehen“, betont Kemke- flächen diese hemmende Wirkung haben, Doch er und seine Projektpartner ha- mer, der nicht nur Forschungsgruppenlei- hatten wir und andere Arbeitsgruppen ben ebenso wie die Wissenschaftler um ter am MPI-IS ist, sondern auch Professor auch früher schon beobachtet“, berichtet Amin Rustom den Anfang gemacht, um an der Hochschule Reutlingen. Kemkemer. Wirklich neu ist ein anderes Implantate mithilfe neuartiger Oberflä- Die Kunststoff-Oberflächen, die die Resultat der Experimente: Die Wachs- chen zu verbessern. Und schon der grie- Forscher mit den Zellen in Kontakt brin- tums- und Teilungsrate war bei Zellen chische Philosoph Aristoteles wusste: Der gen, haben zwei besondere Merkmale: von 45- bis 65-jährigen Testpersonen Anfang ist die Hälfte vom Ganzen. ● bild der wissenschaft plus 15
PORTRÄT Anders ist anders Gerrit Anders hat schon als Schüler den Wunderstoff Graphen erforscht und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet. Im Studium entwickelt er nun eine Methode, um das Kohlenstoff-Material industriell herzustellen. von Eva Wolfangel Sein Herz schlägt für Graphen: Der wundersame Stoff, dessen Struktur Gerrit Anders als Grafik auf seinem Rechner zeigt, besteht aus Kohlenstoff- Atomen, die in Sechserringen angeordnet sind und in einer ultradünnen Ebene liegen. 16 bild der wissenschaft plus
E in Streber sieht anders aus. Der naler Stoff ist – der einzige, den Physiker mittag im Freibad oder im Café verbrin- junge Mann mit Bartstoppeln, kennen. Was Wissenschaftler noch vor gen und sich am Abend mit Gerrit treffen, ausgebleichten Jeans und Turn- gut zehn Jahren für unmöglich hielten, um gemeinsam fürs Studium zu büffeln. schuhen ohne Schnürsenkel empfängt sei- soll jetzt ein Material der Zukunft wer- Aus der Ferne könnte man sich Ger- nen Besuch im Foyer des Physikalischen den: Graphen besteht aus einer einzigen rit Anders nun tatsächlich als Streber Instituts der Universität Heidelberg. Ein dünnen Graphit-Schicht – nur einen Atom- vorstellen oder als einen, dem der Ruhm Büro hat er nicht. Schließlich ist er ein Durchmesser stark. In der Vergangenheit zu Kopf steigt und der neunmalklug die normaler Zweitsemester-Student mit 19 hatten etliche Forschergruppen versucht, Doktoranden im Labor belehrt. Doch Jahren, der mit seinem Tablet-PC zwi- die Schichten aus Graphit voneinander beides ist grundfalsch. Er ist kein eng- schen Mensa, Vorlesungssaal und Foyer zu trennen und daraus Graphen herzu- stirniger Wissenschaftler, der nur Zahlen pendelt. Dennoch hat Gerrit Anders be- stellen. Aber das war nicht effektiv genug. und Formeln im Kopf hat, und auch kein reits eine Forschungsgruppe an der Uni verdruckter Physikstudent, der es nicht – und das macht ihn dann doch zu einem Weg von der Verbrennung! schafft, die Vorzüge seines Faches in ver- ungewöhnlichen Studenten. ständliche Worte zu fassen. Denn als sich der Abiturient 2013 für Auch eines der heute gebräuchlichen Ver- Im Gegenteil: Gerrit Anders schwärmt ein Studium der Physik, Chemie und Psy- fahren, die Pyrolyse, hält Gerrit für wenig mit großen, leuchtenden Augen vom Spaß chologie an der Uni Heidelberg bewarb, zukunftstauglich: Dabei wird mit Tempe- am Experimentieren und von der netten hatte er bereits seine eigene Forschung im raturen um die 1000 Grad Celsius gear- Gesellschaft am Physikalischen Institut. Gepäck: Schon als Schüler hatte er sich beitet. Das verschlinge nicht nur enorm Und er ist alles andere als ein Langewei- mit der Herstellung von Graphen be- viel Energie, sondern sei auch nicht für ler, der nur ein Thema kennt. Wenn er schäftigt, einem von vielen Forschern als die Industrie geeignet, meint der Physik- Zeit findet neben der Forschung an Gra- „Wunderstoff“ bezeichneten Material. student: „Eine Verbrennung ist eine un- phen und dem Physikstudium, trainiert Im Keplerseminar der Heidehof-Stiftung kontrollierte Reaktion.“ er abends Aikido oder spielt Badminton. – einem Förderprogramm für naturwis- Gerrit Anders arbeitet stattdessen bei Außerdem will er im kommenden Semes- senschaftlich begabte Schüler – erforschte tiefen Temperaturen und mit sogenann- ter als zweites Fach Psychologie studieren. er das neue Material, das so hart ist wie ten Aromaten – chemischen Substanzen Auch mit Beachvolleyball hat er gerade ein Diamant, dabei stärker als Stahl und wie Benzol, bei denen sechs Atome ring- angefangen. „So als Versuch“, sagt er und zudem extrem leitfähig. förmig angeordnet sind: „Die sind schon lacht. Vielleicht auch als Zugeständnis an Das einzige Problem: Es gibt noch kein industriell taugliches Herstellungs- verfahren für Graphen. Das will Gerrit „Ich finde es einfach so interessant, ändern. Offenbar mit Erfolg: Schon als Schüler zog er mit seinen Arbeiten zwei dass ich mich in Vieles reingekniet und es Mal in den Landes-Wettbewerb Baden- schließlich doch verstanden habe.“ Württemberg von „Jugend forscht“ ein und gewann schließlich 2013 den ersten Platz beim Artur Fischer Erfinderpreis der eben und müssen sich nur noch zweidi- seine Freunde, die auch einfach mal etwas Baden-Württemberg Stiftung. Seine Me- mensional verknüpfen“, sagt er. Dieses Banales mit ihm machen wollen. thode der Graphen-Synthese beeindruck- „nur noch“ hat mit komplexen chemi- Doch im Vordergrund steht für ihn die te anschließend auch die Jury des bun- schen Reaktionen zu tun, in denen der Forschung. Ihn treibt der gleiche Enthu- desweiten Wettbewerbs „i hoch 3“, den junge Forscher bestehende Wasserstoff- siasmus an wie andere Jugendliche, die das Berliner Ministerium für Wirtschaft Bindungen durch andere chemische Bin- tagein, tagaus mit dem Skateboard in der und Technologie ausrichtet: Anders setzte dungen ersetzt und dabei darauf achten Pipeline einen Salto üben. Und die diesen sich in diesem Wettstreit sogar gegen Ein- muss, dass diese auch stabil genug sind dann, einmal geschafft, immer weiter ver- reichungen aus Universitäten durch und – damit nicht alles zerfällt. Doch der Stu- bessern und unermüdlich daran feilen, ein siegte auch hier. „Sein Verfahren könnte dent versichert, dass er dafür eine Lösung noch besserer Skater zu werden. Ähnlich ein Meilenstein in der Herstellung von gefunden hat. Mehr will Gerrit Anders al- fühlt sich die Forschung für Gerrit nicht Graphen sein“, urteilte damals die Baden- lerdings nicht verraten, denn derzeit läuft nach Arbeit an, sondern eher nach Hobby. Württemberg Stiftung. ein Patentverfahren, mit dem er seine „Da steckt viel Leidenschaft drin“, sagt er. Anders selbst will das so nicht stehen Methode vor Nachahmern schützen will. Und klassische Studentenpartys? „Nach lassen: „Ich habe zumindest noch nichts Die Sache ist jedenfalls kompliziert dem Lernen lassen wir oft den Abend ge- Fotos: T. Wegner für bdw gefunden, was gegen diese Einschätzung und hält Gerrit Stunde für Stunde im La- meinsam ausklingen“ – mit Spielkarten spricht“, sagt er vorsichtig – wohlwis- bor. Freiwillig und ohne Bezahlung? Das und dem einen oder anderen Bier. send, dass sein Verfahren noch scheitern mag für Außenstehende seltsam wirken. Den Stolz über seine Erfolge trägt kann. Eine Hauptschwierigkeit besteht Aber er hat einfach nur ein anderes Hob- Gerrit Anders wenig nach außen. Er ist darin, dass Graphen ein zweidimensio- by als seine Kommilitonen, die den Nach- selbstgenügsam und bescheiden. Nur wer bild der wissenschaft plus 17
SCHÜLERPORTRAIT PORTRÄT Obwohl er der Forschung im Phy- siklabor an der Uni einen großen Teil seiner Zeit widmet, kommt bei Gerrit Anders auch der Sport nicht zu kurz, vor allem das Badminton. genau nachfragt, bekommt eine Ahnung Geim und Konstantin Novoselov für ihre leistungsfähige Computerchips, aufroll- davon, wie sehr sich der junge Mann Graphen-Forschung mit dem Nobelpreis bare Smartphones oder federleichte Flug- freut, dass seine Forschung gewürdigt für Physik geehrt wurden, machte dies zeuge bauen zu können. Aber bis dahin wird. „i hoch drei ist ein echter Erfinder- das „Wundermaterial“ bei einer großen ist es noch ein weiter Weg. Denn bislang wettbewerb“, sagt er und strahlt wie ein Öffentlichkeit bekannt. Die Berühmt- beißen sich die Forscher die Zähne aus an Grundschüler, der zu Hause sein Zeugnis heit des exotischen Stoffs erreichte auch der Massenproduktion der zweidimen- voller Einsen vorzeigt. den Schüler in Althütte. „Ich wollte so- sionalen Kristalle. fort Solarzellen daraus bauen“, sagt er Ob Gerrit Anders‘ Verfahren schließ- Roboter halfen beim Aufräumen heute und lacht über seine damalige lich als Meilenstein in die Geschichte des Naivität. Schließlich war der Wunder- Graphen eingehen wird, steht noch in den Der Erfindergeist begleitet ihn offenbar stoff noch lange nicht so weit, dass sich Sternen. Allerdings: Auch die Jugendli- schon seit früher Jugend. Im Keller des el- daraus Dinge herstellen ließen. Doch bis chen in der Pipeline enden nicht alle als terlichen Hauses in Althütte bei Stuttgart heute hoffen die Wissenschaftler, eines Skateboard-Weltmeister. Aber eine gute lagert ein Kosmos-Chemiekasten. Damit Tages aus Graphen beispielsweise extrem Zeit bleibt trotzdem eine gute Zeit. ● hat er – häufig zusammen mit seinem Vater, ebenfalls einem Physiker, – „alles gemacht, was man machen kann“: so- Dünne Flunder aus der Bleistiftmine wohl vom Hersteller des Chemiekastens vorgesehene Experimente als auch selbst Es klingt simpel, was die Physiker Andre Geim und Konstantin Novoselov ersonnene. Als Jugendlicher konstruierte 2004 schafften: Mit einem gewöhnlichen Klebestreifen zogen sie Material von er außerdem Legotechnik-Roboter, die Graphit ab – dem Kohlenstoff-Material, aus dem Bleistiftminen hergestellt ihm beim Aufräumen seines Zimmers hal- werden. Sie wiederholten das, bis eine Schicht übrig war, die nur aus einer fen. „Das war ein reines Faulheitskonst- einzigen Lage von Kohlenstoff-Atomen bestand: Graphen, ein zweidimensiona- rukt“, sagt Gerrit Anders heute grinsend. ler Kristall. In der extrem dünnen Substanz können sich Elektronen nur in zwei Immerhin hat diese kreative „Faulheit“ Richtungen bewegen. Diese Besonderheit verleiht Graphen außergewöhnliche den Schüler zu ingenieurtechnischen Eigenschaften: Es ist äußerst biegsam und zugleich extrem robust. Elektrischer Höchstleistungen motiviert. Strom fließt darin schneller, als in den meisten anderen Stoffen. Das macht Als 2010 – Gerrit war da gerade 15 – die Graphen für technische Anwendungen interessant. Was aber noch fehlt, ist ein beiden russischen Wissenschaftler Andre Verfahren, um das Material einfach und billig in großer Menge herzustellen. 18 bild der wissenschaft plus
3D-AUFNAHMEN Die Kamera, die alles sieht Ulmer Physiker haben eine Kamera entwickelt, die Zähne dreidimensional vermisst. Künftig soll sie auch Kratzer in Metalloberflächen erkennen. von Bernd Müller W er eine Brille kauft, erwartet konfokal. Die Kamera bildet Farben extra Die Technologie aus Ulm ermöglicht es, Zähne bis auf zu Recht, dass er damit die schlecht ab. Ist die Distanz zum Zahn ge- 30 Mikrometer genau dreidimensional zu vermessen. Ein Erdbeere rot und den Himmel ring, dominiert auf dem Bild blaues Licht, kompletter Kiefer ist damit in einer Minute erfasst. blau sieht. Das Institut für Lasertechno- ist der Zahnschmelz weiter weg, über- logien in der Medizin und Messtechnik wiegt rotes Licht. Über die Farbintensität an der Universität Ulm baut dagegen ab- lässt sich so die Entfernung bestimmen. Raimund Hibst. Messgeräte für Umwelt- sichtlich „Brillen“, die möglichst schlecht Dieses Verfahren ist nicht neu. Doch technik und Lebensmittelüberwachung „sehen“. Ihre Linsen bilden in der Nähe die Ulmer haben es parallelisiert, indem hat sein Team bereits entwickelt. Auch an nur blaues Licht scharf ab, in der Ferne sie 1300 Bildpunkte mit ebenso vielen der 3D-Messtchnik ist die Industrie sehr rotes. Das Ulmer Team stellt aber keine Mikrolinsen in eine Kamera gebaut ha- interessiert. Für manche Anwendungen Fotos: Institut für Lasertechnologien in der Medizin und Messtechnik (2) Sehhilfen für menschliche Augen her, son- ben, die in die Mundhöhle hinein passt. wünschen sich Unternehmen neben den dern solche, die in Kameras für medizini- Die Zähne lassen sich auf 30 Mikrome- 3D-Koordinaten weitere Informationen, sche Anwendungen zum Einsatz kommen ter genau dreidimensional vermessen. Ein etwa über die Rauheit von Metallober- – insbesondere für die Zahnmedizin. Zum Bild ist in wenigen Millisekunden aufge- flächen oder Kratzer auf Zahnrädern. So Beispiel zum Vermessen des Gebisses: Statt nommen, ein ganzer Kiefer etwa in einer entstand die Idee, die Kamera so weiter- mit ekliger Knetmasse nehmen immer mehr Minute. In diesem Tempo und mit dieser zuentwickeln, dass sie sogar Strukturen Zahnärzte den Gebissabdruck mit einer Präzision ist das neu und revolutionär. erkennt, die kleiner als ein Mikrometer 3D-Kamera auf. Das in Ulm entwickel- sind. Das Projekt „3D-plus – Produktions- te Gerät sendet weißes Licht durch eine Überwachung von Lebensmitteln umfeldgerechtes Multifokales Messsys- Optik aus und misst das von den Zähnen tem für die kombinierte Erfassung von reflektierte Licht durch dieselbe Optik. Unser Institut kommt zwar aus der Me- Topographie und lokaler Mikro- und Dabei befinden sich die kleine Lichtquel- dizintechnik, „aber wir suchen für unse- Nanostruktur“ finanziert die Baden- le und die Detektionsblende im gleichen re Entwicklungen auch Anwendungen in Württemberg Stiftung mit 420 000 Euro. Abstand zu dieser, Fachleute nennen das anderen Branchen“, sagt Institutsdirektor Projektpartner ist Sven Simon, Leiter des Instituts für Parallele und Verteilte Sys- teme der Uni Stuttgart, dessen Forscher Materialdefekte blitzschnell aufgespürt: für die schnelle Datenauswertung sorgen. Mit der neuartigen Kamera lassen sich Im Unterschied zur Kieferkamera ist selbst winzige Schrammen auf einem noch ein zweiter Chip seitlich versetzt an- Zahnrad zuverlässig und präzise erkennen. gebracht. Glatte Oberflächen reflektieren das Licht exakt wie ein Spiegel, Kratzer dagegen streuen es in alle Richtungen. Die zweite Kamera misst das seitlich reflek- tierte Licht. Vor allem längliche Kratzer oder Spuren vom Schleifen macht sie sichtbar. Auch für diese Kamera gibt es schon Interessenten – doch wer das ist, darf Raimund Hibst nicht verraten: „Ich habe einen ganzen Ordner mit Geheim- haltungsvereinbarungen im Schrank.“ ● bild der wissenschaft plus 19
SENSORIK Bausteine für Biosensoren (von links): Hartmut Gliemann mit einem Träger für Tabakmosaikviren, Stefan Walheim mit präparierten Mikrochips, Christina Wege mit einem Modell der Viren-DNA. W enn Christina Wege und Hart- mut Gliemann erzählen, wie sie molekulare Bausteine zu Das kleinste neuen Strukturen kombinieren, um damit eines Tages ein Miniaturlabor zu bauen, Labor der Welt ist ihre Begeisterung zu hören. Wissen- schaftlichen Laien kann sich schon die Assoziation aufdrängen, die beiden wür- den Lego-Steine aufeinanderstapeln. In der Tat arbeiten die Stuttgarter Viren gelten als böse. Doch sie können auch nützlich sein – Molekularbiologin und der Karlsruher Chemiker mit Bauklötzchen – allerdings etwa bei der Entwicklung von Biosensoren. mit sehr kleinen im Nanometer-Maßstab. Das visionäre Ziel ihres Forschungspro- Fotos: T. Klink für bdw von Roland Bischoff jekts „Seriell angeordnete, kombinato- risch aktive Virusgerüste als Biosensor- Ensembles“: das Minilabor auf einem fingernagelgroßen Chip, mit dem sich 20 bild der wissenschaft plus
Saatbeet für Viren-Sensoren chemische Substanzen auch in geringster Konzentration sofort und sicher bestim- men lassen. Etwa Pestizide und Hormone im Grundwasser, aber auch Blutwerte bei einer Operation im Krankenhaus. Die Bauteile für das „Lab-on-a-Chip“ sind nicht nur mikroskopisch klein – zum Teil fügen sie sich auch wie von Geister- bdw-Grafik: Quelle: Christina Wege (Uni Stuttgart) hand selbst zu neuen Formen zusammen. Dahinter stecken Viren, genauer gesagt: Tabakmosaikviren, kurz TMV. Bevor sie sich vermehren, dringt ihr Erbgut – die Ri- bonukleinsäure (RNA) – über kleine Ver- letzungen wie abgeknickte Blatthärchen in Tabakpflanzen ein. Dadurch färben sich deren Blätter stellenweise braun. Für Auf Silizium wird mit Linker-DNA Tabakmosaikviren-RNA „geklebt“. Daran ordnen Menschen und Tiere sind TMV ungefähr- sich Hüllproteine an. So entstehen Viren-Stäbchen, die mit Enzymen versehen werden. lich. Sie können aber viele Pflanzenarten befallen. Landwirte und Pflanzenzüchter sehen sie als Schädlinge. Mikrobiologen der Tabakmosaikviren darauf, die sich an Stäbchen wirklich als Biosensoren dienen und Virologen nutzen sie dagegen gern als die Linker-DNA koppelten. Dann gaben können“, fasst Wege zusammen. „Haustierchen“ im Dienst der Forschung. sie Hüllproteine hinzu, die sich von allein Ein Vorteil dieser „Bottom-up“-Strate- Die 300 Nanometer langen und 18 Na- rings um die RNA-Stränge anordneten – gie, bei der sich die molekularen Bauteile nometer dicken Tabakmosaikviren beste- es entstanden Viren-Stäbchen. Im Grun- von selbst anordnen: Auf Mikrochips las- hen aus einem RNA-Strang, den rund 2100 de läuft dabei die natürliche Vermehrung sen sich nanometerkleine 3D-Strukturen Protein-Moleküle umhüllen. Ein nackter von Tabakmosaikviren ab, nur dass die erschaffen. Eine Herausforderung ist es, Strang bringt infizierte Pflanzenzellen da- neuen Exemplare ortsfest gebunden sind. die TMV-Stäbchen so aufzurichten, dass zu, neue Hüllproteine zu produzieren, die alle stets senkrecht stehen. Dies wird es sich um die RNA legen – ein neues Virus Sensible Enzyme auf Stäbchen erlauben, viele Viren mit mehreren funk- entsteht. Diesen Kopiermechanismus der tionalen Gruppen auf engsten Raum zu Natur nutzen die Forscher, um spezielle Dann müssen die TMV-Stäbchen funk- packen und so die Einheiten weiter zu TMV herzustellen, die als Sensoren in ei- tionalisiert werden. An ihre Hüllproteine verkleinern. Eingebunden in das ambi- nem Lab-on-a-Chip dienen. Einen ersten lassen sich Substanzen mit diversen Reak- tionierte Projekt ist deshalb auch Stefan Prototyp haben Christina Wege, Hartmut tionsgruppen heften, etwa Enzyme, die für Walheim vom KIT-Institut für Angewand- Gliemann und ihre Teams schon gebaut. spezifische Reaktionen sorgen und so be- te Physik. Der Physiker versucht mit raf- Im Institut für funktionelle Grenzflä- stimmte Substanzen eindeutig nachweisen. finierten Methoden, die TMV in dauer- chen am Karlsruher Institut für Techno- „Bei unserem Biosensor-Prototyp setzten hafte Hab-Acht-Stellung zu bringen. Dazu logie (KIT) behandelte Gliemann dafür wir Glukoseoxidase und Peroxidase ein“, bedampft er die Trägerplättchen mit me- zunächst kleine Silizium-Plättchen mit erklärt Hartmut Gliemann. Für den De- tallorganischen Schichten, die die Viren- „molekularer Tinte“. Sie dient als Kleb- monstrator hat er zwei kleine, mitein- Stäbchen schrittweise aufrichten sollen. stoff. Mit der Spitze eines Rasterkraftmi- ander verbundene Durchflusszellen aus Dass das klappt, lassen elektronenmik- kroskops tupfte er die Tinte im Abstand Kunststoff entwickelt, in denen sich die roskopische Aufnahmen vermuten. Noch von fünf mal fünf Nanometern auf die Trägerplättchen mit den TMV-Stäbchen ist es ein langer Weg zum Lab-on-a-Chip. glatte Oberfläche. Anschließend wurde befinden. So lässt sich das empfindliche Doch die Forscher aus Stuttgart und Exquisine/Fotolia.com „Linker-DNA“ hinzugegeben, die an den Mikro-Messsystem auch in einer rauen Karlsruhe arbeiten weiter an der Realisie- klebrigen Rasterpunkten hängenblieb. Es technischen Umgebung einsetzen. In der rung ihrer Vision und setzen dabei Nano- ist, als würde man kurze Fadenstücke mit ersten Zelle befinden sich Stäbchen mit baustein auf Nanobaustein. ● einem Tropfen Leim auf eine Glasplatte Glukoseoxidase, die TMV-Derivate in kleben. „Damit“, sagt Gliemann, „war der zweiten Zelle tragen Peroxidase. Lässt die spätere Anordnung der TMV-Stäb- man eine farblose Glukose-Lösung durch chen auf der Fläche festgelegt.“ Christina die Zellen fließen, startet eine Enzymkas- Wege und ihre Mitarbeiter am Biologi- kade. Am Ende entsteht unter anderem schen Institut der Uni Stuttgart sorgten im ein grün gefärbtes Salz. „Die Grünfärbung nächsten Schritt für die räumliche Struk- ist der Nachweis, dass die Lösung Gluko- turierung auf den vorbehandelten Silizi- se enthielt und die ruhig gestellten, mit um-Plättchen. Sie streuten RNA-Stränge Enzymen versehenen Tabakmosaikviren- bild der wissenschaft plus 21
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