Präzisionsmedizin - Chancen für Forschung und Therapie - FRANKFURTER FORUM : DISKURSE

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Präzisionsmedizin - Chancen für Forschung und Therapie - FRANKFURTER FORUM : DISKURSE
FRANKFU RTER FORUM   :   DISKURSE              Heft 21
                                               April 2020
                                               ISSN 2190-7366

Präzisionsmedizin – Chancen         FRANKFURTER FORUM
                                    für gesellschafts-

für Forschung und Therapie          und gesundheitspolitische
                                    Grundsatzfragen e.V.
Präzisionsmedizin - Chancen für Forschung und Therapie - FRANKFURTER FORUM : DISKURSE
Diskurs-Hefte des Frankfurter Forums –
ein Rückblick
Heft 1: 	Medizinischer Fortschritt in einer alternden Gesellschaft
Heft 2: 	Versorgungskonzepte für eine alternde Gesellschaft
Heft 3: 	Priorisierung, Rationierung – begriffliche Abgrenzung
Heft 4: 	Priorisierung, Rationierung – Lösungsansätze
Heft 5: 	Versorgung in einer alternden Gesellschaft
Heft 6: 	Chancen und Risiken individualisierter Medizin
Heft 7: 	Individualisierte Medizin – die Grenzen des Machbaren
Heft 8: 	Psychische Erkrankungen – Mythen und Fakten
Heft 9: 	Psychische Erkrankungen – Konzepte und Lösungen
Heft 10: 	Menschen in ihrer letzten Lebensphase –
           selbstbestimmt leben, in Würde sterben
Heft 11: 	Sterbehilfe – Streit um eine gesetzliche Neuregelung
Heft 12: 	Sozialstaatsgebot und Wettbewerbsorientierung
Heft 13: 	Preis- und Qualitätsorientierung im Gesundheitssystem
Heft 14: 	Lebensqualitäts-Konzepte: Chancen und Grenzen
Heft 15: 	Lebensqualität und Versorgung: Messen, wägen, entscheiden
Heft 16: 	Digitales Gesundheitswesen: Chancen, Nutzen, Risiken
Heft 17: 	Digitales Gesundheitswesen: Konzepte und Praxisbeispiele
Heft 18: Demenz und Depressionen – was kommt auf uns zu?
Heft 19: Demenz – neue Ansätze in Forschung, Diagnose und Therapie
Heft 20: Perspektiven der Präzisionsmedizin

Alle Diskurs-Hefte sind online abrufbar unter: http://frankfurterforum-diskurse.de
Präzisionsmedizin - Chancen für Forschung und Therapie - FRANKFURTER FORUM : DISKURSE
Ziele                                                                                                           Heft 21
                                                                                                                April 2020
Das Frankfurter Forum für gesellschafts- und gesundheitspolitische Grundsatzfragen will                         ISSN 2190-7366
zentrale Fragen in der Gesellschafts- und Gesundheitspolitik mit führenden Persönlichkeiten
aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft diskutieren und versuchen, darauf Antworten zu geben.
Die unterschiedlichen ethischen, medizinischen, ökonomischen, politischen und rechtlichen          FRANKFURTER FORUM
Standpunkte sollen transparent und publik gemacht werden. Anregungen und Handlungs-                für gesellschafts-
empfehlungen sollen an die Entscheider in Politik und Gesundheitssystem weitergegeben              und gesundheitspolitische
werden, um so an dessen Weiterentwicklung mitwirken zu können.                                     Grundsatzfragen e.V.

Inhalt
Präzisionsmedizin – neue Perspektiven für Forschung, Diagnostik                                                   4
und Therapie?
Präzisionsmedizin – Chancen für Forschung und Therapie

VOLKER DIEHL

Eine neue Ära für Arzt und Patient am Beispiel des                                                                6
Hodgkin Lymphoms
BERNHARD WÖRMANN

Individualisierte Diagnostik und Therapie in der Onkologie                                                     14
CHRISTOPH VON K ALLE, GEORG R ALLE, FLORIAN MARTIUS

Vision Zero – oder: Jeder Krebstote ist einer zu viel                                                          22
IRIS WATERMANN, MARTIN RECK

Personalisierte Therapie des Lungenkarzinoms –                                                                 30
Wo stehen wir? Wo müssen wir hin?
R ACHEL WÜRSTLEIN, NADIA HARBECK

Individualisierte Diagnostik und Therapie des                                                                  40
Mammakarzinoms: Hoffnung oder Realität?
STEPHAN SCHMITZ

Wie soll die Translation in der Hämatologie und                                                                50
Onkologie organisiert werden?

Der pharmakologische Fortschritt erfordert eine stärker                                                        56
wissensgenerierende Medizin
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   PRÄZISIONSMEDIZIN – CHANCEN FÜR FORSCHUNG UND THERAPIE                                         :   EDITORIAL

Präzisionsmedizin – neue Perspektiven für Forschung,
Diagnostik und Therapie?
D R . R EG I N A K L A KOW- FR A N C K , PRO F. D R . H .C H E R B E R T R E BSC H E R , PRO F. D R . VO L K E R U L R I C H

W
                 er träumt nicht davon: eine Therapie, indivi-                tine, in Zukunft vielleicht auch bei komplexeren Prozessen
                 duell zugeschnitten auf den einzelnen Pati-                  durch eine Vorbefundung wichtige therapieunterstützen-
                 enten, frühzeitig diagnostiziert durch gezielt               de und arztentlastende Funktionen übernehmen.
eingesetzte Marker und für die so unterscheidbaren
Subpopulationen speziell aufbereitete Therapeutika? Und                       Es ist nur zu verständlich, dass in einem solchen Szenario
das ohne Zeitverzug, verglichen und hergeleitet aus der                       die Fantasie der Beteiligten blüht. Investoren, Start-ups,
Analyse von Hunderttausenden, ja Millionen vergleichba-                       ambitionierte Wissenschaftler wollen teilhaben an die-
ren diagnostischen und therapeutischen Informationen?                         sem faszinierenden Weg. Gigantische Summen werden
                                                                              weltweit in entsprechende Entwicklungen investiert. Die
Die Medizin ist auf diesem Weg, noch als Suchende, aber                       großen Datenkraken der Plattformökonomie (Google,
immer öfter auch mit beeindruckenden Ergebnissen.                             Facebook etc.) treiben die Akteure der verfassten Gesund-
Dieser Weg ist keinesfalls neu, er ist das Grundprinzip des                   heitssysteme in Wissenschaft und Versorgungspraxis vor
differenzialdiagnostischen Fortschritts. Er ist die Fortset-                  sich her. Daten sind das Gold der digitalen Welt.
zung des alten gültigen und weitergeltenden Paradigmas
der Medizin mit anderen modernen Mitteln. Alt, weil seit                      Das birgt Gefahren: Der Ruf nach Evidenz, der Nachweis
jeher jeder Arzt, mit welchen gerade verfügbaren Instru-                      der Wirksamkeit, der Nachweis medizinisch seriöser Ana-
menten auch immer, seinen individuellen Patienten und                         lyse und Befundung im Vergleich zu „Best Practice“, der
dessen Krankheit immer besser verstehen und so gezielt                        Nachweis einer positiven Nutzen-/Schadenrelation mag
wie möglich therapieren will.                                                 bisweilen schon als eine Art „Spielverderber“ erschei-
                                                                              nen. Und doch: ohne Evidenz, belegt in guten Studien,
Neu sind die für ihn verfügbaren Instrumente: Die Digitali-                   werden auch stabile Korrelationen aus hunderttausenden
sierung der Prozesse generiert Millionen von Datensätzen,                     Datensätzen nicht zwingend die notwendige Kausalität
die Rechenkapazitäten und -geschwindigkeiten sind keine                       belegen. Da ist schon die Mathematik vor. Aber vielleicht
limitierenden Faktoren mehr, sie machen Analysen mög-                         werden neben den spannenden Fragen aus den gefunde-
lich und können diese Raum und Zeit überwindend online                        nen Korrelationen nicht nur neue gute und erkenntnisver-
im Behandlungsprozess verfügbar machen. Medizinisch                           bessernde Studien generiert, vielleicht wird die Ökonomie
seriös entwickelte Algorithmen können zunächst die Rou-                       der Studien dadurch erheblich unterstützt.
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FR ANKFURTER FORUM          :   DISKURSE      5

Was ist also zu tun? Wir brauchen eine Kultur, die dem      schen Fragen der Präzisionsmedizin. Die Beiträge zeichnen
Neuen gegenüber aufgeschlossen ist, ihm aber nicht be-      die Chancen und Grenzen in der Onkologie, von den
dingungslos folgt. Wir brauchen eine Kultur der wissens-    ersten Forschungsansätzen immer präziserer Unterschei-
basierten (evidenzbasierten) Versorgung, die selbst neues   dungen in organbezogener Diagnostik und Therapie über
Wissen generiert und verfügbar macht, eine Kultur, die      Fragen der systematischen Translation von Forschungser-
Erfahrungen sammelt, diese kritisch reflektiert, Chancen    gebnissen in die Versorgung bis hin zu aktuellen Entwick-
und Limitationen transparent macht und dieses Wissen        lungen in unterschiedlichen onkologischen Entitäten.
offen teilt und einen produktiven Diskurs ermöglicht.
                                                            Die Beiträge eint der analytische Umgang mit Chancen
Die noch kurze Geschichte der Big Data-Analytik zeigt       und Grenzen, beides bedarf des wissenschaftlich korrek-
enorme Fortschritte und Chancen für Prädiktion, Di-         ten Nachweises. Gerade weil die Digitalisierung, Big Data
agnostik und Therapie, sie zeigt aber auch Gefahren,        und die Entwicklung von Algorithmen bei der Analyse
Manipulationspotential und Limitationen. Es zeugt von       und der vorläufigen arztunterstützenden Befundung
stabilem Selbstbewusstsein der Medizin und schafft wohl     große Chancen eröffnen und Potentiale bieten, ist das
auch neues Vertrauen, wenn es gelingt damit, offen um-      Zeitalter der Evidenz noch lange nicht vorbei. Im Gegen-
zugehen. Weder wird „der Krebs besiegt“, noch werden        teil: Wir stehen vielleicht gerade erst am Anfang.
die Daten zwangsläufig missbraucht. Entmystifizierung
und Entskandalisierung ist das Ziel und das Gebot, das      Neue Instrumente, alte Werte: ein schönes Programm für
durch eine so gelebte Kultur der „wissensgenerierenden      das Ziel einer „wissensbasierten und wissensgenerieren-
Versorgung“ angestrebt und erreicht werden kann.            den Versorgung“ individueller Patienten. Lassen Sie sich
                                                            auf diese faszinierende Reise entführen, nichts anderes ist
Die vorliegenden Beiträge der Herbsttagung des Frank-       unter Präzisionsmedizin zu verstehen.
furter Forums fühlen sich diesem Ziel verpflichtet. Sie
schließen an die Frühjahrstagung an, die unter dem Titel
                                                            Kontakt:
„Perspektiven der Präzisionsmedizin“ als Heft 20 der        Dietmar Preding | Geschäftsstelle Frankfurter Forum e.V. |
                                                            Mozartstraße 5 | 63452 Hanau |
Schriftenreihe erschienen ist. Schwerpunkte waren dort
                                                            E-Mail: dp-healthcarerelations@online.de
die rechtlichen, regulatorischen, ethischen und ökonomi-    http://frankfurterforum-diskurse.de
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   PRÄZISIONSMEDIZIN – CHANCEN FÜR FORSCHUNG UND THERAPIE                :   VORTRAG 1

Präzisionsmedizin – für Forschung und Therapie?
Eine neue Ära für Arzt und Patient
am Beispiel des Hodgkin Lymphoms
PROF. DR. MED. DR. H.C. VOLKER DIEHL, BERLIN/KÖLN

A
          us den Wurzeln der mittelalterlichen Natur-   Wurzeln der Integrativen und Krebsmedizin
          medizin und Einflüssen der Traditionellen
                                                        Es begann mit Asklepios, dem griechischen Vater der Ärz-
          Chinesischen Medizin entwickelte sich
                                                        te, dessen Philosophie eine natürliche Lebensweise und ein
die von der Naturmedizin losgelöste Apparate- und
                                                        gesunder, positiver Geist war. Seine Medizin waren Pflanzen
Biotechnologie-Medizin, die das morphogenetische        und andere Naturprodukte.
Abbild der Krankheit, aber oft nicht den Patienten           Im Mittelalter galt das Prinzip: „Medicus curat, natura
im Fokus hat. Viele Patienten wenden sich daher der     sanat“ und Ärzte waren Heiler, galten gleichermaßen aber
„Complementären-Alternativen-Medizin“ (CAM) zu.         auch als Priester. Die Kirche hatte eine wesentliche Rolle
                                                        in der Krankenpflege und Gesundheitsfürsorge übernom-
Am Beispiel des Hodgkin Lymphoms wird aufgezeigt,
                                                        men: Hildegard von Bingen war Vorreiterin einer präventi-
wie evidenzbasierte moderne Medizin sinnvoll ver-
                                                        ven und heilenden Naturmedizin, die versuchte, die Kraft
knüpft werden kann mit integrativer Medizin.            der Natur und der Musik zu nutzen und die Einheit von
Radio-Chemotherapie-Strategien haben in den letzten     Leib, Seele und Geist und ihre Störungen als Ursache von
Jahren sehr hohe Heilungsraten bei Hodgkin-Patienten    Krankheit zu ergründen.
erreicht. Gravierende akute und chronische toxische          Wesentlichen Einfluss auf die moderne Krebsmedizin
                                                        hatte auch seit Jahrhunderten die Traditionelle Chinesische
Nebenwirkungen dieser Strategien erfordern neue
                                                        Medizin (TCM), deren Leitsatz für Gesundheit bedeutete
Konzepte der Behandlung. Gezielte Chemotherapie
                                                        die Harmonie des Individuums mit seiner sozialen und na-
mit Antikörper-Wirkstoff-Konstrukten (ADC) und neu-     türlichen Umgebung und ein Equilibrium zwischen Körper,
en Immuntherapien mit sogenannten Checkpoint-Inhi-      Seele und Geist.
bitoren ermöglichen in Zukunft gleich wirksame, aber         Krankheit ist Störung dieser Harmonie, Unausgewo-
                                                        genheit zwischen Körper-Seele und Geist, ein Zustand, den
weniger toxische Therapiestrategien.
                                                        Aaron Antonovsky, der Begründer der Lehre von der „Sa-
                                                        lutogenese“, als „Dis-ease“ bezeichnet. Ein besonderer
                                                        Prophet der mittelalterlichen Naturmedizin war der „Na-
                                                        turopath“, der Schweizer Arzt Theophrastus Bombastus
                                                        Paracelsus, der für das bessere Verständnis zwischen Arzt
                                                        und Patient einen zweifachen Doctor forderte: den „Medi-
                                                        cus“ – den „externen doctor“ und den „internen doctor“
                                                        im Patienten, den „Archaeus“ – beide sind verantwortlich
                                                        für den Heilungsprozess, die Antonovsky´sche „Salutogene-
FRANKFURTER FORUM          :   DISKURSE        7

se“, die heute auch mit dem Begriff der „Patienten-Kom-       Warum setzen Patienten auf alternative
petenz“ umschrieben wird.                                     Heilmethoden (CAM)?
     Sowohl die mittelalterliche Europäische Naturmedi-       •   Trost für die Seele
zin, als auch die TCM haben wesentlichen Einfluss auf die     •   Erwartung einer höheren Heilungschance
Entwicklung und Anwendung von Krebsmedikamenten:              •   Hilfe zur Kontrolle der Symptome (Tumor- und Therapie)
etwa 50 Prozent der heute gebräuchlichen Antikrebsmit-        •   Reduktion der akuten und späten Folgen der Krebstherapie
                                                              •   Kontrolle über das eigene Leben zu haben
tel entstammen biologischen Drogen, Peptiden oder Pro-
                                                              •   Aktiv Anteil zu nehmen der der „Salutogenese“
teinen, natürlichen Produkten oder sind semisynthetische      •   Wunsch, dass es einem besser geht, man sich besser fühlt,
Modifikationen von Naturprodukten. Beispiel ist das Vin-          man besser lebt!
ca-alcaloid Vincristin, das aus der Vinca Rosea gewonnen      Quelle: Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Diehl
wird und eine große Bedeutung in der Hämatologie hat.
                                                              Abbildung 1: Die Motive, aus denen sich Krebspatienten alternati-
     Die moderne Wissenschafts- und Technik-orientier-        ven Heilmethoden zuwenden, sind sehr vielfältig.
te Medizin geht wesentlich auf diese beiden erwähnten
Wurzeln, die mittelalterliche Naturmedizin in Europa und
die TCM, zurück, hat sich aber mit der atemberaubenden        Bemühungen der Krebspatienten eingenommen. CAM
Entwicklung von Wissenschaft und Technik zu einer von         bezeichnet ein Mischmasch aus ungeprüften oder unbe-
der Naturmedizin losgelösten Apparate- und Biotechno-         stätigten alternativen Methoden und wertvollen und hilf-
logie-Medizin hin entwickelt, die das morphogenetische,       reichen supportiven Maßnahmen, die angewendet werden,
diagnostische Abbild der Krankheit, aber oft nicht den        um die Selbstheilungskräfte von Krebspatienten zu stärken
Patienten im Fokus hat.                                       und wiederherzustellen.
     Viele Patienten – in meiner Erfahrung in 40 Jahren on-        In den USA schätzt man ein jährliches finanzielles
kologischer Praxis waren es etwa 80 Prozent – wenden sich     Selbstzahler-Volumen für die Gesamtheit aller CAM-Me-
deshalb wieder zurück zu alternativen, natürlichen Heil-      thoden von über 33 Milliarden Dollar. In Europa sind die
methoden, von denen sie sich Trost für die Seele, höhere      am häufigsten angewandten CAM-Methoden: Homöo-
Heilungschancen, Kontrolle der Symptome, Reduktion der        pathie, anthroposophische Medizin, TCM, Ayurveda, Zen-
toxischen Nebenwirkungen von Tumor und Therapie, akti-        Meditation, Phytotherapie und nicht näher beschriebene
ven Anteil an ihrer „Salutogenese“ erwarten, oder einfach     Naturheilmethoden.
aus dem Wunsch heraus, es möge ihnen wieder besser                 Um dem Wunsch meiner Patienten entgegen zu kom-
gehen mit Naturmitteln (siehe Abbildung1).                    men, selbst einen Beitrag zu leisten zu ihrem Heilungs-
     Die in den USA und Europa geläufige Bezeichnung          prozess, habe ich versucht, streng zu trennen zwischen
CAM = Complimentary and Alternative Medicine“ hat ei-         alternativen, teuren, ungeprüften und teils gefährlichen
nen weiten und sehr teuren Raum für diese alternativen        Scharlatanerien und Methoden der Integrativen/Komple-
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   PRÄZISIONSMEDIZIN – CHANCEN FÜR FORSCHUNG UND THERAPIE                                    :     VORTRAG 1

mentären Medizin, die beweisbar-hilfreiche und überprüf-                Definition der Patientenkompetenz
bare Methoden, wie Psycho-Onkologie, Feldenkrais-The-
                                                                        Patientenkompetenz ist die Fähigkeit, die Krebserkrankung,
rapie, Mal- und Musiktherapie, Qi-Gong, Tai-Qi und
                                                                        eine Behinderung, ein Trauma zu verwandeln
Sport- und Musik-Aktivitäten anboten, die den Patienten                 in eine Strategie des „individuellen Selbstschutzes“,
zurück zum Leben führen konnten. Mit diesen Aktivitäten                 in dem Versuch, den Schicksalsschlag zu meistern und
                                                                        ein normales Leben zu leben.
habe ich in Köln im Jahre 1999 begonnen, als mir die vielen
                                                                        Quelle: G. Nagel, Zürich
jungen unter der Chemo-/Radiotherapie leidenden Hodg-
kin-Lymphom-Patienten sagten: „Herr Doktor, Sie haben                   Abbildung 3: Gerd Nagel definiert Patientenkompetent als Strategie
                                                                        des „individuellen Selbstschutzes“.
mich von meinem Krebs geheilt, aber was haben Sie für
meine Seele getan?“
     Und als mir eine Patientin nach ihrer intensiven Che-              (Antonovsky) des Krebspatienten, und der Frage des „kom-
motherapie, mit kahlem Kopf, kaum, dass sie ihre ner-                   petenten Patienten“ beschäftigte und eine Stiftung grün-
vengeschädigten Finger wieder unter Kontrolle gebracht                  dete mit dem Namen „Patienten-Kompetenz“.2
hatte, ein Bild malte, ähnlich dem Schrei von Edvard                         Nach seiner Definition, angelehnt auch an Antonovsky,
Munch, und eine andere Patientin mit Brustkrebs nach sehr               ist „Patienten-Kompetenz“ die Fähigkeit, die Krebserkran-
toxischer Chemotherapie mir das Bild vorlegte mit dem                   kung, eine Behinderung, ein Trauma zu verwandeln in eine
Titel: „….meine Seele brennt“ (Abbildung 2), hatte ich                  Strategie des „individuellen Selbstschutzes“, in dem Ver-
begriffen: Evidenz-fundierte Krebstherapie – und sei sie                such, den Schicksalsschlag zu meistern und ein normales
noch so erfolgreich – reicht nicht aus, den psychischen und             Leben zu leben, im Sinne von Antonovskys Salutogenese:
spirituellen Bedürfnissen meiner Patienten zu genügen!1                 „…nicht die Umstände selbst bestimmen das Glück des
     Wir haben dann 1999 in Köln mit großer Beteiligung                 Menschen, sondern die Fähigkeit, die Umstände zu meis-
der Kölner Bürger und Patienten das Haus „LebensWert“                   tern“3 (siehe Abbildung 3).
gebaut und in diesem Haus begonnen, die unter den                            An dieser sensiblen Nahtstelle der Begegnung zwischen
schweren Therapienebenwirkungen leidenden Patienten                     Arzt und Patient wird der Gegensatz der objektiven Sicht-
wieder zurück zu führen zu einem selbstbestimmten Le-                   weise des Arztes, der die anamnestischen Bedingungen und
ben mit wiederhergestellter seelischer Gesundheit – soweit              die Pathogenese der Erkrankung erforscht und der kon-
das möglich war!                                                        trären Sichtweise des Patienten deutlich, der subjektiv die
     Geholfen hat mir in dieser Zeit der Kontakt zu meinem              Krankheit zu verstehen und Wege der Kraft zur Selbsthei-
Freund Gerd Nagel, Zürich, Gründer der Klinik für Tumor-                lung zu finden sucht. Und hier zitiere ich wieder den alten
biologie in Freiburg, der sich intensiv mit der Frage der               Naturopathen Theophrastus Bombastus Paracelsus, der
Salutogenese, der Rolle des „Selbstheilungsvermögens“                   ein besseres Verständnis zwischen Arzt und Patienten sah,
                                                                        wenn beide die unterschiedliche komplementäre Realität
                                                                        der Krankheit erkennen, wenn der externe, behandelnde
                                                                        Arzt zu dem Arzt im Patienten spricht!

                                                                        Eine gelungene Synthese zwischen evidenz-fundierter
                                                                        und integrativer Krebsmedizin

                                                                        Morbus Hodgkin wird zum Hodgkin-Lymphom: Was ist
                                                                        Hodgkin´s Disease: Infektion-Inflammation-maligner
                                                                        Tumor (Lymphom)
                                                                        Als 1832 Thomas Hodgkin in London in einem Chirurgi-
                                                                        schen Journal eine später nach seinem Namen benannte
Abbildung 2: Bilder von Patienten, die illustrieren, dass evidenzfun-
                                                                        Krankheit des jungen Erwachsenenalters mit Lymphkno-
dierte Krebstherapie ihren spirituellen Bedürfnissen nicht genügt.      tenschwellungen, großer Milz und in kurzer Zeit fatalem
FRANKFURTER FORUM             :   DISKURSE   9

Ausgang beschrieb, waren die Möglichkeiten einer heilsa-       um ein B-Zell-Lymphom handelt. Die HRS-Zellen sind ver-
men Therapie noch ein unerreichbares Ziel. Die Ursache         krüppelte B-Lymphozyten, die keinen B-Zell-Rezeptor tra-
der Erkrankung war obskur – war es eine Infektion, eine        gen und nicht imstande sind, Antikörper zu produzieren.
Inflammation oder ein bösartiger Tumor?                        Gleichzeitig wurde bekannt, dass etwa 50 Prozent der Hod-
     70 Jahre später beschrieben Dorothy Reed in Baltimore     gkin-Lymphome in ihren HRS-Zellen das Epstein Barr-Virus-
und Carl Sternberg in Wien im mikroskopischen Bild zum         genom tragen, also auch ätiologisch mit diesem Virus in
ersten Mal die pathognomonische Signalzelle der Hodgkin´-      Verbindung stehen (siehe Abbildung 4). Von 1994 an wurde
schen Erkrankung, die sogenannte, nach Ihnen benannte          diese Erkrankung parallel zu den Non-Hodgkin-Lymphomen
„Reed-Sternbergzelle“. Als Ursachen angesehen wurden           als „Hodgkin-Lymphom“ bezeichnet.4
Infektionen, hauptsächlich Tuberkulose und Syphilis.
     Als ich im Jahre 1968 in Stockholm (Schweden) im          Therapie des Hodgkin-Lymphoms: gestern und heute
Radiumhemmet, dem Strahlentherapie-Zentrum des Ka-
rolinska Sjukhuset, den ersten jungen „Hodgkin´s disea-        1832, zur Zeit des Thomas Hodgkin, waren die therapeu-
se“-Patienten begegnete, war uns damals 130 Jahre nach         tischen Möglichkeiten sehr bescheiden: Operation, Arsen,
Erstbeschreibung des Syndroms immer noch nicht klar, um        Naturheilkräuter und liebevolle Betreuung. Die meisten
was für eine Erkrankung es sich handelte: Infektion durch      jungen Patienten starben innerhalb der ersten zwei bis vier
ein unbekanntes Virus, Autoimmunerkrankung oder sogar          Jahre nach Diagnose. 1902 schrieb Dorothy Reed: „Die
ein maligner Tumor. Eines war uns aber klar: Es war eine       Krankheit ist schrecklich, man kann die Tumoren operieren,
tödliche Erkrankung, denn die jungen Patienten starben         aber sie wachsen wieder schneller als zuvor und die Pati-
in den fortgeschrittenen Stadien trotz unserer limitierten     enten sterben an Infektionen oder an Kachexie.“
systemischen Therapieversuche. Radiotherapie half nur in
den lokalisierten Stadien.                                     Strahlentherapie
     Das histologische Bild der entnommenen Lymphkno-
tenbiopsien zeigte ein heterogenes Bild mit einer Minorität    Erst in den 1950iger Jahren wurde es möglich, durch die
von Reed-Sternbergzellen, der „Hodgkin-Signalzelle“ (0,1       rasante Entwicklung der Ionisierenden Strahlen mit zu-
bis 1,0 Prozent), umgeben von reaktiven Zellen wie Lym-
phozyten, Makrophagen-Fibroblasten, Mastzellen. Somit
                                                               Hodgkin‘s Disease 1865  Hodgkin Lymphoma 1991
ein Zellbild, das sowohl einer Infektion, einer Inflammation
oder einem Lymphom zugeordnet werden konnte. Natur,            2019: A malignant Lymphoma with features of an innate
                                                               immunity driven tumor –
Ursprung und Klonalität der Hodgkin-Reed-Sternbergzelle        a chimera between Infection- Inflammation and Tumor
(HRS-Zelle) waren unbekannt. Erst 1978 in Hannover ge-
lang uns nach 427 Fehlversuchen die In-vitro-Züchtung der                                    Infection! EBV:             yes
                                                                                                           Tuberculosis: no
ersten Hodgkin-Reed-Sternberg-Zellkultur, der L428-Zell-
                                                                                                           Syphilis:     no
Linie, die als Basis für alle späteren molekular-genetischen
Studien zur Klärung der molekularen Pathogenese diente.
Außerdem wurde das CD30-Antigen, das Signalprotein
für die Immunhistologie der HRS-zelle und Target-Antigen
für die spätere Immunchemotherapie von der Gruppe von
Harald Stein auf dieser Zelllinie entdeckt.
                                                                      Tumor!                                 Inflammation!
                                                               Monoclonal B-cell-                         Active Innate Immunity-
1994: Hodgkin´s Disease wird zum Hodgkin-Lymphom                 Lymphoma                                   Microenvironment

1994 wurde durch Ralph Küppers und Martin Hansmann
in unserem Labor in Köln der Beweis durch Mikromani-            Quelle: Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Diehl

pulation der HRS-Zelle aus dem primären Lymphknoten            Abbildung 4: In den 90er Jahren wurde erkannt, dass 50 Prozent der
erbracht, dass es sich bei der Hodgkin´schen Erkrankung        Hodgkin-Lymphome ätiologisch mit dem Virus in Verbindung stehen.
1 0  
     PRÄZISIONSMEDIZIN – CHANCEN FÜR FORSCHUNG UND THERAPIE                     :   VORTRAG 1

nächst Röntgenstrahlen, dann Cobaltgeräten und später         Krebsmitteln führte in den USA und Europa zu der Entwick-
dem Linear-Accelerator (Mega-Voltage) lokalisierte Stadien    lung und Anwendung der wirksamsten Therapieprotokolle
der Hodgkin´schen Erkrankung zu behandeln und sogar           in der Behandlung der fortgeschrittenen Stadien des Hod-
zu heilen! Die späten, weit fortgeschrittenen Stadien III-    gkin Lymphoms: MOPP (deVita 1964), ABVD (Bonadonna
IV mit Organbefall blieben unheilbar, 80 Prozent der jun-     1974), BEACOPP (Diehl 1994).
gen Patienten starben weiterhin innerhalb kurzer Zeit nach         Der Weg zur Heilung des Hodgkin-Lymphoms ging
Diagnosestellung. Später, in den 1960iger bis 1980iger        über von der Radiotherapie zur Chemotherapie, von der
Jahren, wurde die Kombinations-Radio-Chemotherapie,           Monotherapie zur Kombinations-Therapie mit unterschied-
hauptsächlich in den frühen und mittleren Stadien der Er-     lich wirksamen Substanzen in Zyklen über mehrere Tage
krankung die Domäne der Behandlung.5                          gegeben, mit Therapieintervallen zur Restitution des Kno-
                                                              chenmarks. Therapieintensität und Therapiedensität des
Chemotherapie wird zur Domäne der Behandlung                  Schemas wurden angepasst an die entsprechende biolo-
                                                              gische Aggressivität des Tumors. Die Radiotherapie wurde
Während des Zweiten Weltkriegs erforschten die beiden         nur noch additiv gegeben auf restliche Tumoren, mit kleinen
amerikanischen Pharmakologen Louis Goodman und Alfred         Feldern, die auf das Rest-Tumor-Volumen reduziert waren
Gilman von der Yale Universität in den USA das Kampfmit-      und mit niedrigeren Dosen (20-30 GY) verabfolgt wurden.
tel Senfgas, das im Ersten Weltkrieg von den kaiserlichen
deutschen Truppen als Kampfgas mit dem Namen „Lost“           Die Geburt der randomisierten-prospektiven Studien
eingesetzt wurde.
     Die Wissenschaftler waren auf dessen erstaunliche Wir-   In den 1950iger Jahren entstand in Stanford in den USA
kung durch einen Unglücksfall auf einem amerikanischen        die wissenschaftliche Ehe eines eigenwilligen Radiothera-
Kriegsschiff im Mittelmeer zufällig aufmerksam gemacht        peuten (Henry Kaplan) mit einem ebenso selbstbewussten
worden, als bei einem Matrosen, der ausgeprägte Lym-          und intelligenten Chemotherapeuten (Saul Rosenberg).
phom-Knoten zeigte, durch den Kontakt mit dem Senf-           Diese Ehe gebar in nachweislich vielen dramatischen Aus-
gas sämtliche Lymphknoten Schwellungen verschwanden.          einandersetzungen die fruchtbare Erkenntnis und Idee,
Diese sensationelle Entdeckung war dann der Beginn einer      dass nur vergleichend randomisierte, prospektive Studien
intensiven Erforschung des Senfgases, die später zu der       glaubhafte, Evidenz fundierte Ergebnisse produzieren kön-
Entwicklung des Medikamentes Mustargen führte.                nen. Diese Idee war bahnbrechend und setzte sich global
      Dies war das erste Antikrebs-Zytostatikum, ein Wirk-    durch und führte in den USA und in Europa zu der Grün-
stoff, der durch alkylierende Veränderung der DNA der         dung der großen Hodgkin-Lymphom-Studien wie SWOG,
Krebszelle zu deren Untergang führt. In Deutschland ent-      EORTC, GHSG, LYSA und anderen.
wickelte in den 1950iger Jahren Norbert Brock das Cyclo-          Die Erfolge dieser Studienkonzepte führten zu dem
phosphamid, ein weniger toxisches Substrat mit gleichem       Durchbruch in den Heilungsraten von Hodgkin-Lympho-
Wirkmechanismus wie das Mustargen. Beide Wirkstoffe           men, sogar in den disseminierten Stadien, und stiegen von
wurden die Grundpfeiler der ersten wirksamen Zytosta-         anfänglich 40 Prozent auf 80 bis 90 Prozent mittels der
tika-Kombinationen im Kampf gegen die fortgeschritte-         Polychemo-Therapie-Kombinationen mit keiner oder nur
nen, aggressiven Hodgkin-Lymphome, in den USA das             geringer additiver Bestrahlung.
MOPP-Schema, in Deutschland das COPP-Schema.                      Als Beispiel sei hier nur die Deutsche Hodgkin Studien-
     In den 1950iger und 1960iger Jahren entwickelte sich     gruppe (GHSG) erwähnt, die 1978 von Carl Musshoff und
dann gleichsam ein pharmazeutischer Entwicklungssturm         Volker Diehl gegründet wurde. Der Anlass für die Gründung
von neuen Zytostatika mit unterschiedlichen Wirkmechanis-     der GHSG war der Auftrag des Bundesforschungsministeri-
men, synthetisch, semisynthetisch und von differenter Her-    ums, in Deutschland die klinische Forschung zu fördern mit
kunft von Pflanzen oder Fischen, mit variabler chemischer     dem Ziel, eine standardisierte und verbesserte Diagnostik
Konfiguration; Adriblastin, Procarbazin, Bleomycin, später    und Therapie für alle in Deutschland diagnostizierten Hod-
die Platin-Derivate, die Taxane und viele andere. Diese ra-   gkin-Lymphome zu ermöglichen. Zu diesem Zwecke entwi-
sante Entdeckung und Produktion von neuen chemischen          ckelten wir Dokumentationsbögen, Nachsorgestrategien,
FRANKFURTER FORUM              :   DISKURSE       11

Diagnostik- und Therapieprotokolle und luden alle Internis-       GHSG-Ergebnisse der Erstlinientherapie
ten, Radiotherapeuten, niedergelassenen Hämatologen und           von Hodgkin-Lymphom-Patienten
                                                                  GHSG-Ergebnisse                   mit
                                                                                  der Erstlinientherapie
praktische Ärzte ein, sich an diesen Studien zu beteiligen.       Chemo-Radiotherapie  in allen Stadien
                                                                  von Hodgkin-Lymphom-Patienten mit
     Klinische Studien waren in Deutschland unbekannt, es         Chemo-Radiotherapie in allen Stadien
                                                                                                                          PFS (%)   OS (%)
galt die „eminenzbasierte“ Therapiestrategie: Richtig war,        Risk Group Trial                                        at 5      at 5
                                                                                                                          years     years
was der Professor sagte. Die Abwehr gegen Randomisie-
                                                                  First line
rung nach dem Zufallsprinzip war unbekannt und wurde
                                                                   Early         HD10      2x ABVD          IF-Rx 20 Gy   91,6      96,6
von Ärzten und Patienten als „Teufelszeug“ abgelehnt.
                                                                   Inter-        HD14      2x BEACOPPesc    IF-Rx 30 Gy   95,4      97,2
     Im ersten Jahr rekrutierten wir drei Patienten in die Stu-    mediate                 + 2x ABVD
die, im nächsten Jahr 20 und allmählich wuchs die Zahl mit         Advanced      HD18      6x BEACOPPesc    PET+ residu- 92,2       96,2
den Jahren, nach geduldiger Überzeugungsarbeit und dem                                                      al disease

Wechsel der Gruppe von Hannover nach Köln. Im Jahre                Only about 10 % of newly diagnosed patients will relapse nowdays (in
                                                                               Germany) and then face a poorer prognosis.
2019 werden etwa 60 bis 80 Prozent aller in Deutschland
                                                                  Quelle: Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Diehl
diagnostizierten Hodgkin Lymphom-Patienten in die Stu-
                                                                  Quelle: Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Diehl
dien aufgenommen oder zumindest nach den aktuellen
Studien-Protokollen behandelt.                                    Abbildung 6: Die Heilungsraten mit Hilfe der vorhandenen Thera-
                                                                  piesäulen ermöglichen ein Progression Free Survival von bis zu 90
     Mehr als 20 000 Patienten – sowohl nach Erstlinienthe-       Prozent.
rapie, als auch nach Rezidivtherapie – sind in den Studi-
en-Computern dokumentiert mit allen verfügbaren Daten.
                                                                  Erfolge und Misserfolge
In sieben Studiengenerationen wurden 21 sukzessive Stu-
dienprotokolle mit primär diagnostizierten Hodgkin-Lym-           Die Heilungsraten mit den bisher zur Verfügung stehen-
phom-Patienten durchgeführt (siehe Abbildung 5). Über             den Therapiesäulen: Radiotherapie, Chemotherapie oder
250 Zentren beteiligen sich an den Studien in Deutschland,        die Kombination von beiden resultierte in ungeahnt ho-
Österreich, Schweiz, Holland und Skandinavien.6                   hen Raten an Tumorfreiheit (Progression Free Survival =
                                                                  PFS) von 90 Prozent und noch besseren Überlebensraten
                                                                  (Overall Survival = OS) von 98 Prozent, ein Ergebnis, das
German Hodgkin Study Group: Big Data                              bei Krebserkrankungen im Erwachsenenalter sonst nur bei
                                                                  Patienten mit Hodentumoren erreicht wird (Abbildung 6).
                      Yesterday 1978-2015                              Der Tribut, der gezahlt wird für diese enormen Erfolge,
          First line studies with chemo-radiotherapy              ist die durch die Intensität und Aggressivität der Poly-Che-
 Year              generation Name            Number of           motherapie resultierende Toxizität in Form von akuten und
                                               patients
                                                                  späten Nebenwirkungen in abnehmender Häufigkeit wie
1978-88 Hodgkin1st
German                 HD1-3 Big Data
                Study Group:                         506          Übelkeit, Erbrechen, Fatigue, Infektionen, Infertilität, Zweit-
 198894                   2nd             HD$-6      2035         neoplasien wie AML, MDS und Solide Tumoren und den
 1994-98                  3rd             HD7-9      2865         Spätfolgen mit Störungen der Organfunktionen von Herz,
                                                                  Niere und Lunge (siehe Abbildung 7).
 1998-02                  4th             HD10-12    3948
                                                                       Neben diesen somatischen toxischen Nebenwirkun-
 2003-08
Quelle:                     5th Diehl
        Prof. Dr. Dr. h.c. Volker         HD13-15    5171         gen der bisherigen Chemo-Radiotherapie werden den Pa-
 2008-17                  6th             HD16-18    4350         tienten enorme psychosoziale Belastungen auferlegt, ei-
 2016-19                  7th             HD21       1051         nerseits schon durch den Schock der Krebsdiagnose und
                                                                  nachfolgend durch die Therapielast mit seelisch-kognitiven
 Total                                              19926
                                                                  Einschränkungen wie Fatigue, Depressionen, verminderter
                                                                  geistiger Leistungsfähigkeit („chemo-brain“), Konzentrati-
Quelle: Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Diehl
                                                                  onsschwäche und Gedächtnisverlust.
Abbildung 5: Im Rahmen der Deutschen Hodgkin Studiengruppe             Bei diesen jungen Hodgkin-Lymphom-Patienten treten
wurden die Daten von rund 20 000 Patienten erfasst.               häufig soziale und finanzielle Belastungen, und vor allem
1 2  
     PRÄZISIONSMEDIZIN – CHANCEN FÜR FORSCHUNG UND THERAPIE                                                             :     VORTRAG 1

Spektrum der toxischen akuten und späten Nebenwirkungen der Chemo-Radiotherapie in Bezug auf
Morbidität und Letalität

                                       Vital organ dysfunction
                                              Kidney, liver, lung, heart                                               Cure rates are high,
                                                                                                                       however, the burden of
                 Long-term / ongoing

                                       Second malignancies                                                             treatment also is high
                                                                                                                       and may last for decades
                                             AML, NHL (within 5 years, ≈ 3 %)
                                             Solid tumors (after 15 years, incr.)

                                       Persisting fatigue &
                                       impaired QoL (25%)                                   Frequency
                                       Gonadal dysfunction
                                       (age & Tx dependent up to 80%)
                 Acute

                                       Treatment related
                                       morbidity and mortality                  ≈ 60% severe morbidity

 Quelle: Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Diehl

Abbildung 7: Die Aggressivität der Therapie resultiert in einer Vielzahl von akuten und langfristigen Nebenwirkungen.

sexuelle und Partnerschaftsprobleme auf. Mehr noch belas-                                   Die Zukunft
tet, vor allem die Patientinnen, die ungeklärte Frage nach
möglichem, oft sehnlichst herbeigewünschtem eigenem                                         Die Entdeckung und Beschreibung des CD30-Antigens auf
Nachwuchs. 80 bis 90 Prozent der jungen männlichen Pati-                                    den L428-in vitro H-RS-Zellen 1978 von der Kieler Gruppe
enten werden infertil unter der aggressiven Chemotherapie,                                  um Harald Stein und unserer Gruppe in Köln bedeutete
40 bis 50 Prozent der jungen Mädchen/Frauen.                                                einen Meilenstein. Das CD30-Antigen wurde zum Hodg-

Der Weg von der Chemo-Radiotherapie hin zur “gezielten-Chemotherapie" und der Immunotherapie
mit Checkpoint-Inhibitoren

                  Anti-CD30 antibody drug
                  conjugate Brentuximab vedotin

                                                                                                           PD-1 blockade

                                                                                                              IFNγ

                                                                                             IFNγR
                                                                                                     MHC                TCR
                                                                                                                                             PI3K
                                                                                                                                          NFκB
                                                                                    Tumor                                         Other
                                                                                     cell             PD-L1

                                                                                                                     PD-1       Shp-2     T cell
                                                                                                      PD-L2

                                                                                                                      PD-1

 Quelle: Brahmer et al N Engl. J Med 2012;366:2455; Topalian et al N Engl J Med 2012; 366:2443–54

Abbildung 8: Ein weiterer Schritt in der Entwicklung: Die den gesamten Organismus belastende Chemo-Radiotherapie ist durch die
Immun-Chemotherapie ersetzt worden. Die nächste Stufe ist die reine Immuntherapie.
FRANKFURTER FORUM                  :   DISKURSE         13

kin Lymphom Ziel-Antigen, das wegen seiner Selektivität         Referenzen:
                                                                1. Diehl Volker: The bridge between patient and doctor: The shift vom CAM to
geeignet war für die Möglichkeit zur Präzisionstherapie.           integrative medicine. Hematology Am Soc Hematol Educ Program.:320-5; (2009)
Unsere eigenen CD30-Antikörper töteten die HRS-Zellen           2. Annette Bopp, Delia Nagel, Gerd Nagel: „Was kann ich selbst für mich tun –
nicht, aber dienten als wertvolle Signal-Antikörper für die        Patientenkompetenz in der modernen Medizin“. Verlag Rüffer & Rub Zürich
                                                                   2005
Immunhistologie.7
                                                                3. Antonovsky A: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Deutsche
     Es dauerte 38 Jahre, bis ein sehr erfindungsreicher Che-      erweiterte Ausgabe von A. Franke. Tübingen: dgvt-Verlag 1997.

miker, Peter Senter in Seattle bei Seattle-Genetics, den        4. Thomas RK, Re D, Wolf J, Diehl V PART I: Hodgkin‘s Lymphoma - Molecular
                                                                   biology of Hodgekin and Reed Sternberg Cells.Lancet Oncol 2004; 5: 11-8.
Traum von Ehrlichs „Zauberkugel“, dem Magic Bullit, er-
                                                                5. Diehl V, Thomas RK, Re D: Hodgkin‘s Lymphoma - Diagnosis and treatment.
füllte, wobei Ehrlich damals forderte: „Wir müssen zielen          Lancet Oncol 2004; 5: 19-26.
lernen.“ Peter Senter zielte mit dem „Magic Bullit“, ei-        6. Evens AM, Hutchings M, Diehl V.: Treatment of Hodgkin Lymphoma: The past,
nem Antibody-Drug-Conjugate (ADC), dem Brentuximab                 present and future. Nat Clin Pract Oncol. Sep;5(9):543-56 (2008).

Vedotin, auf das CD30-Antigen der HRS-Zelle, wobei er           7. Eichenauer DA, Böll B, Diehl V: Pharmacotherapy of Hodgkin Lymphoma: Stan-
                                                                   dard approaches and future perspectives. Expert Opin Pharmacother.
über einen stabilen Linker das Vinca-Alcaloid Auristatin,          Jun;15(8):1139-51 (2015).

eine toxische „Bombe“, an den Antikörper hängte. Der
CD30-Antikörper dockt über den CD30-Rezeptor an die
HRS-Zelle an, im Zellinnern wird das Auristatin freigesetzt
und hemmt, an das Tubulin gebunden, die Zellteilung.
     Die Tumorzelle stirbt und mit ihr die von der HRS-Zelle
abhängigen „Bystander“-Zellen. Die klinischen Ergebnisse
der ersten Phase I-II-Studien waren sensationell, und zum
                                                                PROF. DR. H.C. VOLKER DIEHL
ersten Mal konnten rezidivierte, chemo-, radiotherapie-
resistente Hodgkin-Tumoren erfolgreich behandelt werden
und die Ergebnisse zu dauerhaften Remissionen führen.7
                                                                Prof. Dr. Volker Diehl, Jahrgang 1938,
Effektive, den Patienten und den gesamten Organismus
belastende Chemo-Radiotherapie wurde ersetzt durch Im-          1958 bis 1964 Studium der Medizin in
mun-Chemotherapie und führte bald zu der der nächsten           Marburg, Wien, Freiburg. 1966-1967
Stufe, der reinen Immuntherapie (siehe Abbildung 8).            Research Fellow am Childrens Hospital
     Hierbei wird es zum ersten Mal möglich, körpereigene       bei Werner Henle und Harald zur Hau-
Immunwaffen, die zytotoxischen spezifischen Killerzellen,
                                                                sen, Philadelphia, USA. 1968 Flying
T-Zellen, NK-Zellen und spezifische Makrophagen aus ihrem
                                                                Doctor Service in Ost-Afrika, Nairobi,
Dornröschenschlaf zu befreien und zu Präzisionswaffen zu
machen indem man die „Check-Point-Inhibitoren“ einsetzt         Kampala, Arbeit mit Denis Burkitt,
um intelligente Abwehrwälle (PD1-Liganden, PD1-Rezep-           Kampala. 1969 bis 1972 Radiumhem-
toren) außer Gefecht zu setzen.                                 met, Karolinska Sjukhuset Stockholm, Schweden, Ausbil-
     Ein Hoffnungsschimmer bedeutet diese weniger
                                                                dung in Radiotherapie, Medizinischer Onkologie. Ausbil-
toxische, zielgerichtete Präzisionsstrategie, die schon seit
                                                                dung Innere Medizin an der Medizinischen Hochschule
zwei Jahren in der GHSG in mehreren Studien angewandt
wird, indem für die Patienten spürbar geringer belastende,      Hannover, 1973 bis 1982. Gründung der Deutschen
aber gleich- oder stärker wirksame Immuntherapien zur           Hodgkin Studiengruppe (GHSG) im Jahr 1978. 1983 bis
Anwendung kommen. Probleme sind die Kosten der sehr             2004 Direktor der Klinik I Innere Medizin, Universität zu
teuren innovativen Therapien und die richtige prädiktive        Köln. 2005 bis 2007 Gründungsdirektor des Nationalen
Selektion der Patienten, die von dieser sehr selektiven Prä-
                                                                Centrums für Tumorerkrankungen (NCT-Heidelberg).
zisionstherapie am meisten profitieren würden.
                                                                2019 Arbeit am Kilimanjaro Chrisitian Medical Center
                                                                (KCMC) in Moshi /Tansania. Doctores honoris causa
E-Mail-Kontakt: volker-diehl@gmx.de                             2002 Athen, 2005 Heidelberg, 2016 Prag.
1 4  
     PRÄZISIONSMEDIZIN – CHANCEN FÜR FORSCHUNG UND THERAPIE                 :   VORTRAG 2

Präzisionsmedizin – Chancen für Forschung und Therapie
Individualisierte Diagnostik und Therapie
in der Onkologie
PROF. DR. BERNHARD WÖRMANN, DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR HÄMATOLOGIE UND MEDIZINISCHE ONKOLOGIE,
CHARITÉ UNIVERSITÄTSMEDIZIN BERLIN, KLINIK FÜR HÄMATOLOGIE, ONKOLOGIE UND TUMORIMMUNOLOGIE

I
     n der Onkologie findet derzeit ein schneller        Einleitung
     und durchgreifender Fortschritt statt, der in der
                                                         Die Therapie von Krebspatienten, insbesondere die systemi-
     Geschichte der Medizin ohne Parallele ist. Die
                                                         sche Tumortherapie, erlebt derzeit einen bisher einmaligen
molekulare Diagnostik hat große, durch Organbezug
                                                         Innovationsschub. Seit 2011 wurden mehr als 100 Arznei-
und Histologie definierte Krankheitsentitäten wie das    mittel neu oder in neuen Indikationen für die EU zugelassen.
Lungenkarzinom in biologisch und klinisch distinkte      Basis der meisten Zulassungen sind Fortschritte der Grund-
Krankheitsbilder parzelliert. Die Entdeckung krank-      lagenforschung, vor allem in der Identifikation relevanter
heitsrelevanter, genetischer Aberrationen kann als       genetischer Veränderungen in den Tumorzellen, aber auch
                                                         in der Interaktion der Tumorzellen mit ihrer Umgebung, z. B.
weitgehend abgeschlossen angesehen werden. Jetzt
                                                         mit dem Immunsystem. Die Möglichkeiten für eine gezielte
findet die Phase der Translation in die Versorgung
                                                         Therapie sind vielfältig, auf pharmakologischer Ebene werden
statt, sowohl in der Diagnostik als auch in der The-     besonders kleine Moleküle (…-nib) und monoklonale Anti-
rapie. Sie wird mit Überschriften wie „Personalisierte   körper (… mab) eingesetzt. Die Verteilung der antineoplas-
Medizin“, „Präzisionsonkologie“ oder „Individuali-       tisch wirksamen Arzneimittel ist in Abbildung 1 dargestellt.
sierte Therapie“ beschrieben. Hier stehen wir erst am         Das Konzept einer gezielten, an der Tumorzellbiologie
                                                         orientierten Behandlung ist nicht neu. Vorläufer waren die
Anfang und lernen fast täglich dazu. Neue Arznei-
                                                         endokrine Therapie mit Tamoxifen beim Mammakarzinom6
mittel und Arzneimittelkombinationen werden in die
                                                         oder die am Zellzyklus orientierte Kombinationstherapie mit
bestehenden Therapiealgorithmen integriert, andere       den sog. Zytostatika, z. B. bei den malignen Lymphomen4
werden herausgenommen – parallel dazu ändert sich        oder der akuten lymphatischen Leukämie.
die zielgerichtete Diagnostik. Angesichts der Fülle an        Entscheidend für die Entwicklung wirksamer Arzneimit-
                                                         tel auf der Basis molekularer Aberrationen war die Identifi-
Daten ist eine Verständigung über die Regeln wichtig:
                                                         kation sog. Treiberalterationen. Damit werden genetische
Was ist wirksam – was ist nützlich – was ist für den
                                                         Veränderungen bezeichnet, die entscheidend für die Ent-
individuellen Patienten sinnvoll?                        stehung und/oder die Ausbreitung der jeweiligen malignen
                                                         Erkrankung sind. Einige dieser molekularen Aberrationen
                                                         sind pathognomisch für die jeweilige Erkrankung, z. B. die
                                                         Translokation BCR/ABL bei der chronischen myeloischen Leu-
                                                         kämie (CML)12, 15. Die erfolgreiche Therapie der CML mit dem
                                                         kleinen, gezielten Inhibitormolekül Imatinib war der Türöffner
                                                         für die sogenannte Targeted Therapy.
FRANKFURTER FORUM             :    DISKURSE       15

Zahl und Verteilung antineoplastisch wirksamer Arzneimittel (Stand 10/2019)

     70

     60

     50

     40

     30

     20

     10

      0
                  Zytostatika           antihormonelle             Antikörper             gezielte, kleine                andere
                                            Therapie                                         Moleküle
Quelle: Prof. Dr. Wörmann

Abbildung 1: Die Möglichkeiten für eine gezielte Therapie sind vielfältig. Auf pharmakologischer Ebene werden besonders kleine Moleküle
und monoklonale Antikörper eingesetzt.

    Fast parallel dazu fand die Entwicklung monoklonaler                mehr im Sinne einer Begrenzung auf Tumorentitäten im
Antikörper für die Krebstherapie statt. Ihr Ziel sind Struk-            traditionellen Sinne, d. h. definiert durch Organbezug
turen auf der Oberfläche von Tumorzellen. Türöffner war                 und Histologie.
hier der Anti-CD20-Antikörper Rituximab bei Patienten mit
B-Non-Hodgkin Lymphomen11. Kurz danach folgte der An-                   Kleine gezielte Moleküle
ti-HER2-Antikörper Trastuzumab beim Mammakarzinom2.                     Der Durchbruch für den Einsatz gezielter Therapie mit
    Sowohl für den Einsatz der kleinen, gezielten Mole-                 kleinen Molekülen bei den soliden Tumoren wurde durch
küle als auch der monoklonalen Antikörper wurde schnell                 Vemurafenib bei Patienten mit Melanom und Nachweis ei-
deutlich, dass die Therapie zwar gezielt ist, aber nicht                ner BRAFV600 Mutation erzielt1. Diese Mutation ist nicht
1 6  
      PRÄZISIONSMEDIZIN – CHANCEN FÜR FORSCHUNG UND THERAPIE                                                      :   VORTRAG 2

Melanom-spezifisch, sondern kann bei sehr unterschiedli-                               zug definierten Indikation7. Von der FDA war Laroctretinib
chen Malignomen auftreten. Die Wirksamkeit von BRAF-In-                                bereits im November 2018 zugelassen worden.
hibitoren variiert dabei stark. Die Ansprechraten reichen                                  Viele der kleinen Moleküle wurden zuerst gezielt für
von >90 Prozent bei der Haarzellleukämie über 50 Prozent2                              bestimmte genetische Aberrationen entwickelt, hemmen
beim Melanom bis zu
FRANKFURTER FORUM          :   DISKURSE    17

überexprimiert, Anti-HER2-Antikörper sind wirksam und             weitere Vorgehen hat, in Übereinstimmung mit aktuellen
werden in Leitlinien empfohlen9, 14. Rituximab ist formal nur     Leitlinien.
für Patienten mit follikulärem Lymphom und mit chroni-            • Die Durchführung der molekularbiologischen Analy-
scher lymphatischer Leukämie (B-CLL) zugelassen, wirksam          sen muss in die weiteren Schritte der Diagnostik nach
ist es aber fast allen Neoplasien der B-Zellreihe, i. e. diffus   der histologischen und zytologischen Untersuchung in-
großzelliges Lymphom, Mantelzell-Lymphom, Marginalzo-             tegriert sein. Maßnahmen der Qualitätssicherung sind
nen-Lymphom, B-Linien-ALL u. a.                                   Ringversuche und Akkreditierung.
     Die Organ-überschreitende Wirksamkeit ist besonders          • Daten müssen geschützt sein und in anonymisierter
beim Einsatz monoklonaler Antikörper in der neueren Sub-          oder pseudonymisierter Form für Grundlagen- und Ver-
stanzklasse der Immuncheckpoint-Inhibitoren deutlich.             sorgungsforschung zur Verfügung stehen.
Sowohl Nivolumab als auch Pembrolizumab haben in der
EU bereits die Zulassung in sechs Tumorentitäten. Darü-           Integriert
ber hinaus hat Pembrolizumab in den USA seit Mai 2017             In dem Positionspapier wurde ein Algorithmus zu Indikati-
auch eine tumoragnostische Zulassung für Patienten mit            on und Ablauf einer integrierten, molekularpathologischen
Nachweis einer hohen Mikrosatelliten-Instabilität bzw. De-        Diagnostik dargestellt, siehe Abbildung 317.
fekten in der Mismatch-Reparatur, unabhängig von der                  Basis der Empfehlungen in den Leitlinien wissenschaftli-
Lokalisation des Primärtumors und der Histologie16. In der        cher medizinischer Fachgesellschaften für die Durchführung
Europäischen Union ist Pembrolizumab in dieser Indikation         molekularbiologischer Tests sind in der Regel prospektiv
bisher nicht zugelassen.                                          geplante, vergleichende Interventionsstudien mit patien-
     Die Vielfalt der neuen diagnostischen und therapeuti-        tenrelevanten Endpunkten. Diese müssen auch das Risiko
schen Möglichkeiten weckt viele Hoffnungen, wirkt manch-          der Überdiagnostik bei Patienten mit nur gering erhöhtem
mal sogar unüberschaubar. Zur Orientierung müssen wir             Erkrankungsrisiko und Kosten-Nutzen-Analysen bzw. die
lernbereit sein, brauchen aber keine neuen Regeln.                Wirtschaftlichkeit der nachfolgenden Verordnung berück-
                                                                  sichtigen. Formale Basis der Empfehlungen für die Durch-
Diagnostik                                                        führung molekularbiologischer Tests in Deutschland sind
                                                                  die Vorgaben des Gendiagnostik-Gesetzes in der aktuellen
Die molekulargenetischen Untersuchungstechniken ha-               Fassung vom November 20163.
ben sich in den letzten Jahren rasant entwickelt von
konventionellen Polymerasekettenreaktionen (PCR) oder             Qualitätsgesichert
Fluoreszenz-In-Situ-Hybridisierung zum Next Generati-             Heute steht zur Analyse genetischer Aberrationen häu-
on Sequencing (NGS) mit Analyse des gesamten Exoms                fig mehr als eine geeignete Methode zur Verfügung. Die
(Whole-Exome, WES), des gesamten Genoms (WGS) und                 Auswahl der Methode zur Durchführung der jeweiligen
des Transkriptoms (RNA-seq). Neun wissenschaftliche me-           Analyse, z. B. Einzel-PCR, FISH, Panel-Sequenzierung, Ex-
dizinische Fachgesellschaften haben unter Federführung            pressionsanalyse, o. a. obliegt dem verantwortlichen La-
der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizi-            bor. Bisher hat die European Medicines Agency (EMA) für
nische Onkologie (DGHO) und der Deutschen Gesellschaft            die EU über 30 Medikamente aus der Substanzklasse der
für Pathologie (DGP) Anfang 2019 ein Positionspapier              Tyrosinkinase-Inhibitoren für die Therapie von malignen
„Qualitätsgesicherte Molekulardiagnostik in der Onko-             Erkrankungen zugelassen, davon ein Drittel unter der Vo-
logie: zielgerichtet – qualitätsgesichert – integriert“ ver-      raussetzung des Nachweises einer definierten, genetischen
öffentlicht17. Kernaussagen sind:                                 Aberration. Anders als die U. S. Food and Drug Administ-
• Die Indikation zur Anforderung von Molekulardiagnos-            ration (FDA) nennt die EMA in der Arzneimitteilzulassung
tik ist zielgerichtet. Ziele sind Maßnahmen zur Präventi-         die nachzuweisende genetische Aberration, legt aber in der
on, zum Screening, zur Diagnosesicherung und/oder zur             Regel keinen Hersteller-bezogenen Test fest, sondern for-
Therapie.                                                         dert ein validiertes Nachweisverfahren. Ein Test muss nicht
• Molekulardiagnostische Verfahren in der Therapie                immer positiv prädiktiv für den Einsatz eines Arzneimittels
sind indiziert, wenn das Ergebnis einen Einfluss auf das          sein: Ein umgekehrtes Beispiel ist das Nicht-Ansprechen
1 8  
     PRÄZISIONSMEDIZIN – CHANCEN FÜR FORSCHUNG UND THERAPIE                            :   VORTRAG 2

auf eine Therapie mit Anti-EGFR-Antikörpern bei Patienten        Durchführung von Molekulardiagnostik
mit metastasiertem kolorektalem Karzinom bei Nachweis            in der Onkologie
von bestimmten KRAS- oder NRAS-Mutationen. Diese An-
                                                                            Identifizierung des Patienten / der Patientin
tikörper sind nur indiziert bei Patienten, deren Tumor keine
KRAS- oder NRAS-Mutation ausweist.
    Entscheidend aus klinischer Sicht ist das zeitgerechte Er-                      Ziel - orientierte Anforderung
reichen eines validen Ergebnisses in der jeweiligen Testung,
unabhängig von der Methode. Erforderliche Voraussetzung                        Festlegung des geeigneten Gewebes:
im verantwortlichen Labor sind die regelmäßige Durchfüh-                                    unfixiert
rung der spezifischen, molekulardiagnostischen Analysen,                                         oder
                                                                            Formalin
                                                                                  - fixiert, Paraffin-eingebettet (FFPE)
die externe Validierung der Analysequalität durch Teilnahme
an Qualitätskontrollen in Form von Ringversuchen und eine            ggf.   Kommunikation über Gewebegewinnung
Akkreditierung bzw. Zertifizierung der Labore17.

Kontinuierlich angepasst an den Stand des Wissens                            Morphologische Validierung und Auswahl
                                                                                     (Gewebeareal, Methodik)
Im Vordergrund der wissenschaftlichen, auch der medialen
Diskussion standen in den letzten Jahren neue Zielmoleküle
und neuen Arzneimittel. Relevante neue Treiberalterationen                      Technische Gewebebearbeitung
werden voraussichtlich nicht mehr oder kaum noch identifi-                   (Schneiden, Mikrodissektion, Extraktion)
ziert. Dafür häufen sich Beobachtungen, nach denen sog. ge-
zielte Arzneimittel auch unabhängig von den primär beschrie-                          Molekulare Diagnostik
benen, prädiktiven Markern wirksam sind. Beispiele sind:                            (Analytik und Auswertung)
• Der JAK2-Inhibitor Ruxolitinib bei myeloproliferativen
Neoplasien ohne JAK2-Mutationen,                                                    Integrale Befunderstellung
• PARP-Inhibitoren beim Ovarialkarzinom ohne BRCA1/2
Mutationen,
• CDK4/6 Inhibitoren beim Mammakarzinom ohne Cyc-                                          Befundauswertung
lin-D1-Amplifikation ,
• Der PD-L1 Antikörper Atezolizumab beim nichtkleinzel-                         Interdisziplinäre Befunddiskussion
ligen Lungenkarzinom ohne erhöhte Mutationslast (tumor                               (molekulares Tumorboard)
mutational burden, TMB),
• …                                                                         Kommunikation und Entscheidungsfindung
Die zu rigorose Fixierung auf eine molekularbiologische Tes-                            mit dem Patienten
tung – „der Patient hat ein Recht auf Testung“ – beinhaltet
das Risiko des Ausschlusses von Patienten, die ebenfalls auf       Legende         behandelnder Arzt           Diagnostiker

die Therapie ansprechen können. Die oben beschriebene
Forderung nach Integration der molekularbiologischen Di-         Quelle: Prof. Dr. Wörmann
agnostik in die Patientenbetreuung kann sicherstellen, dass
Erkenntnisse über die Wertigkeit von Tests auf der Basis von     Abbildung 3: Algorithmus zu Indikation und Ablauf einer integrier-
                                                                 ten, molekularpathologischen Diagnostik, wie sie neun Fachgesell-
Therapieergebnissen rasch in die diagnostische Versorgung        schaften in einem Positionspapier konsentiert haben.
übertragen werden.

Therapie
                                                                 boards) diskutiert und als Empfehlung an den Patienten
Onkologische Therapie ist häufig multimodal. Therapiekon-        formuliert. Die folgenden Anmerkungen fokussieren auf
zepte werden im Rahmen von Tumorkonferenzen (Tumor-              die systemische Tumortherapie.
FRANKFURTER FORUM            :   DISKURSE   19

Zugelassen                                                                     Scale for Clinical Actionability of molecular Targets (ESCAT)
Seit 2011 wurden mehr als 100 Arzneimittel neu oder in                         für die Bewertung genomischer Alterationen in Bezug als
neuen Indikationen für die EU zugelassen. Abbildung 2                          Eignung für eine gezielte Therapie erstellt10. Sie unterscheidet
gibt einen Überblick über die Indikationen, gleichzeitig                       die genomischen Ziele in diesen Untergruppen:
auch über die Bindung an spezifische Testverfahren. Die
Darstellung zeigt, dass es zwar zahlreiche prädiktive Tests                    Ebene I
                                                                                   geeignet für die Implementierung in die Routi-
gibt, die Mehrzahl der Arzneimittel aber ohne Nachweis                             neversorgung
spezifischer und prädiktiver Marker eingesetzt werden.                           		 A randomisierte klinische Studie(n) mit patien-
                                                                                       tenrelevanter Verlängerung der Gesamtüber-
Wirksam                                                                                lebenszeit
Viele neue Arzneimittel haben eine Wirksamkeit über die                          		 B prospektive, nicht-randomisierte Studie(n) mit
zugelassenen Indikationen hinaus, sind dafür aber nicht zu-                            Nachweis eines patientenrelevanten Nutzens
gelassen. Für den Patienten (und auch für die behandelnden                       		 C prospektive, nicht-randomisierte Studie(n) in
Ärzte) bedeuten diese Arzneimittel Hoffnung, für das solida-                           unterschiedlichen Tumoren (Basket-Studie)
risch finanzierte Gesundheitssystem sind eine Belastung. Die                           mit Nachweis eines patientenrelevanten Nut-
European Society for Medical Society (ESMO) hat die ESMO                               zens in verschiedenen Tumorentitäten

Patientenrelevante Endpunkte in der Onkologie

                                                                                                         Ist Verlängerung der
                                                                                   ÜLZ (OS)             Überlebenszeit das Ziel?

                                                                                                       PFÜ (PFS)

                                                                   KFÜ (DFS)

                                                  Ansprech -
                                                     rate
                                      Diagnose

                                                                                                                     2. Rezidiv
                                                                                      1. Rezidiv

                                                                                                                wirkt es?
                                                                                                    Symptom-
                                                 Stehen die Nebenwirkungen                          Linderung
                                                  im akzeptablen Verhältnis
                                                        zum Gewinn?
                                                                                                   Verhinderung
                                                                                                     Verhinderung
                                                                                                                von
                                                                                                                  von
                                                                                                                    Symptomen
                                                                                                                      Symptomen
                                                                               Nebenwirkungen

                                                   Lebensqualität / Patient Reported Outcome

KFÜ = Krankheitsfreies Überleben (engl. Disease free survival)
ÜLZ = Überlebenszeit (engl. Overall survival)
PFÜ = Progressionsfreies Überleben (engl. Progression free survival)
Quelle: Prof. Dr. Wörmann

Abbildung 4: In der frühen Nutzenbewertung wird fast nur das Gesamtüberleben, bei den Zulassungsbehörden auch das progressionsfreie
Überleben akzeptiert. Allerdings gibt es noch weitere Dimensionen patientenrelevanter Endpunkte.
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