Präzisionsmedizin - Chancen für Forschung und Therapie - FRANKFURTER FORUM : DISKURSE
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FRANKFU RTER FORUM : DISKURSE Heft 21 April 2020 ISSN 2190-7366 Präzisionsmedizin – Chancen FRANKFURTER FORUM für gesellschafts- für Forschung und Therapie und gesundheitspolitische Grundsatzfragen e.V.
Diskurs-Hefte des Frankfurter Forums – ein Rückblick Heft 1: Medizinischer Fortschritt in einer alternden Gesellschaft Heft 2: Versorgungskonzepte für eine alternde Gesellschaft Heft 3: Priorisierung, Rationierung – begriffliche Abgrenzung Heft 4: Priorisierung, Rationierung – Lösungsansätze Heft 5: Versorgung in einer alternden Gesellschaft Heft 6: Chancen und Risiken individualisierter Medizin Heft 7: Individualisierte Medizin – die Grenzen des Machbaren Heft 8: Psychische Erkrankungen – Mythen und Fakten Heft 9: Psychische Erkrankungen – Konzepte und Lösungen Heft 10: Menschen in ihrer letzten Lebensphase – selbstbestimmt leben, in Würde sterben Heft 11: Sterbehilfe – Streit um eine gesetzliche Neuregelung Heft 12: Sozialstaatsgebot und Wettbewerbsorientierung Heft 13: Preis- und Qualitätsorientierung im Gesundheitssystem Heft 14: Lebensqualitäts-Konzepte: Chancen und Grenzen Heft 15: Lebensqualität und Versorgung: Messen, wägen, entscheiden Heft 16: Digitales Gesundheitswesen: Chancen, Nutzen, Risiken Heft 17: Digitales Gesundheitswesen: Konzepte und Praxisbeispiele Heft 18: Demenz und Depressionen – was kommt auf uns zu? Heft 19: Demenz – neue Ansätze in Forschung, Diagnose und Therapie Heft 20: Perspektiven der Präzisionsmedizin Alle Diskurs-Hefte sind online abrufbar unter: http://frankfurterforum-diskurse.de
Ziele Heft 21 April 2020 Das Frankfurter Forum für gesellschafts- und gesundheitspolitische Grundsatzfragen will ISSN 2190-7366 zentrale Fragen in der Gesellschafts- und Gesundheitspolitik mit führenden Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft diskutieren und versuchen, darauf Antworten zu geben. Die unterschiedlichen ethischen, medizinischen, ökonomischen, politischen und rechtlichen FRANKFURTER FORUM Standpunkte sollen transparent und publik gemacht werden. Anregungen und Handlungs- für gesellschafts- empfehlungen sollen an die Entscheider in Politik und Gesundheitssystem weitergegeben und gesundheitspolitische werden, um so an dessen Weiterentwicklung mitwirken zu können. Grundsatzfragen e.V. Inhalt Präzisionsmedizin – neue Perspektiven für Forschung, Diagnostik 4 und Therapie? Präzisionsmedizin – Chancen für Forschung und Therapie VOLKER DIEHL Eine neue Ära für Arzt und Patient am Beispiel des 6 Hodgkin Lymphoms BERNHARD WÖRMANN Individualisierte Diagnostik und Therapie in der Onkologie 14 CHRISTOPH VON K ALLE, GEORG R ALLE, FLORIAN MARTIUS Vision Zero – oder: Jeder Krebstote ist einer zu viel 22 IRIS WATERMANN, MARTIN RECK Personalisierte Therapie des Lungenkarzinoms – 30 Wo stehen wir? Wo müssen wir hin? R ACHEL WÜRSTLEIN, NADIA HARBECK Individualisierte Diagnostik und Therapie des 40 Mammakarzinoms: Hoffnung oder Realität? STEPHAN SCHMITZ Wie soll die Translation in der Hämatologie und 50 Onkologie organisiert werden? Der pharmakologische Fortschritt erfordert eine stärker 56 wissensgenerierende Medizin
4 PRÄZISIONSMEDIZIN – CHANCEN FÜR FORSCHUNG UND THERAPIE : EDITORIAL Präzisionsmedizin – neue Perspektiven für Forschung, Diagnostik und Therapie? D R . R EG I N A K L A KOW- FR A N C K , PRO F. D R . H .C H E R B E R T R E BSC H E R , PRO F. D R . VO L K E R U L R I C H W er träumt nicht davon: eine Therapie, indivi- tine, in Zukunft vielleicht auch bei komplexeren Prozessen duell zugeschnitten auf den einzelnen Pati- durch eine Vorbefundung wichtige therapieunterstützen- enten, frühzeitig diagnostiziert durch gezielt de und arztentlastende Funktionen übernehmen. eingesetzte Marker und für die so unterscheidbaren Subpopulationen speziell aufbereitete Therapeutika? Und Es ist nur zu verständlich, dass in einem solchen Szenario das ohne Zeitverzug, verglichen und hergeleitet aus der die Fantasie der Beteiligten blüht. Investoren, Start-ups, Analyse von Hunderttausenden, ja Millionen vergleichba- ambitionierte Wissenschaftler wollen teilhaben an die- ren diagnostischen und therapeutischen Informationen? sem faszinierenden Weg. Gigantische Summen werden weltweit in entsprechende Entwicklungen investiert. Die Die Medizin ist auf diesem Weg, noch als Suchende, aber großen Datenkraken der Plattformökonomie (Google, immer öfter auch mit beeindruckenden Ergebnissen. Facebook etc.) treiben die Akteure der verfassten Gesund- Dieser Weg ist keinesfalls neu, er ist das Grundprinzip des heitssysteme in Wissenschaft und Versorgungspraxis vor differenzialdiagnostischen Fortschritts. Er ist die Fortset- sich her. Daten sind das Gold der digitalen Welt. zung des alten gültigen und weitergeltenden Paradigmas der Medizin mit anderen modernen Mitteln. Alt, weil seit Das birgt Gefahren: Der Ruf nach Evidenz, der Nachweis jeher jeder Arzt, mit welchen gerade verfügbaren Instru- der Wirksamkeit, der Nachweis medizinisch seriöser Ana- menten auch immer, seinen individuellen Patienten und lyse und Befundung im Vergleich zu „Best Practice“, der dessen Krankheit immer besser verstehen und so gezielt Nachweis einer positiven Nutzen-/Schadenrelation mag wie möglich therapieren will. bisweilen schon als eine Art „Spielverderber“ erschei- nen. Und doch: ohne Evidenz, belegt in guten Studien, Neu sind die für ihn verfügbaren Instrumente: Die Digitali- werden auch stabile Korrelationen aus hunderttausenden sierung der Prozesse generiert Millionen von Datensätzen, Datensätzen nicht zwingend die notwendige Kausalität die Rechenkapazitäten und -geschwindigkeiten sind keine belegen. Da ist schon die Mathematik vor. Aber vielleicht limitierenden Faktoren mehr, sie machen Analysen mög- werden neben den spannenden Fragen aus den gefunde- lich und können diese Raum und Zeit überwindend online nen Korrelationen nicht nur neue gute und erkenntnisver- im Behandlungsprozess verfügbar machen. Medizinisch bessernde Studien generiert, vielleicht wird die Ökonomie seriös entwickelte Algorithmen können zunächst die Rou- der Studien dadurch erheblich unterstützt.
FR ANKFURTER FORUM : DISKURSE 5 Was ist also zu tun? Wir brauchen eine Kultur, die dem schen Fragen der Präzisionsmedizin. Die Beiträge zeichnen Neuen gegenüber aufgeschlossen ist, ihm aber nicht be- die Chancen und Grenzen in der Onkologie, von den dingungslos folgt. Wir brauchen eine Kultur der wissens- ersten Forschungsansätzen immer präziserer Unterschei- basierten (evidenzbasierten) Versorgung, die selbst neues dungen in organbezogener Diagnostik und Therapie über Wissen generiert und verfügbar macht, eine Kultur, die Fragen der systematischen Translation von Forschungser- Erfahrungen sammelt, diese kritisch reflektiert, Chancen gebnissen in die Versorgung bis hin zu aktuellen Entwick- und Limitationen transparent macht und dieses Wissen lungen in unterschiedlichen onkologischen Entitäten. offen teilt und einen produktiven Diskurs ermöglicht. Die Beiträge eint der analytische Umgang mit Chancen Die noch kurze Geschichte der Big Data-Analytik zeigt und Grenzen, beides bedarf des wissenschaftlich korrek- enorme Fortschritte und Chancen für Prädiktion, Di- ten Nachweises. Gerade weil die Digitalisierung, Big Data agnostik und Therapie, sie zeigt aber auch Gefahren, und die Entwicklung von Algorithmen bei der Analyse Manipulationspotential und Limitationen. Es zeugt von und der vorläufigen arztunterstützenden Befundung stabilem Selbstbewusstsein der Medizin und schafft wohl große Chancen eröffnen und Potentiale bieten, ist das auch neues Vertrauen, wenn es gelingt damit, offen um- Zeitalter der Evidenz noch lange nicht vorbei. Im Gegen- zugehen. Weder wird „der Krebs besiegt“, noch werden teil: Wir stehen vielleicht gerade erst am Anfang. die Daten zwangsläufig missbraucht. Entmystifizierung und Entskandalisierung ist das Ziel und das Gebot, das Neue Instrumente, alte Werte: ein schönes Programm für durch eine so gelebte Kultur der „wissensgenerierenden das Ziel einer „wissensbasierten und wissensgenerieren- Versorgung“ angestrebt und erreicht werden kann. den Versorgung“ individueller Patienten. Lassen Sie sich auf diese faszinierende Reise entführen, nichts anderes ist Die vorliegenden Beiträge der Herbsttagung des Frank- unter Präzisionsmedizin zu verstehen. furter Forums fühlen sich diesem Ziel verpflichtet. Sie schließen an die Frühjahrstagung an, die unter dem Titel Kontakt: „Perspektiven der Präzisionsmedizin“ als Heft 20 der Dietmar Preding | Geschäftsstelle Frankfurter Forum e.V. | Mozartstraße 5 | 63452 Hanau | Schriftenreihe erschienen ist. Schwerpunkte waren dort E-Mail: dp-healthcarerelations@online.de die rechtlichen, regulatorischen, ethischen und ökonomi- http://frankfurterforum-diskurse.de
6 PRÄZISIONSMEDIZIN – CHANCEN FÜR FORSCHUNG UND THERAPIE : VORTRAG 1 Präzisionsmedizin – für Forschung und Therapie? Eine neue Ära für Arzt und Patient am Beispiel des Hodgkin Lymphoms PROF. DR. MED. DR. H.C. VOLKER DIEHL, BERLIN/KÖLN A us den Wurzeln der mittelalterlichen Natur- Wurzeln der Integrativen und Krebsmedizin medizin und Einflüssen der Traditionellen Es begann mit Asklepios, dem griechischen Vater der Ärz- Chinesischen Medizin entwickelte sich te, dessen Philosophie eine natürliche Lebensweise und ein die von der Naturmedizin losgelöste Apparate- und gesunder, positiver Geist war. Seine Medizin waren Pflanzen Biotechnologie-Medizin, die das morphogenetische und andere Naturprodukte. Abbild der Krankheit, aber oft nicht den Patienten Im Mittelalter galt das Prinzip: „Medicus curat, natura im Fokus hat. Viele Patienten wenden sich daher der sanat“ und Ärzte waren Heiler, galten gleichermaßen aber „Complementären-Alternativen-Medizin“ (CAM) zu. auch als Priester. Die Kirche hatte eine wesentliche Rolle in der Krankenpflege und Gesundheitsfürsorge übernom- Am Beispiel des Hodgkin Lymphoms wird aufgezeigt, men: Hildegard von Bingen war Vorreiterin einer präventi- wie evidenzbasierte moderne Medizin sinnvoll ver- ven und heilenden Naturmedizin, die versuchte, die Kraft knüpft werden kann mit integrativer Medizin. der Natur und der Musik zu nutzen und die Einheit von Radio-Chemotherapie-Strategien haben in den letzten Leib, Seele und Geist und ihre Störungen als Ursache von Jahren sehr hohe Heilungsraten bei Hodgkin-Patienten Krankheit zu ergründen. erreicht. Gravierende akute und chronische toxische Wesentlichen Einfluss auf die moderne Krebsmedizin hatte auch seit Jahrhunderten die Traditionelle Chinesische Nebenwirkungen dieser Strategien erfordern neue Medizin (TCM), deren Leitsatz für Gesundheit bedeutete Konzepte der Behandlung. Gezielte Chemotherapie die Harmonie des Individuums mit seiner sozialen und na- mit Antikörper-Wirkstoff-Konstrukten (ADC) und neu- türlichen Umgebung und ein Equilibrium zwischen Körper, en Immuntherapien mit sogenannten Checkpoint-Inhi- Seele und Geist. bitoren ermöglichen in Zukunft gleich wirksame, aber Krankheit ist Störung dieser Harmonie, Unausgewo- genheit zwischen Körper-Seele und Geist, ein Zustand, den weniger toxische Therapiestrategien. Aaron Antonovsky, der Begründer der Lehre von der „Sa- lutogenese“, als „Dis-ease“ bezeichnet. Ein besonderer Prophet der mittelalterlichen Naturmedizin war der „Na- turopath“, der Schweizer Arzt Theophrastus Bombastus Paracelsus, der für das bessere Verständnis zwischen Arzt und Patient einen zweifachen Doctor forderte: den „Medi- cus“ – den „externen doctor“ und den „internen doctor“ im Patienten, den „Archaeus“ – beide sind verantwortlich für den Heilungsprozess, die Antonovsky´sche „Salutogene-
FRANKFURTER FORUM : DISKURSE 7 se“, die heute auch mit dem Begriff der „Patienten-Kom- Warum setzen Patienten auf alternative petenz“ umschrieben wird. Heilmethoden (CAM)? Sowohl die mittelalterliche Europäische Naturmedi- • Trost für die Seele zin, als auch die TCM haben wesentlichen Einfluss auf die • Erwartung einer höheren Heilungschance Entwicklung und Anwendung von Krebsmedikamenten: • Hilfe zur Kontrolle der Symptome (Tumor- und Therapie) etwa 50 Prozent der heute gebräuchlichen Antikrebsmit- • Reduktion der akuten und späten Folgen der Krebstherapie • Kontrolle über das eigene Leben zu haben tel entstammen biologischen Drogen, Peptiden oder Pro- • Aktiv Anteil zu nehmen der der „Salutogenese“ teinen, natürlichen Produkten oder sind semisynthetische • Wunsch, dass es einem besser geht, man sich besser fühlt, Modifikationen von Naturprodukten. Beispiel ist das Vin- man besser lebt! ca-alcaloid Vincristin, das aus der Vinca Rosea gewonnen Quelle: Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Diehl wird und eine große Bedeutung in der Hämatologie hat. Abbildung 1: Die Motive, aus denen sich Krebspatienten alternati- Die moderne Wissenschafts- und Technik-orientier- ven Heilmethoden zuwenden, sind sehr vielfältig. te Medizin geht wesentlich auf diese beiden erwähnten Wurzeln, die mittelalterliche Naturmedizin in Europa und die TCM, zurück, hat sich aber mit der atemberaubenden Bemühungen der Krebspatienten eingenommen. CAM Entwicklung von Wissenschaft und Technik zu einer von bezeichnet ein Mischmasch aus ungeprüften oder unbe- der Naturmedizin losgelösten Apparate- und Biotechno- stätigten alternativen Methoden und wertvollen und hilf- logie-Medizin hin entwickelt, die das morphogenetische, reichen supportiven Maßnahmen, die angewendet werden, diagnostische Abbild der Krankheit, aber oft nicht den um die Selbstheilungskräfte von Krebspatienten zu stärken Patienten im Fokus hat. und wiederherzustellen. Viele Patienten – in meiner Erfahrung in 40 Jahren on- In den USA schätzt man ein jährliches finanzielles kologischer Praxis waren es etwa 80 Prozent – wenden sich Selbstzahler-Volumen für die Gesamtheit aller CAM-Me- deshalb wieder zurück zu alternativen, natürlichen Heil- thoden von über 33 Milliarden Dollar. In Europa sind die methoden, von denen sie sich Trost für die Seele, höhere am häufigsten angewandten CAM-Methoden: Homöo- Heilungschancen, Kontrolle der Symptome, Reduktion der pathie, anthroposophische Medizin, TCM, Ayurveda, Zen- toxischen Nebenwirkungen von Tumor und Therapie, akti- Meditation, Phytotherapie und nicht näher beschriebene ven Anteil an ihrer „Salutogenese“ erwarten, oder einfach Naturheilmethoden. aus dem Wunsch heraus, es möge ihnen wieder besser Um dem Wunsch meiner Patienten entgegen zu kom- gehen mit Naturmitteln (siehe Abbildung1). men, selbst einen Beitrag zu leisten zu ihrem Heilungs- Die in den USA und Europa geläufige Bezeichnung prozess, habe ich versucht, streng zu trennen zwischen CAM = Complimentary and Alternative Medicine“ hat ei- alternativen, teuren, ungeprüften und teils gefährlichen nen weiten und sehr teuren Raum für diese alternativen Scharlatanerien und Methoden der Integrativen/Komple-
8 PRÄZISIONSMEDIZIN – CHANCEN FÜR FORSCHUNG UND THERAPIE : VORTRAG 1 mentären Medizin, die beweisbar-hilfreiche und überprüf- Definition der Patientenkompetenz bare Methoden, wie Psycho-Onkologie, Feldenkrais-The- Patientenkompetenz ist die Fähigkeit, die Krebserkrankung, rapie, Mal- und Musiktherapie, Qi-Gong, Tai-Qi und eine Behinderung, ein Trauma zu verwandeln Sport- und Musik-Aktivitäten anboten, die den Patienten in eine Strategie des „individuellen Selbstschutzes“, zurück zum Leben führen konnten. Mit diesen Aktivitäten in dem Versuch, den Schicksalsschlag zu meistern und ein normales Leben zu leben. habe ich in Köln im Jahre 1999 begonnen, als mir die vielen Quelle: G. Nagel, Zürich jungen unter der Chemo-/Radiotherapie leidenden Hodg- kin-Lymphom-Patienten sagten: „Herr Doktor, Sie haben Abbildung 3: Gerd Nagel definiert Patientenkompetent als Strategie des „individuellen Selbstschutzes“. mich von meinem Krebs geheilt, aber was haben Sie für meine Seele getan?“ Und als mir eine Patientin nach ihrer intensiven Che- (Antonovsky) des Krebspatienten, und der Frage des „kom- motherapie, mit kahlem Kopf, kaum, dass sie ihre ner- petenten Patienten“ beschäftigte und eine Stiftung grün- vengeschädigten Finger wieder unter Kontrolle gebracht dete mit dem Namen „Patienten-Kompetenz“.2 hatte, ein Bild malte, ähnlich dem Schrei von Edvard Nach seiner Definition, angelehnt auch an Antonovsky, Munch, und eine andere Patientin mit Brustkrebs nach sehr ist „Patienten-Kompetenz“ die Fähigkeit, die Krebserkran- toxischer Chemotherapie mir das Bild vorlegte mit dem kung, eine Behinderung, ein Trauma zu verwandeln in eine Titel: „….meine Seele brennt“ (Abbildung 2), hatte ich Strategie des „individuellen Selbstschutzes“, in dem Ver- begriffen: Evidenz-fundierte Krebstherapie – und sei sie such, den Schicksalsschlag zu meistern und ein normales noch so erfolgreich – reicht nicht aus, den psychischen und Leben zu leben, im Sinne von Antonovskys Salutogenese: spirituellen Bedürfnissen meiner Patienten zu genügen!1 „…nicht die Umstände selbst bestimmen das Glück des Wir haben dann 1999 in Köln mit großer Beteiligung Menschen, sondern die Fähigkeit, die Umstände zu meis- der Kölner Bürger und Patienten das Haus „LebensWert“ tern“3 (siehe Abbildung 3). gebaut und in diesem Haus begonnen, die unter den An dieser sensiblen Nahtstelle der Begegnung zwischen schweren Therapienebenwirkungen leidenden Patienten Arzt und Patient wird der Gegensatz der objektiven Sicht- wieder zurück zu führen zu einem selbstbestimmten Le- weise des Arztes, der die anamnestischen Bedingungen und ben mit wiederhergestellter seelischer Gesundheit – soweit die Pathogenese der Erkrankung erforscht und der kon- das möglich war! trären Sichtweise des Patienten deutlich, der subjektiv die Geholfen hat mir in dieser Zeit der Kontakt zu meinem Krankheit zu verstehen und Wege der Kraft zur Selbsthei- Freund Gerd Nagel, Zürich, Gründer der Klinik für Tumor- lung zu finden sucht. Und hier zitiere ich wieder den alten biologie in Freiburg, der sich intensiv mit der Frage der Naturopathen Theophrastus Bombastus Paracelsus, der Salutogenese, der Rolle des „Selbstheilungsvermögens“ ein besseres Verständnis zwischen Arzt und Patienten sah, wenn beide die unterschiedliche komplementäre Realität der Krankheit erkennen, wenn der externe, behandelnde Arzt zu dem Arzt im Patienten spricht! Eine gelungene Synthese zwischen evidenz-fundierter und integrativer Krebsmedizin Morbus Hodgkin wird zum Hodgkin-Lymphom: Was ist Hodgkin´s Disease: Infektion-Inflammation-maligner Tumor (Lymphom) Als 1832 Thomas Hodgkin in London in einem Chirurgi- schen Journal eine später nach seinem Namen benannte Abbildung 2: Bilder von Patienten, die illustrieren, dass evidenzfun- Krankheit des jungen Erwachsenenalters mit Lymphkno- dierte Krebstherapie ihren spirituellen Bedürfnissen nicht genügt. tenschwellungen, großer Milz und in kurzer Zeit fatalem
FRANKFURTER FORUM : DISKURSE 9 Ausgang beschrieb, waren die Möglichkeiten einer heilsa- um ein B-Zell-Lymphom handelt. Die HRS-Zellen sind ver- men Therapie noch ein unerreichbares Ziel. Die Ursache krüppelte B-Lymphozyten, die keinen B-Zell-Rezeptor tra- der Erkrankung war obskur – war es eine Infektion, eine gen und nicht imstande sind, Antikörper zu produzieren. Inflammation oder ein bösartiger Tumor? Gleichzeitig wurde bekannt, dass etwa 50 Prozent der Hod- 70 Jahre später beschrieben Dorothy Reed in Baltimore gkin-Lymphome in ihren HRS-Zellen das Epstein Barr-Virus- und Carl Sternberg in Wien im mikroskopischen Bild zum genom tragen, also auch ätiologisch mit diesem Virus in ersten Mal die pathognomonische Signalzelle der Hodgkin´- Verbindung stehen (siehe Abbildung 4). Von 1994 an wurde schen Erkrankung, die sogenannte, nach Ihnen benannte diese Erkrankung parallel zu den Non-Hodgkin-Lymphomen „Reed-Sternbergzelle“. Als Ursachen angesehen wurden als „Hodgkin-Lymphom“ bezeichnet.4 Infektionen, hauptsächlich Tuberkulose und Syphilis. Als ich im Jahre 1968 in Stockholm (Schweden) im Therapie des Hodgkin-Lymphoms: gestern und heute Radiumhemmet, dem Strahlentherapie-Zentrum des Ka- rolinska Sjukhuset, den ersten jungen „Hodgkin´s disea- 1832, zur Zeit des Thomas Hodgkin, waren die therapeu- se“-Patienten begegnete, war uns damals 130 Jahre nach tischen Möglichkeiten sehr bescheiden: Operation, Arsen, Erstbeschreibung des Syndroms immer noch nicht klar, um Naturheilkräuter und liebevolle Betreuung. Die meisten was für eine Erkrankung es sich handelte: Infektion durch jungen Patienten starben innerhalb der ersten zwei bis vier ein unbekanntes Virus, Autoimmunerkrankung oder sogar Jahre nach Diagnose. 1902 schrieb Dorothy Reed: „Die ein maligner Tumor. Eines war uns aber klar: Es war eine Krankheit ist schrecklich, man kann die Tumoren operieren, tödliche Erkrankung, denn die jungen Patienten starben aber sie wachsen wieder schneller als zuvor und die Pati- in den fortgeschrittenen Stadien trotz unserer limitierten enten sterben an Infektionen oder an Kachexie.“ systemischen Therapieversuche. Radiotherapie half nur in den lokalisierten Stadien. Strahlentherapie Das histologische Bild der entnommenen Lymphkno- tenbiopsien zeigte ein heterogenes Bild mit einer Minorität Erst in den 1950iger Jahren wurde es möglich, durch die von Reed-Sternbergzellen, der „Hodgkin-Signalzelle“ (0,1 rasante Entwicklung der Ionisierenden Strahlen mit zu- bis 1,0 Prozent), umgeben von reaktiven Zellen wie Lym- phozyten, Makrophagen-Fibroblasten, Mastzellen. Somit Hodgkin‘s Disease 1865 Hodgkin Lymphoma 1991 ein Zellbild, das sowohl einer Infektion, einer Inflammation oder einem Lymphom zugeordnet werden konnte. Natur, 2019: A malignant Lymphoma with features of an innate immunity driven tumor – Ursprung und Klonalität der Hodgkin-Reed-Sternbergzelle a chimera between Infection- Inflammation and Tumor (HRS-Zelle) waren unbekannt. Erst 1978 in Hannover ge- lang uns nach 427 Fehlversuchen die In-vitro-Züchtung der Infection! EBV: yes Tuberculosis: no ersten Hodgkin-Reed-Sternberg-Zellkultur, der L428-Zell- Syphilis: no Linie, die als Basis für alle späteren molekular-genetischen Studien zur Klärung der molekularen Pathogenese diente. Außerdem wurde das CD30-Antigen, das Signalprotein für die Immunhistologie der HRS-zelle und Target-Antigen für die spätere Immunchemotherapie von der Gruppe von Harald Stein auf dieser Zelllinie entdeckt. Tumor! Inflammation! Monoclonal B-cell- Active Innate Immunity- 1994: Hodgkin´s Disease wird zum Hodgkin-Lymphom Lymphoma Microenvironment 1994 wurde durch Ralph Küppers und Martin Hansmann in unserem Labor in Köln der Beweis durch Mikromani- Quelle: Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Diehl pulation der HRS-Zelle aus dem primären Lymphknoten Abbildung 4: In den 90er Jahren wurde erkannt, dass 50 Prozent der erbracht, dass es sich bei der Hodgkin´schen Erkrankung Hodgkin-Lymphome ätiologisch mit dem Virus in Verbindung stehen.
1 0 PRÄZISIONSMEDIZIN – CHANCEN FÜR FORSCHUNG UND THERAPIE : VORTRAG 1 nächst Röntgenstrahlen, dann Cobaltgeräten und später Krebsmitteln führte in den USA und Europa zu der Entwick- dem Linear-Accelerator (Mega-Voltage) lokalisierte Stadien lung und Anwendung der wirksamsten Therapieprotokolle der Hodgkin´schen Erkrankung zu behandeln und sogar in der Behandlung der fortgeschrittenen Stadien des Hod- zu heilen! Die späten, weit fortgeschrittenen Stadien III- gkin Lymphoms: MOPP (deVita 1964), ABVD (Bonadonna IV mit Organbefall blieben unheilbar, 80 Prozent der jun- 1974), BEACOPP (Diehl 1994). gen Patienten starben weiterhin innerhalb kurzer Zeit nach Der Weg zur Heilung des Hodgkin-Lymphoms ging Diagnosestellung. Später, in den 1960iger bis 1980iger über von der Radiotherapie zur Chemotherapie, von der Jahren, wurde die Kombinations-Radio-Chemotherapie, Monotherapie zur Kombinations-Therapie mit unterschied- hauptsächlich in den frühen und mittleren Stadien der Er- lich wirksamen Substanzen in Zyklen über mehrere Tage krankung die Domäne der Behandlung.5 gegeben, mit Therapieintervallen zur Restitution des Kno- chenmarks. Therapieintensität und Therapiedensität des Chemotherapie wird zur Domäne der Behandlung Schemas wurden angepasst an die entsprechende biolo- gische Aggressivität des Tumors. Die Radiotherapie wurde Während des Zweiten Weltkriegs erforschten die beiden nur noch additiv gegeben auf restliche Tumoren, mit kleinen amerikanischen Pharmakologen Louis Goodman und Alfred Feldern, die auf das Rest-Tumor-Volumen reduziert waren Gilman von der Yale Universität in den USA das Kampfmit- und mit niedrigeren Dosen (20-30 GY) verabfolgt wurden. tel Senfgas, das im Ersten Weltkrieg von den kaiserlichen deutschen Truppen als Kampfgas mit dem Namen „Lost“ Die Geburt der randomisierten-prospektiven Studien eingesetzt wurde. Die Wissenschaftler waren auf dessen erstaunliche Wir- In den 1950iger Jahren entstand in Stanford in den USA kung durch einen Unglücksfall auf einem amerikanischen die wissenschaftliche Ehe eines eigenwilligen Radiothera- Kriegsschiff im Mittelmeer zufällig aufmerksam gemacht peuten (Henry Kaplan) mit einem ebenso selbstbewussten worden, als bei einem Matrosen, der ausgeprägte Lym- und intelligenten Chemotherapeuten (Saul Rosenberg). phom-Knoten zeigte, durch den Kontakt mit dem Senf- Diese Ehe gebar in nachweislich vielen dramatischen Aus- gas sämtliche Lymphknoten Schwellungen verschwanden. einandersetzungen die fruchtbare Erkenntnis und Idee, Diese sensationelle Entdeckung war dann der Beginn einer dass nur vergleichend randomisierte, prospektive Studien intensiven Erforschung des Senfgases, die später zu der glaubhafte, Evidenz fundierte Ergebnisse produzieren kön- Entwicklung des Medikamentes Mustargen führte. nen. Diese Idee war bahnbrechend und setzte sich global Dies war das erste Antikrebs-Zytostatikum, ein Wirk- durch und führte in den USA und in Europa zu der Grün- stoff, der durch alkylierende Veränderung der DNA der dung der großen Hodgkin-Lymphom-Studien wie SWOG, Krebszelle zu deren Untergang führt. In Deutschland ent- EORTC, GHSG, LYSA und anderen. wickelte in den 1950iger Jahren Norbert Brock das Cyclo- Die Erfolge dieser Studienkonzepte führten zu dem phosphamid, ein weniger toxisches Substrat mit gleichem Durchbruch in den Heilungsraten von Hodgkin-Lympho- Wirkmechanismus wie das Mustargen. Beide Wirkstoffe men, sogar in den disseminierten Stadien, und stiegen von wurden die Grundpfeiler der ersten wirksamen Zytosta- anfänglich 40 Prozent auf 80 bis 90 Prozent mittels der tika-Kombinationen im Kampf gegen die fortgeschritte- Polychemo-Therapie-Kombinationen mit keiner oder nur nen, aggressiven Hodgkin-Lymphome, in den USA das geringer additiver Bestrahlung. MOPP-Schema, in Deutschland das COPP-Schema. Als Beispiel sei hier nur die Deutsche Hodgkin Studien- In den 1950iger und 1960iger Jahren entwickelte sich gruppe (GHSG) erwähnt, die 1978 von Carl Musshoff und dann gleichsam ein pharmazeutischer Entwicklungssturm Volker Diehl gegründet wurde. Der Anlass für die Gründung von neuen Zytostatika mit unterschiedlichen Wirkmechanis- der GHSG war der Auftrag des Bundesforschungsministeri- men, synthetisch, semisynthetisch und von differenter Her- ums, in Deutschland die klinische Forschung zu fördern mit kunft von Pflanzen oder Fischen, mit variabler chemischer dem Ziel, eine standardisierte und verbesserte Diagnostik Konfiguration; Adriblastin, Procarbazin, Bleomycin, später und Therapie für alle in Deutschland diagnostizierten Hod- die Platin-Derivate, die Taxane und viele andere. Diese ra- gkin-Lymphome zu ermöglichen. Zu diesem Zwecke entwi- sante Entdeckung und Produktion von neuen chemischen ckelten wir Dokumentationsbögen, Nachsorgestrategien,
FRANKFURTER FORUM : DISKURSE 11 Diagnostik- und Therapieprotokolle und luden alle Internis- GHSG-Ergebnisse der Erstlinientherapie ten, Radiotherapeuten, niedergelassenen Hämatologen und von Hodgkin-Lymphom-Patienten GHSG-Ergebnisse mit der Erstlinientherapie praktische Ärzte ein, sich an diesen Studien zu beteiligen. Chemo-Radiotherapie in allen Stadien von Hodgkin-Lymphom-Patienten mit Klinische Studien waren in Deutschland unbekannt, es Chemo-Radiotherapie in allen Stadien PFS (%) OS (%) galt die „eminenzbasierte“ Therapiestrategie: Richtig war, Risk Group Trial at 5 at 5 years years was der Professor sagte. Die Abwehr gegen Randomisie- First line rung nach dem Zufallsprinzip war unbekannt und wurde Early HD10 2x ABVD IF-Rx 20 Gy 91,6 96,6 von Ärzten und Patienten als „Teufelszeug“ abgelehnt. Inter- HD14 2x BEACOPPesc IF-Rx 30 Gy 95,4 97,2 Im ersten Jahr rekrutierten wir drei Patienten in die Stu- mediate + 2x ABVD die, im nächsten Jahr 20 und allmählich wuchs die Zahl mit Advanced HD18 6x BEACOPPesc PET+ residu- 92,2 96,2 den Jahren, nach geduldiger Überzeugungsarbeit und dem al disease Wechsel der Gruppe von Hannover nach Köln. Im Jahre Only about 10 % of newly diagnosed patients will relapse nowdays (in Germany) and then face a poorer prognosis. 2019 werden etwa 60 bis 80 Prozent aller in Deutschland Quelle: Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Diehl diagnostizierten Hodgkin Lymphom-Patienten in die Stu- Quelle: Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Diehl dien aufgenommen oder zumindest nach den aktuellen Studien-Protokollen behandelt. Abbildung 6: Die Heilungsraten mit Hilfe der vorhandenen Thera- piesäulen ermöglichen ein Progression Free Survival von bis zu 90 Mehr als 20 000 Patienten – sowohl nach Erstlinienthe- Prozent. rapie, als auch nach Rezidivtherapie – sind in den Studi- en-Computern dokumentiert mit allen verfügbaren Daten. Erfolge und Misserfolge In sieben Studiengenerationen wurden 21 sukzessive Stu- dienprotokolle mit primär diagnostizierten Hodgkin-Lym- Die Heilungsraten mit den bisher zur Verfügung stehen- phom-Patienten durchgeführt (siehe Abbildung 5). Über den Therapiesäulen: Radiotherapie, Chemotherapie oder 250 Zentren beteiligen sich an den Studien in Deutschland, die Kombination von beiden resultierte in ungeahnt ho- Österreich, Schweiz, Holland und Skandinavien.6 hen Raten an Tumorfreiheit (Progression Free Survival = PFS) von 90 Prozent und noch besseren Überlebensraten (Overall Survival = OS) von 98 Prozent, ein Ergebnis, das German Hodgkin Study Group: Big Data bei Krebserkrankungen im Erwachsenenalter sonst nur bei Patienten mit Hodentumoren erreicht wird (Abbildung 6). Yesterday 1978-2015 Der Tribut, der gezahlt wird für diese enormen Erfolge, First line studies with chemo-radiotherapy ist die durch die Intensität und Aggressivität der Poly-Che- Year generation Name Number of motherapie resultierende Toxizität in Form von akuten und patients späten Nebenwirkungen in abnehmender Häufigkeit wie 1978-88 Hodgkin1st German HD1-3 Big Data Study Group: 506 Übelkeit, Erbrechen, Fatigue, Infektionen, Infertilität, Zweit- 198894 2nd HD$-6 2035 neoplasien wie AML, MDS und Solide Tumoren und den 1994-98 3rd HD7-9 2865 Spätfolgen mit Störungen der Organfunktionen von Herz, Niere und Lunge (siehe Abbildung 7). 1998-02 4th HD10-12 3948 Neben diesen somatischen toxischen Nebenwirkun- 2003-08 Quelle: 5th Diehl Prof. Dr. Dr. h.c. Volker HD13-15 5171 gen der bisherigen Chemo-Radiotherapie werden den Pa- 2008-17 6th HD16-18 4350 tienten enorme psychosoziale Belastungen auferlegt, ei- 2016-19 7th HD21 1051 nerseits schon durch den Schock der Krebsdiagnose und nachfolgend durch die Therapielast mit seelisch-kognitiven Total 19926 Einschränkungen wie Fatigue, Depressionen, verminderter geistiger Leistungsfähigkeit („chemo-brain“), Konzentrati- Quelle: Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Diehl onsschwäche und Gedächtnisverlust. Abbildung 5: Im Rahmen der Deutschen Hodgkin Studiengruppe Bei diesen jungen Hodgkin-Lymphom-Patienten treten wurden die Daten von rund 20 000 Patienten erfasst. häufig soziale und finanzielle Belastungen, und vor allem
1 2 PRÄZISIONSMEDIZIN – CHANCEN FÜR FORSCHUNG UND THERAPIE : VORTRAG 1 Spektrum der toxischen akuten und späten Nebenwirkungen der Chemo-Radiotherapie in Bezug auf Morbidität und Letalität Vital organ dysfunction Kidney, liver, lung, heart Cure rates are high, however, the burden of Long-term / ongoing Second malignancies treatment also is high and may last for decades AML, NHL (within 5 years, ≈ 3 %) Solid tumors (after 15 years, incr.) Persisting fatigue & impaired QoL (25%) Frequency Gonadal dysfunction (age & Tx dependent up to 80%) Acute Treatment related morbidity and mortality ≈ 60% severe morbidity Quelle: Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Diehl Abbildung 7: Die Aggressivität der Therapie resultiert in einer Vielzahl von akuten und langfristigen Nebenwirkungen. sexuelle und Partnerschaftsprobleme auf. Mehr noch belas- Die Zukunft tet, vor allem die Patientinnen, die ungeklärte Frage nach möglichem, oft sehnlichst herbeigewünschtem eigenem Die Entdeckung und Beschreibung des CD30-Antigens auf Nachwuchs. 80 bis 90 Prozent der jungen männlichen Pati- den L428-in vitro H-RS-Zellen 1978 von der Kieler Gruppe enten werden infertil unter der aggressiven Chemotherapie, um Harald Stein und unserer Gruppe in Köln bedeutete 40 bis 50 Prozent der jungen Mädchen/Frauen. einen Meilenstein. Das CD30-Antigen wurde zum Hodg- Der Weg von der Chemo-Radiotherapie hin zur “gezielten-Chemotherapie" und der Immunotherapie mit Checkpoint-Inhibitoren Anti-CD30 antibody drug conjugate Brentuximab vedotin PD-1 blockade IFNγ IFNγR MHC TCR PI3K NFκB Tumor Other cell PD-L1 PD-1 Shp-2 T cell PD-L2 PD-1 Quelle: Brahmer et al N Engl. J Med 2012;366:2455; Topalian et al N Engl J Med 2012; 366:2443–54 Abbildung 8: Ein weiterer Schritt in der Entwicklung: Die den gesamten Organismus belastende Chemo-Radiotherapie ist durch die Immun-Chemotherapie ersetzt worden. Die nächste Stufe ist die reine Immuntherapie.
FRANKFURTER FORUM : DISKURSE 13 kin Lymphom Ziel-Antigen, das wegen seiner Selektivität Referenzen: 1. Diehl Volker: The bridge between patient and doctor: The shift vom CAM to geeignet war für die Möglichkeit zur Präzisionstherapie. integrative medicine. Hematology Am Soc Hematol Educ Program.:320-5; (2009) Unsere eigenen CD30-Antikörper töteten die HRS-Zellen 2. Annette Bopp, Delia Nagel, Gerd Nagel: „Was kann ich selbst für mich tun – nicht, aber dienten als wertvolle Signal-Antikörper für die Patientenkompetenz in der modernen Medizin“. Verlag Rüffer & Rub Zürich 2005 Immunhistologie.7 3. Antonovsky A: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Deutsche Es dauerte 38 Jahre, bis ein sehr erfindungsreicher Che- erweiterte Ausgabe von A. Franke. Tübingen: dgvt-Verlag 1997. miker, Peter Senter in Seattle bei Seattle-Genetics, den 4. Thomas RK, Re D, Wolf J, Diehl V PART I: Hodgkin‘s Lymphoma - Molecular biology of Hodgekin and Reed Sternberg Cells.Lancet Oncol 2004; 5: 11-8. Traum von Ehrlichs „Zauberkugel“, dem Magic Bullit, er- 5. Diehl V, Thomas RK, Re D: Hodgkin‘s Lymphoma - Diagnosis and treatment. füllte, wobei Ehrlich damals forderte: „Wir müssen zielen Lancet Oncol 2004; 5: 19-26. lernen.“ Peter Senter zielte mit dem „Magic Bullit“, ei- 6. Evens AM, Hutchings M, Diehl V.: Treatment of Hodgkin Lymphoma: The past, nem Antibody-Drug-Conjugate (ADC), dem Brentuximab present and future. Nat Clin Pract Oncol. Sep;5(9):543-56 (2008). Vedotin, auf das CD30-Antigen der HRS-Zelle, wobei er 7. Eichenauer DA, Böll B, Diehl V: Pharmacotherapy of Hodgkin Lymphoma: Stan- dard approaches and future perspectives. Expert Opin Pharmacother. über einen stabilen Linker das Vinca-Alcaloid Auristatin, Jun;15(8):1139-51 (2015). eine toxische „Bombe“, an den Antikörper hängte. Der CD30-Antikörper dockt über den CD30-Rezeptor an die HRS-Zelle an, im Zellinnern wird das Auristatin freigesetzt und hemmt, an das Tubulin gebunden, die Zellteilung. Die Tumorzelle stirbt und mit ihr die von der HRS-Zelle abhängigen „Bystander“-Zellen. Die klinischen Ergebnisse der ersten Phase I-II-Studien waren sensationell, und zum PROF. DR. H.C. VOLKER DIEHL ersten Mal konnten rezidivierte, chemo-, radiotherapie- resistente Hodgkin-Tumoren erfolgreich behandelt werden und die Ergebnisse zu dauerhaften Remissionen führen.7 Prof. Dr. Volker Diehl, Jahrgang 1938, Effektive, den Patienten und den gesamten Organismus belastende Chemo-Radiotherapie wurde ersetzt durch Im- 1958 bis 1964 Studium der Medizin in mun-Chemotherapie und führte bald zu der der nächsten Marburg, Wien, Freiburg. 1966-1967 Stufe, der reinen Immuntherapie (siehe Abbildung 8). Research Fellow am Childrens Hospital Hierbei wird es zum ersten Mal möglich, körpereigene bei Werner Henle und Harald zur Hau- Immunwaffen, die zytotoxischen spezifischen Killerzellen, sen, Philadelphia, USA. 1968 Flying T-Zellen, NK-Zellen und spezifische Makrophagen aus ihrem Doctor Service in Ost-Afrika, Nairobi, Dornröschenschlaf zu befreien und zu Präzisionswaffen zu machen indem man die „Check-Point-Inhibitoren“ einsetzt Kampala, Arbeit mit Denis Burkitt, um intelligente Abwehrwälle (PD1-Liganden, PD1-Rezep- Kampala. 1969 bis 1972 Radiumhem- toren) außer Gefecht zu setzen. met, Karolinska Sjukhuset Stockholm, Schweden, Ausbil- Ein Hoffnungsschimmer bedeutet diese weniger dung in Radiotherapie, Medizinischer Onkologie. Ausbil- toxische, zielgerichtete Präzisionsstrategie, die schon seit dung Innere Medizin an der Medizinischen Hochschule zwei Jahren in der GHSG in mehreren Studien angewandt wird, indem für die Patienten spürbar geringer belastende, Hannover, 1973 bis 1982. Gründung der Deutschen aber gleich- oder stärker wirksame Immuntherapien zur Hodgkin Studiengruppe (GHSG) im Jahr 1978. 1983 bis Anwendung kommen. Probleme sind die Kosten der sehr 2004 Direktor der Klinik I Innere Medizin, Universität zu teuren innovativen Therapien und die richtige prädiktive Köln. 2005 bis 2007 Gründungsdirektor des Nationalen Selektion der Patienten, die von dieser sehr selektiven Prä- Centrums für Tumorerkrankungen (NCT-Heidelberg). zisionstherapie am meisten profitieren würden. 2019 Arbeit am Kilimanjaro Chrisitian Medical Center (KCMC) in Moshi /Tansania. Doctores honoris causa E-Mail-Kontakt: volker-diehl@gmx.de 2002 Athen, 2005 Heidelberg, 2016 Prag.
1 4 PRÄZISIONSMEDIZIN – CHANCEN FÜR FORSCHUNG UND THERAPIE : VORTRAG 2 Präzisionsmedizin – Chancen für Forschung und Therapie Individualisierte Diagnostik und Therapie in der Onkologie PROF. DR. BERNHARD WÖRMANN, DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR HÄMATOLOGIE UND MEDIZINISCHE ONKOLOGIE, CHARITÉ UNIVERSITÄTSMEDIZIN BERLIN, KLINIK FÜR HÄMATOLOGIE, ONKOLOGIE UND TUMORIMMUNOLOGIE I n der Onkologie findet derzeit ein schneller Einleitung und durchgreifender Fortschritt statt, der in der Die Therapie von Krebspatienten, insbesondere die systemi- Geschichte der Medizin ohne Parallele ist. Die sche Tumortherapie, erlebt derzeit einen bisher einmaligen molekulare Diagnostik hat große, durch Organbezug Innovationsschub. Seit 2011 wurden mehr als 100 Arznei- und Histologie definierte Krankheitsentitäten wie das mittel neu oder in neuen Indikationen für die EU zugelassen. Lungenkarzinom in biologisch und klinisch distinkte Basis der meisten Zulassungen sind Fortschritte der Grund- Krankheitsbilder parzelliert. Die Entdeckung krank- lagenforschung, vor allem in der Identifikation relevanter heitsrelevanter, genetischer Aberrationen kann als genetischer Veränderungen in den Tumorzellen, aber auch in der Interaktion der Tumorzellen mit ihrer Umgebung, z. B. weitgehend abgeschlossen angesehen werden. Jetzt mit dem Immunsystem. Die Möglichkeiten für eine gezielte findet die Phase der Translation in die Versorgung Therapie sind vielfältig, auf pharmakologischer Ebene werden statt, sowohl in der Diagnostik als auch in der The- besonders kleine Moleküle (…-nib) und monoklonale Anti- rapie. Sie wird mit Überschriften wie „Personalisierte körper (… mab) eingesetzt. Die Verteilung der antineoplas- Medizin“, „Präzisionsonkologie“ oder „Individuali- tisch wirksamen Arzneimittel ist in Abbildung 1 dargestellt. sierte Therapie“ beschrieben. Hier stehen wir erst am Das Konzept einer gezielten, an der Tumorzellbiologie orientierten Behandlung ist nicht neu. Vorläufer waren die Anfang und lernen fast täglich dazu. Neue Arznei- endokrine Therapie mit Tamoxifen beim Mammakarzinom6 mittel und Arzneimittelkombinationen werden in die oder die am Zellzyklus orientierte Kombinationstherapie mit bestehenden Therapiealgorithmen integriert, andere den sog. Zytostatika, z. B. bei den malignen Lymphomen4 werden herausgenommen – parallel dazu ändert sich oder der akuten lymphatischen Leukämie. die zielgerichtete Diagnostik. Angesichts der Fülle an Entscheidend für die Entwicklung wirksamer Arzneimit- tel auf der Basis molekularer Aberrationen war die Identifi- Daten ist eine Verständigung über die Regeln wichtig: kation sog. Treiberalterationen. Damit werden genetische Was ist wirksam – was ist nützlich – was ist für den Veränderungen bezeichnet, die entscheidend für die Ent- individuellen Patienten sinnvoll? stehung und/oder die Ausbreitung der jeweiligen malignen Erkrankung sind. Einige dieser molekularen Aberrationen sind pathognomisch für die jeweilige Erkrankung, z. B. die Translokation BCR/ABL bei der chronischen myeloischen Leu- kämie (CML)12, 15. Die erfolgreiche Therapie der CML mit dem kleinen, gezielten Inhibitormolekül Imatinib war der Türöffner für die sogenannte Targeted Therapy.
FRANKFURTER FORUM : DISKURSE 15 Zahl und Verteilung antineoplastisch wirksamer Arzneimittel (Stand 10/2019) 70 60 50 40 30 20 10 0 Zytostatika antihormonelle Antikörper gezielte, kleine andere Therapie Moleküle Quelle: Prof. Dr. Wörmann Abbildung 1: Die Möglichkeiten für eine gezielte Therapie sind vielfältig. Auf pharmakologischer Ebene werden besonders kleine Moleküle und monoklonale Antikörper eingesetzt. Fast parallel dazu fand die Entwicklung monoklonaler mehr im Sinne einer Begrenzung auf Tumorentitäten im Antikörper für die Krebstherapie statt. Ihr Ziel sind Struk- traditionellen Sinne, d. h. definiert durch Organbezug turen auf der Oberfläche von Tumorzellen. Türöffner war und Histologie. hier der Anti-CD20-Antikörper Rituximab bei Patienten mit B-Non-Hodgkin Lymphomen11. Kurz danach folgte der An- Kleine gezielte Moleküle ti-HER2-Antikörper Trastuzumab beim Mammakarzinom2. Der Durchbruch für den Einsatz gezielter Therapie mit Sowohl für den Einsatz der kleinen, gezielten Mole- kleinen Molekülen bei den soliden Tumoren wurde durch küle als auch der monoklonalen Antikörper wurde schnell Vemurafenib bei Patienten mit Melanom und Nachweis ei- deutlich, dass die Therapie zwar gezielt ist, aber nicht ner BRAFV600 Mutation erzielt1. Diese Mutation ist nicht
1 6 PRÄZISIONSMEDIZIN – CHANCEN FÜR FORSCHUNG UND THERAPIE : VORTRAG 2 Melanom-spezifisch, sondern kann bei sehr unterschiedli- zug definierten Indikation7. Von der FDA war Laroctretinib chen Malignomen auftreten. Die Wirksamkeit von BRAF-In- bereits im November 2018 zugelassen worden. hibitoren variiert dabei stark. Die Ansprechraten reichen Viele der kleinen Moleküle wurden zuerst gezielt für von >90 Prozent bei der Haarzellleukämie über 50 Prozent2 bestimmte genetische Aberrationen entwickelt, hemmen beim Melanom bis zu
FRANKFURTER FORUM : DISKURSE 17 überexprimiert, Anti-HER2-Antikörper sind wirksam und weitere Vorgehen hat, in Übereinstimmung mit aktuellen werden in Leitlinien empfohlen9, 14. Rituximab ist formal nur Leitlinien. für Patienten mit follikulärem Lymphom und mit chroni- • Die Durchführung der molekularbiologischen Analy- scher lymphatischer Leukämie (B-CLL) zugelassen, wirksam sen muss in die weiteren Schritte der Diagnostik nach ist es aber fast allen Neoplasien der B-Zellreihe, i. e. diffus der histologischen und zytologischen Untersuchung in- großzelliges Lymphom, Mantelzell-Lymphom, Marginalzo- tegriert sein. Maßnahmen der Qualitätssicherung sind nen-Lymphom, B-Linien-ALL u. a. Ringversuche und Akkreditierung. Die Organ-überschreitende Wirksamkeit ist besonders • Daten müssen geschützt sein und in anonymisierter beim Einsatz monoklonaler Antikörper in der neueren Sub- oder pseudonymisierter Form für Grundlagen- und Ver- stanzklasse der Immuncheckpoint-Inhibitoren deutlich. sorgungsforschung zur Verfügung stehen. Sowohl Nivolumab als auch Pembrolizumab haben in der EU bereits die Zulassung in sechs Tumorentitäten. Darü- Integriert ber hinaus hat Pembrolizumab in den USA seit Mai 2017 In dem Positionspapier wurde ein Algorithmus zu Indikati- auch eine tumoragnostische Zulassung für Patienten mit on und Ablauf einer integrierten, molekularpathologischen Nachweis einer hohen Mikrosatelliten-Instabilität bzw. De- Diagnostik dargestellt, siehe Abbildung 317. fekten in der Mismatch-Reparatur, unabhängig von der Basis der Empfehlungen in den Leitlinien wissenschaftli- Lokalisation des Primärtumors und der Histologie16. In der cher medizinischer Fachgesellschaften für die Durchführung Europäischen Union ist Pembrolizumab in dieser Indikation molekularbiologischer Tests sind in der Regel prospektiv bisher nicht zugelassen. geplante, vergleichende Interventionsstudien mit patien- Die Vielfalt der neuen diagnostischen und therapeuti- tenrelevanten Endpunkten. Diese müssen auch das Risiko schen Möglichkeiten weckt viele Hoffnungen, wirkt manch- der Überdiagnostik bei Patienten mit nur gering erhöhtem mal sogar unüberschaubar. Zur Orientierung müssen wir Erkrankungsrisiko und Kosten-Nutzen-Analysen bzw. die lernbereit sein, brauchen aber keine neuen Regeln. Wirtschaftlichkeit der nachfolgenden Verordnung berück- sichtigen. Formale Basis der Empfehlungen für die Durch- Diagnostik führung molekularbiologischer Tests in Deutschland sind die Vorgaben des Gendiagnostik-Gesetzes in der aktuellen Die molekulargenetischen Untersuchungstechniken ha- Fassung vom November 20163. ben sich in den letzten Jahren rasant entwickelt von konventionellen Polymerasekettenreaktionen (PCR) oder Qualitätsgesichert Fluoreszenz-In-Situ-Hybridisierung zum Next Generati- Heute steht zur Analyse genetischer Aberrationen häu- on Sequencing (NGS) mit Analyse des gesamten Exoms fig mehr als eine geeignete Methode zur Verfügung. Die (Whole-Exome, WES), des gesamten Genoms (WGS) und Auswahl der Methode zur Durchführung der jeweiligen des Transkriptoms (RNA-seq). Neun wissenschaftliche me- Analyse, z. B. Einzel-PCR, FISH, Panel-Sequenzierung, Ex- dizinische Fachgesellschaften haben unter Federführung pressionsanalyse, o. a. obliegt dem verantwortlichen La- der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizi- bor. Bisher hat die European Medicines Agency (EMA) für nische Onkologie (DGHO) und der Deutschen Gesellschaft die EU über 30 Medikamente aus der Substanzklasse der für Pathologie (DGP) Anfang 2019 ein Positionspapier Tyrosinkinase-Inhibitoren für die Therapie von malignen „Qualitätsgesicherte Molekulardiagnostik in der Onko- Erkrankungen zugelassen, davon ein Drittel unter der Vo- logie: zielgerichtet – qualitätsgesichert – integriert“ ver- raussetzung des Nachweises einer definierten, genetischen öffentlicht17. Kernaussagen sind: Aberration. Anders als die U. S. Food and Drug Administ- • Die Indikation zur Anforderung von Molekulardiagnos- ration (FDA) nennt die EMA in der Arzneimitteilzulassung tik ist zielgerichtet. Ziele sind Maßnahmen zur Präventi- die nachzuweisende genetische Aberration, legt aber in der on, zum Screening, zur Diagnosesicherung und/oder zur Regel keinen Hersteller-bezogenen Test fest, sondern for- Therapie. dert ein validiertes Nachweisverfahren. Ein Test muss nicht • Molekulardiagnostische Verfahren in der Therapie immer positiv prädiktiv für den Einsatz eines Arzneimittels sind indiziert, wenn das Ergebnis einen Einfluss auf das sein: Ein umgekehrtes Beispiel ist das Nicht-Ansprechen
1 8 PRÄZISIONSMEDIZIN – CHANCEN FÜR FORSCHUNG UND THERAPIE : VORTRAG 2 auf eine Therapie mit Anti-EGFR-Antikörpern bei Patienten Durchführung von Molekulardiagnostik mit metastasiertem kolorektalem Karzinom bei Nachweis in der Onkologie von bestimmten KRAS- oder NRAS-Mutationen. Diese An- Identifizierung des Patienten / der Patientin tikörper sind nur indiziert bei Patienten, deren Tumor keine KRAS- oder NRAS-Mutation ausweist. Entscheidend aus klinischer Sicht ist das zeitgerechte Er- Ziel - orientierte Anforderung reichen eines validen Ergebnisses in der jeweiligen Testung, unabhängig von der Methode. Erforderliche Voraussetzung Festlegung des geeigneten Gewebes: im verantwortlichen Labor sind die regelmäßige Durchfüh- unfixiert rung der spezifischen, molekulardiagnostischen Analysen, oder Formalin - fixiert, Paraffin-eingebettet (FFPE) die externe Validierung der Analysequalität durch Teilnahme an Qualitätskontrollen in Form von Ringversuchen und eine ggf. Kommunikation über Gewebegewinnung Akkreditierung bzw. Zertifizierung der Labore17. Kontinuierlich angepasst an den Stand des Wissens Morphologische Validierung und Auswahl (Gewebeareal, Methodik) Im Vordergrund der wissenschaftlichen, auch der medialen Diskussion standen in den letzten Jahren neue Zielmoleküle und neuen Arzneimittel. Relevante neue Treiberalterationen Technische Gewebebearbeitung werden voraussichtlich nicht mehr oder kaum noch identifi- (Schneiden, Mikrodissektion, Extraktion) ziert. Dafür häufen sich Beobachtungen, nach denen sog. ge- zielte Arzneimittel auch unabhängig von den primär beschrie- Molekulare Diagnostik benen, prädiktiven Markern wirksam sind. Beispiele sind: (Analytik und Auswertung) • Der JAK2-Inhibitor Ruxolitinib bei myeloproliferativen Neoplasien ohne JAK2-Mutationen, Integrale Befunderstellung • PARP-Inhibitoren beim Ovarialkarzinom ohne BRCA1/2 Mutationen, • CDK4/6 Inhibitoren beim Mammakarzinom ohne Cyc- Befundauswertung lin-D1-Amplifikation , • Der PD-L1 Antikörper Atezolizumab beim nichtkleinzel- Interdisziplinäre Befunddiskussion ligen Lungenkarzinom ohne erhöhte Mutationslast (tumor (molekulares Tumorboard) mutational burden, TMB), • … Kommunikation und Entscheidungsfindung Die zu rigorose Fixierung auf eine molekularbiologische Tes- mit dem Patienten tung – „der Patient hat ein Recht auf Testung“ – beinhaltet das Risiko des Ausschlusses von Patienten, die ebenfalls auf Legende behandelnder Arzt Diagnostiker die Therapie ansprechen können. Die oben beschriebene Forderung nach Integration der molekularbiologischen Di- Quelle: Prof. Dr. Wörmann agnostik in die Patientenbetreuung kann sicherstellen, dass Erkenntnisse über die Wertigkeit von Tests auf der Basis von Abbildung 3: Algorithmus zu Indikation und Ablauf einer integrier- ten, molekularpathologischen Diagnostik, wie sie neun Fachgesell- Therapieergebnissen rasch in die diagnostische Versorgung schaften in einem Positionspapier konsentiert haben. übertragen werden. Therapie boards) diskutiert und als Empfehlung an den Patienten Onkologische Therapie ist häufig multimodal. Therapiekon- formuliert. Die folgenden Anmerkungen fokussieren auf zepte werden im Rahmen von Tumorkonferenzen (Tumor- die systemische Tumortherapie.
FRANKFURTER FORUM : DISKURSE 19 Zugelassen Scale for Clinical Actionability of molecular Targets (ESCAT) Seit 2011 wurden mehr als 100 Arzneimittel neu oder in für die Bewertung genomischer Alterationen in Bezug als neuen Indikationen für die EU zugelassen. Abbildung 2 Eignung für eine gezielte Therapie erstellt10. Sie unterscheidet gibt einen Überblick über die Indikationen, gleichzeitig die genomischen Ziele in diesen Untergruppen: auch über die Bindung an spezifische Testverfahren. Die Darstellung zeigt, dass es zwar zahlreiche prädiktive Tests Ebene I geeignet für die Implementierung in die Routi- gibt, die Mehrzahl der Arzneimittel aber ohne Nachweis neversorgung spezifischer und prädiktiver Marker eingesetzt werden. A randomisierte klinische Studie(n) mit patien- tenrelevanter Verlängerung der Gesamtüber- Wirksam lebenszeit Viele neue Arzneimittel haben eine Wirksamkeit über die B prospektive, nicht-randomisierte Studie(n) mit zugelassenen Indikationen hinaus, sind dafür aber nicht zu- Nachweis eines patientenrelevanten Nutzens gelassen. Für den Patienten (und auch für die behandelnden C prospektive, nicht-randomisierte Studie(n) in Ärzte) bedeuten diese Arzneimittel Hoffnung, für das solida- unterschiedlichen Tumoren (Basket-Studie) risch finanzierte Gesundheitssystem sind eine Belastung. Die mit Nachweis eines patientenrelevanten Nut- European Society for Medical Society (ESMO) hat die ESMO zens in verschiedenen Tumorentitäten Patientenrelevante Endpunkte in der Onkologie Ist Verlängerung der ÜLZ (OS) Überlebenszeit das Ziel? PFÜ (PFS) KFÜ (DFS) Ansprech - rate Diagnose 2. Rezidiv 1. Rezidiv wirkt es? Symptom- Stehen die Nebenwirkungen Linderung im akzeptablen Verhältnis zum Gewinn? Verhinderung Verhinderung von von Symptomen Symptomen Nebenwirkungen Lebensqualität / Patient Reported Outcome KFÜ = Krankheitsfreies Überleben (engl. Disease free survival) ÜLZ = Überlebenszeit (engl. Overall survival) PFÜ = Progressionsfreies Überleben (engl. Progression free survival) Quelle: Prof. Dr. Wörmann Abbildung 4: In der frühen Nutzenbewertung wird fast nur das Gesamtüberleben, bei den Zulassungsbehörden auch das progressionsfreie Überleben akzeptiert. Allerdings gibt es noch weitere Dimensionen patientenrelevanter Endpunkte.
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