PUNKT. Digitalisierung: Der Rhythmus, bei dem man mit muss - KV ...

 
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PUNKT. Digitalisierung: Der Rhythmus, bei dem man mit muss - KV ...
AUF DEN
 PUNKT.
Das Servicemagazin für unsere Mitglieder Nr. 5 / Okt. 2020
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                                                             Der Rhythmus, bei
                                                             dem man mit muss
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Ambulante
Notfallversorgung
à la Hessen
Seite 4

info.service
Offizielle Bekanntmachungen
Seite 22
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INHALT

             STANDPUNKT
             Die tibetanische Gebetsmühle                                       3

             AKTUELLES
             Ambulante Notfallversorgung à la Hessen                            4
             „Signalkraft in Richtung Berlin ist da“                            7
             Hausärztin Birgit Beyer gehört zum Corona-Heldenkader              9

             TITELTHEMA
             Digitalisierung: Von den Besten zu lernen wäre besser gewesen!     10
             Grünes Licht für die Telematikinfrastruktur                        12
             „Die TI gehört in den Elektronikschrott!“                          14
             „Mehrwert der Digitalisierung muss erkennbar sein“                 18
             KIM kommt                                                          20
             Papierbescheinigung ade                                            22
             Elektronischer Heilberufsausweis 2.0                               23
             Die Hoheit der elektronischen Patientenakte liegt beim Patienten   25
             Twitter-Nachrichten als Quelle für Forschung                       27
             Gesundheits-Apps – auf Papier verordnet                            28
             Steigendes Interesse an Videosprechstunde                          31

             GUT INFORMIERT
             Tipps für eine sichere Praxis-IT                                   34
             IT-Sicherheit: Neue Vorgaben im Anmarsch                           36
             Baustelle DMP Herzinsuffizienz                                     37

             QUALITÄT
             QM soll leben – auch die Richtlinie                                38

             PRAXISTIPPS
             Meine Daten in der Arztsuche                                       40
             Gesundheitsportal geht online                                      40
             Wie war das? Fragen aus der Praxis                                 42

             SERVICE
             Ihr Kontakt zu uns/Impressum                                       43

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STANDPUNKT

Die tibetanische Gebetsmühle

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrte Damen und Herren,

nicht immer sind Wiederholungen derart erleuchtend,
wie es der tibetische Buddhismus der mittlerweile
sprichwörtlichen Gebetsmühle zuschreibt. Wiederho-
lungen sind oft lästig, manchmal sogar nervtötend.
Und sie lösen beim Empfänger sehr oft den Reflex des
„Lass mich doch bitte endlich damit in Ruhe“ aus. Mit
der Digitalisierung im Gesundheitswesen ist es genau-
so. Keiner kann es mehr hören, sein muss es trotz-
dem. Und deshalb ist die „Digitalisierung“ auch eines      als Hessen versuchen dies, wo es uns möglich ist, so
unserer Dauerbrennerthemen in der Kommunikation            zum Beispiel bei unserem eRezept-Projekt MORE, das
mit Ihnen. Denn es muss sein, auch wenn es kaum            wir technologisch eng an den guten Erfahrungen aus
noch einer hören kann und will. Der Spagat zwischen        Estland ausgerichtet haben.
gesetzlichem „Muss“ und dem ärztlichen Fragen nach
dem Sinn durchzieht unsere Titelstrecke dieser Aus-        Wann es in Deutschland so weit ist, dass wir mit Mut
gabe in besonderem Maße. Denn auf der einen Seite          und richtigen Entscheidungen endlich Schwung in
ist es uns wichtiger denn je, uns politisch zu positio-    die Digitalisierung bringen, können wir nicht sagen.
nieren und Fehlentwicklungen auch als solche zu be-        Ob die Verstaatlichung der gematik durch Herrn
nennen. Auf der anderen Seite steht unsere Verpflich-      Spahn ein Beleg für Hyperaktivität, das Reißen des
tung, gesetzliche Regelungen durchzusetzen, selbst         Geduldsfadens oder die richtige Weichenstellung ist,
dann, wenn wir sie für falsch, in diesem Themenkom-        beurteilen Sie deshalb ebenfalls bitte selbst. Es steht
plex sogar für grob falsch, halten.                        auf jeden Fall zu befürchten, dass wir noch sehr oft
                                                           über die Digitalisierung werden reden müssen, bevor
Erklären kann man es ja auch kaum noch, warum              Besserung in Sicht ist.
wir in Deutschland bei der Digitalisierung so langsam
vorankommen und von „Konkurrenten“ wie den bal-            Mit kollegialen Grüßen, Ihre
tischen Staaten mittlerweile um Lichtjahre abgehängt
wurden. Vielleicht ist die Erklärung aber auch ganz
einfach: Vielleicht sind es die Industrieinteressen, die
uns seit Jahren in die falschen – weil veralteten – Pro-
jekte investieren und uns konsequent an Gabelungen
in die falsche Richtung abbiegen lassen? Dann wäre
der Umkehrschluss einfach. Lasst uns in Deutschland        Frank Dastych		               Dr. Eckhard Starke
von den Besten lernen und uns daran orientieren! Wir       Vorstandsvorsitzender stv. Vorstandsvorsitzender

                                                                                  AUF DEN PUNKT NR. 5 / OKT 2020           3
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AKTUELLES

                             Ambulante Notfallversorgung
                             à la Hessen
                             Die Reform der ambulanten Notfallversorgung ist eines der zentralen Struktur­
                             themen im deutschen Gesundheitswesen. Vor diesem Hintergrund startet in
                             ­Hessen im Herbst das „SaN-Projekt“. Die Kassenärztliche Vereinigung Hessen
                              (KVH) und ihre Partner aus Gesundheit und Politik setzen dabei auf einen sekto­
                              renübergreifenden Ansatz. Details stellte das Bündnis im August bei einer Presse­
                              konferenz vor. Auch auf dem Podium: Staatsminister Kai Klose.

              Nicht jeder
       S­ chwächeanfall
muss im Krankenhaus
  behandelt werden.
 Daher ist es sinnvoll,
die ­niedergelassenen
              Ärzte in die
   Notfall­versorgung
           ­einzubinden.

                             Wie muss eine Reform der ambulanten Notfallversor-         Jeder Patient muss die Versorgung bekommen, die er
                             gung aussehen, um die Versorgung sowohl für die Pati-      braucht – schnell und gut. Dafür sollen Krankenhäuser,
                             enten als auch für die Leistungserbringer wie beispiels-   Rettungsdienste und Bereitschaftsdienste besser ver-
                             weise Krankenhäuser, Arztpraxen, Bereitschaftsdienste      zahnt werden. Die vorgesehenen Integrierten Notfall-
                             oder Rettungsdienste zu optimieren? Diese Frage be-        zentren (INZ) sieht die KVH zwar kritisch, grundsätzlich
                             schäftigt Politiker und Institutionen des Gesundheits-     geht sie den sektorenübergreifenden Ansatz jedoch
                             wesens seit geraumer Zeit. Eine erste konkrete Antwort     mit. Allerdings mit einem entscheidenden Unterschied:
                             gab Bundesgesundheitsminister Jens Spahn Anfang            So sollen künftig nicht nur die Ärztlichen Bereitschafts-
                             des Jahres mit einem Referentenentwurf für ein Gesetz      dienste (ÄBD), sondern auch die niedergelassenen Ärz-
                             zur Reform der Notfallversorgung. Seine Vorstellung:       te in die Notfallversorgung eingebunden werden.

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AKTUELLES

EIN PROJEKT MIT STARKEN PARTNERN                        Rettungsdiensten, 116117, 112, ÄBD-Zentralen und
                                                        eben Arztpraxen in Echtzeit dieselben Informationen
Genau das erproben die KVH und ihre Partner, das        zur Verfügung. Das hat viele Vorteile: „Die neue, ge-
Hessische Ministerium für Soziales und Integration,     meinsame Struktur gibt uns die Möglichkeit, Patien-
die Hessische Krankenhausgesellschaft (HKG), die        ten schnell und zielgerichtet dem für sie richtigen Ver-
Landkreise Main-Taunus, Main-Kinzig und Gießen          sorgungssektor zuzuführen. Dazu ist es im Rahmen
als Verantwortliche für die Rettungsdienste, die Lan-   des Projekts erstmals möglich, dass der Rettungs-
desärztekammer Hessen sowie der Hessische Städte-       dienst nicht nur Krankenhäuser, sondern auch Arzt-
tag und Hessische Landkreistag und das Zentralinsti-    praxen anfährt, um Patienten in die ambulante Ver-
tut für die kassenärztliche Versorgung, ab Herbst mit   sorgung zu übergeben. Das gibt es so in Deutschland
dem SaN-Projekt. Dazu werden in den drei genann-        kein zweites Mal“, erklärt Dr. Eckhard Starke, stell-
ten Landkreisen stationäre, ambulante und rettungs-     vertretender Vorstandsvorsitzender der KVH. Die so-
dienstliche Strukturen sowie deren digitale Systeme     genannten Partnerpraxen müssen dazu lediglich ihre
eng miteinander verzahnt. Das ermöglicht eine Kom-      freien Kapazitäten im IVENA-System hinterlegen.
munikation über die Sektorengrenzen hinweg und
eine passgenaue Steuerung der Patienten.                Ob Patienten in ein Krankenhaus oder in die ambu-
                                                        lante Versorgung gehören, ermitteln die Disponen-
Doch wie funktioniert die „Sektorenübergreifende        ten der 116117 und 112 am Telefon oder das Ret-
ambulante Notfallversorgung“ (SaN) konkret? Im          tungsdienstpersonal vor Ort beim Patienten. Auch
Mittelpunkt stehen mit SmED (Standardisierte medi-      hier bedeutet die Vernetzung der Akteure einen ech-
zinische Ersteinschätzung in Deutschland) und ­IVENA    ten Mehrwert. Rufen Patienten beispielsweise die 112
(Interdisziplinärer Versorgungsnachweis) zwei An-       an und bei der Befragung stellt sich heraus, dass es
wendungen, die jede für sich entweder in der am-        sich nicht um einen medizinischen Notfall handelt,
bulanten (SmED) oder in der stationären (IVENA)         werden sie und ihre Angaben unverzüglich an die
Versorgung bereits etabliert sind. So führen die Dis­   116117 übermittelt. Die Patienten müssen die me-
ponenten der 116117 die Befragung der Patienten         dizinische Ersteinschätzung demnach nicht noch ein-
schon seit einiger Zeit mit Unterstützung von SmED      mal durchlaufen und können sofort in eine Partner-
durch, um festzustellen, ob es sich um einen Notfall    praxis oder ÄBD-Zentrale vermittelt werden. „Für die
oder einen Non-Notfall handelt. Im stationären Sek-     Krankenhäuser ist das ein großer Schritt nach vorne,
tor kommt unterdessen ­IVENA, ein System zur Res-       denn die Notaufnahmen, die oftmals durch Non-Not-
sourcenübersicht, zum Einsatz. Es zeigt zum Beispiel    fälle überlastet sind, werden entsprechend entlastet“,
dem Rettungsdienst in Echtzeit die Kapazitäten der      so Prof. Dr. Steffen Gramminger, Geschäftsführender
Krankenhäuser an.                                       Direktor der HKG. Susanne Simmler, Erste Kreisbeige-
                                                        ordnete des Main-Kinzig-Kreises und stellvertretend
VERNETZUNG BIETET VIELE VORTEILE                        für die teilnehmenden Landkreise und Rettungsdiens-
                                                        te auf dem Podium, ergänzt: „Für die Rettungsdienste
Kern des SaN-Projekts ist die Vernetzung beider Sys-    bedeutet das, dass nicht indizierte Einsätze weitestge-
teme und deren sektorenübergreifende Verwendung.        hend vermieden werden können. Das spart Ressour-
Dadurch stehen Krankenhäusern, Notaufnahmen,            cen und Kosten.“

                                                                                AUF DEN PUNKT NR. 5 / OKT 2020                 5
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AKTUELLES

Der Blick aufs Podium
    mit den Rednern,
    selbstverständlich
       mit 1,5 Metern
     ­Mindestabstand.

                         PATIENTEN NICHT MEHR KONZENTRIEREN                     ursacht keine zusätzlichen Ausgaben, sie wird durch
                                                                                die ohnehin bestehenden Mittel finanziert“, erläutert
                         Vor dem Hintergrund der Reformpläne aus dem            Prof. Dr. Gramminger.
                         Bundesgesundheitsministerium betont das Bünd-
                         nis, dass das SaN-Projekt kein Konkurrenzmodell        HESSEN ÜBERNIMMT VORREITERROLLE
                         sei. Demnach habe man die Pläne Spahns lediglich
                         modifiziert und, wo nötig, optimiert. „Herr Spahn      „Wir sind von unserem Ansatz überzeugt und gehen
                         möchte eine deutschlandweit einheitliche ambulan-      davon aus, dass wir in Hessen eine Vorreiterrolle in
                         te Notfallversorgung. Die geplanten INZ haben uns      Sachen ambulanter Notfallversorgung einnehmen
                         in diesem Zusammenhang – insbesondere aus Kos-         können. Selbstverständlich werden wir hier und da
                         tengründen – von Beginn an nicht überzeugt. Denn:      nachjustieren müssen, aber das ist in so einem Pro-
                         Warum sollten wir aufwendig neue Strukturen schaf-     jekt vollkommen normal“, gibt sich Dr. Starke optimis-
                         fen, wenn sämtliche Strukturen, die wir für eine op-   tisch. Entsprechend positive Signale aus Berlin habe es
                         timale Notfallversorgung brauchen, in Hessen und       bereits gegeben, auch vom Bundesgesundheitsminis-
                         anderen Bundesländern bereits vorhanden sind und       ter. Dessen hessisches Pendant, Sozial- und Integrati-
                         lediglich miteinander vernetzt werden müssen?“, so     onsminister Kai Klose, unterstützt das SaN-Projekt. Er
                         Dr. Starke. Und weiter: „Die Corona-­Pandemie hat      sagt: „Ich bin gespannt auf die Erkenntnisse, die wir
                         darüber hinaus gezeigt, dass es wenig sinnvoll ist,    aus dem Projekt gewinnen werden und hoffe, dass sie
                         Patienten an einer Stelle wie den INZ zu konzent-      uns dem Ziel einer sektorenübergreifenden Patienten-
                         rieren. Unser Ansatz, Patienten – unterstützt durch    versorgung ein großes Stück näherbringen.“ Gegen-
                         Echtzeitinformationen über Krankenhaus- und Pra-       über den Journalisten stellte er zudem die sehr gute
                         xiskapazitäten – auf stationäre und ambulante Ein-     Zusammenarbeit der Partner heraus und bedankte
                         richtungen zu verteilen, zahlt genau darauf ein.“      sich für das Engagement. Auf Sicht, so Klose, kön-
                                                                                ne auch der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) mit
                         Und was ist mit den Kosten? „Die Strukturen sind im    einbezogen werden. Das sei mit Blick auf eine Pande-
                         stationären, ambulanten und rettungsdienstlichen Be-   miesituation sinnvoll. n
                         reich in den drei Landkreisen bereits vorhanden, wir                                     Alexander Kowalski
                         führen sie nur zusammen. Dadurch entstehen kaum
                         Kosten. Und auch die Versorgung der Patienten ver-

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AKTUELLES

„Signalkraft in Richtung Berlin
ist da“
Das „SaN-Projekt“ ist die hessische Antwort auf die Reformpläne zur Notfall­
versorgung von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Auf den PUNKT. sprach
mit dem stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der KVH, Dr. Eckhard Starke,
über das Projekt und die Hintergründe.

Herr Dr. Starke, was ist das SaN-Projekt?                  häusern und den Rettungsdiensten verwendet. Im
Dr. Starke: Hinter dem SaN-Projekt steckt die hes-         Rahmen des Projekts haben wir nun beide Systeme
sische Vision einer sektorenübergreifenden ambu-           miteinander verzahnt, sodass Patientendaten zwi-
lanten Notfallversorgung. Dabei verfolgen wir den          schen den Strukturen ausgetauscht werden können
ganzheitlichen Ansatz, dass sich alle an der Notfallver-   und IVENA nun auch Kapazitäten von Arztpraxen und
sorgung Beteiligten – also Krankenhäuser, Rettungs-        ÄBD-Zentralen anzeigt – und das jeweils in Echtzeit.
dienste, 112 und 116117 sowie niedergelassene Ärz-
tinnen und Ärzte und der Ärztliche Bereitschaftsdienst     Die Rettungsdienste können demnach also
(ÄBD) – unter Verwendung digitaler Systeme mitein­         auch Praxen anfahren?
ander vernetzen und Synergien schaffen – für eine          Dr. Starke: Ja, genau. Patientinnen und Patienten,
optimierte und ressourcengerechte Versorgung und           die kein Notfall sind, werden in die ambulante Ver-
zum Wohl der Patientinnen und Patienten.                   sorgung übergeben. So vermeiden wir nicht indizier-
                                                           te Fahrten der Rettungsdienste und entlasten die Not­
Wie kam es zu dem Projekt?                                 aufnahmen. Das ist im SaN-Projekt erstmals möglich
Dr. Starke: Wir sind der Überzeugung, dass wirkliche       und deutschlandweit einzigartig.
Notfälle natürlich in die Krankenhäuser bzw. Notauf-
nahmen gehören, Non-Notfälle jedoch in der ambu-           Um was für Praxen handelt es sich dabei?
lanten Versorgung richtig aufgehoben sind. Damit die       Dr. Starke: Im Prinzip kann jede Praxis eine so-
Patientinnen und Patienten entsprechend „gelotst“          genannte Partnerpraxis sein. Dabei spielt es keine
werden können, braucht es eine Vernetzung der sta-         Rolle, ob es sich um eine Haus- oder Facharztpra-
tionären, ambulanten und rettungsdienstlichen Struk-       xis handelt. Ideal ist natürlich, wenn eine Praxis ein
turen. Genau hier setzt das Projekt an. Wir haben uns      möglichst breites Leistungsspektrum anbietet. Ärztin-
mit den Krankenhäusern, dem Rettungsdienst und             nen und Ärzte, die freie Kapazitäten für die Notfall-
der Politik zusammengeschlossen, um einen solchen          versorgung zur Verfügung stellen möchten, können
sektorenübergreifenden Ansatz zu erproben.                 dies sehr einfach und ohne großen Aufwand über
                                                           IVENA tun. Das System ist darüber hinaus sehr flexi-
Wie genau sieht diese Vernetzung aus?                      bel. Sollten zum Beispiel Ressourcen kurzfristig nicht
Dr. Starke: Im Fokus stehen mit SmED und IVENA             mehr vorhanden sein – zum Beispiel in einem akuten
zwei etablierte Systeme, die bisher allerdings nicht       Krankheitsfall –, lässt sich die Praxis in IVENA abmel-
über die Sektorengrenzen hinaus genutzt wurden. Pa-        den. Die Praxen sind zu keiner Zeit verpflichtet, Res-
tientendaten, die über die standardisierte medizini-       sourcen vorzuhalten.
sche Ersteinschätzung mittels SmED erfragt wurden,
blieben demnach dort, wo sie erhoben wurden  – bei-        Welche Vorteile haben denn die Patientinnen
spielsweise in der ambulanten Struktur. Gleichzeitig       und Patienten?
wurde ­IVENA, eine Anwendung zur Ressourcenüber-           Dr. Starke: Der wichtigste Vorteil ist, dass die Pa-
sicht in Echtzeit, ausschließlich von den Kranken-         tientinnen und Patienten an der richtigen Stelle ver-

                                                                                  AUF DEN PUNKT NR. 5 / OKT 2020                 7
PUNKT. Digitalisierung: Der Rhythmus, bei dem man mit muss - KV ...
AKTUELLES

                                                                          Und was sagt Berlin dazu?
                                                                          Dr. Starke: Wir haben unser Projekt sowohl dem
                                                                          Bundesgesundheitsminister wie auch dem GKV-Spit-
                                                                          zenverband und dem G-BA vorgestellt. Die Reaktio-
                                                                          nen waren durchweg positiv, eine gewisse Signalkraft
                                                                          in Richtung Berlin ist da. Ich bin daher vorsichtig opti-
                                                                          mistisch, dass wir in Hessen Vorreiter für Deutschland
                                                                          sein können. Einige Bundesländer sind bereits sehr an
                                                                          unserem Projekt interessiert.

                                                                          Schauen wir einmal in die Zukunft. Wie soll sich
                                                                          das Projekt perspektivisch entwickeln?
                                                                          Dr. Starke: Das SaN-Projekt ist ein Prozess. Wir star-
                sorgt werden – und das möglichst schnell. Durch die       ten erst einmal in den drei Landkreisen Main-Taunus,
                Ressourcenübersicht in Echtzeit werden lange War-         Main-Kinzig und Gießen. Die Verantwortlichen dort
                tezeiten vermieden. Darüber hinaus zeigt IVENA an,        haben das Potenzial des Projekts sofort erkannt. Au-
                welches Krankenhaus oder welche Praxis für die je-        ßerdem verfügen die örtlichen Rettungsdienste be-
                weiligen Beschwerden geeignet ist. Eine Person mit        reits über alle notwendigen Strukturen. Perspektivisch
                Nasenbluten landet demnach idealerweise nicht in          möchten wir aber so schnell wie möglich weitere
                einer chirurgischen Praxis, sondern vielleicht in einer   Landkreise mit ins Boot holen. Ziel ist es, die sektoren-
                Hals-Nasen-Ohren-Praxis. Zudem müssen die Patien-         übergreifende ambulante Notfallversorgung in ganz
                tinnen und Patienten ihre Symptome, anders als bis-       Hessen zu etablieren.
                her, nur einmal schildern. Die erneute Abfrage der be-
                reits zuvor erfassten Angaben ist entbehrlich. Rufen      Möchten Sie den Ärztinnen und Ärzten ab-
                sie zum Beispiel die 116117 an, sind aber ein Notfall,    schließend noch etwas sagen?
                werden sie und ihre Angaben unverzüglich an die 112       Dr. Starke: Mit dem SaN-Projekt ist es seit langer
                weitergeleitet. Das spart wertvolle Zeit.                 Zeit zum ersten Mal gelungen, alle Beteiligten an ei-
                                                                          nen Tisch zu holen, um gemeinsam an einer optimier-
                Anfang des Jahres hat Jens Spahn seine Vor-               ten Notfallversorgung zu arbeiten. Allein das zeigt,
                stellung von einer Reform der Notfallversor-              wie wichtig dieses Projekt und wie groß der Schritt
                gung in Form eines Referentenentwurfs prä-                nach vorne ist. Ich möchte mich daher bei allen Part-
                sentiert. Wie passt das SaN-Projekt dazu?                 nern, dem Hessischen Ministerium für Soziales und
                Dr. Starke: Unser Ansatz ist ein modifizierter. Auch      Inte­gration, der Hessischen Krankenhausgesellschaft,
                Herr Spahn verfolgt ja den Gedanken, die Sektoren         den beteiligten Landkreisen und Rettungsdiensten,
                zu verzahnen. Wir halten jedoch nichts davon, so-         der Landesärztekammer Hessen, dem Hessischen
                genannte Integrierte Notfallzentren (INZ) als zentra-     Landkreis- sowie Städtetag und dem Zentralinstitut
                le Anlaufstellen zu installieren. Diese deutschlandweit   der KVen für die Zusammenarbeit bedanken. Unse-
                flächendeckend zu betreiben ist schon alleine aus         ren hessischen Ärztinnen und Ärzten möchte ich sa-
                Kostengründen kaum machbar. Darüber hinaus hat            gen: Der sektorenübergreifende Ansatz steht und fällt
                uns die Corona-Pandemie gelehrt, dass es der falsche      mit Ihnen. Er funktioniert nur deshalb, weil wir eine
                Weg ist, Menschen zu konzentrieren. Es gilt vielmehr,     ambulante Versorgung auf sehr hohem Niveau ha-
                volle Notaufnahmen und Wartebereiche zu vermei-           ben. Wir freuen uns daher sehr, wenn auch Sie Ihre
                den. Unser Projekt spielt hier seine Stärke aus, denn     Ressourcen zur Verfügung stellen und gemeinsam
                mit IVENA wissen die Verantwortlichen jederzeit, wie      mit uns den Gedanken ambulant vor stationär mit Le-
                voll die Krankenhäuser, Praxen oder ÄBD-Zentralen         ben füllen. n
                sind. Wir können die Patientenströme also entspre-                                            Die Fragen stellte
                chend steuern.                                                                              Alexander Kowalski

8               AUF DEN PUNKT NR. 5 / OKT 2020
PUNKT. Digitalisierung: Der Rhythmus, bei dem man mit muss - KV ...
AKTUELLES

Hausärztin Birgit Beyer gehört
zum Corona-Heldenkader
Auf Einladung des Deutschen Fußball-Bunds und von Volkswagen wird die
Feldataler Hausärztin 2021 zum Finale der Fußball-Europameisterschaft nach
London fliegen.

                                                                                                                 Birgit Beyer
                                                                                                                 ist Ärztin aus
                                                                                                                 Leidenschaft.

Viele Menschen haben während der Corona-Zeit
Großes und Großartiges für das Allgemeinwohl ge-
leistet. 23 von ihnen wurden nun vom Deutschen
Fußball-Bund und dessen Mobilitätspartner Volks-
wagen in einen „Heldenkader“ berufen. Als Danke-
schön für ihren unermüdlichen Einsatz während der
Corona-Pandemie geht es im kommenden Jahr nach
London zum Finale der Fußball-Europameisterschaft.
Vorgeschlagen wurde Birgit Beyer, Allgemeinmedi-
zinerin im Vogelsbergkreis, klammheimlich von ih-
rem Sohn Constantin (18): „Was sie [meine Mutter]
für mich zur Heldin macht, ist ihr Tatendrang, neben
dem Alltag als Ärztin auch noch in der Versorgung
der Risikopatienten unserer Gemeinde mitzuhelfen.
Dank Menschen wie ihr schaffen wir es, durch sol-
che Krisen zu kommen und ich bin unendlich stolz,
dass sie meine Mutter ist.“

Als fußballbegeisterter junger Mann, der länger hö-    informieren. Aber verständlicherweise überwog bei
herklassig gespielt hat, erfuhr Constantin von der     Birgit Beyer, die ihren Sohn immer unterstützt hat in
Online-Kampagne. Fünf Wochen lang konnten              seiner Leidenschaft für den Fußball, die Freude über
Menschen auf der Internetseite von Volkswagen          ihre Auszeichnung. Sie sagt: „Das ist eine wirklich
ihre ganz persönlichen Helden vorschlagen. Eine        tolle Aktion und hier im Dorf jetzt ein großes The-
Jury, der unter anderem Bundestrainer Joachim Löw      ma, denn die Zeitung hat auch schon darüber be-
angehörte, stellte dann aus mehreren hundert Vor-      richtet. Ich freue mich wirklich sehr über mein Ti-
schlägen den finalen 23er-Heldenkader zusammen,        cket zum Finale der Fußball-Europameisterschaft
zu dem auch Birgit Beyer zählt. Als dann Constan-      und wie positiv mein Sohn mich sieht.“ Die KV Hes-
tin einen Anruf von Volkswagen (VW) erhielt mit der    sen gratuliert Birgit Beyer herzlich zu ihrer Auszeich-
Frage nach den Kontaktdaten seiner Mutter, kam er      nung als Corona-Heldin und dankt Constantin für
mächtig ins Schwitzen, denn seine Mutter wusste ja     seine Courage. n
von nichts und VW wollte sie über ihre Nominierung                                             Petra Bendrich

                                                                              AUF DEN PUNKT NR. 5 / OKT 2020                      9
PUNKT. Digitalisierung: Der Rhythmus, bei dem man mit muss - KV ...
TITELTHEMA

10        AUF DEN PUNKT NR. 5 / OKT 2020
TITELTHEMA

Digitalisierung:
Von den Besten zu lernen
wäre besser gewesen!
Beim Thema Digitalisierung wird sich in den             Nach dem Motto „Das ist der Rhythmus, wo jeder
nächsten zwei Jahren vieles verändern. Wir könn-        mit muss“, können wir uns dem Wandel natürlich
ten von den Besten lernen und erfolgreiche Sys-         nicht entziehen. Zudem ist es unsere Aufgabe, Sie
teme aus anderen Ländern, wie zum Beispiel aus          über anstehende Veränderungen und Neuerun-
Estland, an unsere Marktgegebenheiten adaptie-          gen zu informieren, damit Sie sich in Ihrem Praxis­
ren. Davon ließen sich wirkliche Mehrwerte für die      alltag darauf einstellen können. Daher haben wir
Patienten, die Praxen und die Versorgung ablei-         Ihnen selbstverständlich die wichtigsten Regelun-
ten. Das wäre eine klassische Win-win-Situation         gen zusammengefasst, damit Sie sich einen Über-
für alle Beteiligten, sogar unter Einhaltung höchs-     blick verschaffen können rund um die anstehen-
ter IT-Sicherheitsstandards. Warum das aber nicht       de Digitalisierung. Sie finden hier alles Wichtige
so ist und was wir konkret kritisieren, lesen Sie auf   zur geplanten Zeitschiene, zum neuen Dienst für
den nächsten Seiten im Interview mit den beiden         Kommunikation im Gesundheitswesen, zur eAU,
Vorständen der KV Hessen.                               zum eHBA und zur ePA sowie zu den verordnungs­
                                                        fähigen Apps. n
                                                                                            Petra Bendrich

                                                                             AUF DEN PUNKT NR. 5 / OKT 2020       11
TITELTHEMA

             Grünes Licht für die TI
             Nach den Plänen der Politik wird es nun Schlag auf Schlag gehen mit der Di­
             gitalisierung in den Praxen. Die Vernetzung im Gesundheitswesen schreitet
             voran. Der Nutzen für die Praxen bleibt abzuwarten, der Nutzen für die Pati­
             enten muss sich auch beweisen. Wie es in Sachen Digitalisierung weitergeht,
             sehen Sie hier.

                                              eMP
       KIM                                    (elektronischer                 DiGA
                                              ­Medikationsplan)               (Digitale Gesundheits-
       (Kommunikation
       im Medizinwesen)                       Angaben zur Medikation          anwendungen) und
                                              eines Patienten können in       „Apps auf ­Rezept“
       Kommunikationsdienst zum
                                              Form eines eMP auf der eGK      DiGA können über das
       ­sicheren Dokumentenaus­
                                              eingesehen und gespeichert      Muster 16 verordnet
        tausch über die TI.
                                              werden.                         ­werden.
                    seit Sommer                           seit Sommer                       seit Herbst
                        2020                                  2020                             2020

     2020
                                                                                        seit 1. Juli
                                                 seit Sommer                              2020
                                                     2020
                     NFDM                                         Vergütung von Versand und
                     (Notfalldatenmanagement)                     Empfang von eArztbriefen
                     Mit dem NFDM werden medizinische             Der Versand von eArztbriefen über
                     Notfalldaten direkt auf der eGK des          den KIM-Dienst wird vergütet.
                     Patienten gespeichert.

12           AUF DEN PUNKT NR. 5 / OKT 2020
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                                                                                    Datenspende
                                        eVerordnung                                 Freiwillige Datenspende
                                        (elektronische Verordnung)                  von Versicherten möglich.
ePA
                                        Pflicht zur elektronischen Verord­
(elektronische Patientenakte)                                                                        ab 2023
                                        nung verschreibungspflichtiger
Die ePA ist auf der eGK hinterlegt      Arzneimittel.
und beinhaltet eine übergreifende
                                                              ab 2022
Dokumentation der Krankheits­
geschichte.
              ab 1. Januar 2021
                  (freiwillig);
                ab 1. Juli 2021
               ­(verpflichtend)

                                                                                    2023
                                          2022
  2021

                                                                                         ab 2022
                  voraussichtlich ab 1. Oktober 2021      eImpfpass
                      (vorausgesetzt, die Kassen
                         stimmen der Frist zu)            (elektronischer Impfpass)
    eAU                                                   Der eImpfpass soll in der ePA genutzt
    (elektronische Arbeitsunfähig­                        werden können. Damit wäre er das erste
    keitsbescheinigung)                                   medizinische Informationsobjekt (MIO).
    Die eAU wird elektronisch über den KIM-
    Dienst vom Arzt an die Krankenkasse
    übermittelt.

                                                                                               n
                                                                                  Petra Bendrich

                                                                    AUF DEN PUNKT NR. 5 / OKT 2020         13
TITELTHEMA

          „Die TI gehört in den Elektronik­
          schrott!“
          Der Vorstand der KVH zeigt klare Kante. Im Interview legen die Vorstandsvorsit­
          zenden Frank Dastych und Dr. Eckhard Starke dar, warum die Digitalisierung an
          sich richtig, im deutschen Gesundheitswesen aber krachend gescheitert ist.

          Wenn Sie die Digitalisierung im deutschen Ge-            so weiter, bereits veraltet war. Man hat sich von der
          sundheitswesen mit wenigen Begriffen be-                 Industrie mit Pseudosicherheitsargumenten bei der
          schreiben müssten, welche wären das?                     gematik gewaltig über den Tisch ziehen lassen. Im
          Dastych: Kein Konzept, kein Plan, kein Ziel, keine       Prinzip brummen die Dinger zwar und stellen Verbin-
          Ideen.                                                   dungen her, aber mehr können sie auch nicht.
          Starke: Notwendig, aber nicht praxistauglich.
                                                                   Man hat also damals schon einen Geburtsfeh-
          Warum gibt es denn weder Konzept noch Plan               ler gemacht?
          oder Idee?                                               Dastych: Das war von Anfang an verwachst. Und
          Dastych: Man hat auf die bisherigen Player im            das Problem ist, dass dort inzwischen so viel Geld
          System gesetzt und dabei verkannt, dass die Not-         geflossen ist, dass sich kein Politiker mehr traut, die
          wendigkeit der Digitalisierung nicht gleichzeitig        längst überfällige Notbremse zu ziehen.
          kompatibel mit den Interessen einer vorrangig pro-
          fitorientierten eHealth-Industrie ist. Man hat die In-   Apropos Notbremse. Mit Herrn Spahn gibt es
                                          dustrie ins Boot ge-     ja einen hyperaktiven Gesundheitsminister, der
                                          holt, man hat auf sie    sich im letzten Jahr entschlossen hat, die gema-
                                          gehofft – und diese      tik zu verstaatlichen. Ist dadurch irgendetwas
                                          hat am Ende Lösun-       besser geworden?
                                          gen produziert, von      Dastych: Dieser hyperaktive Gesundheitsminister
                                          denen sie selber pro-    hat einen hyperaktiven Abteilungsleiter eingestellt,
                                          fitiert, die aber aus    aber aus meiner Sicht ist dadurch nichts besser ge-
                                          meiner Sicht weder       worden, im Gegenteil: Gerade in der Situation, in
                                          praxistauglich noch      der wir uns jetzt befinden – und ich spreche von ei-
                                          zukunfts­fähig sind.     ner wirklichen Krise –, an der auch die KBV nicht
                                                                   ganz unschuldig ist, hätte eigentlich eine vernünf-
                                        Wann hätte man             tige Analyse des Status quo uns mehr geholfen als
                                        merken       können,       ein „Weiter so“ mit der Brechstange. Denn sind wir
                                        dass das so ist?           mal ganz ehrlich: Dieser Abteilungsleiter geht im-
                                        Dastych: Gleich am         mer nach dem gleichen Muster vor, er droht mit der
                                        Anfang, als es um die      Keule und setzt überall die Brechstange an, um für
                                        Spezifikation der Kon-     seinen Minister das Ganze voranzutreiben. Letzt-
                                        nektoren ging, war         lich macht Herr Ludewig das, was Menschen mit
                                        klar, dass hier eine       der Patientenverfügung eigentlich verhindern sol-
                                        proprietäre Hardware       len. Wenn man ohne Hoffnung auf Genesung als
                                        gebaut wurde, die          beatmungspflichtiger Patient auf der Intensivstation
          vor sechs, sieben Jahren von den Kernprozessen her,      liegt, dann kauft Herr Ludewig im Moment ein neu-
          also Übertragungsgeschwindigkeit, Bandbreite und         es Beatmungsgerät.

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TITELTHEMA

Dann müsste man doch konsequenterweise                   gen, was man errei-
die Beatmungsgeräte abstellen, um im Bild zu             chen will? Und wie
bleiben …                                                kann ich das, was ich
Dastych: Für diese Telematikinfrastruktur, wie wir       erreichen will, umset-
sie im Moment haben, müssten wir die Beatmungs-          zen? Wir in Deutsch-
geräte längst abstellen. Offensichtlich sind damit       land gehen leider oft
aber viel zu viele Profitinteressen der Industrie ver-   ganz anders vor. Wir
knüpft und man hat Angst um die politischen Kon-         pumpen viel Geld in
sequenzen, denn wenn wir mal in Länder schauen,          irgendetwas,     ohne
in denen erfolgreich das Gesundheitssystem ver-          eben vorher genau
netzt wird – und dabei denke ich an Krankenhäu-          zu wissen, was es
ser, niedergelassene Praxen, Apotheken, Heil- und        denn eigentlich leis-
Hilfsmittelerbringer –, wie in Estland, dann sieht       ten soll. Das kann ja
man, dass das absolut erfolgreich mit internationa-      nur schiefgehen.
len Standards in der Technologie möglich und trotz-
dem sicher ist und Dinge ermöglicht, die man unter       Jetzt sagt der Herr
Telemedizin versteht. Denn seien wir ehrlich: Unse-      Spahn ja, das gan-
re Konnektoren werden dazu nie in der Lage sein,         ze Thema Digitali-
weil sie gar nicht die Übertragungsraten hinbekom-       sierung sei ein der-
men. All das ist in anderen Ländern schon möglich,       artiges Desaster gewesen, er habe die Zügel
während wir in Deutschland gerade das Rad zum            in die Hand nehmen müssen und arbeitet jetzt
zehnten Mal neu erfinden, ohne dass auch nur ein         nur noch mit Sanktionen. Das führt doch dazu,
Rad halbwegs rund läuft. Nein, lasst uns nach Est-       dass sich die Fronten immer mehr verhärten …
land schauen, lasst uns innovative Technologie aus       Dastych: Man muss das zweiteilen. Es gibt sicher ei-
Ländern importieren, in denen es funktioniert, dann      nen Teil Digitalisierungsgegner, deren letzter Inno-
werden wir auch die IT-skeptischen Anwender end-         vationsschritt in der Praxis der TI30-Taschenrechner
lich überzeugen. Und dann bringen wir auch endlich       aus dem Jahr 1975 ist. Das ist keine große Grup-
etwas in die Praxen, das einen echten Mehrwert für       pe, eher ein niedriger einstelliger Prozentsatz. Aber
Patienten und Praxen hat.                                es gibt immer mehr Kolleginnen und Kollegen, die
                                                         die Faxen dicke haben, die sogar IT-affin sind und
Was unterscheidet denn die Technologie wie               keine Probleme mit der Digitalisierung haben, aber
die Konnektoren, zum Beispiel die aus Estland,           inzwischen keinen Nutzen mehr sehen. Ein exzel-
von den deutschen „Steinzeitkonnektoren“?                lentes Beispiel ist die elektronische Arbeitsunfähig-
Dastych: Es ist so, dass diese Konnektoren auf in-       keitsbescheinigung: Die bringt den Praxen null Nut-
ternationalen Sicherheitsstandards aufsetzen und         zen und Mehrwert, der Versorgung ebenso nicht.
damit letztendlich schnell und unproblematisch im-       Sie brauchen dafür ein saumäßig teures Update ih-
mer auf den aktuellsten Stand der Technik gebracht       res Konnektors, sie brauchen dafür einen elektroni-
werden können. Was nutzt es, wenn man an ei-             schen Heilberufsausweis mit digitaler Signatur, um
nem privilegierten Standort in Hessen seine Pra-         am Ende etwas zu generieren, was allen voran den
xis hat – damit meine ich Glasfaseranschluss – und       Krankenkassen nutzt. Die Arbeitgeber schreien auch
tatsächlich von dem jeweiligen Provider einen An-        nicht unbedingt nach der elektronischen AU, den Pa-
schluss mit einem Gigabyte Bandbreite angeboten          tienten ist es leidlich egal – und wenn solche Din-
bekommt und diesen Konnektor dranhängt. Dann             ge dann mit Zwang in die Praxen gebracht werden,
ist das ungefähr so, als wenn man an einen Por-          dann sagen irgendwann auch die Gutwilligsten: Du
sche Holzräder aus dem 18. Jahrhundert schraubt.         kannst mich mal!
Und man wundert sich, dass es schon ab Tempo 40
nicht mehr läuft.                                        Welchen Ausweg aus dieser Situation gibt
Starke: Und ich wundere mich, warum man auch             es denn? Denn Herrn Spahns Wahrnehmung
aus aktuellen Fehlern nichts Vernünftiges lernt, denn    scheint ja zu sein, dass die Digitalisierung
zu einer Idee, wie zum Beispiel der Corona-APP, ge-      stockt, weil die Ärzte nicht hinterherkommen.
hört es doch zunächst einmal, sich danach zu fra-        Also zieht er die Daumenschrauben an …

                                                                                  AUF DEN PUNKT NR. 5 / OKT 2020      15
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                  Dastych: Das ist ja meine Kritik an Herrn Spahn. Ich       toren und wenn diese Konnektoren ohnehin 2022
                  glaube, dass er überhaupt keine Ahnung von dem             auslaufen, warum machen wir dann bitteschön bis
                  hat, was er da eigentlich tut. Er hat sich zum politi-     dahin weiter, obwohl wir jetzt schon wissen, dass es
                  schen Ziel gesetzt, irgendwelche Lösungen zu pro-          keine zukunftsfähige Lösung ist? Ob Software VPN,
                  duzieren – für welche Probleme auch immer. Und             was wir angeregt haben, da eine Lösung ist, muss
                                           das, was halbwegs vernünf-        man sehen. Für einen Großteil der Praxen ist das so,
                                           tige Leute über Jahre im-         aber beim Software VPN bedeutet es, dass man da-
»Was nutzt es, wenn man […] ei-            mer wieder gefordert haben,       rauf angewiesen ist, dass diese Software permanent
nen Anschluss mit einem Giga-              nämlich mit Anwendungen           upgedatet wird. Und was ganz sicher so ist: Sie kön-
byte Bandbreite angeboten be-              an die Praxen heranzutre-         nen eine solche Software nur auf ein sauberes und
kommt und diesen Konnektor                 ten, die einen echten Nut-        sicheres System aufspielen, sonst ist das System be-
dranhängt. Dann ist das ungefähr           zen für die Patientenversor-      reits kompromittiert, bevor Sie die Software über-
so, als wenn man an einen Por-             gung bringen, uns also in der     haupt aufspielen. Das sind natürlich gewisse Anfor-
sche Holzräder aus dem 18. Jahr-           Versorgung nach vorne brin-       derungen, aber die kann man auch so handhabbar
hundert schraubt. Und man wun-             gen, machen wir den glei-         gestalten, dass sie für Praxen machbar sind. Wir brau-
dert sich, dass es schon ab Tempo          chen Mist der vergangenen         chen wirklich praxistaugliche Lösungen. Aber weder
40 nicht mehr läuft.«                     Jahre einfach weiter. Nur mit     die eAU noch der Versicherten­stammdatenabgleich
                        Frank Dastych     noch mehr Hurra, Gebrüll          noch eine aus meiner Sicht völlig nutzlose elektroni-
                                           und Sanktionen. Das ist aus       sche Patientenakte, die eigentlich nichts anderes ist
                                           meiner Sicht eine absolute        als ein Schweizer Käse, also viele Löcher und ein biss-
                                           Sackgasse.                        chen was drumrum, die weder vollständig noch ver-
                  Starke: Es geht vor allem nicht darum, dass ich als        nünftig administriert ist, auf die Ärzte nur nach Maß-
                  Politiker etwas einführe, um dies auf mein Haben-          gabe des Patienten – und damit nur unvollständig,
                  konto meiner Karriere verbuchen zu können, son-            zum Teil gar nicht – zugreifen können, das ist doch
                  dern es geht darum, den Praxen klarzumachen, was           Mist, Murks und Pfusch. Alle innovativen Digitalan-
                  erreicht werden soll – so kommt man raus aus der           wendungen, wie zum Beispiel unser preisgekröntes
                  Sackgasse. Ärzte sind ja per se nicht gegen jeden          eRezept, setzen doch auf eine Technologie jenseits
                  Fortschritt, aber sie wollen das Ziel erkennen und         der Telematikinfrastruktur. Das ist doch bezeichnend.
                  nachvollziehen und schon längst hätte es dazu einen        Wir haben tatsächlich mit der gematik an der Stel-
                  vernünftigen Dialog mit der Ärzteschaft gebraucht.         le ein im eigenen Saft schmo­rendes, am Ende völlig
                  Das ist leider in der Vergangenheit nicht erfolgt. Mit     nutzloses Vernetzungsprojekt.
                  der Brechstange geht das nicht …
                  Dastych: Wir haben ja als FALK-KVen ein entspre-           Muss sich auch die Ärzteschaft Vorwürfe ma-
                  chendes Positionspapier publiziert, wobei das erst ein     chen lassen?
                  erster Aufschlag ist. Wir sagen ja nicht: Stoppt die Di-   Dastych: Ich glaube nicht, dass die KBV derzeit einen
                  gitalisierung. Sondern wir sagen: Macht die Digitali-      konstruktiven Dialog mit der innovativen Ärzteschaft
                  sierung endlich praxistauglich. Wir müssen uns von         ersetzen kann. Die Kassenärztliche Bundesvereini-
                  der PVS-Industrie an einer Stelle wirklich befreien.       gung hat sich so ein bisschen von dem Spahnschen
                  Es handelt sich um faktisch monopolistische Struk-         Trend anstecken lassen, dass Vernetzung in erster Li-
                  turen in zwei Konzernen, die nur noch das liefern,         nie mal reguliert werden müsse, gesetzlich vorgege-
                  was ihnen die größten Profite bringt, die jede Inte-       ben sei. Und das ist der völlig falsche Weg, weil es
                  roperabilität durch standardisierten Datenaustausch        jegliche Innovation und Dynamik in dem Bereich ab-
                  verhindern, einen Export zwischen verschiedenen            würgt. Das beste Beispiel dafür ist das, was die KBV
                  PVS-Systemen unmöglich machen. Das ist schein-             zusammen mit dem BSI (Bundesamt für die Sicherheit
                  bar auch ein Thema, das Herrn Spahn nicht interes-         in der Informationstechnologie; Anmerkung der Re-
                  siert, da hält er wohl schützend die Hand über diese       daktion) als Sicherheitsrichtlinie konzipiert hat, auch
                  Industriekonsortien, aus welchen Gründen auch im-          wenn das mit der TI nichts zu tun hat, aber das ist pa-
                  mer. Ich hoffe, dass Parteibücher in parteinahen Wirt-     thognomonisch für das Denken der KBV, maximal al-
                  schaftsräten da nicht die entscheidende Rolle spielen.     les regulieren zu wollen und eigentlich keine konkrete
                  Wir brauchen innovative Lösungen, was die Vernet-          Vorstellung vom Nutzen dieser Regulierung zu haben,
                  zung angeht. Wir müssen weg von diesen Konnek-             außer wir machen alles ganz sicher. Und eben kei-

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                                  »(…) die elektronische Arbeitsunfä-
ne konkreten Vorstellungen        higkeitsbescheinigung: Die bringt den              Starke: Es ist immer ein Spa-
von den Auswirkungen auf          Praxen null Nutzen und Mehrwert, der               gat eines KV-Vorstands zwi-
die Praxis zu haben, und da       Versorgung ebenso nicht. Sie brau-                 schen der eigenen Haltung
kritisiere ich auch die bei-      chen dafür ein saumäßig teures Up-                 und dem, was er aus gesetz-
den ärztlichen Vorstände,         date ihres Konnektors, sie brauchen                lichen Gründen als Vorstand
denen es offenbar nicht ge-       dafür einen elektronischen Heilberufs-             einer Körperschaft tun muss
lingt, hier den dritten Vor-      ausweis mit digitaler Signatur, um am              und dem, was wir unseren
stand und die dort zuarbei-       Ende etwas zu generieren, was allen                Mitgliedern zumuten kön-
tenden ITler in irgendeiner       voran den Krankenkassen nutzt. Die                 nen. Und dieser Spagat wird
Form davon zu überzeugen,         Arbeitgeber schreien auch nicht unbe-              zunehmend schwieriger und
dass das Ganze eben einen         dingt nach der elektronischen AU, den              bei der Digitalisierung ist ir-
Nutzen für die Praxis haben       Patienten ist es leidlich egal.«                  gendwo der Geduldsfaden
muss. Dabei will ich Herrn                                      Frank Dastych       ­gerissen. Man trifft auf eine
Dr. Kriedel gar nicht zu sehr                                                         Ärzteschaft, die auf der einen
kritisieren, denn er ist kein                                                         Seite in Ehren älter gewor-
Arzt und hat niemals in seinem Leben auch nur im         den ist, die wir gar nicht mehr mitnehmen können und
mittelbaren Dunstkreis von niedergelassenen Praxen       die auch ausgebrannt ist, und eine junge Generati-
gearbeitet. Er ist in der KV WL als Verwaltungsmann      on, die diesen Beruf gerade aus diesen Gründen nicht
groß geworden, hat immer nur verwaltet. Das tut er       mehr so attraktiv findet, dass sie wirklich in der Nie-
im Moment übrigens auch. Aber er weiß leider nicht,      derlassung arbeiten will. Das sehen wir jeden Tag.
was er tut, wenn man die Auswirkungen auf die nie-       Und deshalb ist es höchste Zeit, diese beiden Strö-
dergelassenen Strukturen anschaut. Leider ist der Di-    mungen wieder zueinander zu führen und das geht
alog mit den Vorständen aus den Landes-KVen sehr         nicht, indem wir weiter mitmachen wie bisher.
defizitär. Dort schlägt man immer mehr die Hände         Dastych: Man muss dabei aufpassen, dass sich die
über dem Kopf zusammen. Und die Stimme der Ver-          ewig gestrigen Schreier, ob das die IG med oder an-
nunft, die die KBV eigentlich sein sollte, schweigt lei- dere sind, nicht bestätigt fühlen. Weil das ist es näm-
der schon sehr lange.                                    lich überhaupt nicht. Wenn man wirklich nach vorne
                                                         sehen will, dann muss man diesen ganzen, milliar-
Jetzt haben Sie als Regional-KV ja das Problem,          denteuren TI-Mist komplett in den Elektronikschrott
dass Sie die Einführung eines Systems überwa-            entsorgen. Jetzt kommen die ewig Gestrigen und
chen müssen, das Sie gerade als komplettes               sagen: Wir haben es schon immer gewusst! Und
Desaster beschrieben haben …                             dazu muss man sagen: Man muss das Ganze ablö-
Dastych: Hier geht es natürlich um unser Rollenver-      sen durch modernere, innovativere, bessere und pra-
ständnis. Und so bitter das ist: Wir sind als eine Kör-  xistaugliche Lösungen. Ich könnte mir beispielsweise
perschaft des öffentlichen Rechts dazu verpflichtet,     ein eigenes PVS-System der KBV/KV-Welt vorstellen,
Gesetze zu exekutieren, die wir – by the way – auch      das im Prinzip jede Praxis nutzen kann, mit offener
dankenswerterweise noch bezahlen dürfen. Aber            Systemarchitektur, wo man die Datenbank problem-
wir sind nun an einem Punkt angekommen, wo wir           los rausziehen kann, um es zu exportieren. Das wäre
anfangen müssen, als Landes-KVen unsere Stim-            ein System, das aus meiner Sicht zu unserem Versor-
me zu erheben. Ja, wir sanktionieren, wir zwingen        gungsauftrag passt, denn Sicherstellung setzt heute
unsere Mitglieder zu etwas, wovon wir nicht mehr         elektronische Kommunikation und Abrechnung vor-
überzeugt sind. Es war Hoffnung auf die Trendwen-        aus. Und wenn man diese Aufgaben im Rahmen der
de da, es war Hoffnung da auch mit der Übernah-          Sicherstellung hat, dann ist es doch nur logisch, dass
me durch das BMG, dass insbesondere der Einfluss         man dafür auch die Software zur Verfügung stellt.
der Krankenkassen zurückgedrängt wird, es war            So könnte man die kartellartige Marktmacht, die wir
Hoffnung da mit dem neuen gematik-Chef – alle            im Moment haben und die den Praxen schadet, auf­
Hoffnungen sind enttäuscht worden und eigentlich         brechen. n
am schlimmsten ist Herr Spahn. Wenn man mal ge-                                                 Die Fragen stellte
nau hinschaut, dann fehlt ihm wohl gerade bei der                                                     Karl M. Roth
Digitalisierung die Expertise.

                                                                                    AUF DEN PUNKT NR. 5 / OKT 2020        17
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          „Mehrwert der Digitalisierung
          muss erkennbar sein“
          Am 24. Juli 2020 erhielt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn Post von den Vor­
          ständen der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Kassenärztlichen Bundesver­
          einigung. In einem offenen Brief formulierten sie sieben Forderungen:

              Sehr geehrter Herr Bundesminister Spahn,

              die Notwendigkeit, aber auch die Herausforderungen der Digitalisierung des deutschen Gesundheits-
              systems sind den niedergelassenen Ärzten und Psychotherapeuten bewusst. Unsere Vertragsärzte und
              -psychotherapeuten wollen eine aktive Rolle bei der Digitalisierung und ihrer praktischen Umsetzung
              spielen, soweit diese einer Verbesserung der medizinischen Versorgung der Patienten dient.

              Die derzeitigen gesetzlichen Rahmenbedingungen der TI-Ausgestaltung sind jedoch geeignet, die
              notwendige Akzeptanz der Niedergelassenen zu verspielen. Sie verhindern damit eine erfolgreiche
              und sinnvolle digitale Vernetzung der Beteiligten. Gegenwärtig ist den Niedergelassenen der Mehr-
              wert digitaler Anwendungen nicht mehr zu vermitteln. Die Vertragsärzte haben die Pflichten, die spä-
              teren Datennutzer wie z. B. Krankenkassen und Arbeitgeber aber den Vorteil in Form von besseren
              und schnelleren Informationen. Zudem müssen die Praxen teilweise die Kosten für technisches Ver-
              sagen dieser Systeme selbst tragen. Sie werden gleichzeitig mit Sanktionen bedroht, wenn sie nicht
              fristgemäß Anwendungen implementieren, die entweder noch nicht verfügbar oder technisch un-
              ausgereift sind.

              Die derzeitigen Digitalisierungskonzepte bedeuten für die Praxen keine Arbeitserleichterung, sondern
              stellen eine zunehmende Bürokratisierung im ärztlichen Alltag dar.

              Es wird aktuell immer deutlicher absehbar, dass unsere Niedergelassenen diese Bedingungen nicht
              mehr tolerieren. Wir stellen derzeit fest, dass immer mehr junge Kollegen die Niederlassung scheuen
              und immer mehr ältere Kollegen aus der Versorgung ausscheiden – mit schwerwiegenden Auswirkun-
              gen auf die Sicherstellung der Versorgung, besonders in der Fläche. Denn rund 34 Prozent der Nieder-
              gelassenen sind über 60 Jahre alt.

              Die Vertragsärzte und -psychotherapeuten fordern:

              1. Der Mehrwert der Digitalisierung und insbesondere der Anbindung an die TI muss für die Nieder-
                 gelassenen klar erkennbar sein. Neue digitale Anwendungen müssen sich auf die originären Auf-
                 gaben der Vertragsärzte beschränken.

18        AUF DEN PUNKT NR. 5 / OKT 2020
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2. Vor der Einführung von Systemen der Digitalisierung muss deren Funktionsfähigkeit gewährleistet
   sein. Zudem ist sicherzustellen, dass es ein dauerhaftes Ersatzverfahren gibt.

3. Die Zeiträume für die Einführung digitaler Anwendungen müssen angemessen im Hinblick auf
   Plausibilität und Machbarkeit sein. Bestehende Fristen zur Umsetzung müssen erheblich verlängert
   werden, um entsprechende Übergänge und Anpassungen bis zur Funktionsfähigkeit sicher zu er-
   möglichen.

4. Die Androhung von Sanktionen bei nicht fristgemäßer Implementierung erzeugt unnötige Wider-
   stände und ist daher kontraproduktiv.

5. Die Kosten der Anbindung an die TI sowie alle Folgekosten müssen angemessen finanziert werden.
   Dies betrifft auch die Kosten aufgrund der dringend notwendigen und längst überfälligen Daten-
   schutzfolgeabschätzung.

6. Dem KV-System muss die Möglichkeit gegeben werden, endlich industrieunabhängig eigene Lö-
   sungen für den PVS/TI-Bereich in den Vertragsarztpraxen zu entwickeln und den Mitgliedern der
   KVen zur Verfügung zu stellen.

7. Bei der Ausgestaltung der IT-Sicherheitsrichtlinie nach § 75 Absatz 5 SGB V muss sichergestellt
   sein, dass die technischen Anforderungen sinnvoll und tragbar für die Praxen der Niedergelasse-
   nen sind. Statt des „Einvernehmens“ muss nur noch das „Benehmen“ mit dem Bundesamt für Si-
   cherheit in der Informationstechnik (BSI) hergestellt werden. Die vollständige Finanzierung der da-
   mit verbundenen Kosten für die Praxen muss vorab abschließend geklärt sein.

Sehr geehrter Minister Herr Spahn, unsere Vertragsärzte sind derzeit in die Bekämpfung der Covid-19-
Pandemie personell und zeitlich sehr stark eingebunden; sie engagieren sich mit Unterstützung der
KVen über ihre vertragsärztlichen Pflichten hinaus. Die parallele Umsetzung der TI-Vorgaben ohne Be-
rücksichtigung der aktuellen angespannten Lage in der ambulanten medizinischen Versorgung wird
durch unsere Mitglieder nicht akzeptiert werden.

Auch die Androhung einer Ersatzvornahme wird die Haltung der Vertragsärzte nicht ändern!

Trotz der unverändert bestehenden Notwendigkeit, den von Ihnen mit Schreiben vom 20. März 2020
benannten „Ersten Schutzwall gegen das Virus“ weiter aufrechtzuerhalten, sind wir überzeugt, dass
wir mit der Umsetzung der vorgenannten Forderungen eine für die Vernetzung der Patienten und für
die Praxistätigkeit unterstützende digitale Vernetzung aller Beteiligten im Gesundheitswesen erreichen
können.

Mit freundlichen Grüßen

Die Vorstände der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung

                                                                          AUF DEN PUNKT NR. 5 / OKT 2020         19
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          KIM kommt
          Arztbriefe, Befunde oder einfach nur eine Nachricht an die Kollegen in der
          Facharztpraxis oder im Krankenhaus schnell und sicher per Knopfdruck versen­
          den: Mit dem neuen Dienst für Kommunikation im Medizinwesen (KIM) ist das
          demnächst möglich. Was genau KIM ist, welchen Dienst die KBV anbietet und
          was Sie tun müssen, lesen Sie hier.

          Genauso einfach wie ein                                                             Dienst anbieten. Das ist
          E-Mail-Programm, nur mit                                                            ein Novum. Denn bis-
          dem Unterschied, dass                                                               lang war ihr das nicht ge-
          jede Nachricht und je-                                                              stattet. Die Arbeiten an
          des Dokument verschlüsselt und erst beim Empfän-          dem Dienst laufen auf Hochtouren. Im Oktober soll­
          ger wieder entschlüsselt wird – das ist KIM. Über sol-    ­­kv.dox – so der Name des KV-eigenen KIM-Diens-
          che KIM-Dienste soll künftig die gesamte elektronische    tes – fertig sein. (Anmerkung: Das genaue Datum
          Kommunikation im Gesundheitswesen laufen. Arzt-           stand zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch
          praxen benötigen einen solchen Dienst ver-                nicht fest.)
          mutlich ab Herbst 2021: Dann nämlich müssen
          Praxen voraussichtlich sämtliche Arbeitsunfä-             Kv.dox ist gedacht als ein Dienst von Ärzten für Ärz-
          higkeitsbescheinigungen ihrer Patienten an die            te; ein passgenaues Angebot, mit dem man so vie-
          jeweilige Krankenkasse per KIM senden. Dies               le Nachrichten, Arztbriefe oder AU-Bescheinigungen
          schreibt das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) vor. Nä-    digital versenden kann, wie man möchte. Es gibt
          here Infos zur eAU finden Sie in diesem Heft auf S. 22.   keine Kontingentbeschränkung. Kv.dox ist monat-
                                                                    lich kündbar und bei Fragen oder technischen Pro-
          Dabei ist es egal, für welchen Anbieter sich Ärzte        blemen hilft das Serviceteam von kv.dox schnell und
          und Psychotherapeuten entscheiden. Sie haben hier-        kompetent weiter. Und das Ganze eben unabhängig
          bei die komplett freie Wahl, denn nach der gesetz-        von der Industrie und von Verkaufsinteressen sonsti-
          lichen Vorgabe muss ein KIM-Dienst herstellerunab-        ger Marktteilnehmer.
          hängig sein. Das bedeutet: Jeder KIM-Dienst muss
          von der gematik, der Betreibergesellschaft der Tele-      KOSTEN FÜR KIM SIND GEDECKT
          matikinfrastruktur (TI), zugelassen und mit jedem
          Praxisverwaltungssystem (PVS) kompatibel sein. Ärz-       Zur Finanzierung des KIM-Dienstes hat die KBV mit
          te und Psychotherapeuten können also unabhängig           dem GKV-Spitzenverband eine Finanzierungsverein-
          von ihrem PVS-Anbieter entscheiden, welcher KIM-          barung getroffen. Diese sieht folgende Beträge vor:
          Dienst für sie der richtige ist. Mit der CompuGroup
          Medical Deutschland AG gibt es bereits einen zerti-       • 100 Euro: für die Einrichtung des Dienstes (einmal
          fizierten Anbieter.                                         je Praxis)
                                                                    • 23,40 Euro: für die laufenden Betriebskosten (pro
          KBV BIETET EIGENEN KIM-DIENST AN:                           Quartal je Praxis, wird bereits seit 1. April 2020 ge-
          KV.DOX                                                      zahlt)

          Neben der Industrie wird aber auch die Kassen­            Zu den Finanzierungs- und Betriebskostenpauscha-
          ärztliche Bundesvereinigung (KBV) einen solchen           len kommt die Vergütung für den eArztbrief: Bis zu

20        AUF DEN PUNKT NR. 5 / OKT 2020
TITELTHEMA

23,40 Euro je Arzt und Quartal für den Versand und       Praxen, die bereits an die TI angebunden sind, benö-
Empfang sowie seit Juli 2020 eine Strukturförder-        tigen vor allem ein Update für ihren Konnektor. Das
pauschale von einem EBM-Punkt (10,99 Cent) je ver-       Update ist auch nötig, um neue digitale Anwendun-
sendeten eArztbrief.                                     gen wie das NFDM nutzen zu können. Praxen sollten
                                                         sich für weitere Informationen an ihren PVS-Herstel-
Für kv.dox zahlt man einen monatlichen Festpreis. Da-    ler oder IT-Dienstleister wenden.
rin ist alles enthalten. Der Preis liegt somit im Rah-
men der genannten Finanzierungspauschale. Weitere        Außerdem benötigt man für KIM einen Vertrag mit
Infos zu allen Fördermöglichkeiten rund um die Tele-     einem zugelassenen KIM-Anbieter und von diesem
matik-Infrastruktur sind im Serviceteil dieser Ausgabe   ein Clientmodul sowie das entsprechende PVS-­
auf S. 6 aufgelistet.                                    Modul des jeweiligen PVS-Herstellers.

Wichtig: Um die Förderung erhalten zu können, ge-        Für die qualifizierte elektronische Signatur beim Ver-
ben Praxen die hessenspezifische GOP 98151 in ih-        sand via KIM braucht man zudem den eHBA (elek-
rer Abrechnung an und weisen der KV Hessen so            tronischer Heilberufsausweis) mindestens der Gene-
den Besitz eines KIM-fähigen Konnektors nach. Die        ration 2.0. Näheres dazu auf S. 23.
GOP 98151 setzen Praxen nur einmalig im Quartal,
in dem das Konnektor-Update erfolgt, bei einem           ALLES NEU UND DIGITAL UND ALLES GUT?
Versicherten an.
                                                         Wer „Digitalisierung des Gesundheitswesens“ sagt,
WAS BENÖTIGT EINE PRAXIS FÜR DIE EIN-                    muss eigentlich auch immer ein „Ja, aber…“ hinzu-
RICHTUNG VON KIM?                                        fügen. Denn so viel Baustelle und so viel berechtig-
                                                         te Kritik an der Digitalisierung gab es wohl noch nie.
Grundlage für KIM ist zunächst erst mal ein Anschluss    Deshalb spart auch die KV Hessen daran nicht (sie-
an die TI mit dem sogenannten E-Health-­Konnektor.       he das Interview mit den beiden Vorsitzenden auf
Dieser unterstützt neben dem Versichertenstamm-          S. 14). Nichtsdestotrotz ist diese Kritik kein Freifahrt-
datenmanagement (VSDM) auch medi­zinische An-            schein für alle Digitalisierungsskeptiker und solche,
wendungen wie den elektronischen Medikationsplan         die es schon immer gewusst haben wollen: Nicht die
(eMP) und das Notfalldatenmanagement (NFDM).             Digitalisierung ist das Problem, sondern die Art der
                                                         Umsetzung: ohne Praxisbezug und ohne erkennba-
                                                         ren Praxisnutzen. n
                                                                                                   Cornelia Kur

   Weitere Infos finden Sie hier:
                                                                                                     Infobox

   www.kvhessen.de/kim
   Hier haben wir Ihnen alles Wissenswerte rund um das Thema zusammengestellt.

   www.kbv.de/kv.dox
   Alle Infos rund um das KIM-Angebot der KBV.

   fachportal.gematik.de/zulassungen
   Liste der von der gematik zugelassenen TI-Komponenten, darunter auch KIM.

                                                                                 AUF DEN PUNKT NR. 5 / OKT 2020         21
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