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DENKEN GLAUBEN Nr. 194 Winter 2019 Zeitschrift der Katholischen Hochschulgemeinde für die Grazer Universitäten und Hochschulen www.khg - graz.at Reibung Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19 1 Katholische Hochschulgemeinde Graz
Franz Konrad, Geschichtswäsche (Detail ‚Embedded Journalist‘), 2016/19. © Konrad Geschichtswäsche Die historischen Kreuzwegbilder der Grazer Kunst-Kirche St. Andrä verschneidet der Künstler Franz Konrad mit Kriegs-, Krisen- und Unrechtsbildern unserer Zeit. Immer geht es in seiner Kunst auch um Bildvermittlung und die Wirkmacht von Bildern in unserem digitalen Medienzeitalter. Der „Embedded Journalist“ – seit dem Irakkrieg (2003) die Bezeichnung für offiziell vom Militär beauftragte, zivile Journalisten – richtet seine Kamera auf die erste Kreuzwegstation: „Was ist Wahrheit?“, ist die zeitlos gültige Frage nicht nur des Pilatus, der sich die Hände in Unschuld wäscht. Details aus dem Zyklus „Geschichtswäsche“ in St. Andrä, wie auch aus der Bildserie „Colombia Paper“, die die Ausbeutung von Natur und Umwelt in Lateinamerika thematisiert, finden sich als Bebilderung dieser Ausgabe von Denken + Glauben. Manche Szenen, wie der Brand von Notre Dame in Paris, sind klar erkennbar, andere bleiben bewusst ambivalent und für mehrere Deutungsebenen offen. Die Szene am Coverbild könnte den Abwurf von Hilfsgütern zeigen, es könnten aber auch Särge sein, die an bunten Fallschirmen befestigt durch die Lüfte schweben. Die Ausstellung von Franz Konrad zu unserem QL-Jahresthema „Heiße Zeit“ wird am 8. JAN 2020 um 19:00 in der QL-Galerie eröffnet. 2 Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19
Editorial „Die säkulare Moderne hat sich aus guten Gründen vom Tran- szendenten abgewendet, aber die Vernunft würde mit dem Ver- schwinden jeden Gedankens, der das in der Welt Seiende im Ganzen transzendiert, selber verkümmern. Die Abwehr dieser Entropie ist ein Punkt der Berührung des nachmetaphysischen Denkens mit dem religiösen Bewusstsein,“ schreibt der nunmehr neunzigjährige Meisterdenker Jürgen Habermas am Ende seines Reibung jüngst erschienen, monumentalen Werkes „Auch eine Geschichte der Philosophie“. Es beschreibt Philosophie als Lerngeschichte aus dem Konflikt zwischen Glauben Gegenseitigkeiten und Wissen. Damit kommen auch religiöse Denker wie Augustinus oder Thomas The Handmaid’s Tale von Aquin für den Philosophen ganz neu in den Blick – ein Schub für produktiven Von Andreas Kirchmair (2) Reibungsgewinn im Sinn des Namens unserer Zeitschrift? Ganz sicher! Versucht Von Agnes Hobiger (3) er doch nicht weniger als mit einem Durchgang durch die europäische Geistesge- schichte zu zeigen, wie die Philosophie eine Übersetzung der religiösen Gehalte in Reibungsgewinne (4) die Philosophie vornimmt, letztlich auch als Angebot zum Dialog zwischen Phi- Von Peter Strasser losophie, Theologie und Religion nach der Trennung von Glauben und Wissen. „Es gibt doch so viele Möglichkeiten, Nein, das Buch ist nicht Ausdruck von Altersfrömmigkeit und Habermas, wie er etwas zu tun!“ (8) nicht müde wird zu betonen, ist nach wie vor religiös unmusikalisch. Aber: Auch Alois Kölbl im Gespräch mit Franz Konrad wenn er die Diskurslinie eines nachmetaphysischen Denkens seiner Lehrer der Kri- tischen Theorie und nicht zuletzt seine eigene weiterschreibt, so haben sich doch Wenn sich EU-Recht und inner- die Vorzeichen geändert: Die Religion ist auch in der westlichen Welt keineswegs staatliche Autonomie der Kirchen verschwunden, wie Theoretiker der Moderne im 20. Jahrhundert prognostiziert aneinander reiben (11) hatten. Sie existiert auch in ihrer institutionell verfassten Form, wenngleich der Von Hubert Isak Bereich des subjektiv und individuell empfundenen Religiösen stetig im Wachsen Barrierenfreiheit (14) begriffen ist. Eine Reibungsfläche innerhalb des Religiösen, mit der es gerade aus Von Markus Wilfling der Sicht der Kirche produktiv und angstfrei umzugehen gilt. Produktive Reibung gilt es aber auch insgesamt in einer aufgeklärten, säkularen Gesellschaft von Sei- Waldbrände und Reibebäume (16) ten der Religion zu erzeugen – der Philosoph Habermas und der damalige Kardi- Von Anton Tauschmann nal Ratzinger haben sich darüber bereits vor fünfzehn Jahren ausgetauscht. Zuvor schon hatte Habermas anlässlich seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises Und es gibt sie doch, die Gesellschaft (19) des Deutschen Buchhandels Allianzen zwischen säkularer Vernunft und den Reli- Von Cristina Isabel Seda Chabrier gionen gefordert, bereits damals angesichts der zunehmenden Gefahr der Polarisie- rung zwischen Säkularisten und Fundamentalisten Lernprozesse für ein koopera- „Wenn ein Krieg beginnt, tives Miteinander von Gläubigen, Nichtgläubigen und Andersgläubigen gefordert. dann stirbt die Wahrheit“ (21) Ein Lernprozess nicht nur für Gläubige in einer pluralen Gesellschaft in einem KHG Graz im Gespräch mit weltanschaulich neutralen Staat, sondern eben auch für dessen säkulare Bürger Vinko Kardinal Puljic und Bürgerinnen, für die es gilt, nach wie vor vitale Religion nicht nur wahrzu- Und jetzt? (24) nehmen und anzuerkennen, sondern in ein produktives Verhältnis ihr gegenüber Von Jörg Wilkesmann einzutreten. Der „Pfahl im Fleisch der Moderne“ kann Religion allerdings nur sein, wenn sie sich auf eine „Praxis der Vergegenwärtigung einer starken Trans- Einwürfe (26) zendenz stützen kann“, konstatiert der Philosoph, der nicht nur Beobachter der Von Carmen Koch Gesellschaft, sondern aktiver Impulsgeber im Sinn seiner Sozialphilosophie sein will. Dem fühlen wir uns mit dieser Zeitschrift und unserer Arbeit in der Katholi- Das Böse in der Hauptrolle (27) schen Hochschulgemeinde insgesamt verpflichtet. Von Harald Koberg KHG – AKTUELL (28) Alois Kölbl, Hochschulseelsorger Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19 1
Gegenseitigkeiten Die nun auch bei uns laufende US-Serie The Handmaid’s Tale zeichnet das Bild von einem „Gottesstaat, in dem Frauen zu Gebärmaschinen degradiert worden sind“ (Der Tagesspiegel). In Alabama etwa gibt es seit heuer de facto ein Abtreibungsverbot. Wie stehen Sie persönlich dazu? Von Andreas Kirchmair Meine Antwort darauf ist ganz einfach: Ich war bei der Geburt meiner vier Kinder dabei und erlebte das jedes Mal als großes, einmaliges Wunder. Umgekehrt weiß ich von den Erfahrungen vieler Eltern Mütter, die statt eines Wunders eine Tragödie erlebt haben, weil sie ihr Kind vor der Geburt töten liessen und damit auch ein Stück von sich selbst. ja für einen zweiten Menschen verantwortlich, sind stattdessen Ja, ich bekenne mich zum Lebensrecht ungeborener Menschen zum Freiwild geworden. Jeder kann heute ungestraft Druck auf und zu klaren Lebensschutzgesetzen anstelle der sogenannten sie ausüben: Kindesvater, Familienmitglieder, Ärzte mit ihren „Fristenregelung“, die meiner Ansicht nach bei uns seit 1975 Untersuchungen, Arbeitgeber. Dieser Druck wird noch erhöht geltendes Unrecht ist. Die Wirkungsweise solcher Gesetze, die durch das schwere und nicht aufgearbeitete Unrecht gegenüber unlogisch aufgebaut sind und auf politischer Willkür basieren, unehelichen Müttern und ihren Kindern in früheren Zeiten. ist verheerend: Als „Trojanische Pferde“ zerstören sie nicht nur Lebensschutz betrifft jeden! Jeder und jede von uns war einmal unser Rechtssystem, sondern auch unsere Familien und unsere ein ungeborenes Kind, das seine Geburt erleben und die Welt Gesellschaft. Auch das öffentliche Bewusstsein wurde damit bei sehen wollte. Warum ist aus der natürlichsten Sache der Welt uns jahrzehntelang vergiftet und durch Begriffe und Phrasen heute ein lebensgefährlicher Spießrutenlauf geworden, den nur wie Gebärmaschinen, Schwangerschaftsabbruch, embryonales zwei von drei Kindern überleben? Welche Einstellungen in der Gewebe, Kriminalisieren der Frauen, Pro Choice etc. vernebelt. Gesellschaft fordern einen derartig hohen Blutzoll? Warum Hinter einer Mauer des Schweigens und der Lüge konnte unge- werden bedrohte Tierarten, Umwelt, Klima auf höchster Ebene stört ein Geschäftsmodell für eine „Kultur des Todes“ entwi- geschützt, ungeborene Menschen aber nicht? Gesetze mit Verfü- ckelt werden: Kleine, ungeborene Kinder mittels einer staatlich gungs- und Tötungsgewalt über Mitmenschen, wie die Sklaven- und medial geförderten Kinderabtreibungsindustrie zu töten gesetze in den USA sowie die Leibeigenen- und die Rassengesetze (vor einigen Jahren war Österreich dabei in Europa Nr. 3 hinter in Europa, hat es in der Menschheitsgeschichte immer gegeben. Russland und Rumänien). Seit Ende der 60er Jahre trifft diese Gewalt die allerschwächste So wie früher etwa über Sklaven, die nicht als „Personen“ mit Gruppe, die Ungeborenen. Ein Blick in die Geschichte zeigt Menschenrechten angesehen wurden, haben heute Mitmenschen aber auch, dass diese Gesetze später wieder aufgehoben wurden. Verfügungsgewalt über diese Kinder. Sie werden grausam getö- Das wird auch bei den Kinderabtreibungsgesetze eines Tages tet und dann als menschlicher Rohstoff in Impf- und Pharma- passieren. Die politische Auseinandersetzung in Alabama und in produkte verarbeitet oder als Sondermüll entsorgt. Nicht einmal den USA ist ein Hoffnungszeichen! die christlichen Kirchen scheint das zu stören, sonst hätten sie längst ihre Friedhöfe geöffnet, um den abgetriebenen Kindern wenigstens Asyl in Form einer letzten Ruhestätte zu gewähren. Warum werden diese Kinder nicht geschützt? Schutz und Strafe sind zwei Seiten derselben Medaille. Je höher der Wert und damit die Schutzwürdigkeit, desto höher die Strafe. Ein unge- Andreas Kirchmair, studierte Betriebsinformatik in Wien und borenes Kind ist jedoch heute in den Augen der Politik wert- Informatik in den USA. Nach Führungspo- los. Wer Strafe bei Kindesabtreibung für die daran Beteiligten sitionen in Industrieunternehmen arbeitet ablehnt, der lehnt auch den Schutz des Kindes ab. Ein Gesetz er seit 25 Jahren als selbstständiger Un- ternehmensberater in der Steiermark. Seit ohne Strafe ist wie schales Salz – es wird zertreten. Warum ver- 2004 veröffentlicht er Stellungnahmen zu stecken sich alle hinter den Müttern der Ungeborenen? Sie, die Lebensschutz und Lebensrecht persönlichen Schutz und Unterstützung brauchen, denn sie sind von ungeborenen Kindern. Foto: Furgler 2 Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19
Gegenseitigkeiten Die nun auch bei uns laufende US-Serie The Handmaid’s Tale zeichnet das Bild von einem „Gottesstaat, in dem Frauen zu Gebärmaschinen degradiert worden sind“ (Der Tagesspiegel). In Alabama etwa gibt es seit heuer de facto ein Abtreibungsverbot. Wie stehen Sie persönlich dazu? Von Agnes Hobiger „My body, my rights!“ Auf den ersten Blick zieht dieses Argu- ment in der Abtreibungsfrage nur bedingt: Es geht eben nicht nur um den Körper/den Bauch und die Rechte der Frauen, es geht auch um den Körper und die Rechte ihrer Kinder. Die katholische Kirche stellt sich hier auf einen klaren Standpunkt und vertritt kompromisslos das Lebensrecht der Kinder ab dem Kindern beschränkt. Interessant an dem Roman ist: Den Män- Zeitpunkt ihrer Zeugung. Ein Standpunkt, den ich respektiere, nern wird eine solch strikte Teilung nicht auferlegt. Zwar wird aber als Frau nicht teilen kann. Außerdem finde ich nicht, dass ihr Einfluss nach Geld und Prestige unterschieden, aber eine ein weitgehend von kinderlosen Männern dominierter Verein strikte Trennung in unterschiedliche Aspekte ihrer Männlich- sich wirklich die Meinungshoheit in dieser Frage anmaßen keit findet nicht statt. Abtreibung steht in dieser Welt übrigens sollte. Die Frage nach einer Abtreibung geht in erster Linie die unter Todesstrafe. Frau und ihr ungeborenes Kind an. Bedingt den Vater dieses Kindes und, da er die Rahmenbedingungen all dieser Menschen Wir sind heute in der Lage, uns durch Verhütung vor uner- beeinflusst, den Staat. wünschten Schwangerschaften zu schützen. Doch auch hier geht der gesellschaftliche Trend in Österreich weg von der Pille und Der in der Ausgangsfrage erwähnte US-Bundesstaat Alabama hin zu Methoden der natürlichen Geburtenkontrolle. An dieser hat das gerade demonstriert und ein sehr restriktives Abtrei- Stelle wären eine bessere sexuelle Bildung der Gesellschaft und bungsgesetz erlassen. Es zwingt die Frauen dazu, die Abtrei- eine einfachere Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln sinnvoll. bungen illegal vornehmen zu lassen, oder in liberalere Bundes- Dies ist auch der Bereich, in dem der Staat durch Gesetzgebung staaten zu fahren, was vor allem dazu führt, dass Abtreibung gefragt ist. Trotz der besten Verhütung kann es jedoch zu einer eine Kostenfrage wird. Solange sich die Situation für Frauen ungewollten Schwangerschaft kommen. Und momentan ist auf dem Arbeitsmarkt mit der Geburt ihres ersten Kindes ten- das Umgehen einer solchen Situation weitgehend ein Frauen- denziell verschlechtert, ist es jedoch falsch, davon auszugehen, problem. Wir sollten uns davor hüten, Frauen, die sich dafür dass Abtreibung nicht auch schon unter den gegebenen Bedin- entscheiden, einem Kind in ihrer momentanen Situation keine gungen in Österreich eine Kostenfrage ist. Die Entscheidung Zukunft bieten zu können, zu verurteilen und zu stigmatisieren. für das Leben des Kindes bringt gravierende Einschränkungen Keine Frau trifft die Entscheidung für eine Abtreibung leicht- im Leben der Mutter mit sich. In einer geschlechtergerechten fertig. Deshalb sollte man ihnen die Fähigkeit zubilligen, eine Welt wäre es eine Entscheidung, die beide Elternteile annähernd überlegte und begründete Wahl zu treffen. gleich beeinflusste, für diese Utopie können wir jedoch auch im 21. Jahrhundert nur kämpfen. Im Moment benachteiligen ein Abtreibungsverbot oder eine restriktivere Abtreibungspolitik die Frauen und behindern ihre zunehmende Emanzipation. Marga- ret Atwood entwirft im oben erwähnten Werk The Handmaid´s Tale eine beklemmende Dystopie dieser Art. Frauen werden im Land Gilead in drei Kategorien eingeteilt: Arbeiterinnen, Ehe- frauen und Mägde (handmaids), die als Gebärerinnen fungie- ren. Ihnen kommt hohes gesellschaftliches Prestige zu, weil die Agnes Hobiger, Fortpflanzung der europiden Rasse auf ihren Schultern lastet, geb. 1993 in Graz. Sie studiert an der Karl- Franzens-Universität Chemie und Deutsch da nicht mehr alle Frauen fruchtbar sind. Gleichzeitig wird ihr auf Lehramt. Von 2015 – 2018 Vorsitzende der Menschsein nicht nur auf die Mutterrolle, denn Mütter sind ja Katholischen Hochschuljugend Österreichs. die Gattinnen, sondern noch strenger nur auf das Gebären von „Denken+Glauben“-Redaktionsmitglied. Foto: Hobiger Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19 3
Reibungsgewinne Über das Produktive am „Kampf der Kulturen“ Von Peter Strasser Franz Konrad, Geschichtswäsche (Detail), 2016/19. © Konrad 4 Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19
Der Clash of Civilizations wird meist als Droh- und dazu führte, dass wir uns an den Anblick und, wenn auch Kampfbegriff verstanden. Aber der „Zusammenprall“ zögerlich, an den Gedanken gewöhnten, dass es Menschen kann auch gedämpft und produktiv erfolgen. Sofern gab, die nicht so leben wollten wie wir, sondern nach ihrer wir die Selbstachtung anderer Kulturen nicht mutwillig eigenen, ererbten Fasson. Wir lernten sogar Toleranz zu missachten, bildet die Auseinandersetzung mit fremden üben gegenüber fremden Göttern, ein Umstand, der dem Denk- und Lebenswelten sogar die Chance, unsere eigene Christentum auf der Höhe seiner Machtvollkommenheit demokratische Identität – allgemein: die „Kontur des fremd, ja regelrecht blasphemisch erschienen wäre. Westens“ – lebendig zu erhalten. Die große Strömung des Liberalismus, beispielsweise im Geiste John Stuart Mills, hatte uns etwas Ungeheuerli- Andere Länder, andere Sitten. Dieses wohlbekannte Motto ches gelehrt. Dass nämlich die Dogmatisierung unserer war den Reisenden früherer Zeiten ein Fingerzeig, der auch „Wahrheiten“, die mit der Unterdrückung aller anderen heute noch gilt. Besucht eine einfühlsame Christin ein einherging, für die Lebendigkeit fatale Folgen haben muslimisches Land, dann ist es ein Zeichen der Höflich- musste. In seinem Traktat On Liberty (1859) macht Mill keit, sich in Benehmen und Kleidung den dort herrschen- klar, dass wir unsere eigenen Fehler nur sehr unzureichend den Gebräuchen anzupassen. Gewiss, es gibt Grenzen, die entdecken würden, falls wir nicht gezwungen wären, sie man, zumindest als gebildete europäische Frau, nicht zu gleichsam mit dem kritischen Blick uns fernstehender überschreiten bereit sein wird. Man wird nicht mit gesenk- Ansichten und Glaubenshaltungen zu prüfen. Mill wusste tem Haupt drei Schritte hinter einem männlichen Beglei- also um die heilsame Wirkung einer Vernunft, die sich ter herlaufen, nachdem man sich bereitgefunden hat, das dessen bewusst war, dass Menschen irrtumsanfällig sind eigene Haupthaar sittsam hinter einem Tuch zu verbergen, und gewisse ihrer Irrtümer erst entdecken, wenn sie mit um der patriarchalen Landessitte zu genügen. Gegenmeinungen konfrontiert werden. Ein weiterer Die Lehre, die sich aus diesem Szenario des zivilisierten Punkt, den Mill hervorhob, war folgender: Wenn man – Verhaltens in einem fremden Land ziehen lässt, ist natür- salopp formuliert – ständig im eigenen Überzeugungssaft lich begrenzt. Man kommt, man geht. Das macht die schmort und immerfort nur wiederholen darf, was die Sache leichter. Dennoch offeriert uns jene touristische Per- offizielle Meinung, das vorgegebene Dogma ist, dann spektive für die Angehörigen des Gastlandes ebenso wie wird man sehr bald das Gefühl für die Bedeutung dessen, für die Neuankömmlinge Aspekte, welche für ein ständi- woran man zu glauben angehalten ist, verlieren. Lebendige ges Zusammenleben nicht ganz nebensächlich sind. Ers- Kulturen sind daher ihrem Wesen nach pluralistisch. Und tens fördert es, allgemein gesprochen, den Kontakt, wenn mit dem Pluralismus stellt sich automatisch eine Toleranz man sich den Besonderheiten des fremden Landes oder der ein, die nicht bloß passiv ist – man verbrennt die Häretiker fremden Kultur gegenüber aufgeschlossen zeigt. Zweitens nicht mehr ohne weiteres –, sondern im Gegenteil aktiv: wäre es nicht nur dumm, sondern darüber hinaus ungehö- Man fördert „Häresien“, ist um das Gedeihen abweichen- rig, den „Fremden“ ihre Andersheit gleichsam negativ vor der Meinungen besorgt, kurz: das Moment der kulturellen Augen zu führen, indem man sich über deren Sitten und „Reibung“ verliert seinen negativen Klang und wird sogar Gebräuche mokiert. Drittens schließlich: Auch im aufge- als Gewinn verbucht – Reibungsgewinn! schlossenen Kontakt mit einer uns fremden Kultur wäre Freilich erfordert ein solches Zusammenspiel der Gegen- es ein Zeichen von Anbiederung, wenn man die eigene sätze, ob auf der Ebene von Überzeugungen, Alltags- Lebenssphäre verleugnete; man sollte niemals so tun, als handlungen oder religiösen Ritualen, dass beide Seiten ob man nicht selbst ein kultiviertes Wesen wäre, dessen bereit sind, der jeweils anderen mit Respekt zu begegnen. Selbstachtung es nur bis zu einem gewissen Punkt gestat- Dadurch wird keine Seite gezwungen, ihre Art des Lebens tet, sich dem fremden Lebens- und Denkstil anzupassen. oder ihre besondere Weise der Weltbetrachtung aufzu- geben; aber sie darf nicht den Standpunkt, den sie selbst Die Wohltat liberaler Gesinnung vertritt, dazu verwenden wollen, um die Gegenseite zu Wir leben hierorts in einer liberalen, rechtsstaatlich organi- unterwandern mit dem Ziel, sie schließlich zu unterwer- sierten, menschen- und grundrechtlich besorgten und sozi- fen. Davon, dass es Feinde der Toleranz gibt, die diese nur alstaatlich engagierten Demokratie. Wir sind jedoch die benützen, um an die Macht zu kommen und dann, erst an Erben einer keineswegs unschuldigen Tradition, die bis in der Macht befindlich, alle Toleranz fahren zu lassen und die Antike zurückreicht. Christentum, Humanismus und ein System der Tyrannei zu errichten – davon hat bereits Aufklärung haben uns geprägt. Und es war nicht zuletzt der österreichische Philosoph Karl Popper in seinem groß eine unserer großen Zweideutigkeiten, nämlich der Drang angelegten Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde auf die Meere und zur Kolonialisierung, samt Ermordung (1945) gesprochen. Er hatte als historisches Nahebeispiel und Versklavung ganzer Völker – es war diese Art von die Nationalsozialisten und Kommunisten vor Augen, uns klerikalstaatlicher Brutalität, die auf dialektische Weise beschäftigt heute vor allem der politische, radikale Islam. Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19 5
Und ob Michel Houellebecqs Buch Soumission, „Unter- Konsenses und Dissenses sprachlich erkunden zu können. werfung“, aus dem Jahre 2015 die Richtung andeutet, Kurzum: Sprachkompetenz ist unerlässlich, sie ist eine nämlich die schleichende Übernahme und Beseitigung Grundvoraussetzung des vielzitierten Dialogs, auch wenn unserer liberaldemokratischen Verhältnisse durch das dieser auf eine formale Ebene beschränkt bleibt und keine muslimische Gesellschafts- und Staatsmodell, wird sich intimere Nähe angestrebt wird. erst weisen. Aber ob es dazu kommt, wird ausschließlich Kollektive Identität gibt es auf beiden Seiten, auch wenn von unserer eigenen Bereitschaft abhängen, sowohl für als diejenigen, die aus dem Ausland zu uns kommen, kein auch gegen die Ansinnen des muslimischen Lebensstils Kollektiv im äußerlichen Sinne bilden. Kollektive Identi- moderater Prägung zu optieren. tät ist ein Seelenzustand, eine Stimmungslage, eine religi- öse und nationale Identitätsvorgabe, die jeden Einzelnen Selbstachtung durch Dialog auch jenseits der Gemeinschaft in der Heimat prägt. Was die Abwehr des islamistischen Terrors betrifft, gegen Daher gilt es vor allem mit der schwächeren Seite, das den alle guten Absichten nichts helfen, so haben wir sind zumeist die Gruppen der Migranten, der Zuwande- andere Mittel zur Hand, von unseren Geheimdiensten und rer, der Asylwerber, so umzugehen, dass deren Selbstach- Verbotsmöglichkeiten bis zu den prall gefüllten Waffenar- tung nicht verletzt wird. senalen des Westens. Die Angstmache hierorts scheint eher politisch-taktisch motiviert. Man kann durch die Ansta- Die Chance der neuen Heimat chelung eines subjektiven Unsicherheitsgefühls Wähler Hier gilt es, besonders einfühlsam und dennoch bestimmt gewinnen. Indem man eine ausländerfeindliche Mobbing- zu agieren. Wenn sich ein muslimischer Mann weigert, stimmung schürt, wird zusätzlich eine Form des Patrio- einer Lehrerin beim Elternsprechtag die Hand zu geben, tismus wieder aktuell, der es den Regierenden möglich ist das eine Sache, die man nicht unkommentiert hinneh- macht, immer mehr Freiheitsrechte einzuschränken und men sollte. Denn wir empfinden ein solches Verhalten schließlich sogar von den Menschenrechtsdeklarationen als unhöflich und darüber hinaus als eine Bekundung allgemein zu behaupten, sie seien auch nur Farbe auf dem der Minderwertigkeit der Frau. Man sollte einen solchen Papier, Druckwerk, das sich gegebenenfalls abändern lasse, Mann auf seine negative Wirkung und unsympathische wenn sich die nötige parlamentarische Mehrheit finde. Ausstrahlung aufmerksam machen. Aber eine ganz andere Wie in anderen europäischen Ländern, so grassiert in Sache ist es, wenn man hierzulande gegen Bekleidungs- Österreich mittlerweile eine bedrohliche Stimmung. sitten und Verhaltensgewohnheiten behördlich vorgeht, Diese verspricht wenig Hoffnung, dass unter dem Druck also rechtliche Mittel einsetzt, welche bei den Betroffenen der vielen Umwelt- und Wirtschaftsprobleme, die in Widerwillen hervorrufen und die Neigung begünstigen, naher Zukunft anstehen und weit über unsere eigenen sich im Rahmen der eigenen Minderheit örtlich und sozial Beherrschbarkeitsgrenzen hinausgehen, eine freundliche aggressiv abzuschotten. Haltung jenen gegenüber kultiviert werden wird, die wir Die Rolle des islamischen Kopftuchs ist umstritten, am als kulturfremd und bedrohlich empfinden. Unsere Politi- feministischen Argument, damit werde die Unterdrü- ker und Politikerinnen überschlagen sich mit sogenannten ckung der Frau öffentlich sichtbar gemacht, ist zweifellos Integrationsforderungen. Wer hier, bei uns, leben möchte, etwas dran. Dennoch muss man sich, besorgt um ein der hat gefälligst auch unsere kollektive Identität – schon gedeihliches Nebeneinander – es muss, wie gesagt, kein vor Jahren fiel das Wort von der „Leitkultur“ – zu überneh- Miteinander im engeren Sinne des Wortes sein –, ernst- men. Und es soll gar nicht bestritten werden, dass in dieser haft fragen, was Kopftuchverbote in Schulen und im Forderung ein Stück weit der Modus dafür zu finden ist, öffentlichen Dienst bei denen, die davon direkt und indi- wie ein gedeihliches Miteinander möglich scheint. rekt betroffen sind, anrichten. Ist der Schaden, der durch Aber eine „kollektive Identität“ ist ein vielfältiges, teils alt- solche angeblich integrativen Maßnahmen entsteht, nicht überkommenes, teils in sich gebrochenes Gebilde, in Tei- größer als der Nutzen, der dadurch gestiftet wird? Man len ein Phantom. Wie immer die Lebensform des zu uns muss bedenken, dass ein niedriger sozialer Status über die Eingewanderten im Einzelnen beschaffen sein mag, sie darf Einwanderergenerationen hinweg eine rabiate Besinnung kein prinzipielles Hindernis für einen Erwerb der deutschen auf die je eigene Tradition begünstigt. Gut möglich, dass Sprache sein, wobei das Niveau zunächst eine untergeordnete derart das zarte Pflänzchen wechselseitiger Sympathie Rolle spielt – erst bei der Arbeitssuche erlangt es maßgebli- verdorrt. Die „neue Heimat“ wird von den Zugewander- che Bedeutung. Grundsätzlich geht es bei dem sprachlichen ten, mangels Wohlstandserringungschancen, schließlich Integrationserfordernis darum, nicht nur über das Land, in nicht mehr als solche begriffen. Die Gefahr der Radika- das man einwanderte, über seine Leute und Institutionen lisierung steigt dann rasch, zumal es wahrlich nicht an differenzierte Informationen zu erhalten. Es geht vor allem Hasspredigern und politisch-religiösen Scharfmachern auch darum, mögliche Formen des Zusammenlebens, des im nahen Ausland fehlt. 6 Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19
Franz Konrad, Geschichtswäsche (Detail), 2016/19. © Konrad Zu befürchten steht, dass die interkulturelle Reibung Fanatikern zu tun hat, die mit Gewalt und Terror sympa- in Zukunft, mit dem Siegeszug des Rechtspopulismus, thisieren. Es ist hingegen wichtig, den friedsamen Immi- zunimmt. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass für zentrale granten und Immigrantinnen zu bedeuten, dass sie sich in muslimische Riten ein Verbot gefordert wird, erinnert sei an einer Gemeinschaft befinden, deren liberaldemokratisches die Diskussionen um das Schächten zur Gewinnung kosche- Credo das Fremde grundsätzlich als Bereicherung zu schät- ren Fleisches oder die rituelle Beschneidung der männlichen zen weiß. Wenn dieser Punkt außer Frage steht, dann erst Nachkommen. An das Beschneidungsthema rührt man wird sich in einer sozusagen ökumenischen Atmosphäre im Augenblick bloß deshalb nicht, weil die Zirkumzision über notwendige Anpassungen reden lassen. auch dem Judentum heilig ist, doch mit zunehmendem Gedeihlich für das reibungslose Zusammenleben wäre es Antisemitismus in Europa kann sich die Lage rasch ändern. jedenfalls, wenn wir jenen, die von außen zu uns kommen, Dabei geht es den liberalen Stimmen keineswegs darum, das erkennbar machen, dass nicht nur sie sich an uns anzupas- Schächten (das unser Tierschutzgesetz penibel regelt) oder sen haben, sondern auch wir von ihnen lernen können – das Entfernen der Vorhaut am Penis zu rechtfertigen. Viel- von ihrer Weisheit und Lebensklugheit, die sie noch unter mehr geht es darum, aufzuzeigen, dass Verbote in diesen elenden, ja grausamen Verhältnissen hoffen lassen, ihrer rituellen Zentralbezirken des muslimischen und jüdischen Existenz eine Wendung zum Guten zu geben. Lebens nur scheinheilig unter das Stichwort „Integration“ subsumierbar sind. Im Gegenteil, solche Verbote bringen die Kulturen ohne Not gegeneinander auf. Diejenigen, die Peter Strasser, ihre geheiligten Rituale dennoch praktizieren, werden kri- geb. 1950 in Graz, lehrte und forschte minalisiert, und um Sanktionen zu vermeiden, wird man am Institut für Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und Rechtsinforma- sich aggressiv gegen die Mehrheitskultur abschotten. tik an der Karl-Franzens-Universität Graz. Seit 2015 befindet er sich im Die Weisheit des Fremden Ruhestand. Strasser ist weiterhin im philosophischen Lehr- und Publika- Wo also interkulturelle Reibungsflächen bestehen und the- tionsbetrieb tätig, darüber hinaus schreibt er regelmäßig für in- und matisiert werden, dort sollte dies stets in einer Atmosphäre ausländische Zeitungen und Journale. erfolgen, die diskurswillig und kompromissbereit ist. Diese 2014 erhielt er den Österreichischen Friedensregel gilt freilich nur, solange man es nicht mit Staatspreis für Kulturpublizistik. Foto: Vretscher Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19 7
„Es gibt doch so viele Möglich- keiten, etwas zu tun!“ Alois Kölbl im Gespräch mit Franz Konrad Mit seiner Ausstellung in der QL-Galerie reagiert der Künstler Franz Konrad direkt auf das Quartier Leech-Jahresthema „Heiße Zeit“. Sie wird den Galerieraum in der Leechgasse mit der Kunst-Kirche St. Andrä verbinden, wo Konrad die histori- schen Kreuzweg-Bilder mit Imaginationen aus dem Heute weiterschreibt. In seinem letzten Projekt „Colombia Paper“ befasste er sich mit den postkolonialen Verwerfungen in Kolumbien, mit Bürgerkrieg, Ausbeutung ehedem paradiesischer Natur und Drogenkriminalität. Bilder beider Werkserien finden sich in diesem Heft. Alois Kölbl hat mit ihm über sein Ausstellungspro- jekt und das Thema dieser Ausgabe gesprochen. Foto: KHG Unser Heft trägt den Titel „Reibung“, sie die Betrachter/innen in ihren Bann. Konsumverhalten schon lange nichts zeitgenössischer Kunst kommt in unserer Das funktioniert noch immer am besten. mehr normal ist und dennoch ist es legal, Gesellschaft immer wieder die Rolle Mit künstlicher Aufmerksamkeit etwas diesem Raubbau an Mensch und Natur eines Reibebaums zu. Wie siehst du das? erreichen zu wollen, finde ich geradezu nachzugehen, und Politiker/innen wagen peinlich und bringt langfristig nichts. sich auf die Bühne und finden da noch Na ja, ein Skandal kann gut fürs Geschäft Für mich ist die Kunst keine Aufregung besänftigende Worte. sein, Galeristen liebäugeln manchmal wert, sondern alles andere – vor allem das damit. Aber das ist nicht mein Ansatz. Ich vermeintlich normale Leben. Wie kann Du beschäftigst dich immer wieder mit glaube, dass die Bilder die Energie abge- man sich darüber nicht aufregen? Es ist einem Themenfeld, das in der medialen ben, die man in sie hineingibt, so ziehen doch total offensichtlich, dass an unserem und gesellschaftlichen Aufmerksamkeit 8 Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19
in den letzten Monaten sehr ins Zentrum wird sofort von Wirtschaftsbossen als Kreuzigung Jesu sehe, denke ich mir, es gerückt ist: Ökologie und Umweltzerstö- nicht machbar abgeschmettert und kei- gibt das Kreuz immer noch überall, bloß rung. Kann Kunst etwas verändern? ner traut sich aufzustehen und diesen die Form hat sich verändert. Bossen mal vorzuschlagen, ein Vorbild zu Ökologie ist für mich so etwas wie ein sein, und zwar global! Ich wollte immer Was waren die Themen? künstlerisches Urthema. Das war auch in einem Land der Vorbilder leben, in der Grund, warum ich aus der Architek- einem Land, das etwas als erstes umsetzt, Leid, Erniedrigung, Selbstaufgabe tur ausgestiegen bin und mich ganz der als erstes ins Ziel kommt ... nicht nur waren die Themen, die ich in der aktu- Kunst zugewandt habe. Für mich ist es beim Schifahren. ellen Weltpolitik gesucht und gefunden Alois Kölbl (r.) im Gespräch mit Franz Konrad. Foto: KHG das Zukunftsthema schlechthin, wenn Für die Ausstellung „Tschick und Poli- habe. Die habe ich dann zwischen die wir damit nicht zurande kommen, sind tik“ in der Kirche St. Andrä in Graz Kreuzwegstationen gezeichnet. Grau- wir Menschen dem Untergang geweiht! wurdest du vor drei Jahren vom dama- samkeiten auf dem afrikanischen Konti- Deswegen kommt dieses Thema in mei- ligen Pfarrer Hermann Glettler zur nent, wie etwa die Ereignisse in Ruanda nen Bildern fast immer in irgendeiner Gestaltung eines Wandbildes eingela- oder in Südamerika, in Nicaragua oder Weise vor. Und: Ich bin mir sicher, dass den und hast brisante Themen in den in Kolumbien, aber auch Flüchtlinge, Kunst etwas verändern kann! Meine Bil- Sakralraum gebracht … die eine Kirche besetzen, ein damals in der zielen nicht auf unmittelbare Auswir- Österreich aktuelles Thema. Aber ich kungen im gesellschaftspolitischen Han- Ich habe mich damals stark mit politi- bilde nicht einfach nur das Weltgesche- deln, aber darauf, dass eine Gruppe von schen Themen auseinandergesetzt. Es ist hen ab, die Szenen bleiben offen, sollen Menschen nachdenklich wird. Seit Greta ein Wandbild in der Kirche entstanden zum Nachdenken anregen. Da gibt es Thunberg ist das Thema Klimawandel mit dem Titel „Geschichtswäsche“. Mir etwa ein Flugzeug, das Schachteln mit zwar ständig präsent, aber konkrete Auf- ging es darum, das Weltgeschehen in die Kreuzen abwirft, man denkt zunächst an forderungen zum Handeln an konkrete Kirche zu bringen, das reale Leben mit Hilfsgüter, es könnten aber auch Särge Personengruppen bleiben völlig aus. Jede den Kreuzwegbildern an der Wand zu sein, oder eine Szene, bei der man an kleinste CO2-Selbstbeschränkungsidee verknüpfen. Wenn ich diese Szenen der Devotionalienhandel denken könnte. Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19 9
Es handelt sich aber um Drogenverkauf. Man sieht da auch eine Darstellung des aus der Wolke der brennenden Notre Mir ist das Changieren von Bedeutungs- Papstes … Dame auch verschiedene Markenzeichen ebenen wichtig und die Offenheit für schweben lassen. verschiedene Interpretationen. Und es Das bezieht sich auf ein Treffen von Papst ging mir auch um so etwas wie einen Franziskus mit dem iranischen Präsi- Die Ausstellung, an der du gerade arbei- Perspektivenwechsel, eine Blickumkehr: denten Rohani. Das war für mich eine test, hat mit den Bildern der brennenden Ich wollte nicht den Blick auf das Kreuz, große Friedensgeste, dieser religionsü- Kirche zu tun. Du möchtest dafür auch sondern letzteren vom Kreuz her auf das bergreifende Versuch der Kommunika- den Priestersitz im Presbyterium der Umfeld lenken, auf das, was in den nach tion. Ich habe auch die bei dem Treffen Kirche künstlerisch bearbeiten. Was einem bestimmten Schema gestalteten erfolgte Verhüllung nackter Statuen in hast du vor? Kreuzwegbildern nicht dargestellt ist. den vatikanischen Museen dargestellt. Das war damals sehr umstritten, aber Ich werde den historischen, barocken Die Kreuzwegbilder in St. Andrä folgen echter Dialog braucht eben Respekt. Vorstehersitz mit einem Feuerwehr- dem Bildschema, das Joseph Führich in schlauch tapezieren, so dass sich die der Mitte des 19. Jahrhunderts geschaf- Die Arbeit ist im Rahmen des Ausstel- einzelnen Stühle mit der für die Feuer- fen hat. Weil von diesem Kreuzweg auch lungsprojektes unvollendet geblieben. wehrschläuche typischen Storz-Kupplung Kupferstiche angefertigt wurden, fand Du bist gerade dabei die Bilderserie wei- miteinander verbinden lassen. So kann er sehr große Verbreitung und existiert terzuentwickeln. Was ist zu erwarten? eine Art „Löschkette“ entstehen. In der in unzähligen, mehr oder weniger freien Gruppe kann man viele Dinge besser Kopien. Er ist sozusagen Teil eines kol- Ich werde noch weitere Motive hinzufü- machen als alleine. Nicht nur bei einem lektiven katholischen Bildgedächtnisses. gen, etwa den Brand von Notre Dame, Kirchenbrand, sondern überall, wo es Dem fügst du nun eine sehr subjektive das ist für mich ein absolut epochales brennt bzw. es große Probleme zu lösen Bildwelt hinzu … Ereignis, auch bezüglich der Bildsprache. gilt, kann man nur gemeinsam vorgehen. Auch und gerade bei allen Umweltschutz- Die stereotype Bildsprache des Kreuzweges Der Dachreiter über der Vierung von bemühungen geht es genau darum. Mir hatte zunächst für mich als Künstler etwas Notre Dame, der ja erst im 19. Jahrhun- scheint, als wäre es an der Zeit, unbe- Lähmendes. Ich hatte ja damit begonnen, dert entstanden ist, hatte beim Brand queme Fakten etwas genauer zu bespre- bei konkreten Bildelementen des Kreuz- so etwas wie seinen ultimativen, großen chen. Fakten und Zahlen und weniger weges anzusetzen, bei den Farben und Auftritt: ein Jahrhundertbild. Was ist allgemeingültiges Geschreibe, das fehlt verschiedenen Bildelementen und diese in für dich als Künstler das Herausfor- mir in den Tageszeitungen. Nicht nur der meiner Bildsprache weiterzuentwickeln. dernde an diesem Bild, das sich über die Klimawandel, sondern auch die soziale Das habe ich dann aber sehr rasch verwor- Medien vermittelt buchstäblich in tau- Frage unserer globalisierten Produkti- fen und beim Thema und nicht bei der for- sende Köpfe eingebrannt hat? onsabläufe. Wir haben unsere Sklavinnen malen Gestaltung angesetzt. Trotzdem ist und Sklaven weit weg geschafft, sodass mediale Vermittlung ein ganz wesentlicher Das war ein unglaublich starkes Bild, die sie hier nicht sichtbar sind. Stellen wir Teil meiner Bilder. Es geht mir um die Flammen und das Fallen des Turmes. uns vor, es verblieben nur die Waren in Rolle, die Medien für die Wahrnehmung Das Bild einer Katastrophe, das eine ganz den Auslagen der Geschäfte, die wir hier und Interpretation der Welt spielen. Da eigenartige Schönheit hatte und zugleich in Österreich herstellen. Wir würden in sieht man etwa den „Embedded Journalist“, natürlich ein Katastrophenbild war, das gähnend leere Schaufenster blicken! der im Krieg mit seiner Kamera dranbleibt einen Nachdenkprozess in Gang gesetzt und die Betrachter/innen möglichst nahe hat. Das fasziniert mich, ich hoffe, es gut Aber man hört immer wieder, dass all an das grausame Geschehen heranführt. in meine Bildwelt übersetzen zu können. diese Bemühungen zu spät kommen. Wie ja auch der Kreuzweg Leid inszeniert Spannend finde ich aber noch etwas und Leid, Schmerz und Gewalt ganz nahe anderes: Sofort nach dem Brand wurde Nein, es ist überhaupt nicht zu spät. Ich kommen lässt. Das kombiniere ich mit eine Spendenaktion gestartet, reiche freue mich sehr über die derzeitige Bewe- tagespolitisch aktuellen Themen wie etwa Menschen und Organisationen meldeten gung der „Fridays for Future“. Und ich den Flüchtlingen in der Kirche, oder zufäl- sich mit Millionenspenden. Es ging da ärgere mich, wenn gesagt wird, dass man lig aufgeschnappten Zeitungsmeldungen sicherlich auch um Medienpräsenz und da nichts machen könnte. Es gibt doch wie etwa die einer Airbnb-Übernachtungs- mediale Inszenierung, sonst hätte man so viele Möglichkeiten etwas zu tun. Es möglichkeit in einer Kirche: für mich eine ebenso anonym spenden können. Das bedarf auch einer neuen Bescheidenheit Grenzüberschreitung, die die Frage auf- interessiert mich als Künstler: Wie sehr in unserer Generation. Mein künstle- wirft, wie weit man Kirche kommerziali- kann oder darf man eine Katastrophe rischer Beitrag dazu ist es, dieses Narrativ, sieren kann. Doch selbst hier überlasse ich nutzen, um sich selber in den Vorder- das mich nicht loslässt, immer wieder mit die Interpretation den Betrachter/innen. grund zu spielen? Deswegen möchte ich meinen Bildern einzubringen. 10 Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19
Wenn sich EU-Recht und innerstaatliche Autonomie der Kirchen aneinander reiben Von Hubert Isak Franz Konrad, Geschichtswäsche (Detail), 2016/19. © Konrad Der Beitrag setzt sich anhand dreier Entscheidungen des keine dauerhaft gültige Kompetenzabgrenzung zwischen Gerichtshofs der Europäischen Union zum innerkirchli- Union und Mitgliedstaaten geben kann. Dies wird dort chen Arbeitsrecht bzw. zur gesetzlichen Karfreitagsrege- als besonders problematisch empfunden, wo die kulturelle lung in Österreich mit juristischen Reibungsflächen aus- Identität eines Staates betroffen ist. einander. Diese entstehen dadurch, dass selbst dort, wo das Unionsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten Im „Mission Letter“ der (designierten) neuen EU-Kom- anerkennt, es aufgrund anderen Unionsrechts zu Konflik- missionspräsidentin Ursula von der Leyen an die (desig- ten kommen kann. Damit stellt sich die Grundsatzfrage, nierte) Vizepräsidentin für „Werte und Transparenz“, Vera ob – als Folge der Dynamik des Integrationsprozesses – Jourová, wird letztere ausdrücklich damit beauftragt, die Mitgliedstaaten sich damit abfinden müssen, dass es den Dialog der Kommission mit den „Kirchen und den Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19 11
religiösen Vereinigungen und Gemeinschaften“ zu führen. Kirchen oder Klöster sich auch wirtschaftlich betätigen Dabei fällt auf, dass von der Leyen ausdrücklich Bezug (Forste bewirtschaften, Liköre oder Käse produzieren und auf die religiösen Gemeinschaften nimmt, obwohl gemäß vermarkten, touristische Dienstleistungen anbieten, Bil- Art. 17 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU dungshäuser betreiben usw): Als gewöhnliche „Teilnehmer (AEUV) die Union einen „offenen, transparenten und am Wirtschaftsleben“ unterliegen sie den für alle geltenden regelmäßigen Dialog“ ganz generell mit „diesen Kirchen Grundfreiheiten (insbesondere Arbeitnehmerfreizügigkeit und Gemeinschaften“ pflegen soll. Durch Art. 17 Abs. und Dienstleistungsfreiheit), den Wettbewerbsregeln und 1 AEUV wird die Union verpflichtet, den „Status, den dem Beihilfenverbot. diese Kirchen und religiösen Vereinigungen oder Gemein- Kritisch aber wird es, wenn der durch Art. 17 AEUV schaften in den Mitgliedstaaten genießen“, zu achten. garantierte Status der Kirchen und Religionsgemeinschaf- An der Mission Letter-Formulierung ist bemerkenswert, ten dadurch in Frage gestellt scheint, weil eben derselbe dass gerade das religiöse Segment der Zivilgesellschaft im Status mit dem Antidiskriminierungsrecht der EU kolli- Auftrag des für Werte zuständigen Mitglieds der neuen diert. Mit drei Fällen wird dies in aller Kürze skizziert: Kommission explizit Eingang gefunden hat; und dies in Zwei davon (Rechtssache Egenberger und Rechtssache einer Union, deren Gesellschaft durch fortschreitende IR, beide 2018) hatten das sogenannte „innerkirchliche Säkularisierung gekennzeichnet ist und in der Kirchen von Arbeitsrecht“ in Deutschland zum Gegenstand. Der Fall vielen Unionsbürger/innen kaum (mehr) als verlässlicher Cresco hingegen betraf die im österreichischen Arbeits- Wertekompass wahrgenommen werden! recht enthaltene sogenannte „Karfreitags-Regelung“ und Selbst eine bewusste „Schutzklausel“ wie Art. 17 Abs. 1 hat im Land zu einer durchaus intensiven, auch hitzigen AEUV, die eine vom Unionsrecht unbeeinträchtigte Exis- öffentlichen Debatte geführt. tenz dieser Kirchen und Gemeinschaften nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaats und auch deren interne Orga- Kirchenethos versus nisationshoheit sicherstellen soll, vermag allerdings nicht zu verhindern, dass sich die beiden Sphären immer wieder Arbeitsplatzanforderung aneinander reiben. Juristisch gesprochen kommt es hier Frau Egenberger, die keiner Konfession angehört, hatte also zu konkurrierenden Jurisdiktionsansprüchen. Dies sich auf eine vom Evangelischen Werk für Diakonie und soll weiter unten anhand einiger exemplarischer Fälle, die Entwicklung (Deutschland) ausgeschriebene, befristete vom Gerichtshof der Europäischen Union zu entscheiden Referentenstelle für ein Projekt, das die Erstellung eines waren, illustriert werden. Andere durch das Individuum Berichts zum Internationalen Übereinkommen der Verein- generierbare Reibungsflächen, wie die durch Art. 10 Abs. ten Nationen zur Beseitigung jeder Form von rassistischer 2 der EU-Grundrechte-Charta garantierte Ausübung der Diskriminierung zum Gegenstand hatte, beworben. Nach Religionsfreiheit – hier spielt etwa die „Kopftuch-Debatte“ der Stellenausschreibung mussten die Bewerber Mitglied hinein –, werden in diesem Beitrag nicht näher behandelt. einer evangelischen oder der Arbeitsgemeinschaft Christ- licher Kirchen in Deutschland angehörenden Kirche sein. Einmischung der EU? Frau Egenberger wurde nicht zu einem Vorstellungsge- spräch eingeladen. Sie klagte auf Schadenersatz wegen Solche Reibungsflächen ergeben sich grundsätzlich und Benachteiligung aus Gründen der Religion. geradezu zwangsläufig schon auf einer rein rechtlichen Ebene deshalb, weil die Abgrenzung der Kompetenzen Der Europäische Gerichtshof (EuGH) nahm eine Abwä- zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten keines- gung zwischen dem Recht auf Autonomie der Kirchen wegs immer klar ist. Der seinem Wesen nach dynamische und dem Recht der Arbeitnehmer, insbesondere bei der Integrationsprozess hat wie in einem Schneeballeffekt zur Einstellung nicht wegen ihrer Religion oder Weltan- Konsequenz, dass immer weitere Bereiche bisher unbe- schauung diskriminiert zu werden, vor. Zu prüfen sei, stritten mitgliedstaatlicher Angelegenheiten in den Integ- so der EuGH, ob für die Begründung der Ablehnung rationssog geraten. Dieses Reibungspotential erweist sich der Bewerbung die Religion nach der Art der betref- dann als ein Konfliktpotential, wenn es sich nicht bloß um fenden Tätigkeiten „eine wesentliche, rechtmäßige und die Abgrenzung von Regelungshoheit, sondern um grund- gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des sätzliche Organisationsfragen des Staates (Verfassungs- Ethos dieser Kirche“ darstelle. Dieses Erfordernis müsse identität), politische Empfindlichkeiten (innere Sicherheit, notwendig, objektiv geboten und angemessen sein. Der Migration) und/oder gesellschaftliche Grundhaltungen geforderte Zusammenhang zwischen Anforderung und oder Traditionen handelt. Letztere sind trotz der oben konkreter Tätigkeit könne sich zum Beispiel aus der Mit- erwähnten Tendenzen nach wie vor auch kulturgeschicht- wirkung beim Verkündigungsauftrag oder in der Sicher- licher oder eben religiöser Natur. Die „Einmischung“ der stellung einer glaubwürdigen Vertretung nach außen Union wird noch toleriert, wenn es etwa darum geht, dass ergeben. Das deutsche Bundesarbeitsgericht (BAG), das 12 Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19
diese Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorge- EuGH verneint, weil zwar mit dem Feiertag der beson- legt hatte, hat dem Klagebegehren der Frau Egenberger deren Bedeutung Rechnung getragen werde, die die mit teilweise stattgegeben und ihr eine Entschädigung in der diesem Tag verbundenen religiösen Feierlichkeiten für Höhe von 3.915 € wegen Benachteiligung aus Gründen die Angehörigen dieser Kirchen haben. Allerdings kann der Religion zugesprochen. nach Ansicht des Gerichtshofs von der in Rede stehen- In IR war der Chefarzt eines Krankenhauses wegen der den Regelung nicht angenommen werden, dass sie zum in einer erneuten Eheschließung gesehenen Verletzung Schutz der Religionsfreiheit notwendig ist. Arbeitnehmer, der gegenüber dem katholischen Krankenhausträger als die anderen Kirchen angehörten, sind für die Ausübung Arbeitgeber gebotenen Loyalitätspflicht gekündigt worden. der Religionsfreiheit durch Teilnahme an religiösen Riten Der EuGH sah jedoch, ganz im Sinne von Egenberger, das darauf angewiesen, dass ihnen der Arbeitgeber im Rah- Erfordernis, den heiligen und unauflöslichen Charakter men seiner Fürsorgepflicht gestattet, sich dafür von der der Ehe nach dem Verständnis der katholischen Kirche zu Arbeit zu entfernen. Hinsichtlich der zweiten möglichen beachten, nicht als „wesentliche, rechtmäßige und gerecht- Rechtfertigung hat der EuGH in der österreichischen fertigte berufliche Anforderung“ an. Der Betroffene klagte Regelung auch keine spezifische Maßnahme erkannt, gegen die Kündigung, weil damit der Gleichbehand- mit der eine Benachteiligung wegen der Religion unter lungsgrundsatz verletzt werde, da die Wiederheirat eines Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und evangelischen oder konfessionslosen Chefarztes keine so weit wie möglich des Gleichheitsgrundsatzes ausge- Folgen für dessen Arbeitsverhältnis mit IR gehabt hätte. glichen würde. Die Entscheidung des EuGH führte in Der EuGH entschied, dass die Beratung und medizinische Österreich zu einer überhasteten, wenig geglückten Neu- Pflege in einem Krankenhaus und Leitung der Abteilung regelung, die in ihrer derzeitigen Form kaum Bestand „Innere Medizin“ als Chefarzt für die Bekundung des haben dürfte. Ethos von IR nicht notwendig erscheine. Es würden ja auch ähnliche Stellen Beschäftigten anvertraut, die nicht Reibung ist unvermeidbar katholischer Konfession seien. Das dem EuGH folgende Gleich, wie man zu den genannten Entscheidungen stehen BAG sah in seiner endgültigen Entscheidung in der Wie- mag: Sie sind Ausdruck wohl unvermeidlicher Reibungs- derverheiratung keine Verletzung der Loyalitätspflicht und flächen zwischen Union und Mitgliedstaaten beziehungs- die Kündigung somit als unmittelbare Benachteiligung weise dem jeweiligen Recht. Die juristische Subsumtion aus Gründen der Religionszugehörigkeit, für die es keine lege artis führt zwar zu formal korrekten Entscheidungen Rechtfertigung gebe. und dem EuGH kommt das Verdienst zu, die Grenzen der durch Ausnahmeregelungen gerechtfertigten unterschied- Die österreichische Karfreitagsdebatte lichen Behandlungen präzise herausgearbeitet zu haben. In Cresco schließlich stellte der EuGH fest, dass die Das diesen Fällen zugrundeliegende Konfliktpotential gesetzlich geregelte Gewährung eines bezahlten Feier- wird dadurch aber nicht wirklich entschärft. Derartige tags am Karfreitag in Österreich allein für diejenigen Fragen könnten ein Thema des eingangs erwähnten Dia- Arbeitnehmer/innen, die bestimmten Kirchen angehören logs der Unionsorgane mit den Kirchen sein. Sie könnten (nämlich die Angehörigen der evangelischen Kirchen des auch den EU-Gesetzgeber unterstützen, wenn es darum Augsburger und des Helvetischen Bekenntnisses, der Alt- geht, durch behutsames Nachjustieren sicherzustellen, katholischen Kirche und der Evangelisch-methodistischen dass einerseits dem Unionsrecht in vollem Umfang Rech- Kirche), eine unionsrechtlich verbotene Diskriminierung nung getragen wird, zum anderen aber durch die Verträge wegen der Religion darstellt. Arbeitet ein Angehöriger explizit geschaffene „Schutzräume“ für Kirchen und einer dieser Kirchen am Karfreitag, hat er Anspruch auf Gemeinschaften wie Art. 17 AEUV nicht zunehmend als ein zusätzliches Feiertagsentgelt. Der Kläger, der keiner wirkungslos empfunden werden. dieser Kirchen angehörte und dem die Zahlung des Feier- tagsentgelts daher vorenthalten worden war, sah darin eine unzulässige Diskriminierung. Hubert Isak, Der EuGH stellte eine unmittelbare Diskriminierung stv. Leiter des Instituts für Europa- aus Gründen der Religion fest. Dafür ist im EU-Diskri- recht an der KFUG; 1990 Mitbegrün- der des Instituts für Europarecht; minierungsrecht eine Rechtfertigung aus zwei Gründen 1995 erster an einer Rechtswissen- vorgesehen: Die diskriminierende Maßnahme kann schaftlichen Fakultät in Österreich zulässig sein, wenn sie zur Wahrung der Rechte und ernannter Jean Monnet-Professor für Europäisches Gemeinschaftsrecht Freiheiten anderer notwendig ist; oder sie kann als spezi- und Recht der Europäischen Union; fische Maßnahme zum Ausgleich von Benachteiligungen 1996 Verleihung der Lehrbefugnis für wegen der Religion gerechtfertigt sein. Ersteres hat der Völkerrecht und Europarecht. Foto: Uni Graz Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19 13
Barrierenfrei Markus Wilfling BARRIEREN UMSCHLIESSEN SICH SELBST ZERFALLEN IN IHRE BESTANDTEILE UND DER ATEM DER WELT BREITET SICH AUS SEIN HAUCH LÄSST MAUERN ZERSTREUEN UND IHRE ERBAUER VERSCHWINDEN IM SCHLAF DER ZEIT Markus Wilfling, geb. 1966 in Innsbruck, Studium der Bildhauerei bei Bruno Gironcoli an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Mitbegründer vom „Schaumbad, freies Atelierhaus Graz“. Lebt und arbeitet in Graz, seit 1989 zahlreiche Ausstellungen und Preise, u. a. den Kunstpreis der Diözese Graz-Seckau für Zeitgenössische Bildende Kunst (2003), mehrere künstlerische Interventionen rund um die Leechkirche sowie im PARADISE L. 14 Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19
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