REIBUNG - DENKEN GLAUBEN WWW.KHG - GRAZ.AT - KATHOLISCHE KIRCHE STEIERMARK

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DENKEN GLAUBEN  Nr. 194 Winter 2019
                Zeitschrift der Katholischen Hochschulgemeinde für die Grazer Universitäten und Hochschulen     www.khg - graz.at

Reibung                                                                                                       Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19   1
Katholische Hochschulgemeinde Graz
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Franz Konrad, Geschichtswäsche (Detail ‚Embedded Journalist‘), 2016/19. © Konrad

    Geschichtswäsche
    Die historischen Kreuzwegbilder der Grazer Kunst-Kirche St. Andrä verschneidet der Künstler Franz Konrad mit Kriegs-, Krisen- und
    Unrechtsbildern unserer Zeit. Immer geht es in seiner Kunst auch um Bildvermittlung und die Wirkmacht von Bildern in unserem digitalen
    Medienzeitalter. Der „Embedded Journalist“ – seit dem Irakkrieg (2003) die Bezeichnung für offiziell vom Militär beauftragte, zivile Journalisten –
    richtet seine Kamera auf die erste Kreuzwegstation: „Was ist Wahrheit?“, ist die zeitlos gültige Frage nicht nur des Pilatus, der sich die Hände in
    Unschuld wäscht. Details aus dem Zyklus „Geschichtswäsche“ in St. Andrä, wie auch aus der Bildserie „Colombia Paper“, die die Ausbeutung von
    Natur und Umwelt in Lateinamerika thematisiert, finden sich als Bebilderung dieser Ausgabe von Denken + Glauben. Manche Szenen, wie der Brand
    von Notre Dame in Paris, sind klar erkennbar, andere bleiben bewusst ambivalent und für mehrere Deutungsebenen offen. Die Szene am Coverbild
    könnte den Abwurf von Hilfsgütern zeigen, es könnten aber auch Särge sein, die an bunten Fallschirmen befestigt durch die Lüfte schweben.
    Die Ausstellung von Franz Konrad zu unserem QL-Jahresthema „Heiße Zeit“ wird am 8. JAN 2020 um 19:00 in der QL-Galerie eröffnet.

2       Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19
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Editorial

                                                              „Die säkulare Moderne hat sich aus guten Gründen vom Tran-
                                                              szendenten abgewendet, aber die Vernunft würde mit dem Ver-
                                                              schwinden jeden Gedankens, der das in der Welt Seiende im
                                                              Ganzen transzendiert, selber verkümmern. Die Abwehr dieser
                                                              Entropie ist ein Punkt der Berührung des nachmetaphysischen
                                                              Denkens mit dem religiösen Bewusstsein,“ schreibt der nunmehr
                                                              neunzigjährige Meisterdenker Jürgen Habermas am Ende seines
Reibung                                    jüngst erschienen, monumentalen Werkes „Auch eine Geschichte der Philosophie“.
                                           Es beschreibt Philosophie als Lerngeschichte aus dem Konflikt zwischen Glauben
Gegenseitigkeiten                          und Wissen. Damit kommen auch religiöse Denker wie Augustinus oder Thomas
The Handmaid’s Tale                        von Aquin für den Philosophen ganz neu in den Blick – ein Schub für produktiven
Von Andreas Kirchmair (2)                  Reibungsgewinn im Sinn des Namens unserer Zeitschrift? Ganz sicher! Versucht
Von Agnes Hobiger (3)                      er doch nicht weniger als mit einem Durchgang durch die europäische Geistesge-
                                           schichte zu zeigen, wie die Philosophie eine Übersetzung der religiösen Gehalte in
Reibungsgewinne (4)                        die Philosophie vornimmt, letztlich auch als Angebot zum Dialog zwischen Phi-
Von Peter Strasser                         losophie, Theologie und Religion nach der Trennung von Glauben und Wissen.
„Es gibt doch so viele Möglichkeiten,
                                           Nein, das Buch ist nicht Ausdruck von Altersfrömmigkeit und Habermas, wie er
etwas zu tun!“ (8)                         nicht müde wird zu betonen, ist nach wie vor religiös unmusikalisch. Aber: Auch
Alois Kölbl im Gespräch mit Franz Konrad   wenn er die Diskurslinie eines nachmetaphysischen Denkens seiner Lehrer der Kri-
                                           tischen Theorie und nicht zuletzt seine eigene weiterschreibt, so haben sich doch
Wenn sich EU-Recht und inner-              die Vorzeichen geändert: Die Religion ist auch in der westlichen Welt keineswegs
staatliche Autonomie der Kirchen           verschwunden, wie Theoretiker der Moderne im 20. Jahrhundert prognostiziert
aneinander reiben (11)
                                           hatten. Sie existiert auch in ihrer institutionell verfassten Form, wenngleich der
Von Hubert Isak
                                           Bereich des subjektiv und individuell empfundenen Religiösen stetig im Wachsen
Barrierenfreiheit (14)                     begriffen ist. Eine Reibungsfläche innerhalb des Religiösen, mit der es gerade aus
Von Markus Wilfling                        der Sicht der Kirche produktiv und angstfrei umzugehen gilt. Produktive Reibung
                                           gilt es aber auch insgesamt in einer aufgeklärten, säkularen Gesellschaft von Sei-
Waldbrände und Reibebäume (16)             ten der Religion zu erzeugen – der Philosoph Habermas und der damalige Kardi-
Von Anton Tauschmann                       nal Ratzinger haben sich darüber bereits vor fünfzehn Jahren ausgetauscht. Zuvor
                                           schon hatte Habermas anlässlich seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises
Und es gibt sie doch,
die Gesellschaft (19)                      des Deutschen Buchhandels Allianzen zwischen säkularer Vernunft und den Reli-
Von Cristina Isabel Seda Chabrier          gionen gefordert, bereits damals angesichts der zunehmenden Gefahr der Polarisie-
                                           rung zwischen Säkularisten und Fundamentalisten Lernprozesse für ein koopera-
„Wenn ein Krieg beginnt,                   tives Miteinander von Gläubigen, Nichtgläubigen und Andersgläubigen gefordert.
dann stirbt die Wahrheit“ (21)             Ein Lernprozess nicht nur für Gläubige in einer pluralen Gesellschaft in einem
KHG Graz im Gespräch mit                   weltanschaulich neutralen Staat, sondern eben auch für dessen säkulare Bürger
Vinko Kardinal Puljic
                                           und Bürgerinnen, für die es gilt, nach wie vor vitale Religion nicht nur wahrzu-
Und jetzt? (24)                            nehmen und anzuerkennen, sondern in ein produktives Verhältnis ihr gegenüber
Von Jörg Wilkesmann                        einzutreten. Der „Pfahl im Fleisch der Moderne“ kann Religion allerdings nur
                                           sein, wenn sie sich auf eine „Praxis der Vergegenwärtigung einer starken Trans-
Einwürfe (26)                              zendenz stützen kann“, konstatiert der Philosoph, der nicht nur Beobachter der
Von Carmen Koch                            Gesellschaft, sondern aktiver Impulsgeber im Sinn seiner Sozialphilosophie sein
                                           will. Dem fühlen wir uns mit dieser Zeitschrift und unserer Arbeit in der Katholi-
Das Böse in der Hauptrolle (27)
                                           schen Hochschulgemeinde insgesamt verpflichtet.
Von Harald Koberg

KHG – AKTUELL (28)                         Alois Kölbl, Hochschulseelsorger

                                                                                             Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19   1
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Gegenseitigkeiten
     Die nun auch bei uns laufende US-Serie The Handmaid’s Tale zeichnet das
     Bild von einem „Gottesstaat, in dem Frauen zu Gebärmaschinen degradiert
     worden sind“ (Der Tagesspiegel). In Alabama etwa gibt es seit heuer de facto
     ein Abtreibungsverbot. Wie stehen Sie persönlich dazu?
     Von Andreas Kirchmair

    Meine Antwort darauf ist ganz einfach: Ich war bei der Geburt
    meiner vier Kinder dabei und erlebte das jedes Mal als großes,
    einmaliges Wunder. Umgekehrt weiß ich von den Erfahrungen
    vieler Eltern Mütter, die statt eines Wunders eine Tragödie erlebt
    haben, weil sie ihr Kind vor der Geburt töten liessen und damit
    auch ein Stück von sich selbst.                                      ja für einen zweiten Menschen verantwortlich, sind stattdessen
    Ja, ich bekenne mich zum Lebensrecht ungeborener Menschen            zum Freiwild geworden. Jeder kann heute ungestraft Druck auf
    und zu klaren Lebensschutzgesetzen anstelle der sogenannten          sie ausüben: Kindesvater, Familienmitglieder, Ärzte mit ihren
    „Fristenregelung“, die meiner Ansicht nach bei uns seit 1975         Untersuchungen, Arbeitgeber. Dieser Druck wird noch erhöht
    geltendes Unrecht ist. Die Wirkungsweise solcher Gesetze, die        durch das schwere und nicht aufgearbeitete Unrecht gegenüber
    unlogisch aufgebaut sind und auf politischer Willkür basieren,       unehelichen Müttern und ihren Kindern in früheren Zeiten.
    ist verheerend: Als „Trojanische Pferde“ zerstören sie nicht nur     Lebensschutz betrifft jeden! Jeder und jede von uns war einmal
    unser Rechtssystem, sondern auch unsere Familien und unsere          ein ungeborenes Kind, das seine Geburt erleben und die Welt
    Gesellschaft. Auch das öffentliche Bewusstsein wurde damit bei       sehen wollte. Warum ist aus der natürlichsten Sache der Welt
    uns jahrzehntelang vergiftet und durch Begriffe und Phrasen          heute ein lebensgefährlicher Spießrutenlauf geworden, den nur
    wie Gebärmaschinen, Schwangerschaftsabbruch, embryonales             zwei von drei Kindern überleben? Welche Einstellungen in der
    Gewebe, Kriminalisieren der Frauen, Pro Choice etc. vernebelt.       Gesellschaft fordern einen derartig hohen Blutzoll? Warum
    Hinter einer Mauer des Schweigens und der Lüge konnte unge-          werden bedrohte Tierarten, Umwelt, Klima auf höchster Ebene
    stört ein Geschäftsmodell für eine „Kultur des Todes“ entwi-         geschützt, ungeborene Menschen aber nicht? Gesetze mit Verfü-
    ckelt werden: Kleine, ungeborene Kinder mittels einer staatlich      gungs- und Tötungsgewalt über Mitmenschen, wie die Sklaven-
    und medial geförderten Kinderabtreibungsindustrie zu töten           gesetze in den USA sowie die Leibeigenen- und die Rassengesetze
    (vor einigen Jahren war Österreich dabei in Europa Nr. 3 hinter      in Europa, hat es in der Menschheitsgeschichte immer gegeben.
    Russland und Rumänien).                                              Seit Ende der 60er Jahre trifft diese Gewalt die allerschwächste
    So wie früher etwa über Sklaven, die nicht als „Personen“ mit        Gruppe, die Ungeborenen. Ein Blick in die Geschichte zeigt
    Menschenrechten angesehen wurden, haben heute Mitmenschen            aber auch, dass diese Gesetze später wieder aufgehoben wurden.
    Verfügungsgewalt über diese Kinder. Sie werden grausam getö-         Das wird auch bei den Kinderabtreibungsgesetze eines Tages
    tet und dann als menschlicher Rohstoff in Impf- und Pharma-          passieren. Die politische Auseinandersetzung in Alabama und in
    produkte verarbeitet oder als Sondermüll entsorgt. Nicht einmal      den USA ist ein Hoffnungszeichen!
    die christlichen Kirchen scheint das zu stören, sonst hätten sie
    längst ihre Friedhöfe geöffnet, um den abgetriebenen Kindern
    wenigstens Asyl in Form einer letzten Ruhestätte zu gewähren.
    Warum werden diese Kinder nicht geschützt? Schutz und Strafe
    sind zwei Seiten derselben Medaille. Je höher der Wert und
    damit die Schutzwürdigkeit, desto höher die Strafe. Ein unge-                                   Andreas Kirchmair,
                                                                             studierte Betriebsinformatik in Wien und
    borenes Kind ist jedoch heute in den Augen der Politik wert-           Informatik in den USA. Nach Führungspo-
    los. Wer Strafe bei Kindesabtreibung für die daran Beteiligten          sitionen in Industrieunternehmen arbeitet
    ablehnt, der lehnt auch den Schutz des Kindes ab. Ein Gesetz             er seit 25 Jahren als selbstständiger Un-
                                                                           ternehmensberater in der Steiermark. Seit
    ohne Strafe ist wie schales Salz – es wird zertreten. Warum ver-
                                                                            2004 veröffentlicht er Stellungnahmen zu
    stecken sich alle hinter den Müttern der Ungeborenen? Sie, die                     Lebensschutz und Lebensrecht
    persönlichen Schutz und Unterstützung brauchen, denn sie sind                          von ungeborenen Kindern.
                                                                                                                              Foto: Furgler

2       Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19
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Gegenseitigkeiten
          Die nun auch bei uns laufende US-Serie The Handmaid’s Tale zeichnet das
            Bild von einem „Gottesstaat, in dem Frauen zu Gebärmaschinen degradiert
         worden sind“ (Der Tagesspiegel). In Alabama etwa gibt es seit heuer de facto
                              ein Abtreibungsverbot. Wie stehen Sie persönlich dazu?
                                                                 Von Agnes Hobiger

„My body, my rights!“ Auf den ersten Blick zieht dieses Argu-
ment in der Abtreibungsfrage nur bedingt: Es geht eben nicht
nur um den Körper/den Bauch und die Rechte der Frauen, es
geht auch um den Körper und die Rechte ihrer Kinder. Die
katholische Kirche stellt sich hier auf einen klaren Standpunkt
und vertritt kompromisslos das Lebensrecht der Kinder ab dem       Kindern beschränkt. Interessant an dem Roman ist: Den Män-
Zeitpunkt ihrer Zeugung. Ein Standpunkt, den ich respektiere,      nern wird eine solch strikte Teilung nicht auferlegt. Zwar wird
aber als Frau nicht teilen kann. Außerdem finde ich nicht, dass    ihr Einfluss nach Geld und Prestige unterschieden, aber eine
ein weitgehend von kinderlosen Männern dominierter Verein          strikte Trennung in unterschiedliche Aspekte ihrer Männlich-
sich wirklich die Meinungshoheit in dieser Frage anmaßen           keit findet nicht statt. Abtreibung steht in dieser Welt übrigens
sollte. Die Frage nach einer Abtreibung geht in erster Linie die   unter Todesstrafe.
Frau und ihr ungeborenes Kind an. Bedingt den Vater dieses
Kindes und, da er die Rahmenbedingungen all dieser Menschen        Wir sind heute in der Lage, uns durch Verhütung vor uner-
beeinflusst, den Staat.                                            wünschten Schwangerschaften zu schützen. Doch auch hier geht
                                                                   der gesellschaftliche Trend in Österreich weg von der Pille und
Der in der Ausgangsfrage erwähnte US-Bundesstaat Alabama           hin zu Methoden der natürlichen Geburtenkontrolle. An dieser
hat das gerade demonstriert und ein sehr restriktives Abtrei-      Stelle wären eine bessere sexuelle Bildung der Gesellschaft und
bungsgesetz erlassen. Es zwingt die Frauen dazu, die Abtrei-       eine einfachere Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln sinnvoll.
bungen illegal vornehmen zu lassen, oder in liberalere Bundes-     Dies ist auch der Bereich, in dem der Staat durch Gesetzgebung
staaten zu fahren, was vor allem dazu führt, dass Abtreibung       gefragt ist. Trotz der besten Verhütung kann es jedoch zu einer
eine Kostenfrage wird. Solange sich die Situation für Frauen       ungewollten Schwangerschaft kommen. Und momentan ist
auf dem Arbeitsmarkt mit der Geburt ihres ersten Kindes ten-       das Umgehen einer solchen Situation weitgehend ein Frauen-
denziell verschlechtert, ist es jedoch falsch, davon auszugehen,   problem. Wir sollten uns davor hüten, Frauen, die sich dafür
dass Abtreibung nicht auch schon unter den gegebenen Bedin-        entscheiden, einem Kind in ihrer momentanen Situation keine
gungen in Österreich eine Kostenfrage ist. Die Entscheidung        Zukunft bieten zu können, zu verurteilen und zu stigmatisieren.
für das Leben des Kindes bringt gravierende Einschränkungen        Keine Frau trifft die Entscheidung für eine Abtreibung leicht-
im Leben der Mutter mit sich. In einer geschlechtergerechten       fertig. Deshalb sollte man ihnen die Fähigkeit zubilligen, eine
Welt wäre es eine Entscheidung, die beide Elternteile annähernd    überlegte und begründete Wahl zu treffen.
gleich beeinflusste, für diese Utopie können wir jedoch auch im
21. Jahrhundert nur kämpfen. Im Moment benachteiligen ein
Abtreibungsverbot oder eine restriktivere Abtreibungspolitik die
Frauen und behindern ihre zunehmende Emanzipation. Marga-
ret Atwood entwirft im oben erwähnten Werk The Handmaid´s
Tale eine beklemmende Dystopie dieser Art. Frauen werden im
Land Gilead in drei Kategorien eingeteilt: Arbeiterinnen, Ehe-
frauen und Mägde (handmaids), die als Gebärerinnen fungie-
ren. Ihnen kommt hohes gesellschaftliches Prestige zu, weil die                                  Agnes Hobiger,
Fortpflanzung der europiden Rasse auf ihren Schultern lastet,        geb. 1993 in Graz. Sie studiert an der Karl-
                                                                     Franzens-Universität Chemie und Deutsch
da nicht mehr alle Frauen fruchtbar sind. Gleichzeitig wird ihr
                                                                   auf Lehramt. Von 2015 – 2018 Vorsitzende der
Menschsein nicht nur auf die Mutterrolle, denn Mütter sind ja       Katholischen Hochschuljugend Österreichs.
die Gattinnen, sondern noch strenger nur auf das Gebären von            „Denken+Glauben“-Redaktionsmitglied.
                                                                                                                                   Foto: Hobiger

                                                                                                       Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19       3
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Reibungsgewinne
    Über das Produktive am „Kampf der Kulturen“
    Von Peter Strasser

                                                   Franz Konrad, Geschichtswäsche
                                                  (Detail), 2016/19. © Konrad

4    Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19
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Der Clash of Civilizations wird meist als Droh- und              dazu führte, dass wir uns an den Anblick und, wenn auch
Kampfbegriff verstanden. Aber der „Zusammenprall“                zögerlich, an den Gedanken gewöhnten, dass es Menschen
kann auch gedämpft und produktiv erfolgen. Sofern                gab, die nicht so leben wollten wie wir, sondern nach ihrer
wir die Selbstachtung anderer Kulturen nicht mutwillig           eigenen, ererbten Fasson. Wir lernten sogar Toleranz zu
missachten, bildet die Auseinandersetzung mit fremden            üben gegenüber fremden Göttern, ein Umstand, der dem
Denk- und Lebenswelten sogar die Chance, unsere eigene           Christentum auf der Höhe seiner Machtvollkommenheit
demokratische Identität – allgemein: die „Kontur des             fremd, ja regelrecht blasphemisch erschienen wäre.
Westens“ – lebendig zu erhalten.
                                                                 Die große Strömung des Liberalismus, beispielsweise im
                                                                 Geiste John Stuart Mills, hatte uns etwas Ungeheuerli-
Andere Länder, andere Sitten. Dieses wohlbekannte Motto
                                                                 ches gelehrt. Dass nämlich die Dogmatisierung unserer
war den Reisenden früherer Zeiten ein Fingerzeig, der auch
                                                                 „Wahrheiten“, die mit der Unterdrückung aller anderen
heute noch gilt. Besucht eine einfühlsame Christin ein
                                                                 einherging, für die Lebendigkeit fatale Folgen haben
muslimisches Land, dann ist es ein Zeichen der Höflich-
                                                                 musste. In seinem Traktat On Liberty (1859) macht Mill
keit, sich in Benehmen und Kleidung den dort herrschen-
                                                                 klar, dass wir unsere eigenen Fehler nur sehr unzureichend
den Gebräuchen anzupassen. Gewiss, es gibt Grenzen, die
                                                                 entdecken würden, falls wir nicht gezwungen wären, sie
man, zumindest als gebildete europäische Frau, nicht zu
                                                                 gleichsam mit dem kritischen Blick uns fernstehender
überschreiten bereit sein wird. Man wird nicht mit gesenk-
                                                                 Ansichten und Glaubenshaltungen zu prüfen. Mill wusste
tem Haupt drei Schritte hinter einem männlichen Beglei-
                                                                 also um die heilsame Wirkung einer Vernunft, die sich
ter herlaufen, nachdem man sich bereitgefunden hat, das
                                                                 dessen bewusst war, dass Menschen irrtumsanfällig sind
eigene Haupthaar sittsam hinter einem Tuch zu verbergen,
                                                                 und gewisse ihrer Irrtümer erst entdecken, wenn sie mit
um der patriarchalen Landessitte zu genügen.
                                                                 Gegenmeinungen konfrontiert werden. Ein weiterer
Die Lehre, die sich aus diesem Szenario des zivilisierten        Punkt, den Mill hervorhob, war folgender: Wenn man –
Verhaltens in einem fremden Land ziehen lässt, ist natür-        salopp formuliert – ständig im eigenen Überzeugungssaft
lich begrenzt. Man kommt, man geht. Das macht die                schmort und immerfort nur wiederholen darf, was die
Sache leichter. Dennoch offeriert uns jene touristische Per-     offizielle Meinung, das vorgegebene Dogma ist, dann
spektive für die Angehörigen des Gastlandes ebenso wie           wird man sehr bald das Gefühl für die Bedeutung dessen,
für die Neuankömmlinge Aspekte, welche für ein ständi-           woran man zu glauben angehalten ist, verlieren. Lebendige
ges Zusammenleben nicht ganz nebensächlich sind. Ers-            Kulturen sind daher ihrem Wesen nach pluralistisch. Und
tens fördert es, allgemein gesprochen, den Kontakt, wenn         mit dem Pluralismus stellt sich automatisch eine Toleranz
man sich den Besonderheiten des fremden Landes oder der          ein, die nicht bloß passiv ist – man verbrennt die Häretiker
fremden Kultur gegenüber aufgeschlossen zeigt. Zweitens          nicht mehr ohne weiteres –, sondern im Gegenteil aktiv:
wäre es nicht nur dumm, sondern darüber hinaus ungehö-           Man fördert „Häresien“, ist um das Gedeihen abweichen-
rig, den „Fremden“ ihre Andersheit gleichsam negativ vor         der Meinungen besorgt, kurz: das Moment der kulturellen
Augen zu führen, indem man sich über deren Sitten und            „Reibung“ verliert seinen negativen Klang und wird sogar
Gebräuche mokiert. Drittens schließlich: Auch im aufge-          als Gewinn verbucht – Reibungsgewinn!
schlossenen Kontakt mit einer uns fremden Kultur wäre
                                                                 Freilich erfordert ein solches Zusammenspiel der Gegen-
es ein Zeichen von Anbiederung, wenn man die eigene
                                                                 sätze, ob auf der Ebene von Überzeugungen, Alltags-
Lebenssphäre verleugnete; man sollte niemals so tun, als
                                                                 handlungen oder religiösen Ritualen, dass beide Seiten
ob man nicht selbst ein kultiviertes Wesen wäre, dessen
                                                                 bereit sind, der jeweils anderen mit Respekt zu begegnen.
Selbstachtung es nur bis zu einem gewissen Punkt gestat-
                                                                 Dadurch wird keine Seite gezwungen, ihre Art des Lebens
tet, sich dem fremden Lebens- und Denkstil anzupassen.
                                                                 oder ihre besondere Weise der Weltbetrachtung aufzu-
                                                                 geben; aber sie darf nicht den Standpunkt, den sie selbst
Die Wohltat liberaler Gesinnung                                  vertritt, dazu verwenden wollen, um die Gegenseite zu
Wir leben hierorts in einer liberalen, rechtsstaatlich organi-   unterwandern mit dem Ziel, sie schließlich zu unterwer-
sierten, menschen- und grundrechtlich besorgten und sozi-        fen. Davon, dass es Feinde der Toleranz gibt, die diese nur
alstaatlich engagierten Demokratie. Wir sind jedoch die          benützen, um an die Macht zu kommen und dann, erst an
Erben einer keineswegs unschuldigen Tradition, die bis in        der Macht befindlich, alle Toleranz fahren zu lassen und
die Antike zurückreicht. Christentum, Humanismus und             ein System der Tyrannei zu errichten – davon hat bereits
Aufklärung haben uns geprägt. Und es war nicht zuletzt           der österreichische Philosoph Karl Popper in seinem groß
eine unserer großen Zweideutigkeiten, nämlich der Drang          angelegten Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde
auf die Meere und zur Kolonialisierung, samt Ermordung           (1945) gesprochen. Er hatte als historisches Nahebeispiel
und Versklavung ganzer Völker – es war diese Art von             die Nationalsozialisten und Kommunisten vor Augen, uns
klerikalstaatlicher Brutalität, die auf dialektische Weise       beschäftigt heute vor allem der politische, radikale Islam.

                                                                                           Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19   5
Und ob Michel Houellebecqs Buch Soumission, „Unter-                 Konsenses und Dissenses sprachlich erkunden zu können.
    werfung“, aus dem Jahre 2015 die Richtung andeutet,                 Kurzum: Sprachkompetenz ist unerlässlich, sie ist eine
    nämlich die schleichende Übernahme und Beseitigung                  Grundvoraussetzung des vielzitierten Dialogs, auch wenn
    unserer liberaldemokratischen Verhältnisse durch das                dieser auf eine formale Ebene beschränkt bleibt und keine
    muslimische Gesellschafts- und Staatsmodell, wird sich              intimere Nähe angestrebt wird.
    erst weisen. Aber ob es dazu kommt, wird ausschließlich             Kollektive Identität gibt es auf beiden Seiten, auch wenn
    von unserer eigenen Bereitschaft abhängen, sowohl für als           diejenigen, die aus dem Ausland zu uns kommen, kein
    auch gegen die Ansinnen des muslimischen Lebensstils                Kollektiv im äußerlichen Sinne bilden. Kollektive Identi-
    moderater Prägung zu optieren.                                      tät ist ein Seelenzustand, eine Stimmungslage, eine religi-
                                                                        öse und nationale Identitätsvorgabe, die jeden Einzelnen
    Selbstachtung durch Dialog                                          auch jenseits der Gemeinschaft in der Heimat prägt.
    Was die Abwehr des islamistischen Terrors betrifft, gegen           Daher gilt es vor allem mit der schwächeren Seite, das
    den alle guten Absichten nichts helfen, so haben wir                sind zumeist die Gruppen der Migranten, der Zuwande-
    andere Mittel zur Hand, von unseren Geheimdiensten und              rer, der Asylwerber, so umzugehen, dass deren Selbstach-
    Verbotsmöglichkeiten bis zu den prall gefüllten Waffenar-           tung nicht verletzt wird.
    senalen des Westens. Die Angstmache hierorts scheint eher
    politisch-taktisch motiviert. Man kann durch die Ansta-             Die Chance der neuen Heimat
    chelung eines subjektiven Unsicherheitsgefühls Wähler               Hier gilt es, besonders einfühlsam und dennoch bestimmt
    gewinnen. Indem man eine ausländerfeindliche Mobbing-               zu agieren. Wenn sich ein muslimischer Mann weigert,
    stimmung schürt, wird zusätzlich eine Form des Patrio-              einer Lehrerin beim Elternsprechtag die Hand zu geben,
    tismus wieder aktuell, der es den Regierenden möglich               ist das eine Sache, die man nicht unkommentiert hinneh-
    macht, immer mehr Freiheitsrechte einzuschränken und                men sollte. Denn wir empfinden ein solches Verhalten
    schließlich sogar von den Menschenrechtsdeklarationen               als unhöflich und darüber hinaus als eine Bekundung
    allgemein zu behaupten, sie seien auch nur Farbe auf dem            der Minderwertigkeit der Frau. Man sollte einen solchen
    Papier, Druckwerk, das sich gegebenenfalls abändern lasse,          Mann auf seine negative Wirkung und unsympathische
    wenn sich die nötige parlamentarische Mehrheit finde.               Ausstrahlung aufmerksam machen. Aber eine ganz andere
    Wie in anderen europäischen Ländern, so grassiert in                Sache ist es, wenn man hierzulande gegen Bekleidungs-
    Österreich mittlerweile eine bedrohliche Stimmung.                  sitten und Verhaltensgewohnheiten behördlich vorgeht,
    Diese verspricht wenig Hoffnung, dass unter dem Druck               also rechtliche Mittel einsetzt, welche bei den Betroffenen
    der vielen Umwelt- und Wirtschaftsprobleme, die in                  Widerwillen hervorrufen und die Neigung begünstigen,
    naher Zukunft anstehen und weit über unsere eigenen                 sich im Rahmen der eigenen Minderheit örtlich und sozial
    Beherrschbarkeitsgrenzen hinausgehen, eine freundliche              aggressiv abzuschotten.
    Haltung jenen gegenüber kultiviert werden wird, die wir             Die Rolle des islamischen Kopftuchs ist umstritten, am
    als kulturfremd und bedrohlich empfinden. Unsere Politi-            feministischen Argument, damit werde die Unterdrü-
    ker und Politikerinnen überschlagen sich mit sogenannten            ckung der Frau öffentlich sichtbar gemacht, ist zweifellos
    Integrationsforderungen. Wer hier, bei uns, leben möchte,           etwas dran. Dennoch muss man sich, besorgt um ein
    der hat gefälligst auch unsere kollektive Identität – schon         gedeihliches Nebeneinander – es muss, wie gesagt, kein
    vor Jahren fiel das Wort von der „Leitkultur“ – zu überneh-         Miteinander im engeren Sinne des Wortes sein –, ernst-
    men. Und es soll gar nicht bestritten werden, dass in dieser        haft fragen, was Kopftuchverbote in Schulen und im
    Forderung ein Stück weit der Modus dafür zu finden ist,             öffentlichen Dienst bei denen, die davon direkt und indi-
    wie ein gedeihliches Miteinander möglich scheint.                   rekt betroffen sind, anrichten. Ist der Schaden, der durch
    Aber eine „kollektive Identität“ ist ein vielfältiges, teils alt-   solche angeblich integrativen Maßnahmen entsteht, nicht
    überkommenes, teils in sich gebrochenes Gebilde, in Tei-            größer als der Nutzen, der dadurch gestiftet wird? Man
    len ein Phantom. Wie immer die Lebensform des zu uns                muss bedenken, dass ein niedriger sozialer Status über die
    Eingewanderten im Einzelnen beschaffen sein mag, sie darf           Einwanderergenerationen hinweg eine rabiate Besinnung
    kein prinzipielles Hindernis für einen Erwerb der deutschen         auf die je eigene Tradition begünstigt. Gut möglich, dass
    Sprache sein, wobei das Niveau zunächst eine untergeordnete         derart das zarte Pflänzchen wechselseitiger Sympathie
    Rolle spielt – erst bei der Arbeitssuche erlangt es maßgebli-       verdorrt. Die „neue Heimat“ wird von den Zugewander-
    che Bedeutung. Grundsätzlich geht es bei dem sprachlichen           ten, mangels Wohlstandserringungschancen, schließlich
    Integrationserfordernis darum, nicht nur über das Land, in          nicht mehr als solche begriffen. Die Gefahr der Radika-
    das man einwanderte, über seine Leute und Institutionen             lisierung steigt dann rasch, zumal es wahrlich nicht an
    differenzierte Informationen zu erhalten. Es geht vor allem         Hasspredigern und politisch-religiösen Scharfmachern
    auch darum, mögliche Formen des Zusammenlebens, des                 im nahen Ausland fehlt.

6       Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19
Franz Konrad, Geschichtswäsche (Detail), 2016/19. © Konrad

Zu befürchten steht, dass die interkulturelle Reibung          Fanatikern zu tun hat, die mit Gewalt und Terror sympa-
in Zukunft, mit dem Siegeszug des Rechtspopulismus,            thisieren. Es ist hingegen wichtig, den friedsamen Immi-
zunimmt. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass für zentrale     granten und Immigrantinnen zu bedeuten, dass sie sich in
muslimische Riten ein Verbot gefordert wird, erinnert sei an   einer Gemeinschaft befinden, deren liberaldemokratisches
die Diskussionen um das Schächten zur Gewinnung kosche-        Credo das Fremde grundsätzlich als Bereicherung zu schät-
ren Fleisches oder die rituelle Beschneidung der männlichen    zen weiß. Wenn dieser Punkt außer Frage steht, dann erst
Nachkommen. An das Beschneidungsthema rührt man                wird sich in einer sozusagen ökumenischen Atmosphäre
im Augenblick bloß deshalb nicht, weil die Zirkumzision        über notwendige Anpassungen reden lassen.
auch dem Judentum heilig ist, doch mit zunehmendem             Gedeihlich für das reibungslose Zusammenleben wäre es
Antisemitismus in Europa kann sich die Lage rasch ändern.      jedenfalls, wenn wir jenen, die von außen zu uns kommen,
Dabei geht es den liberalen Stimmen keineswegs darum, das      erkennbar machen, dass nicht nur sie sich an uns anzupas-
Schächten (das unser Tierschutzgesetz penibel regelt) oder     sen haben, sondern auch wir von ihnen lernen können –
das Entfernen der Vorhaut am Penis zu rechtfertigen. Viel-     von ihrer Weisheit und Lebensklugheit, die sie noch unter
mehr geht es darum, aufzuzeigen, dass Verbote in diesen        elenden, ja grausamen Verhältnissen hoffen lassen, ihrer
rituellen Zentralbezirken des muslimischen und jüdischen       Existenz eine Wendung zum Guten zu geben.
Lebens nur scheinheilig unter das Stichwort „Integration“
subsumierbar sind. Im Gegenteil, solche Verbote bringen
die Kulturen ohne Not gegeneinander auf. Diejenigen, die                               Peter Strasser,
ihre geheiligten Rituale dennoch praktizieren, werden kri-     geb. 1950 in Graz, lehrte und forschte
minalisiert, und um Sanktionen zu vermeiden, wird man              am Institut für Rechtsphilosophie,
                                                               Rechtssoziologie und Rechtsinforma-
sich aggressiv gegen die Mehrheitskultur abschotten.
                                                                tik an der Karl-Franzens-Universität
                                                                 Graz. Seit 2015 befindet er sich im
Die Weisheit des Fremden                                       Ruhestand. Strasser ist weiterhin im
                                                                philosophischen Lehr- und Publika-
Wo also interkulturelle Reibungsflächen bestehen und the-          tionsbetrieb tätig, darüber hinaus
                                                                  schreibt er regelmäßig für in- und
matisiert werden, dort sollte dies stets in einer Atmosphäre
                                                               ausländische Zeitungen und Journale.
erfolgen, die diskurswillig und kompromissbereit ist. Diese    2014 erhielt er den Österreichischen
Friedensregel gilt freilich nur, solange man es nicht mit            Staatspreis für Kulturpublizistik.
                                                                                                                       Foto: Vretscher

                                                                                             Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19       7
„Es gibt doch so viele Möglich-
 keiten, etwas zu tun!“
     Alois Kölbl im Gespräch mit Franz Konrad

    Mit seiner Ausstellung in der QL-Galerie reagiert der Künstler Franz Konrad direkt auf das Quartier Leech-Jahresthema
    „Heiße Zeit“. Sie wird den Galerieraum in der Leechgasse mit der Kunst-Kirche St. Andrä verbinden, wo Konrad die histori-
    schen Kreuzweg-Bilder mit Imaginationen aus dem Heute weiterschreibt. In seinem letzten Projekt „Colombia Paper“ befasste
    er sich mit den postkolonialen Verwerfungen in Kolumbien, mit Bürgerkrieg, Ausbeutung ehedem paradiesischer Natur und
    Drogenkriminalität. Bilder beider Werkserien finden sich in diesem Heft. Alois Kölbl hat mit ihm über sein Ausstellungspro-
    jekt und das Thema dieser Ausgabe gesprochen.

                                                                                                        Foto: KHG

    Unser Heft trägt den Titel „Reibung“,        sie die Betrachter/innen in ihren Bann.      Konsumverhalten schon lange nichts
    zeitgenössischer Kunst kommt in unserer      Das funktioniert noch immer am besten.       mehr normal ist und dennoch ist es legal,
    Gesellschaft immer wieder die Rolle          Mit künstlicher Aufmerksamkeit etwas         diesem Raubbau an Mensch und Natur
    eines Reibebaums zu. Wie siehst du das?      erreichen zu wollen, finde ich geradezu      nachzugehen, und Politiker/innen wagen
                                                 peinlich und bringt langfristig nichts.      sich auf die Bühne und finden da noch
    Na ja, ein Skandal kann gut fürs Geschäft    Für mich ist die Kunst keine Aufregung       besänftigende Worte.
    sein, Galeristen liebäugeln manchmal         wert, sondern alles andere – vor allem das
    damit. Aber das ist nicht mein Ansatz. Ich   vermeintlich normale Leben. Wie kann         Du beschäftigst dich immer wieder mit
    glaube, dass die Bilder die Energie abge-    man sich darüber nicht aufregen? Es ist      einem Themenfeld, das in der medialen
    ben, die man in sie hineingibt, so ziehen    doch total offensichtlich, dass an unserem   und gesellschaftlichen Aufmerksamkeit

8      Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19
in den letzten Monaten sehr ins Zentrum     wird sofort von Wirtschaftsbossen als       Kreuzigung Jesu sehe, denke ich mir, es
gerückt ist: Ökologie und Umweltzerstö-     nicht machbar abgeschmettert und kei-       gibt das Kreuz immer noch überall, bloß
rung. Kann Kunst etwas verändern?           ner traut sich aufzustehen und diesen       die Form hat sich verändert.
                                            Bossen mal vorzuschlagen, ein Vorbild zu
Ökologie ist für mich so etwas wie ein      sein, und zwar global! Ich wollte immer     Was waren die Themen?
künstlerisches Urthema. Das war auch        in einem Land der Vorbilder leben, in
der Grund, warum ich aus der Architek-      einem Land, das etwas als erstes umsetzt,   Leid,   Erniedrigung,     Selbstaufgabe
tur ausgestiegen bin und mich ganz der      als erstes ins Ziel kommt ... nicht nur     waren die Themen, die ich in der aktu-
Kunst zugewandt habe. Für mich ist es       beim Schifahren.                            ellen Weltpolitik gesucht und gefunden

                                                                               Alois Kölbl (r.) im Gespräch mit Franz Konrad. Foto: KHG

das Zukunftsthema schlechthin, wenn         Für die Ausstellung „Tschick und Poli-      habe. Die habe ich dann zwischen die
wir damit nicht zurande kommen, sind        tik“ in der Kirche St. Andrä in Graz        Kreuzwegstationen gezeichnet. Grau-
wir Menschen dem Untergang geweiht!         wurdest du vor drei Jahren vom dama-        samkeiten auf dem afrikanischen Konti-
Deswegen kommt dieses Thema in mei-         ligen Pfarrer Hermann Glettler zur          nent, wie etwa die Ereignisse in Ruanda
nen Bildern fast immer in irgendeiner       Gestaltung eines Wandbildes eingela-        oder in Südamerika, in Nicaragua oder
Weise vor. Und: Ich bin mir sicher, dass    den und hast brisante Themen in den         in Kolumbien, aber auch Flüchtlinge,
Kunst etwas verändern kann! Meine Bil-      Sakralraum gebracht …                       die eine Kirche besetzen, ein damals in
der zielen nicht auf unmittelbare Auswir-                                               Österreich aktuelles Thema. Aber ich
kungen im gesellschaftspolitischen Han-     Ich habe mich damals stark mit politi-      bilde nicht einfach nur das Weltgesche-
deln, aber darauf, dass eine Gruppe von     schen Themen auseinandergesetzt. Es ist     hen ab, die Szenen bleiben offen, sollen
Menschen nachdenklich wird. Seit Greta      ein Wandbild in der Kirche entstanden       zum Nachdenken anregen. Da gibt es
Thunberg ist das Thema Klimawandel          mit dem Titel „Geschichtswäsche“. Mir       etwa ein Flugzeug, das Schachteln mit
zwar ständig präsent, aber konkrete Auf-    ging es darum, das Weltgeschehen in die     Kreuzen abwirft, man denkt zunächst an
forderungen zum Handeln an konkrete         Kirche zu bringen, das reale Leben mit      Hilfsgüter, es könnten aber auch Särge
Personengruppen bleiben völlig aus. Jede    den Kreuzwegbildern an der Wand zu          sein, oder eine Szene, bei der man an
kleinste CO2-Selbstbeschränkungsidee        verknüpfen. Wenn ich diese Szenen der       Devotionalienhandel denken könnte.

                                                                                                   Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19   9
Es handelt sich aber um Drogenverkauf.        Man sieht da auch eine Darstellung des        aus der Wolke der brennenden Notre
     Mir ist das Changieren von Bedeutungs-        Papstes …                                     Dame auch verschiedene Markenzeichen
     ebenen wichtig und die Offenheit für                                                        schweben lassen.
     verschiedene Interpretationen. Und es         Das bezieht sich auf ein Treffen von Papst
     ging mir auch um so etwas wie einen           Franziskus mit dem iranischen Präsi-          Die Ausstellung, an der du gerade arbei-
     Perspektivenwechsel, eine Blickumkehr:        denten Rohani. Das war für mich eine          test, hat mit den Bildern der brennenden
     Ich wollte nicht den Blick auf das Kreuz,     große Friedensgeste, dieser religionsü-       Kirche zu tun. Du möchtest dafür auch
     sondern letzteren vom Kreuz her auf das       bergreifende Versuch der Kommunika-           den Priestersitz im Presbyterium der
     Umfeld lenken, auf das, was in den nach       tion. Ich habe auch die bei dem Treffen       Kirche künstlerisch bearbeiten. Was
     einem bestimmten Schema gestalteten           erfolgte Verhüllung nackter Statuen in        hast du vor?
     Kreuzwegbildern nicht dargestellt ist.        den vatikanischen Museen dargestellt.
                                                   Das war damals sehr umstritten, aber          Ich werde den historischen, barocken
     Die Kreuzwegbilder in St. Andrä folgen        echter Dialog braucht eben Respekt.           Vorstehersitz mit einem Feuerwehr-
     dem Bildschema, das Joseph Führich in                                                       schlauch tapezieren, so dass sich die
     der Mitte des 19. Jahrhunderts geschaf-       Die Arbeit ist im Rahmen des Ausstel-         einzelnen Stühle mit der für die Feuer-
     fen hat. Weil von diesem Kreuzweg auch        lungsprojektes unvollendet geblieben.         wehrschläuche typischen Storz-Kupplung
     Kupferstiche angefertigt wurden, fand         Du bist gerade dabei die Bilderserie wei-     miteinander verbinden lassen. So kann
     er sehr große Verbreitung und existiert       terzuentwickeln. Was ist zu erwarten?         eine Art „Löschkette“ entstehen. In der
     in unzähligen, mehr oder weniger freien                                                     Gruppe kann man viele Dinge besser
     Kopien. Er ist sozusagen Teil eines kol-      Ich werde noch weitere Motive hinzufü-        machen als alleine. Nicht nur bei einem
     lektiven katholischen Bildgedächtnisses.      gen, etwa den Brand von Notre Dame,           Kirchenbrand, sondern überall, wo es
     Dem fügst du nun eine sehr subjektive         das ist für mich ein absolut epochales        brennt bzw. es große Probleme zu lösen
     Bildwelt hinzu …                              Ereignis, auch bezüglich der Bildsprache.     gilt, kann man nur gemeinsam vorgehen.
                                                                                                 Auch und gerade bei allen Umweltschutz-
     Die stereotype Bildsprache des Kreuzweges     Der Dachreiter über der Vierung von           bemühungen geht es genau darum. Mir
     hatte zunächst für mich als Künstler etwas    Notre Dame, der ja erst im 19. Jahrhun-       scheint, als wäre es an der Zeit, unbe-
     Lähmendes. Ich hatte ja damit begonnen,       dert entstanden ist, hatte beim Brand         queme Fakten etwas genauer zu bespre-
     bei konkreten Bildelementen des Kreuz-        so etwas wie seinen ultimativen, großen       chen. Fakten und Zahlen und weniger
     weges anzusetzen, bei den Farben und          Auftritt: ein Jahrhundertbild. Was ist        allgemeingültiges Geschreibe, das fehlt
     verschiedenen Bildelementen und diese in      für dich als Künstler das Herausfor-          mir in den Tageszeitungen. Nicht nur der
     meiner Bildsprache weiterzuentwickeln.        dernde an diesem Bild, das sich über die      Klimawandel, sondern auch die soziale
     Das habe ich dann aber sehr rasch verwor-     Medien vermittelt buchstäblich in tau-        Frage unserer globalisierten Produkti-
     fen und beim Thema und nicht bei der for-     sende Köpfe eingebrannt hat?                  onsabläufe. Wir haben unsere Sklavinnen
     malen Gestaltung angesetzt. Trotzdem ist                                                    und Sklaven weit weg geschafft, sodass
     mediale Vermittlung ein ganz wesentlicher     Das war ein unglaublich starkes Bild, die     sie hier nicht sichtbar sind. Stellen wir
     Teil meiner Bilder. Es geht mir um die        Flammen und das Fallen des Turmes.            uns vor, es verblieben nur die Waren in
     Rolle, die Medien für die Wahrnehmung         Das Bild einer Katastrophe, das eine ganz     den Auslagen der Geschäfte, die wir hier
     und Interpretation der Welt spielen. Da       eigenartige Schönheit hatte und zugleich      in Österreich herstellen. Wir würden in
     sieht man etwa den „Embedded Journalist“,     natürlich ein Katastrophenbild war, das       gähnend leere Schaufenster blicken!
     der im Krieg mit seiner Kamera dranbleibt     einen Nachdenkprozess in Gang gesetzt
     und die Betrachter/innen möglichst nahe       hat. Das fasziniert mich, ich hoffe, es gut   Aber man hört immer wieder, dass all
     an das grausame Geschehen heranführt.         in meine Bildwelt übersetzen zu können.       diese Bemühungen zu spät kommen.
     Wie ja auch der Kreuzweg Leid inszeniert      Spannend finde ich aber noch etwas
     und Leid, Schmerz und Gewalt ganz nahe        anderes: Sofort nach dem Brand wurde          Nein, es ist überhaupt nicht zu spät. Ich
     kommen lässt. Das kombiniere ich mit          eine Spendenaktion gestartet, reiche          freue mich sehr über die derzeitige Bewe-
     tagespolitisch aktuellen Themen wie etwa      Menschen und Organisationen meldeten          gung der „Fridays for Future“. Und ich
     den Flüchtlingen in der Kirche, oder zufäl-   sich mit Millionenspenden. Es ging da         ärgere mich, wenn gesagt wird, dass man
     lig aufgeschnappten Zeitungsmeldungen         sicherlich auch um Medienpräsenz und          da nichts machen könnte. Es gibt doch
     wie etwa die einer Airbnb-Übernachtungs-      mediale Inszenierung, sonst hätte man         so viele Möglichkeiten etwas zu tun. Es
     möglichkeit in einer Kirche: für mich eine    ebenso anonym spenden können. Das             bedarf auch einer neuen Bescheidenheit
     Grenzüberschreitung, die die Frage auf-       interessiert mich als Künstler: Wie sehr      in unserer Generation. Mein künstle-
     wirft, wie weit man Kirche kommerziali-       kann oder darf man eine Katastrophe           rischer Beitrag dazu ist es, dieses Narrativ,
     sieren kann. Doch selbst hier überlasse ich   nutzen, um sich selber in den Vorder-         das mich nicht loslässt, immer wieder mit
     die Interpretation den Betrachter/innen.      grund zu spielen? Deswegen möchte ich         meinen Bildern einzubringen.

10       Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19
Wenn sich EU-Recht und
innerstaatliche Autonomie der
    Kirchen aneinander reiben
                                                                                            Von Hubert Isak

                                                             Franz Konrad, Geschichtswäsche (Detail), 2016/19. © Konrad

Der Beitrag setzt sich anhand dreier Entscheidungen des    keine dauerhaft gültige Kompetenzabgrenzung zwischen
Gerichtshofs der Europäischen Union zum innerkirchli-      Union und Mitgliedstaaten geben kann. Dies wird dort
chen Arbeitsrecht bzw. zur gesetzlichen Karfreitagsrege-   als besonders problematisch empfunden, wo die kulturelle
lung in Österreich mit juristischen Reibungsflächen aus-   Identität eines Staates betroffen ist.
einander. Diese entstehen dadurch, dass selbst dort, wo
das Unionsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten      Im „Mission Letter“ der (designierten) neuen EU-Kom-
anerkennt, es aufgrund anderen Unionsrechts zu Konflik-    missionspräsidentin Ursula von der Leyen an die (desig-
ten kommen kann. Damit stellt sich die Grundsatzfrage,     nierte) Vizepräsidentin für „Werte und Transparenz“, Vera
ob – als Folge der Dynamik des Integrationsprozesses –     Jourová, wird letztere ausdrücklich damit beauftragt,
die Mitgliedstaaten sich damit abfinden müssen, dass es    den Dialog der Kommission mit den „Kirchen und den

                                                                                      Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19   11
religiösen Vereinigungen und Gemeinschaften“ zu führen.        Kirchen oder Klöster sich auch wirtschaftlich betätigen
     Dabei fällt auf, dass von der Leyen ausdrücklich Bezug         (Forste bewirtschaften, Liköre oder Käse produzieren und
     auf die religiösen Gemeinschaften nimmt, obwohl gemäß          vermarkten, touristische Dienstleistungen anbieten, Bil-
     Art. 17 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU       dungshäuser betreiben usw): Als gewöhnliche „Teilnehmer
     (AEUV) die Union einen „offenen, transparenten und             am Wirtschaftsleben“ unterliegen sie den für alle geltenden
     regelmäßigen Dialog“ ganz generell mit „diesen Kirchen         Grundfreiheiten (insbesondere Arbeitnehmerfreizügigkeit
     und Gemeinschaften“ pflegen soll. Durch Art. 17 Abs.           und Dienstleistungsfreiheit), den Wettbewerbsregeln und
     1 AEUV wird die Union verpflichtet, den „Status, den           dem Beihilfenverbot.
     diese Kirchen und religiösen Vereinigungen oder Gemein-
                                                                    Kritisch aber wird es, wenn der durch Art. 17 AEUV
     schaften in den Mitgliedstaaten genießen“, zu achten.
                                                                    garantierte Status der Kirchen und Religionsgemeinschaf-
     An der Mission Letter-Formulierung ist bemerkenswert,
                                                                    ten dadurch in Frage gestellt scheint, weil eben derselbe
     dass gerade das religiöse Segment der Zivilgesellschaft im
                                                                    Status mit dem Antidiskriminierungsrecht der EU kolli-
     Auftrag des für Werte zuständigen Mitglieds der neuen
                                                                    diert. Mit drei Fällen wird dies in aller Kürze skizziert:
     Kommission explizit Eingang gefunden hat; und dies in
                                                                    Zwei davon (Rechtssache Egenberger und Rechtssache
     einer Union, deren Gesellschaft durch fortschreitende
                                                                    IR, beide 2018) hatten das sogenannte „innerkirchliche
     Säkularisierung gekennzeichnet ist und in der Kirchen von
                                                                    Arbeitsrecht“ in Deutschland zum Gegenstand. Der Fall
     vielen Unionsbürger/innen kaum (mehr) als verlässlicher
                                                                    Cresco hingegen betraf die im österreichischen Arbeits-
     Wertekompass wahrgenommen werden!
                                                                    recht enthaltene sogenannte „Karfreitags-Regelung“ und
     Selbst eine bewusste „Schutzklausel“ wie Art. 17 Abs. 1        hat im Land zu einer durchaus intensiven, auch hitzigen
     AEUV, die eine vom Unionsrecht unbeeinträchtigte Exis-         öffentlichen Debatte geführt.
     tenz dieser Kirchen und Gemeinschaften nach dem Recht
     des jeweiligen Mitgliedstaats und auch deren interne Orga-
                                                                    Kirchenethos versus
     nisationshoheit sicherstellen soll, vermag allerdings nicht
     zu verhindern, dass sich die beiden Sphären immer wieder       Arbeitsplatzanforderung
     aneinander reiben. Juristisch gesprochen kommt es hier         Frau Egenberger, die keiner Konfession angehört, hatte
     also zu konkurrierenden Jurisdiktionsansprüchen. Dies          sich auf eine vom Evangelischen Werk für Diakonie und
     soll weiter unten anhand einiger exemplarischer Fälle, die     Entwicklung (Deutschland) ausgeschriebene, befristete
     vom Gerichtshof der Europäischen Union zu entscheiden          Referentenstelle für ein Projekt, das die Erstellung eines
     waren, illustriert werden. Andere durch das Individuum         Berichts zum Internationalen Übereinkommen der Verein-
     generierbare Reibungsflächen, wie die durch Art. 10 Abs.       ten Nationen zur Beseitigung jeder Form von rassistischer
     2 der EU-Grundrechte-Charta garantierte Ausübung der           Diskriminierung zum Gegenstand hatte, beworben. Nach
     Religionsfreiheit – hier spielt etwa die „Kopftuch-Debatte“    der Stellenausschreibung mussten die Bewerber Mitglied
     hinein –, werden in diesem Beitrag nicht näher behandelt.      einer evangelischen oder der Arbeitsgemeinschaft Christ-
                                                                    licher Kirchen in Deutschland angehörenden Kirche sein.
     Einmischung der EU?                                            Frau Egenberger wurde nicht zu einem Vorstellungsge-
                                                                    spräch eingeladen. Sie klagte auf Schadenersatz wegen
     Solche Reibungsflächen ergeben sich grundsätzlich und
                                                                    Benachteiligung aus Gründen der Religion.
     geradezu zwangsläufig schon auf einer rein rechtlichen
     Ebene deshalb, weil die Abgrenzung der Kompetenzen             Der Europäische Gerichtshof (EuGH) nahm eine Abwä-
     zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten keines-           gung zwischen dem Recht auf Autonomie der Kirchen
     wegs immer klar ist. Der seinem Wesen nach dynamische          und dem Recht der Arbeitnehmer, insbesondere bei der
     Integrationsprozess hat wie in einem Schneeballeffekt zur      Einstellung nicht wegen ihrer Religion oder Weltan-
     Konsequenz, dass immer weitere Bereiche bisher unbe-           schauung diskriminiert zu werden, vor. Zu prüfen sei,
     stritten mitgliedstaatlicher Angelegenheiten in den Integ-     so der EuGH, ob für die Begründung der Ablehnung
     rationssog geraten. Dieses Reibungspotential erweist sich      der Bewerbung die Religion nach der Art der betref-
     dann als ein Konfliktpotential, wenn es sich nicht bloß um     fenden Tätigkeiten „eine wesentliche, rechtmäßige und
     die Abgrenzung von Regelungshoheit, sondern um grund-          gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des
     sätzliche Organisationsfragen des Staates (Verfassungs-        Ethos dieser Kirche“ darstelle. Dieses Erfordernis müsse
     identität), politische Empfindlichkeiten (innere Sicherheit,   notwendig, objektiv geboten und angemessen sein. Der
     Migration) und/oder gesellschaftliche Grundhaltungen           geforderte Zusammenhang zwischen Anforderung und
     oder Traditionen handelt. Letztere sind trotz der oben         konkreter Tätigkeit könne sich zum Beispiel aus der Mit-
     erwähnten Tendenzen nach wie vor auch kulturgeschicht-         wirkung beim Verkündigungsauftrag oder in der Sicher-
     licher oder eben religiöser Natur. Die „Einmischung“ der       stellung einer glaubwürdigen Vertretung nach außen
     Union wird noch toleriert, wenn es etwa darum geht, dass       ergeben. Das deutsche Bundesarbeitsgericht (BAG), das

12       Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19
diese Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorge-            EuGH verneint, weil zwar mit dem Feiertag der beson-
legt hatte, hat dem Klagebegehren der Frau Egenberger        deren Bedeutung Rechnung getragen werde, die die mit
teilweise stattgegeben und ihr eine Entschädigung in der     diesem Tag verbundenen religiösen Feierlichkeiten für
Höhe von 3.915 € wegen Benachteiligung aus Gründen           die Angehörigen dieser Kirchen haben. Allerdings kann
der Religion zugesprochen.                                   nach Ansicht des Gerichtshofs von der in Rede stehen-
In IR war der Chefarzt eines Krankenhauses wegen der         den Regelung nicht angenommen werden, dass sie zum
in einer erneuten Eheschließung gesehenen Verletzung         Schutz der Religionsfreiheit notwendig ist. Arbeitnehmer,
der gegenüber dem katholischen Krankenhausträger als         die anderen Kirchen angehörten, sind für die Ausübung
Arbeitgeber gebotenen Loyalitätspflicht gekündigt worden.    der Religionsfreiheit durch Teilnahme an religiösen Riten
Der EuGH sah jedoch, ganz im Sinne von Egenberger, das       darauf angewiesen, dass ihnen der Arbeitgeber im Rah-
Erfordernis, den heiligen und unauflöslichen Charakter       men seiner Fürsorgepflicht gestattet, sich dafür von der
der Ehe nach dem Verständnis der katholischen Kirche zu      Arbeit zu entfernen. Hinsichtlich der zweiten möglichen
beachten, nicht als „wesentliche, rechtmäßige und gerecht-   Rechtfertigung hat der EuGH in der österreichischen
fertigte berufliche Anforderung“ an. Der Betroffene klagte   Regelung auch keine spezifische Maßnahme erkannt,
gegen die Kündigung, weil damit der Gleichbehand-            mit der eine Benachteiligung wegen der Religion unter
lungsgrundsatz verletzt werde, da die Wiederheirat eines     Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und
evangelischen oder konfessionslosen Chefarztes keine         so weit wie möglich des Gleichheitsgrundsatzes ausge-
Folgen für dessen Arbeitsverhältnis mit IR gehabt hätte.     glichen würde. Die Entscheidung des EuGH führte in
Der EuGH entschied, dass die Beratung und medizinische       Österreich zu einer überhasteten, wenig geglückten Neu-
Pflege in einem Krankenhaus und Leitung der Abteilung        regelung, die in ihrer derzeitigen Form kaum Bestand
„Innere Medizin“ als Chefarzt für die Bekundung des          haben dürfte.
Ethos von IR nicht notwendig erscheine. Es würden ja
auch ähnliche Stellen Beschäftigten anvertraut, die nicht    Reibung ist unvermeidbar
katholischer Konfession seien. Das dem EuGH folgende         Gleich, wie man zu den genannten Entscheidungen stehen
BAG sah in seiner endgültigen Entscheidung in der Wie-       mag: Sie sind Ausdruck wohl unvermeidlicher Reibungs-
derverheiratung keine Verletzung der Loyalitätspflicht und   flächen zwischen Union und Mitgliedstaaten beziehungs-
die Kündigung somit als unmittelbare Benachteiligung         weise dem jeweiligen Recht. Die juristische Subsumtion
aus Gründen der Religionszugehörigkeit, für die es keine     lege artis führt zwar zu formal korrekten Entscheidungen
Rechtfertigung gebe.                                         und dem EuGH kommt das Verdienst zu, die Grenzen der
                                                             durch Ausnahmeregelungen gerechtfertigten unterschied-
Die österreichische Karfreitagsdebatte                       lichen Behandlungen präzise herausgearbeitet zu haben.
In Cresco schließlich stellte der EuGH fest, dass die        Das diesen Fällen zugrundeliegende Konfliktpotential
gesetzlich geregelte Gewährung eines bezahlten Feier-        wird dadurch aber nicht wirklich entschärft. Derartige
tags am Karfreitag in Österreich allein für diejenigen       Fragen könnten ein Thema des eingangs erwähnten Dia-
Arbeitnehmer/innen, die bestimmten Kirchen angehören         logs der Unionsorgane mit den Kirchen sein. Sie könnten
(nämlich die Angehörigen der evangelischen Kirchen des       auch den EU-Gesetzgeber unterstützen, wenn es darum
Augsburger und des Helvetischen Bekenntnisses, der Alt-      geht, durch behutsames Nachjustieren sicherzustellen,
katholischen Kirche und der Evangelisch-methodistischen      dass einerseits dem Unionsrecht in vollem Umfang Rech-
Kirche), eine unionsrechtlich verbotene Diskriminierung      nung getragen wird, zum anderen aber durch die Verträge
wegen der Religion darstellt. Arbeitet ein Angehöriger       explizit geschaffene „Schutzräume“ für Kirchen und
einer dieser Kirchen am Karfreitag, hat er Anspruch auf      Gemeinschaften wie Art. 17 AEUV nicht zunehmend als
ein zusätzliches Feiertagsentgelt. Der Kläger, der keiner    wirkungslos empfunden werden.
dieser Kirchen angehörte und dem die Zahlung des Feier-
tagsentgelts daher vorenthalten worden war, sah darin eine
unzulässige Diskriminierung.
                                                                                         Hubert Isak,
Der EuGH stellte eine unmittelbare Diskriminierung              stv. Leiter des Instituts für Europa-
aus Gründen der Religion fest. Dafür ist im EU-Diskri-       recht an der KFUG; 1990 Mitbegrün-
                                                                  der des Instituts für Europarecht;
minierungsrecht eine Rechtfertigung aus zwei Gründen
                                                               1995 erster an einer Rechtswissen-
vorgesehen: Die diskriminierende Maßnahme kann                  schaftlichen Fakultät in Österreich
zulässig sein, wenn sie zur Wahrung der Rechte und           ernannter Jean Monnet-Professor für
                                                                Europäisches Gemeinschaftsrecht
Freiheiten anderer notwendig ist; oder sie kann als spezi-
                                                              und Recht der Europäischen Union;
fische Maßnahme zum Ausgleich von Benachteiligungen          1996 Verleihung der Lehrbefugnis für
wegen der Religion gerechtfertigt sein. Ersteres hat der              Völkerrecht und Europarecht.
                                                                                                                      Foto: Uni Graz

                                                                                           Denken + Glauben – Nr.194 – Winter 19   13
Barrierenfrei
      Markus Wilfling

      BARRIEREN
      UMSCHLIESSEN
      SICH
      SELBST
      ZERFALLEN
      IN
      IHRE
      BESTANDTEILE
      UND
      DER
      ATEM
      DER
      WELT
      BREITET
      SICH
      AUS
      SEIN
      HAUCH
      LÄSST
      MAUERN
      ZERSTREUEN
      UND
      IHRE
      ERBAUER
      VERSCHWINDEN
      IM
      SCHLAF
      DER
      ZEIT

     Markus Wilfling,
     geb. 1966 in Innsbruck, Studium der Bildhauerei bei Bruno Gironcoli an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Mitbegründer vom
     „Schaumbad, freies Atelierhaus Graz“. Lebt und arbeitet in Graz, seit 1989 zahlreiche Ausstellungen und Preise, u. a. den Kunstpreis der Diözese
     Graz-Seckau für Zeitgenössische Bildende Kunst (2003), mehrere künstlerische Interventionen rund um die Leechkirche sowie im PARADISE L.

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