RUNDBRIEF - Forum Umwelt & Entwicklung

Die Seite wird erstellt Niklas Förster
 
WEITER LESEN
RUNDBRIEF - Forum Umwelt & Entwicklung
4 / 2018

                                     RUNDBRIEF
                                     Forum Umwelt & Entwicklung

 Lebensadern unserer Erde
          Flüsse – begradigt, gestaut, zerstört.

Seite 4                   Seite 10                     Seite 14                    Seite 22
Verdammt gefährdet: Der   Flüsse und Konflikte – Zur   Salzig und braun: Wie die   Ökologische Grenzen und
Kampf um Europas letzte   strategischen Bedeutung      Kohle unserem Wasser        Fehlinvestitionen in der
Wildflüsse                von Wasserläufen             schadet                     Binnenschifffahrt

                                                                                               ISSN 1864-0982
RUNDBRIEF - Forum Umwelt & Entwicklung
RUNDBRIEF 4/2018

SCHWERPUNKT                                                              AKTUELLES
Lebensadern der Erde                                              2      COP24 in Kattowitz                                             25
Flüsse sind Biotop und Psychotop gleichermaßen                           Klimapolitische Spurensuche im Herz
Sonja Bettel                                                             des polnischen Kohlereviers
                                                                         Elisabeth Staudt
Verdammt gefährdet                                                4
Der Kampf um Europas letzte Wildflüsse                                   Einmal Meeresrettung, bitte!                                   26
Christian Stielow                                                        Verhandlungsbeginn für ein neues Abkommen
                                                                         zum Artenschutz auf der Hohen See
Die dunkle Seite der Wasserkraft                                  6      Marie-Luise Abshagen
Staudämme zerstören die Lebensgrundlage
tausender Menschen                                                       Nichts gelernt aus TTIP                                        28
Dr. Thilo F. Papacek                                                     Über die anstehenden Handelsabkommen der EU
                                                                         mit Japan, Singapur und Vietnam
Kampf um Kenias Ressourcen                                        8      Anne Bundschuh
Flüsse als Zündfunke und Lebensader
Tim Bunke                                                                Umweltschutz ist auch Heimatschutz?                            30
                                                                         Was rechtsextreme Ideologien mit
Flüsse und Konflikte                                            10       Natur- und Umweltschutz zu tun haben
Zur strategischen Bedeutung von Wasserläufen                             Yannick Passeick
Tobias von Lossow
                                                                         Geben die Staaten die Biodiversitätsziele                      32
Die purpurnen Flüsse                                            12       für 2020 auf?
Welche Rolle spielt die Textilindustrie bei der Verschmutzung            Die Biodiversitätskonvention in der Wüste
von Flüssen?                                                             Christian Schwarzer
Alexandra Caterbow
Salzig und braun                                                14       THEMEN AUS DEM FORUM
Wie die Kohle unserem Wasser schadet
Greta Pallaver                                                           Bauen mit Holz oder Stein?                                     35
Flüsse sind auf dieser Welt einfach unersetzlich                16       Welcher Werkstoff das Klima besser schont
Warum beschleunigen wir den Artentod mit                                 László Maráz
Staudämmen und Kraftwerksbau?                                            Am Scheideweg: Reform, Reförmchen oder ein Aus                 36
Tobias Schäfer                                                           Retten die „Freunde des Systems“
Unsere Flüsse und Seen sind in Gefahr                           18       die Welthandelsorganisation?
Finger weg von der Wasserrahmenrichtlinie!                               Jürgen Knirsch
Beatrice Claus                                                           Steht die Kommerzialisierung des Wassers bevor?                38
Blaues Band Deutschland                                         20       Tendenzen und Entwicklungen in Politik und Zivilgesellschaft
Auf dem Weg zu einem Biotopverbund?                                      Dr. Durmus Ünlü
Laura von Vittorelli                                                     Europäische Agrarpolitik nach 2020                             40
Binnenschifffahrt ja, aber wo und wie?                          22       Klima- und Umweltschutz: Alles freiwillig?
Über ökologische Grenzen und                                             Mireille Remesch
ökonomische Fehlinvestitionen                                            Schöne Neue Welt – ein Blick ins Jahr 2048                     42
Sebastian Schönauer                                                      Eine Konferenz als Zeitreise
                                                                         Jürgen Maier

Schwerpunkt – Publikationen                                     24       Der Agrarindustrie den Geldhahn abdrehen!                      44
                                                                         Wir haben es satt! demonstriert im Januar für klimagerechte
                                                                         Landwirtschaft und eine zukunftsfähige EU-Agrarreform
                                                                         Christian Rollmann

                                                                         Neueste Publikationen Forum Umwelt & Entwicklung               45

                          Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Ent-
                          wicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NGOs in internationalen
                          Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring,
                          Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR) e. V.
                          Die nächste Ausgabe des Rundbriefs erscheint im März 2019.
 IMPRESSUM
 HERAUSGEBER: Forum Umwelt & Entwicklung, Marienstraße 19 – 20, 10117 Berlin, Telefon: 030 /  678 17 75 910, E-Mail: info@forumue.de,
 Internet: www.forumue.de Twitter: @ForumUE VERANTWORTLICH: Jürgen Maier REDAKTION: Marijana Todorovic und Josephine Koch
 MITARBEIT: Lena Frowerk KORREKTORAT: Julia Rintz LAYOUT: STUDIO114.de | Michael Chudoba TITELBILD: Lode Lagrainge / Unsplash
 DRUCKEREI: Knotenpunkt Offsetdruck GmbH REDAKTIONSSCHLUSS: 25. November 2018

  Forum Umwelt & Entwicklung
FLÜSSE

                             Liebe Leserinnen,
                             liebe Leser,
                               Flüsse sind die Lebensadern unserer Erde, das ökologische Rück-
                               grat unserer Landschaften. Sie schaffen seit Jahrtausenden lebens-
                               werte Umfelder sowohl für Tiere und Pflanzen, als auch für uns
                               Menschen. Gleichzeitig stehen sie ganz oben auf der Liste der Öko-
                               systeme mit dem größten Artenverlust. Zudem werden Menschen
                               auf der ganzen Welt aus ihrer gewohnten Umgebung vertrieben, um
                               Platz für Wasserkraftwerke zu schaffen, oder sie werden krank von
                               den Industrieabwässern, die die Flüsse und damit das Trinkwasser
verunreinigen. Es geht im wahrsten Sinne des Wortes flussabwärts:
   Auf dem Balkan, dem „Blauen Herz Europas“, wo die letzten wilden Flüsse unseres Kontinents
die Landschaften prägen, sind über 3.000 neue Wasserkraftprojekte in Planung, mit katastropha-
len Folgen für die Natur. Anderorts werden Mega-Staudämme entgegen anhaltender Proteste
der Zivilgesellschaft errichtet, teils begleitet von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen
seitens der Regierungen.
   In Gebieten, in denen Wasserknappheit herrscht, entstehen auch zwischen verschiedenen
Bevölkerungsgruppen Konflikte um die Nutzung von Flüssen. Im Norden Kenias ist ein Bünd-
nis zivilgesellschaftlicher Organisationen mit einer Kamel-Karawane entlang des Ewaso-Nyrio-
Flusses gewandert, um auf die Bedrohungen des Flusses aufmerksam zu machen.
   Als strategische „Waffe“ in Konflikten werden Flüsse missbraucht, um die Wasserversorgung
der Gegner zu verknappen, Überschwemmungen auszulösen oder (Trink-)Wasser zu verun-
reinigen.
   Giftige Chemikalien landen aber auch beispielsweise durch die Textil- und Lederindustrie
in den Gewässern, wo sie besonders Frauen, Kinder und die ärmsten Bevölkerungsschichten
treffen. Auch hierzulande, z. B. in der Lausitz, verschmutzt der Abbau von Braunkohle unser
Trinkwasser und zerstört den Lebensraum von Tieren und Pflanzen.
   Politische Programme wie die Wasserrahmenrichtlinie in der Europäischen Union oder das
Blaue Band in Deutschland sollen dazu dienen, unsere Flüsse vor schädlichen Einträgen, Be-
gradigungen, Stauungen, Wasserkraft und zu hoch frequentiertem Schiffverkehr zu schützen
und Fließgewässer und Auen zu renaturieren, um wieder einen natürlichen Biotopverbund
mitsamt der wertvollen Ökosystemfunktionen zurückzugewinnen. Doch bei der Umsetzung
hakt es gewaltig.
   Dass Flusslandschaften komplexe Ökosysteme sind, die vielfältige, für eine intakte Umwelt
und die Lebensräume von Menschen essenzielle Funktionen erfüllen, ist leider noch nicht ins
Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit durchgedrungen.
   Mit dieser Ausgabe möchten wir den Flüssen nicht nur den Respekt und die Aufmerksamkeit
schenken, die ihnen gebührt, sondern auch dem Abwärtstrend etwas entgegensetzen, indem wir
Möglichkeiten aufzeigen, um diese Schätze der Natur und ihren Artenreichtum zu schützen.

Ich wünsche eine sprudelnde Lektüre

Marijana Todorovic

                                                                        Rundbrief 4 / 2018
SCHWERPUNKT

                                                                                                                                             ©© Drew Coffman/Unsplash
    Flüsse sind Lebensadern, deshalb haben sich an großen Flüssen auch die ersten Hochkulturen der Menschheitsgeschichte entwickelt.

    LEBENSADERN DER ERDE
    Flüsse sind Biotop und Psychotop gleichermaßen

    Wasser ist die Grundlage des Lebens. Flüsse sind die Adern, die das Wasser                      Kein Wunder also, dass viele Mu-
    zu allen Zellen bringen. Es wundert also nicht, dass die ersten Hochkul-                     sikerInnen sich von Flüssen inspirie-
    turen an bedeutenden Flüssen der Erde entstanden sind, aber ebenso                           ren ließen. In den Dörfern entlang
    wenig, dass Flüsse zum Dreh- und Angelpunkt vieler Konflikte werden.                         der Vjosa in Albanien, die als Europas
                                                                                                 letzter Wildfluss gilt, ist der iso-poly-

    F    lüsse sind Lebensadern, sagte
         der Schweizer Forstingenieur
         und Ökologe Mario Broggi im
    Sommer 2017 im Interview für die
    Sendung ‚Wilde Wasser‘ von Radio
                                                  Flüsse, die frei fließen dürfen, die
                                                  Mäander bilden, Schotterbänke auf-
                                                  häufen und wieder abtragen, Auwäl-
                                                  der fluten, Nebenarme bilden und so
                                                  vielfältig und dynamisch sind, wie die
                                                                                                 phone Gesang, der von der UNESCO
                                                                                                 zum immateriellen Kulturerbe erklärt
                                                                                                 wurde, jeweils an die Fließgeschwin-
                                                                                                 digkeit des Flusses angepasst und hat
                                                                                                 oft die Schönheit der Landschaft zum
    Ö1. Im Sommer 2018 sollte sich das            Moldau in Bedřich Smetanas gleich-             Inhalt.
    auf schmerzliche Weise bestätigen, als        namiger sinfonischer Dichtung.                    Wenn die Vjosa – wie geplant – für
    in weiten Teilen Europas extreme Tro-            Weil Menschen in Europa solche              Wasserkraftwerke gestaut würde und
    ckenheit herrschte, der Rhein deshalb         Flüsse kaum noch erleben können,               damit ihre Dynamik und Schönheit
    so wenig Wasser führte, dass Schiffe          außer am Tagliamento in Friaul, an             verloren ginge, würden die Bäuerin-
    nicht mehr passieren konnten, und             der Vjosa in Albanien und an anderen           nen und Bauern von Kuta, Pocem
    aus manchen Bächen Fische gerettet            naturbelassenen Flüssen am Balkan,             und anderen Dörfern nicht nur das
    werden mussten.                               haben sie einen Quell für Erholung             Wasser für ihre Tiere und Felder ver-
       Flüsse sind Lebensadern, weil es           und Inspiration verloren, bedauert             lieren, sondern auch die Grundlage
    ohne Wasser kein Leben gibt. Sie              der Ökologe. Ein geradliniger Kanal            ihrer Kultur.
    sind ein wichtiger Teil des Wasser-           mit betonierten Seitenwänden wirkt
    kreislaufs auf der Erde. Wasser dient         eintönig und abweisend, ein spru-              Quelle der Hochkulturen
    Mensch und Tier zum Trinken, in und           delnder Gebirgsbach oder der Tagli-            Flüsse sind Lebensadern, deshalb ha-
    am Wasser eines Flusses gedeiht reich-        amento mit seinen mächtigen Schot-             ben sich an großen Flüssen auch die
    haltiges Leben.                               terbänken sind nicht nur ökologisch            ersten Hochkulturen der Mensch-
       „Flüsse sind aber nicht nur Biotop,        wertvoll, sondern auch schön. Den              heitsgeschichte entwickelt.
    also Lebensraum für Tiere und Pflan-          Unterschied zwischen einem regulier-              In Mesopotamien, dem Zweistrom-
    zen“, sagt Mario Broggi, „sie sind            ten Fluss und einem natürlichen kann           land zwischen Euphrat und Tigris,
    auch Psychotop für das Wohlbefinden           man auch hören und den Klang zur               ließen sich ab dem 12. Jahrtausend v.
    des Menschen und seine Lebensquali-           Analyse seines ökologischen Zustands           Chr. Menschen nieder. Sie begannen,
    tät“. Broggi sieht dabei aber nicht die       nutzen, wie der Ökohydrologe Diego             den fruchtbaren Boden zu bebauen
    großteils regulierten Flüsse Europas          Tonolla 2011 mit seiner Doktorarbeit           und Vorräte anzulegen. Die Sumerer
    vor seinem geistigen Auge, sondern            festgestellt hat.  1                           im Süden Mesopotamiens errichte-

2     Forum Umwelt & Entwicklung
SCHWERPUNKT

ten im 4. Jahrtausend die erste Stadt       Nicht zuletzt haben Flüsse vielfach    zur Stromerzeugung, die die Türkei
und gelten als das erste Volk, das den   auch spirituelle oder religiöse Bedeu-    bauen möchte.
Übergang zur Hochkultur vollzog.         tung. Die berühmteste ist wohl jene          ForscherInnen der Michigan Sta-
Sie schufen Regeln für die Bewässe-      des Ganges, dem zweitgrößten Fluss        te University schreiben im Wissen-
rung der Felder und die Verwaltung       von Indien und Bangladesch. Den           schaftsjournal ‚Proceedings of the
der Vorräte und erfanden dafür die       meisten indischen Religionen ist die      National Acadamy of Sciences‘, dass
Schrift. Da sie wenig Rohstoffe hat-     Ganga heilig, das Bad im Ganges soll      große Wasserkraftprojekte häufig
ten, begannen sie, Handel zu treiben.    von Sünden reinigen und Vergebung         zur Zerstörung von Dörfern und zur
   Am Nil entstand ab 4000 v. Chr.       bringen. Viele Hindus möchten sogar       Zwangsumsiedlung der BewohnerIn-
das ägyptische Reich, am Indus 2800      am Ganges sterben und als Asche mit       nen bei mangelnder Entschädigung
v. Chr. die Harappa-Kultur und am        dem Fluss eins werden.                    geführt haben und weiterhin führen.  2
Gelben Fluss die chinesischen Reiche                                               Am Amazonas wie auch am Balkan
(ab etwa 1900 v. Chr.).                  Konflikte unausweichlich                  kämpfen Menschen deshalb gegen
                                         Bei so vielen Interessen und großem       geplante Wasserkraftprojekte – und
Vielfacher Nutzen und Gefahr             Nutzungsdruck ist es kein Wunder,         damit gegen rücksichtslose Investo-
Flüsse waren für die Entstehung von      dass es rund um Flüsse immer wieder       rInnen und korrupte PolitikerInnen.
Hochkulturen nicht zwingend not-         zu Konflikten kommt. Das können              Dass man Flüsse auch gemeinsam
wendig, doch die Besiedlung einer        lokale Konflikte sein, wie die Frage,     nutzen kann, ohne sich gegenseitig
Flusslandschaft hatte viele Vorteile:    welche AnrainerInnen wann und             den Krieg zu erklären, zeigt die 1950
Die Verfügbarkeit von Wasser zum         wieviel Wasser zur Bewässerung der        gegründete Internationale Kommissi-
Trinken und Waschen, für die Land-       eigenen Felder ableiten oder wer wo       on zum Schutz des Rheins. Nach dem
wirtschaft und Tierzucht und die Her-    fischen darf. Es können Konflikte         Unfall in der Chemiefabrik Sandoz
stellung verschiedenster Güter. Flüsse   mit der Natur sein, wie: Sollen Kor-      bei Basel 1986, in dessen Folge auf
lieferten Fische, Muscheln, Krebse       morane oder Fischotter abgeschossen       hunderten Kilometern alle Lebewe-
und Vögel als Nahrung, Auwälder bo-      werden dürfen, weil sie angeblich den     sen im Rhein starben, wurde klar, dass
ten Wildpflanzen, Wildtiere und Holz.    FischerInnen die Fische wegfressen?       ein grenzüberschreitender Fluss nur
Holz, das bei Hochwasser mitgerissen     Dürfen Biber getötet werden, weil sie     dann zum Wohle aller genutzt wer-
wurde, war ebenfalls wertvoll. Am Al-    Bäume fällen und mit ihren Dämmen         den kann, wenn alle Anliegerstaaten
penrhein beispielsweise sind aus dem     Wasser aufstauen?                         zusammenarbeiten.
19. Jahrhundert spezielle Werkzeuge         Konflikte um die Nutzung von              Flüsse sind Lebensadern, und ein
überliefert, mit denen man Treibholz     Flüssen entstehen aber auch zwischen      Staudamm, so pflegt Ulrich Eichel-
aus dem Wasser fischen konnte, und       Regionen oder Staaten: Im Nahen           mann von der Nichtregierungsorga-
Regeln, welches Holz man behalten        Osten, einer der regenärmsten Re-         nisation Riverwatch zu sagen, sei wie
und welches man dem oder der Be-         gionen der Welt, wird der politische      ein Blutgerinnsel im menschlichen
sitzerIn, dem es flussaufwärts vom       und religiöse Konflikt zwischen Israel    Körper, der zum Herzinfarkt führt.
Hochwasser entwendet worden war,         und seinen Nachbarstaaten noch da-        Flüsse als Lebensgrundlage, aber
zurückgeben musste. Für das Fischen      durch verschärft, dass Israel für seine   auch als Quelle der Inspiration und
mit Netzen und Reusen gab es bereits     exportträchtige Landwirtschaft rund       Erholung zu erhalten oder wieder-
im Mittelalter Regeln, wer wo wie viel   90 Prozent des Wassers des Jordan         herzustellen, sei deshalb die große
fangen durfte und welcher Zins dafür     ableitet und Syrien, Jordanien und        Aufgabe unserer Tage.
zu bezahlen war. Nachdem die ersten      die Palästinensergebiete sich mit dem
Kraftwerke am Rhein gebaut waren,        Rest begnügen müssen.                                                  Sonja Bettel
war es jedoch vorbei mit dem Segen,         Ägypten betrachtet sich als Haupt-
weil die Fische nicht mehr wandern       eigner des Nilwassers und möchte          Die Autorin ist Wissenschaftsjournalistin
konnten. Viele Fischarten, die einst     zur landwirtschaftlichen Nutzung          für Radio Ö1 und andere Medien
die Mägen der Rhein-Anwohner füll-       der Wüste im Südwesten des Landes,        und betreibt das Online-Magazin
ten, gibt es heute gar nicht mehr.       dem Toshka-Projekt, noch mehr Was-        Flussreporter.
   Das fließende Wasser wurde und        ser entnehmen. Doch der (neben dem
wird auch als Antriebskraft genutzt:     Amazonas) längste Fluss der Erde hat
Für Schiffsmühlen zum Mahlen von         6 weitere Anrainerstaaten, die Wasser     1 Diego Tonolla (2011): Acoustic and
Getreide, zum Antrieb von Maschi-        benötigen. Wenn es der 1999 einge-          Thermal Characterization of River
nen, zur Erzeugung von Strom und         richteten ‚Nile Basin Initiative‘ (Nil-     Landscapes. Diss. FU Berlin. http://www.
für den Transport von Waren und          beckeninitiative) nicht gelingt, eine       eqcharta.ch/index_htm_files/Tonolla_
Menschen, wie auch zum Kühlen und        Einigung zu finden, könnte das die          Dissertation2011_FU.pdf.
Waschen und zur Entsorgung von Ab-       Konflikte in einer ohnehin unruhigen
                                                                                   2 Emilio F. Moran/Maria Claudia Lopez/
wässern und Müll.                        Region verhärten.
                                                                                     Nathan Moore/Norbert Müller/David
   Flüsse boten und bieten aber             Ähnliches gilt für Euphrat und
                                                                                     W. Hyndman (20.11.2018): Sustainable
auch Gefahren: Durch Hochwässer          Tigris, wo bereits vielfältige Konflik-
                                                                                     hydropower in the 21st century. PNAS,
und Überschwemmungen, durch              te herrschen und die Türkei, Syrien
                                                                                     115 (47) 11891-11898, http://www.pnas.
Geschiebe von Felsen, Schotter und       und der Irak noch kein gemeinsames
                                                                                     org/content/115/47/11891.
Sand, durch das Erodieren der Ufer,      Konzept zur Wassernutzung gefun-
durch giftige Abwässer, oder durch       den haben. Dabei geht es nicht nur
Krankheiten, die von Mücken und          um Trinkwasser und Wasser für die
Würmern übertragen werden, die am        Landwirtschaft, sondern auch um 22
und im Wasser leben.                     Staudämme und 19 Wasserkraftwerke

                                                                                                  Rundbrief 4 / 2018            3
SCHWERPUNKT

                                                                                                                                            ©© Gregor Subic
    Die Vjosa in Albanien, die „Königin der Flüsse“, ist als einer der letzten großen Wildflüsse Europas nun auch von Staudämmen bedroht.

    VERDAMMT GEFÄHRDET
    Der Kampf um Europas letzte Wildflüsse

    Europas Blaues Herz schlägt auf dem Balkan: Nirgendwo sonst in Europa                          Kleinwasserkraftwerken. Sie leiten
    gibt es eine vergleichbare Vielfalt unberührter Flusslandschaften. Doch                        das Flusswasser über in den Fels ge-
    diese Vielfalt ist bedroht. An die 3.000 Wasserkraftwerke sind zwischen                        sprengte Pipelines ab, um an anderer
    Slowenien und Griechenland derzeit geplant – würden sie alle realisiert,                       Stelle Strom zu erzeugen. Unterhalb
    wären die Folgen für die Natur katastrophal. Die Menschen vor Ort be-                          der Ableitung verbleibt dann höchs-
    ginnen, sich gegen die wahnwitzigen Pläne zu wehren.                                           tens ein Rinnsal im Flussbett, in dem
                                                                                                   Fische und andere Lebewesen kaum

    W         enn Sie sich eine Traumland-
              schaft vorstellen, wie würde
              diese aussehen? Vielleicht
    so: hohe Berge mit schneebedeckten
    Gipfeln, geheimnisvolle Wälder mit
                                                   Prozent sind dagegen stark reguliert.
                                                   Wer hierzulande meint, einen unbe-
                                                   rührten Fluss vor sich zu haben, war
                                                   noch nicht auf dem Balkan. Das Blaue
                                                   Herz Europas ist eine kaum bekann-
                                                                                                   eine Chance zum Überleben haben.
                                                                                                   In den Sommermonaten trocknen
                                                                                                   die betroffenen Flussläufe dann meist
                                                                                                   vollständig aus – eine ökologische Ka-
                                                                                                   tastrophe. Aufgrund ihrer geringen
    dichtem Unterholz, saftige Wiesen,             te Perle in der europäischen Natur-             Größe ist oftmals keine Umweltver-
    über die im Herbst der Nebel wabert            schatzkiste und noch weitestgehend              träglichkeitsprüfung für den Bau der
    und klare, smaragdgrün leuchtende              unerforschtes Terrain. Erste systema-           Kleinwasserkraftwerke vorgeschrie-
    Flüsse, die ungebremst durch schrof-           tische Untersuchungen ganzer Fluss­             ben. Selbst vor Schutzgebieten ma-
    fe Schluchten und liebliche Täler flie-        einzugsgebiete zeigen: Die Wildflüsse           chen die Bauarbeiten keinen Halt, mit
    ßen? Solch eine Bilderbuchlandschaft           des Balkans zählen zu den Hotspots              all den negativen Begleiterscheinun-
    gibt es wirklich, in Europa! In zahlrei-       biologischer Vielfalt in Europa.                gen der für den Bau benötigten Inf-
    chen Staaten der Balkanhalbinsel hat              Dies scheint die PolitikerInnen der          rastruktur (Straßen, Stromleitungen,
    sich durch jahrzehntelange Abschot-            Balkanstaaten jedoch nicht zu inter-            Pipelines etc.).
    tung und aufgrund fehlender politi-            essieren; sie vergeben – oftmals an                Das Absurde daran: Die Energiebi-
    scher Stabilität nach der Wendezeit            ausländische InvestorInnen – bereit-            lanz von Kleinwasserkraftwerken ist
    eine in weiten Teilen intakte Natur            willig Konzessionen für den Bau von             mehr als ernüchternd. Auf der Seite
    erhalten können. Insbesondere die              Wasserkraftwerken. Nach aktuellem               des Umweltbundesamtes heißt es:
    Flusslandschaften sind von faszinie-           Stand sind annähernd 3.000 Wasser-              „Typisch für den Kraftwerksbestand
    render Ursprünglichkeit.                       kraftprojekte im Südosten Europas               in Deutschland […] ist die große
                                                   geplant. Sollten alle diese Pläne um-           Anzahl an Kleinwasserkraftanlagen.
    Bedrohte Schönheit                             gesetzt werden, würde Europas blaues            Sie dominieren zwar den Anlagenbe-
    Rund 80 Prozent der Balkanflüsse sind          Herz aufhören zu schlagen.                      stand, die wenigen großen Anlagen
    in einem guten oder sogar sehr guten                                                           erzeugen jedoch weit über 80 Prozent
    Zustand. Zum Vergleich: In Deutsch-            Kleine Kraftwerke, große Zerstörung             des Stroms […] in Deutschland.“  1
    land gelten nur noch weniger als 10            Ein Großteil des „Staudamm-Tsu-                 Der Anteil von Strom aus Kleinwas-
    Prozent der Flüsse als naturnah, 60            namis“ besteht aus sogenannten                  serkraftwerken am gesamtdeutschen

4     Forum Umwelt & Entwicklung
SCHWERPUNKT

Energiemix beträgt gerade einmal           „No Money – No Dams“ (Kein Geld –         größten erhaltenen, sprich noch un-
0,07 Prozent. Ähnlich stellt sich die      Keine Staudämme) lautet der Name          verbauten Wildfluss auf dem Balkan.
Situation auf dem Balkan dar.              einer Petition des amerikanischen         Der ‚Fall Vjosa‘ war das erste Gerichts-
                                           Outdoor-Unternehmens Patagonia            verfahren zu einem Umweltprojekt in
Verheerende Folgen                         gegen die Finanzierung von Stau-          Albanien überhaupt, auch ein Zeichen
auch für die Menschen                      dammprojekten in Südosteuropa.            dafür, dass die Zivilgesellschaft der
„Was nützt der erzeugte Strom, wenn        Bis zum Frühsommer hatten schon           Region im Wandel begriffen ist.
die Menschen kein Brot mehr zu             mehr als 120.000 Menschen ihren              „Es steht außer Frage, dass die Be-
essen haben?“, fragt sich Xhevahir         Namen unter die Petition gesetzt.         wohnerInnen der Balkanstaaten ein
Shkurti. Der ältere Herr aus einem         Die ausgedruckte Unterschriftenliste      Anrecht auf die Verbesserung ihrer
kleinen Dorf in Albanien ist wütend;       übergaben VertreterInnen der Blue         Lebensumstände haben. Aber es gibt
wütend auf das Kraftwerk, durch das        Heart-Kampagne sowie von Patago-          Lösungsansätze zur Energieerzeu-
seine Getreidemühle nicht mehr mit         nia im Juni an hochrangige Mitarbei-      gung, die nicht die letzten Wildflüs-
Wasser versorgt wird und wütend auf        terInnen der EBWE in London. Diese        se unseres Kontinents zerstören. Bei
die Regierung in Tirana, die den Bau       signalisierten, sich aus der finanziel-   300 Sonnentagen im Jahr wäre Solar-
genehmigt hat. Es ist noch nicht lan-      len Unterstützung für Wasserkraftpro-     energie eine sinnvolle Alternative zur
ge her, da mahlten Xhevahir Shkurti        jekte zurückzuziehen – zumindest in       Wasserkraft in Albanien“, erläutert
und sein Sohn Preparim das Getreide        geschützten Gebieten.  2                  Ulrich Eichelmann, Geschäftsführer
von 15 Gemeinden. Die Mühle wur-              Die Geldflüsse auszutrocknen, ist      von Riverwatch.
de durch das Wasser des Flusses Ra-        eine Möglichkeit, die Staudammflut           Die NaturschützerInnen der Kam-
puni angetrieben – eine nachhaltige        auf dem Balkan zu verhindern. Doch        pagne ‚Save the Blue Heart of Euro-
Nutzung von Wasserkraft, wie sie seit      auch die lokale Bevölkerung muss          pe‘ geben sich keinen illusorischen
Jahrhunderten betrieben wird. Dann         ihren Unwillen gegen die Zerstörung       Hoffnungen hin. Ihnen ist klar, dass
kam das Kraftwerk. Seitdem steht die       ihrer Heimat bekunden. Der von Pa-        sie nicht alle 3.000 geplanten Wasser-
Mühle still. Die Staumauer hat dafür       tagonia in Auftrag gegebene Doku-         kraftwerke verhindern können. „Des-
gesorgt, dass das Flussbett unterhalb      mentarfilm „Blue Heart“ erzählt mit       halb haben wir einen Ökomasterplan
der Anlage vollkommen ausgetrock-          eindrücklichen Bildern und bewegen-       erarbeitet, der Tabuzonen für Wasser-
net ist.                                   den Geschichten von Europas letzten       kraftprojekte an den Balkanflüssen
   Verantwortlich für den Bau ist un-      wilden Flusslandschaften und ihrer        definiert. Wir wollen erreichen, dass
ter anderem die iC-Group, laut eige-       Bedrohung durch den Ausbau der            sich internationale Finanzinstitute
nem Selbstbild „die Expertengruppe         Wasserkraft. Im Sommer 2018 tourte        selbst verpflichten, keine Kraftwer-
für komplexe Ingenieur-Projekte und        der Film quer über den Balkan und         ke in solchen Tabuzonen zu fördern.
technisch-interdisziplinäre Gesamtlö-      konnte dank eines solarbetriebenen,       Für rund ein Drittel der geplanten
sungen“. Ihren Sitz hat die Firma in       mobilen Kinos auch in abgelegenen         Wasserkraftprojekte gibt es noch kei-
Wien. Fast alle Ingenieurbüros, Bau-       Dörfern gezeigt werden. Also genau        ne InvestorInnen, darin liegt unsere
firmen und GeldgeberInnen, die mit         dort, wo die betroffenen BürgerInnen      Chance“, sagt Theresa Schiller. Sie
Wasserkraft auf dem Balkan Geld ver-       leben und durch die naturzerstöreri-      und ihre MitstreiterInnen der Blue
dienen wollen, kommen aus dem Aus-         schen Projekte ihre Lebensgrundlage       Heart-Kampagne sind überzeugt da-
land. Insbesondere Entwicklungsban-        verlieren. Der Film zeigt Menschen,       von, die traumhaften Flusslandschaf-
ken – im Falle des Rapuni-Kraftwerks       die sich mutig den Interessen der Stau-   ten auch für kommende Generationen
die Europäische Bank für Wiederauf-        dammlobby entgegenstellen und den         bewahren zu können.
bau und Entwicklung (EBWE) – aber          ZuschauerInnen somit inspirierende
auch Geschäftsbanken vor allem aus         Vorbilder sind. Ein Beispiel: Die tap-                             Christian Stielow
Österreich und Italien machen gute         feren Frauen von Kruščica. Seit dem
Geschäfte mit der Errichtung von           Sommer 2017 besetzen sie eine Brücke      Der Autor arbeitet in der Presse-
Staudämmen auf der Balkanhalbin-           über den gleichnamigen Fluss, der die     und Öffentlichkeitsarbeit der
sel. „Bei den Banken herrscht eine Art     BewohnerInnen des bosnischen Dor-         Naturschutzstiftung EuroNatur.
Goldgräberstimmung“, sagt Theresa          fes mit frischem Trinkwasser versorgt.
Schiller von der international tätigen     Sie widersetzten sich bereits 2 Räu-
Naturschutzstiftung EuroNatur. Sie         mungsaktionen des Investors; bei der      1 https://www.umweltbundesamt.
koordiniert die gemeinsam mit der          ersten Aktion waren die Frauen bru-         de/themen/wasser/fluesse/nutzung-
NGO Riverwatch und zahlreichen lo-         taler Polizeigewalt ausgeliefert. Mitt-     belastungen/nutzung-von-fluessen-
kalen Organisationen durchgeführte         lerweile hat ein bosnisches Gericht die     wasserkraft#textpart-3
Kampagne „Save the Blue Heart of           Baugenehmigung aufgehoben – die
                                                                                     2 https://balkanrivers.net/sites/default/files/
Europe“ zum Schutz der Balkanflüs-         tapferen Frauen von Kruščica haben
                                                                                       Financing-hydropower-southeast-Europe-
se. „Viele der von den ausländischen       einen Etappensieg erreicht.
                                                                                       web-fin.pdf.
Geldinstituten finanzierten Kraftwer-
ke würden in ihren Heimatländern           Hoffnungszeichen für die Balkanflüsse
aus Umweltschutzgründen keine Be-          Die Entscheidung des Kantonsge-
willigung erhalten“, so Schiller weiter.   richts im Fall Kruščica ist nicht das
                                           erste Gerichtsurteil im Sinne der
Der Kampf nimmt Fahrt auf                  FlussschützerInnen auf dem Balkan.
Die Finanzierung durch internatio-         Im Mai 2017 stoppte das albanische
nale Banken zu stoppen, ist einer der      Verwaltungsgericht ein großes Stau-
Hebel, an dem die Kampagne ansetzt.        dammprojekt an der Vjosa, dem

                                                                                                     Rundbrief 4 / 2018                5
SCHWERPUNKT

                                                                                                                                     cc Pedro Vásquez Colmenares (CC BY-NC 2.0)
    Für den Drei-Schluchten-Damm in China mussten über 1,2 Millionen Menschen umgesiedelt werden.

    DIE DUNKLE SEITE
    DER WASSERKRAFT
    Staudämme zerstören die Lebensgrundlage tausender Menschen

    Wasserkraft gilt oft immer noch als nachhaltige Energiequelle. Die In-                  quelle eine attraktive Möglichkeit,
    dustrie bewirbt die Technologie als ideales Mittel, um Klimaschutz und                  günstig umweltfreundlichen Strom
    Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (UN) zu erreichen. Doch                     zu erzeugen. Die weltweit bisher in-
    Erfahrungen mit den menschenrechtlichen, sozialen und ökologischen                      stallierte Kapazität von etwa 1.300
    Folgen von Staudämmen sprechen gegen diese Erzählung.                                   Gigawatt könne um weitere 4.000 Gi-
                                                                                            gawatt Kapazität erweitert werden, so

    D      ie Wasserkraft spielt eine
           entscheidende Rolle bei der
           nachhaltigen und umwelt-
    freundlichen Stromerzeugung aus
    erneuerbaren Energien und ist welt-
                                                   So propagiert die International
                                                Hydropower Association (IHA), in
                                                der sich Konzerne und InvestorInnen
                                                aus aller Welt organisieren, die im Ge-
                                                schäft mit der Wasserkraft aktiv sind,
                                                                                            Uwe Wehnhardt, Geschäftsführer von
                                                                                            Voith Hydro.

                                                                                            Gigantische Kraftwerke –
                                                                                            für die Nachhaltigkeit?
    weit die größte erneuerbare Quelle          ihre Technologie als geeignetstes Mit-      Nach Aussagen der Industrie und
    für die Stromerzeugung. So steht es         tel zum Erreichen der UN-Nachhal-           ihrer Interessenvertretung ist also
    in mehreren Pressemitteilungen des          tigkeitsziele (SDGs) und des Pariser        Wasserkraft das hervorragendste
    deutschen Konzerns Voith Hydro, der         Abkommens zum Klimaschutz von               Instrument, um den Klimawandel
    zu den Marktführern bei der Produk-         2015 und stellt den Welt-Wasserkraft-       zu bekämpfen (SDG 13: Klima um-
    tion von Turbinen und anderer Aus-          Kongress im Mai 2019 in Paris unter         fassend schützen) und auch andere
    stattung für Wasserkraftwerke gehört.       das Motto „Die Kraft des Wassers in         UN-Nachhaltigkeitsziele (SDG) zu
       Die Argumentation scheint schlüs-        einer nachhaltigen und miteinander          erreichen. So schreibt Seleshi Bekele,
    sig: Das Wasser treibt Turbinen an,         verbundenen Welt“.  1                       der äthiopische Minister für Wasser,
    ohne verbraucht zu werden; es wer-                                                      Bewässerung und Elektrizität, in ei-
    den weder Erdöl, Gas oder Kohle             Globaler Staudammboom                       nem Beitrag für die IHA, Wasserkraft
    verbrannt noch radioaktive Elemen-          Wasserkraftwerke können riesige Men-        wirke als Katalysator und Anfangs-
    te eingesetzt. So erscheint Wasserkraft     gen Energie erzeugen. Von den welt-         punkt für Industrialisierung und
    als älteste regenerative Energiequelle.     weit 10 Kraftwerken mit der größten         ökonomische Entwicklung. Deshalb
    Gerade angesichts der Herausforde-          Kapazität sind 9 Wasserkraftwerke.          forciere die äthiopische Regierung
    rungen des Klimawandels erscheint           Insbesondere für Länder des Globa-          den Bau von Wasserkraftwerken: Mit
    Wasserkraft daher als eine notwendige       len Südens, so die FürsprecherInnen         der Grand-Ethiopian-Renaissance-
    und wichtige Technologie.                   der Wasserkraft, biete diese Energie-       Talsperre am Blauen Nil und dem

6     Forum Umwelt & Entwicklung
SCHWERPUNKT

Gilgel-Gibe-IV-Damm am Omo-Fluss              In Brasilien, der anderen aufstei-     rem Bau beteiligt sind oder am Export
an der Grenze zu Kenia befinden sich      genden Macht im Staudammgeschäft,          des Stroms verdienen, sowie ener-
dort die derzeit größten Wasserkraft-     sieht die Situation kaum besser aus.       gieintensive Industrien wie Bergbau
projekte Afrikas im Bau. Durch diese      Für den Bau des mit einer Nennleis-        und Aluminiumverhüttung – nicht
Projekte, so Bekele, entstünden Wirt-     tung von 14.000 Megawatt zweitgröß-        die lokale Bevölkerung. Mit Staudäm-
schaftswachstum und Arbeitskräfte         ten Wasserkraftwerks der Welt, dem         men können auch Stromschnellen
(SDG 8: Nachhaltiges Wirtschafts-         auf der Grenze zwischen Paraguay           überflutet werden, um Flüsse für die
wachstum und faire Arbeit schaffen),      und Brasilien am Paraná-Fluss gele-        Schifffahrt zu erschließen, wie es bei
mit der geschaffenen Infrastruktur        gene Itaipu-Damm, wurden in den            Staudämmen am Tapajós geplant ist.
könnten sich andere Industrien an-        1980er Jahren etwa 1.500 indigene          So will die brasilianische Regierung
siedeln (SDG 9: Industrialisierung        Guaraní umgesiedelt. Sowohl in Bra-        entlegene Regionen für die expandie-
sozial verträglich gestalten). Da-       silien als auch in Paraguay regierten      rende Agrarindustrie erschließen.
durch würde die grassierende Armut        damals Militärdiktaturen und bei der          Der Bau von Staudämmen zieht
im Land gemindert (SDG 1: Armut           Umsiedelung der Indigenen kam es           also nicht nur unmittelbare, lokale
bekämpfen).  2                            zu psychologischen und physischen          Folgen nach sich, sondern ist gleich-
                                          Aggressionen gegen die betroffenen         zeitig auch Katalysator für weitere
China und Brasilien,                      Indigenen, und sogar Morden, wie           Landkonflikte in der gesamten Ama-
2 Hauptländer der Wasserkraft             eine Wahrheitskommission zum Stau-         zonasregion. Dem Jahresreport der
Der äthiopische Minister Bekele hegt      dammbau in diesem Jahr dokumentie-         Nichtregierungsorganisation Global
hohe Erwartungen an die Wasserkraft       ren konnte. Im Jahr 1981 ließen sich       Witness zufolge wurden im vergan-
für sein Land. Doch kann die Tech-        MitarbeiterInnen der binationalen          genen Jahr in Brasilien 57 Menschen-
nologie sie einhalten? Es lohnt sich,     Itaipu-Gesellschaft sogar dabei foto-      rechtsverteidigerInnen ermordet,
einen Blick nach Brasilien und China      grafieren, wie sie Dörfer von Indige-      mehr als in jedem anderen Land.
zu werfen, wo viel Erfahrung mit Was-     nen abbrannten.  4                         Die meisten dieser Morde erfolgten
serkraftwerken besteht. China ist mit         Solche schwerwiegenden sozialen        im Kontext von Landkonflikten im
341.000 Megawatt installierter Kapa-      und menschenrechtlichen Probleme           Zusammenhang mit Agrarindustrie,
zität eindeutiger Spitzenreiter bei der   von Wasserkraftwerken sind keine           Bergbau oder Wasserkraftprojekten
Nutzung von Wasserkraft, auf Platz 2      Ausnahmen, sondern die Regel. Nach         in der Amazonasregion. Die men-
folgen die USA (102.900 Megawatt)         Schätzungen von International Rivers       schenrechtlichen, sozialen und öko-
und Platz 3 belegt Brasilien (100.300     wurden weltweit zwischen 40 und            logischen Kosten von Staudämmen
Megawatt). In den USA werden              80 Millionen Menschen für Dämme            sind nicht zu rechtfertigen.
mehr Staudämme ab- als neu gebaut,        umgesiedelt, für die meisten bedeu-
da deren Lebensdauer aufgrund von         tete dies eine Verschlechterung ihrer                          Dr. Thilo F. Papacek
Sedimentablagerungen begrenzt ist         Lebenssituation.
und die Kosten für das Ausbaggern             Beim Bau des drittgrößten Stau-        Der Autor ist Projektreferent bei
der Stauseen bis zu 3mal höher sind,      damms der Welt, Belo Monte in Bra-         der Initiative GegenStrömung, die
als der Bau des Damms selbst. China       silien, kam es ebenfalls zu massiven       sich mit den menschenrechtlichen,
und Brasilien dagegen planen den          menschenrechtlichen Problemen. Die         sozialen und ökologischen Folgen von
Bau weiterer Anlagen.                     zuständige Staatsanwaltschaft von Al-      Wasserkraftwerken beschäftigt.
   In China steht unter anderem der       tamira ermittelt in dem Zusammen-
größte Staudamm der Welt. Gleich-         hang wegen Ethnozids, da betroffe-
zeitig ist der Drei-Schluchten-Damm       nen Indigenen die Lebensgrundlage          1 http://congress.hydropower.org/.
mit einer Nennleistung von 22.400         genommen wurde. Dabei verdienten
                                                                                     2 International Hydropower Association
Megawatt auch das größte Kraftwerk        auch europäische Konzerne an dem
                                                                                       (2018): 2018 Hydropower Status
der Welt. Doch der Damm brach auch        Bau mit, da sie Turbinen lieferten
                                                                                       Report. IHA London, S. 16f. https://
einen anderen Rekord: Über 1,2 Mil-       oder die (Rück-)Versicherung für das
                                                                                       www.hydropower.org/download/file/
lionen Menschen mussten für das           Projekt übernahmen.  5 Am Tapajós-
                                                                                       nojs/18956.
Kraftwerk umgesiedelt werden, mehr        Fluss plant die neue brasilianische
als bei jedem anderen Kraftwerk der       Regierung den Bau mehrerer weiterer        3 International Rivers (2003): Human Rights
Welt. Doch wie eine Studie der US-        Staudämme, die katastrophale Folgen          Dammed Off at Three Gorges. https://
amerikanischen Naturschutzorga-           für den amazonischen Regenwald und           www.internationalrivers.org/resources/
nisation International Rivers zeigt,      die dort lebenden Indigenen hätten.          human-rights-dammed-off-at-three-
gab es bei der Umsiedlung massive         Bereits seit vielen Jahren leisten indi-     gorges-4032.
Probleme. Entschädigungszahlun-           gene Munduruku Widerstand gegen            4 https://theintercept.com/2018/06/12/
gen kamen teilweise nicht bei den         diese Zerstörung und besetzen immer          fotos-funcionarios-itaipu-incendio-
Betroffenen an, das Projekt war von       wieder Baustellen von Staudämmen             indigenas/.
Beginn an mit massiver Korruption         und verzögern so empfindlich deren         5 GegenStrömung (2014): Der Belo-Monte-
verbunden und Proteste von Betrof-        Bauzeiten.                                   Staudamm und die Rolle europäischer
fenen dagegen wurden unterdrückt.  3                                                   Konzerne. http://www.gegenstroemung.
Trotz dieser negativen Bilanz für das     Profite auf Kosten der Bevölkerung           org/web/wp-content/uploads/2014/07/
Projekt plant die chinesische Regie-      Wasserkraftprojekte sind oft die Tür-        GegenStr%C3%B6mung_Belo-Monte-
rung den Bau weiterer Staudämme im        öffner für andere Industrien in entle-       und-Europ-Konzerne_2014.pdf.
Land und chinesische Firmen beteili-      genen Regionen und gehen mit dem
gen sich am Ausbau der Wasserkraft        Bau von Straßen einher. In erster Li-
in anderen Teilen der Welt.               nie profitieren diejenigen, die an ih-

                                                                                                    Rundbrief 4 / 2018             7
SCHWERPUNKT

                                                                                                                                                  ©© Karte: Andreas Langner; Foto: Tim Bunke
    Im 5. Jahr in Folge zog eine Kamel-Karawane von kenianischen AktivistInnen entlang des Ewaso-Nyrio-Fluss, um so auf die vielfältigen Bedro-
    hungen für den Fluss aufmerksam zu machen.

    KAMPF UM KENIAS
    RESSOURCEN
    Flüsse als Zündfunke und Lebensader

    Kenia war lange Zeit als Safariland bekannt. In den letzten Jahren be-                         einer bestimmten Ethnie, wer Land
    herrschten jedoch Ausschreitungen zwischen Ethnien, islamistischer Terror                      besitzt.
    und Korruption die Schlagzeilen. Eine außergewöhnliche Aktion wirbt für                           Die für die PastoralistInnen ver-
    die nachhaltige Nutzung eines Flusses im trockenen Norden Kenias und                           fügbare Landfläche verringert sich
    die friedliche Koexistenz seiner AnrainerInnen.                                                stetig durch raumgreifende Infra-
                                                                                                   strukturprojekte, Umweltzerstörung

    F    rüher führte der Fluss 10 Mo-
         nate im Jahr Wasser. Heute nur
         noch 2, er trocknet einfach aus,
    klagt der Viehhirte Adan Moham-
    med. Der Fluss Ewaso Nyrio ist die
                                                   des Landes – oft auch über ethnische
                                                   und staatliche Grenzen hinweg – im
                                                   Vordergrund. Wo für das westliche
                                                   Auge weite Landflächen brachliegen,
                                                   sind dies für PastoralistInnen oftmals
                                                                                                   und Dürren, aber auch durch prin-
                                                                                                   zipiell sinnvolle Umweltschutzmaß-
                                                                                                   nahmen, die jedoch oft die lokale
                                                                                                   Bevölkerung nicht einbeziehen. Der
                                                                                                   Norden Kenias war lange vernach-
    Lebensader von etwa 3,6 Millionen              traditionelle Weidegründe, die nur              lässigt und soll nun durch zahlreiche
    Menschen. Er entspringt der West-              saisonal genutzt werden.                        Bauprojekte gefördert werden. Heute
    flanke des Mount Kenya und bringt                                                              versucht die kenianische Regierung
    wertvolles Wasser in die häufig von            Konflikte um Wasser und Weideland               im Rahmen breit angelegter Investiti-
    Dürren bedrohten ariden Regionen               Doch das lebenswichtige Wasser ist              onsprogramme den dünn besiedelten
    im Norden Kenias. Das Land ist zu              zunehmend Grund für Konflikte,                  Norden infrastrukturell und vor allem
    karg, um dauerhaft Felder zu bestel-           die immer wieder zwischen den lo-               touristisch zu fördern: neue Wildtier-
    len. An den Ufern des Ewaso Nyrio              kalen Gemeinden und zwischen den                reservate, geteerte Highways, eine
    erwirtschaften die meisten Menschen            verschiedenen ethnischen Gruppen                Pipeline von der Küste zu den neu
    ihre Lebensgrundlage als nomadi-               entstehen, die um den Fluss als Res-            entdeckten Ölfeldern im Nordwesten,
    sche ViehhirtInnen. Auf der Suche              source für Wasser und Weideland                 eine Eisenbahnlinie, ein Schlachthaus
    nach frischen Weiden und Wasser für            konkurrieren. Aber nicht nur der                und eine Retortenstadt für Touris-
    ihr Vieh ziehen sie durch die Land-            Zugang zu Wasser und Weide, auch                tInnen. Einer der größten Flughäfen
    schaft. Viele pflegen seit Jahrhun-            Viehdiebstahl oder die Besetzung po-            Kenias und ein Staudamm werden
    derten einen pastoralen Lebensstil,            litischer Positionen vor dem Hinter-            gebaut. Infrastrukturmaßnahmen
    bei dem die Haltung von Nutztieren             grund einer ethnisierten politischen            wurden zwar von vielen Menschen
    wie Kamelen, Rindern, Schafen und              Landschaft sorgen für Streit und                lange ersehnt, mit ihnen verschärfen
    Ziegen zur Nahrungsgewinnung im                gewaltsame Auseinandersetzungen.                sich jedoch bestehende Konflikte um
    Vordergrund steht. Landbesitz in sei-          Oft sind auch Landrechte unklar und             Ressourcen weiter. Insbesondere die
    ner europäischen Form ist hier nicht           dadurch strittig. Häufig entscheidet            entstehende Talsperre Crocodile Jaw
    existent, vielmehr steht die Nutzung           Korruption und die Zugehörigkeit zu             wird von AnwohnerInnen sehr kri-

8     Forum Umwelt & Entwicklung
SCHWERPUNKT

tisch betrachtet, da die Aufstauung        spielsweise steht auf der einen Seite    Mal zu einer Kamel-Karawane  2 für
des Ewaso Nyiro zu einer sich weiter       oft unverhältnismäßige Gewaltan-         den Fluss Ewaso Nyrio im trockenen
verschlimmernden Wasserknappheit           wendung durch die Polizei, auf der       Norden Kenias auf. Viele ansässige
führen würde. Der Nutzungsdruck            anderen Seite das offene Misstrauen      Nomaden, wie Adan Mohammed,
wird noch verstärkt, indem großflä-        der Jugendlichen. Zunächst ist es        begleiteten die kenianischen Aktivis-
chig wasserintensive Exportgüter am        unerlässlich, Vertrauen aufzubauen,      tInnen. Mit 15 Kamelen wanderte die
Oberlauf des Ewaso Nyrio angebaut          damit Informationen und Erfahrun-        Kamel-Karawane 300 Kilometer ent-
werden, etwa Rosen für europäische         gen ausgetauscht werden können.          lang des Ewaso-Nyrio-Flusses. Auf
VerbraucherInnen. Direkte Auswir-          Teil eines partizipativen Aktionsplans   diese Weise machten 50 Menschen
kungen auf die Pegelstände flussab-        können gemeinsame Sportveranstal-        während der 6 Tage dauernden Akti-
wärts sind die Folge.                      tungen, beispielsweise Fußballturnie-    on auf die vielfältigen Bedrohungen
   Geeignetes Weideland ist rar im         re mit Jugendlichen und der Polizei,     für den Fluss aufmerksam.
Norden Kenias. Die Herden der              sein.                                       Die AktivistInnen konnten mit den
PastoralistInnen beanspruchen die              Dieser verbesserte Zusammenhalt      Menschen entlang des Flusses direkt
krautige Pflanzendecke einer Weide         kann auch in Bezug auf die Was-          und außerhalb von Konferenzräumen
oft stärker, als diese sich regenerieren   serressourcen in Isiolo County eine      über die Probleme, Befürchtungen
kann. Die ökologische Tragfähigkeit        doppelte Funktion spielen. So hängt      und Nöte sprechen und diese unmit-
der Weide kommt durch die Dauer            die voranschreitende Radikalisierung     telbar begreifen. Die multi-ethnische
und Intensität der Beweidung bald an       nach Meinung unserer Partnerorgani-      Zusammensetzung der Kamel-Kara-
ihre Grenze. Die Folgen sind Über-         sationen  1 stark mit dem Wegbrechen     wane erleichterte zudem den direk-
weidung und Bodendegradation. In           von (traditionellen) Lebensgrund-        ten Erfahrungsaustausch und brachte
stark überweideten Gebieten kön-           lagen zusammen und ist damit eng         Anrainer des Ewaso Nyrio zusammen,
nen nur noch Ziegen leben, die die         mit der Wasserknappheit verknüpft.       um gemeinsam für den Fluss einzutre-
Vegetation jedoch noch stärker schä-       Zudem sind die Sensibilisierung von      ten. Zeitungen und das kenianische
digen. Überweidung jedoch führt zu         Konfliktparteien und die anhaltende      Fernsehen berichteten über die Akti-
Desertifikation, also zu Versteppung       Beziehungsarbeit ebenso zentral für      on. Einige richtungsweisende Gesprä-
oder fortschreitender Wüstenbildung.       einen gemeinsamen Einsatz für Was-       che über Folgeaktivitäten haben die
Diese schränkt den Zugang der Hir-         serressourcen wie auch gegen Radika-     AktivistInnen bereits mit Behörden-
tInnen zu alternativen Weideflächen        lisierung.                               und RegierungsverterInnen führen
und Wasserstellen erheblich ein.                                                    können. Der Vize-Gouverneur eines
                                           Indigenes Ressourcenmanagement           Counties am Oberlauf des Ewaso Ny-
Gewalt und Extremismus vorbeugen           Unklare Nutzungsrechte von Wasser        iro berief eine Tagung aller umliegen-
Die Verknappung von natürlichen            und Weideland sind weit verbreitete      den Counties ein, um ein faires Res-
Ressourcen und die historische Ver-        Konfliktursachen in der Region. Auch     sourcenmanagement zu fördern und
nachlässigung Nordkenias führen zu         hier können traditionelle Autoritäten    den Zugang zu Wasser und Weideland
Perspektivlosigkeit in der Bevölke-        dabei gestärkt werden, Konflikte         gerecht zu regeln.
rung. Kombiniert mit der Nähe zu           schneller zu lösen, wenn über ethni-        Die Kamel-Karawane gibt den Pas-
Somalia begünstigt dies eine voran-        sche Grenzen hinausgehende Mecha-        toralistInnen wie Adan Mohammed
schreitende islamistische Radikalisie-     nismen des Ressourcenmanagements         Hoffnung, dass ihre Probleme gese-
rung. Die hauptsächlich in Somalia         unterstützt und wiederbelebt werden.     hen und von allen Beteiligten gemein-
agierende Islamistenorganisation           Ein Beispiel sind sogenannte Weide-      sam bearbeitet werden können.
Al-Shabaab ist zunehmend auch in           und Wasserkomitees, die regeln, wes-
Kenia aktiv: Terroranschläge erreich-      sen Herden wann, wo und wie lange                                      Tim Bunke
ten in der Vergangenheit bereits die       grasen. In diesen Komitees können
Hauptstadt Nairobi sowie die tou-          oftmals langjährig verfeindete Grup-     Der Autor ist promovierter Ethnologe
ristisch wichtigen Küstengebiete. In       pen wieder miteinander ins Gespräch      mit Erfahrung in Tansania und Sambia.
Nordkenia verstärkte Al-Shabaab in         gebracht werden und gemeinsam eine       Er arbeitet seit Oktober 2016 als
den letzten Jahren die Rekrutierungs-      Lösung für ihren Streit finden. Die      Kooperant und Friedensfachkraft des
tätigkeit.                                 Komitees rekrutieren sich aus der        Weltfriedensdienst e. V. mit Isiolo Peace
   Isiolo County beispielsweise (sie-      Bevölkerung und oftmals nehmen           Link in Kenia.  3
he Karte) gilt vor dem Hintergrund         traditionelle Autoritäten daran teil,
schwieriger Lebensumstände und his-        um an einer gemeinsamen Lösung
torischer Ungleichheiten als wichtiges     zu arbeiten. So werden zukünftige        1 Informationen zur Partner-NGO Isiolo
Rekrutierungsgebiet für radikal-isla-      Konflikte entschärft, die etwa bei der     Peace Link, Kenia: www.facebook.com/
mistische Organisationen. Um einer         Landverteilung, im Rahmen entste-          IPLcbo2017.
voranschreitenden Radikalisierung          hender Infrastruktur oder beim Zu-
                                                                                    2 2 kurze Videos zur Kamel-Karawane:
vorzubeugen, ist es wichtig, diese         gang zu verknappenden Wasserres-
                                                                                      www.weltfriedensdienst.de/kenia-eine-
früh zu erkennen und zu verhindern.        sourcen drohen.
                                                                                      kamel-karawane-fuer-den-fluss.
Dazu muss die Widerstandsfähigkeit
der Bevölkerung gegen Gewalt und           Ein Bündnis für den Fluss                3 Informationen zum Projekt des
Extremismus gestärkt und die Bezie-        Um das Management von Ressourcen           Weltfriedensdienst e. V.: www.
hungen zwischen Bevölkerung und            wie Wasser und Weideland nachhal-          weltfriedensdienst.de/kenia-gemeinsam-
Sicherheitsbehörden sowie zwischen         tig zu stärken, rief ein Bündnis von       fuer-eine-gerechte-landverteilung.
der Zivilgesellschaft und der (Lokal-)     zivilgesellschaftlichen kenianischen
Regierung verbessert werden. Bei-          Organisationen dieses Jahr zum 5.

                                                                                                  Rundbrief 4 / 2018            9
SCHWERPUNKT

                                                                                                                                               cc NASA/Unsplash
     Ein großer Teil des Nahen Ostens hat in den letzten 10 Jahren rapide an Süßwasserreserven verloren (Bild: Qadisiyah, Baghdad, Irak).

     FLÜSSE UND KONFLIKTE
     Zur strategischen Bedeutung von Wasserläufen

     Flüsse decken einen wesentlichen Teil der weltweiten Wasserversorgung                            aktuell prominentes Beispiel ist der
     ab, was zu Verteilungs- und Nutzungskonflikten zwischen den unter-                               Nil, an dem Ägypten fürchtet, dass
     schiedlichen NutzerInnen führt. Darüber hinaus haben Flüsse aber auch                            sich die Wasserzufuhr am Unterlauf
     einen besonderen strategischen Stellenwert in bewaffneten Auseinan-                              durch den Bau des ‚Grand Ethiopian
     dersetzungen und Kriegen. So ist es beispielsweise möglich, mithilfe von                         Renaissance Dam‘ am Oberlauf in
     Wasserinfrastruktureinrichtungen wie Dämmen oder Leitungsnetzen die                              Äthiopien verringern könnte.
     Versorgungssituation maßgeblich zu beeinträchtigen. Ein solcher Einsatz
     von Wasser als Waffe verstößt zwar gegen Völkerrecht und Kriegsrecht,                            Natürliche Grenze und
     wird aber weiter angewendet – wie zuletzt in den Konflikten in Syrien und                        grenzüberschreitender Einfluss
     im Irak. Um diese Praxis zu unterbinden oder wenigstens zu erschweren,                           Aufgrund ihrer hydrologischen, so-
     bedarf es unter anderem höherer Sicherheitsstandards für diese kritischen                        zio-ökonomischen und kulturellen
     Infrastrukturen.                                                                                 Bedeutung spielen Flüsse auch eine
                                                                                                      wesentliche Rolle in politischen Kon-

     D      a Oberflächengewässer –
            Flüsse und Seen – leicht und
            kostengünstig zugänglich sind,
     bilden sie zusammen mit weniger tief-
     liegenden Grundwasserressourcen
                                                     abwärts, was Konflikte um die Ver-
                                                     teilung und Nutzung der Ressourcen
                                                     zwischen Anrainern am Oberlauf und
                                                     Anrainern am Unterlauf mit sich
                                                     bringt, die sich häufig beim Bau von
                                                                                                      flikten, bewaffneten Auseinanderset-
                                                                                                      zungen und Kriegen – insbesondere
                                                                                                      unter strategischen und (militär-)
                                                                                                      taktischen Gesichtspunkten. Flüsse
                                                                                                      bilden zunächst eine natürliche Gren-
     das Rückgrat der globalen Süßwas-               Staudämmen oder Bewässerungsan-                  ze, deren Verlauf nicht selten Staaten
     serversorgung. Dennoch kann die                 lagen zuspitzen. Da sich Flüsse nicht            über längere Abschnitte voneinander
     Wassermenge nach Jahreszeit stark               an Ländergrenzen halten, führt dies              abgrenzt, wie der Mekong Laos und
     variieren, Hochwasser und Über-                 auch zu zwischenstaatlichen Konflik-             Thailand, der Jordan Israel und Jorda-
     schwemmungen die Versorgungslage                ten in den weltweit 286 grenzüber-               nien oder die Donau unter anderem
     ebenso beeinträchtigen wie Nied-                schreitenden Flussbecken, darunter               die Slowakei und Ungarn sowie Bul-
     rigwasser. Auch die Wasserqualität              der Amazonas, der Rhein, die Donau,              garien und Rumänien. Auch bei ter-
     unterliegt Schwankungen bedingt                 der Kongo, der Jordan, der Indus                 ritorialen Neuordnungen nach Kon-
     durch Schadstoffeinträge und Ab-                oder der Mekong. So hat im Euph-                 flikten und Kriegen dienen Flüsse als
     wässer aus Industrie, Landwirtschaft            rat-Tigris-Becken der türkische Aus-             Grenze, wie z. B. die Oder-Neiße Li-
     und Haushalten. Flüsse interagieren             bau der Bewässerungslandwirtschaft               nie als deutsche Ostgrenze nach dem
     mit anderen Ökosystemen, indem sie              und der Hydroenergieerzeugung im                 Zweiten Weltkrieg oder die Save, die
     z. B. Sümpfen, Mangroven oder dem               Rahmen des Südostanatolien-Pro-                  nach dem Zerfall Jugoslawiens Teile
     Regenwald Wasser zuführen oder ent-             jekts maßgeblich dazu beigetragen,               der Grenze zwischen Kroatien und
     nehmen.                                         dass sich die Wasserzufuhr Iraks                 Bosnien und Herzegowina bildet.
        Grundsätzlich transportieren                 seit den 1980er Jahren um etwa 30                    Während militärischer Ausein-
     Flüsse Wasser über ihr Gefälle fluss-           Prozent reduziert hat. Ein anderes,              andersetzungen sind Flussufer ver-

10     Forum Umwelt & Entwicklung
SCHWERPUNKT

gleichsweise gut zu verteidigen und      matischen Folgen für die Zivilbevölke-   Weltkrieg, im Zweiten Weltkrieg und
schwierig zu erobern, weshalb Front-     rung, wie zuletzt wiederholt in Syrien   im Vietnam-Krieg eingesetzt. Schon
linien in einem Kriegsverlauf häufig     oder im Jemen.                           Cyrus der Große ließ am Vorabend
an Flüssen verlaufen. Da diese na-          Der eher strategische Einsatz von     der Eroberung Babylons 539 v. Chr.
türlichen Grenzlinien nur per Schiff,    Wasser als Waffe zielt demgegenüber      das Wasser des Euphrat oberhalb der
über Brücken oder durch Tunnel           nicht auf die Zerstörung der Anlagen     Stadt umleiten und senkte damit den
passiert werden können, ist auch die     per se ab. Stattdessen wird Wasser       Pegel des Flusssystems, das die Stadt
Kontrolle solch strategisch wichtiger    zum Mittel, um andere strategisch-       umgab. In den frühen Morgenstun-
Nadelöhre meist stark umkämpft. Im       politische oder taktisch-militärische    den am Folgetag durchschritten seine
Kalten Krieg wurde für den Fall ei-      Ziele zu erreichen. Dabei wird ent-      Truppen das Flussbett und eroberten
ner nuklearen Eskalation das Halten      weder (a) künstlich eine Wasserver-      eine darauf unvorbereitete Stadt, die
der Rheinlinie zu einem Kernpunkt        knappung herbeigeführt, indem            bis dahin als uneinnehmbar galt.
der NATO-Strategien – weshalb            Wasser umgeleitet, zurückgehalten
wichtige militärische Einrichtungen      oder aufgestaut wird; oder (b) eine      Prävention und Intervention
westlich des Flusses liegen, wie das     Überschwemmung ausgelöst, wenn           Flüssen kommt weiterhin eine be-
geo-strategische Informationszent-       größere Wassermengen gezielt abge-       sondere strategische Bedeutung in
rum der Bundeswehr in Euskirchen         lassen oder in eine bestimmte Regi-      bewaffneten Auseinandersetzungen
oder der US-Luftwaffenstützpunkt in      on geleitet werden; oder (c) Wasser      und Kriegen zu. Zahlreiche Beispiele
Rammstein.                               verunreinigt, indem Ressourcen ver-      der jüngeren Vergangenheit haben ge-
   Neben einer natürlichen Grenzlinie    schmutzt oder vergiftet werden.          zeigt, dass Wasserinfrastrukturen un-
entfalten Flüsse ihre geographische         In diesem Zusammenhang erhielt        zureichend geschützt sind. Im Irak ge-
Dimension auch grenzüberschrei-          zuletzt vor allem der so genannte        lang es dem IS 2014, die Großdämme
tend – in Fließrichtung und in Form      Islamische Staat (IS) breitere Auf-      an Euphrat und Tigris buchstäblich
einer Oberlauf-Unterlauf-Konstella-      merksamkeit, wenngleich nahezu alle      zu überrennen und zu erobern. Einzig
tion. Analog zu Streitfragen um die      AkteurInnen in den Konflikten in Sy-     der Haditha-Damm konnte mit massi-
Wasserverteilung und -nutzung ist        rien und im Irak regelmäßig auf die-     vem Aufwand und Luftunterstützung
das Ungleichgewicht zwischen Ober-       se Praxis zurückgegriffen haben und      der internationalen Anti-IS-Koalition
lieger- und Unterliegerparteien auch     weiter zurückgreifen. Die Eroberung      verteidigt werden.
in bewaffneten Auseinandersetzun-        und Kontrolle wichtiger Wasserinf-          Weltweit zählen Staudämme zu
gen entscheidend. Wer die Wasser-        rastruktureinrichtungen, vor allem       den kritischen Infrastrukturen, weisen
ressourcen am Oberlauf eines Flus-       Dämme an Euphrat und Tigris, waren       aber in vielen Fällen laxe Sicherheits-
ses kontrolliert, hat die Möglichkeit,   ein wesentlicher Baustein der Expan-     standards auf. Hier besteht dringen-
die Wasserversorgung und die Hyd-        sionsstrategie des IS. Welche multip-    der Handlungsbedarf in ganz unter-
roenergieerzeugung am Unterlauf          len Effekte der Einsatz von Wasser als   schiedlichen Bereichen, denn neben
zu steuern und zu beeinträchtigen.       Waffe haben kann, lässt sich gut am      den beschriebenen (a) physischen
Dadurch wird die militärische Kont-      Beispiel des Falludscha-Damms am         Angriffen besteht auch das Risiko
rolle des Oberlaufs, beziehungsweise     Euphrat illustrieren, wo der IS gleich   (b) chemischer Attacken oder von (c)
der dortigen Wasserinfrastrukturen,      mehrfach Wasser als Waffe einsetzte.     Cyber-Angriffen auf die Steuerungs-
zu einem strategisch bedeutsamen            Nach der Eroberung der Talsper-       module. Investitionen in einen besse-
Machtfaktor, vor allem in wasserar-      re im April 2014 schloss der IS die      ren Schutz von Wasserinfrastrukturen
men Regionen. Über Flüsse lassen         Schleusen, um die Wasserversorgung       sind ein effektiver, aber vergleichswei-
sich zudem Nachschub an Kriegsge-        in flussabwärts überwiegend von          se günstiger Ansatzpunkt, um Situati-
rät und Truppen transportieren.          Schiiten bewohnten Gebiete zu be-        onen wie an Euphrat und Tigris in den
                                         einträchtigen. Dabei stieg der Pegel     letzten Jahren künftig zu vermeiden.
Wasser als Ziel und Waffe                hinter der Staumauer und setzte Ein-
An sich verstoßen sowohl die Zer-        richtungen der irakischen Regierung                         Tobias von Lossow
störung von Wasserinfrastrukturen        und Armee am anderen Flussufer
als auch der Einsatz von Wasser als      unter Wasser. 2 Tage später ließ der     Der Autor arbeitet als Wissenschaftler
Waffe gegen humanitäres Völkerrecht      IS Wasser über einen Bewässerungs-       am Clingendael-Institut (Netherlands
und Kriegsrecht, wie unter anderem       kanal in ein Seitental ab und flutete    Institute of International Relations
in der Haager Landkriegsordnung          weite Areale in bis zu 100 Kilometer     Clingendael) zu Wasser und Konflikten
(1907) und insbesondere den Zusatz-      Entfernung – 200 Quadratkilometer        im Nahen Osten und in Afrika. Er ist
protokollen der Genfer Konvention        Ackerland und 10.000 Häuser wur-         zudem Lehrbeauftragter an der Freien
(1977) festgehalten. Aufgrund der        den zerstört, die Ernte vernichtet,      Universität Berlin.
zentralen Bedeutung von Flüssen wer-     der Viehbestand getötet, mehr als
den Wasserinfrastruktureinrichtungen     60.000 Menschen mussten fliehen.
wie Staudämme, Verteilersysteme,         Gleichzeitig erschwerte der IS damit
Pump- oder Aufbereitungsanlagen          das Vorrücken irakischer Truppen
in bewaffneten Konflikten dennoch        auf eigene Stellungen und sabotierte
gezielt angegriffen, teilweise im Zuge   die Parlamentswahlen, da infolge der
von Kampfhandlungen auch unbeab-         Flutschäden nur ein Drittel der Wahl-
sichtigt beschädigt oder zerstört. Vor   lokale in der Region öffnen konnten.
allem Luftschläge können wichtige           Der Einsatz von Wasser als Waffe
Anlagen mit vergleichsweise gerin-       ist jedoch keinesfalls neu, sondern
gem Aufwand demolieren – mit dra-        wurde unter anderem im Ersten

                                                                                                Rundbrief 4 / 2018           11
Sie können auch lesen