SÄCHSISCHES ARCHIVBLATT - HEFT 1 / 2021 SÄCHSISCHES STAATSARCHIV - SACHSEN.DE
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Inhalt Seite Jahresbericht Sächsisches Staatsarchiv 2020 1 Andrea Wettmann Aus den Beständen Wo sind die Rainsteine geblieben? Ein neuer Fund im Sächsischen Staatsarchiv zeigt, wie eine Karte Teil des frühneuzeitlichen Verwaltungshandelns wurde 9 Ute Essegern Die Urkunden der Deutschordensballei Thüringen im Sächsischen Staatsarchiv – Eine lückenlose Überlieferungsgeschichte? 12 Robert Harlaß Die Königlich-Sächsischen (Geheimen) Kommerzienräte im Spiegel der Bestände 14 Norman Grimm Ich bin dann mal weg – Abschiedsbriefe geflohener Festungsgefangener 16 Andrea Tonert Meldungen/ Berichte Was lange währt, wird gut! Firmenarchiv der Abraham Dürninger & Co. GmbH Herrnhut erschlossen und für die Forschung nutzbar 18 Karsten Sichel Das Universitätsarchiv Chemnitz am neuen Standort in der „Alten Aktienspinnerei“ 21 Stephan Luther Ein Archiv geht online – Die Lebenswelten der Grafen von Lehndorff-Steinort als digitale Edition 24 Gaby Huch / Frederike Neuber Die Überlieferung der Staatlichen Fachstelle für Büchereiwesen Bautzen im Staatsfilialarchiv Bautzen 28 Anja Moschke Warnsignal und Öffentlichkeitsersatz – Die Geheimberichte der Staatssicherheit an die SED im Bezirk Karl-Marx-Stadt 31 Mark Schiefer Ausbildungsoffensive in Permanenz – 20 Jahre FaMI-Ausbildung im Sächsischen Staatsarchiv 34 Birgit Giese / Thekla Kluttig Ein Bewertungsmodell Liegenschaftsunterlagen 36 Frank Lehmann
Jahresbericht Sächsisches Staatsarchiv 2020 gleiterscheinungen. Persönliche Begegnungen chivarinnen und Facharchivaren beantwortet Jahresbericht Sächsisches Staatsarchiv 2020 und gemeinsame Erlebnisse nehmen ab, und wurden, und gegen Gebühr Reprographien der Zusammenhalt im Staatsarchiv droht lang- von Archivgut bestellen. Trotz des inzwischen fristig verloren zu gehen. Dieser Entwicklung breiten digitalen Angebots war dieser Service gilt es in Zukunft gezielt entgegenzuwirken. jedoch kein vollständiger Ersatz für die Prä- senzangebote in den Lesesälen. Die Pandemie Erhebliche Einschränkungen mussten jedoch hat wie in so vielen gesellschaftlichen Berei- die Benutzerinnen und Benutzer des Staats chen deutlich gemacht, dass finanzielle Mittel archivs hinnehmen. Vom 16. März bis 4. Mai nicht nur für die Erstellung der Digitalisate und ab dem 14. Dezember 2020 waren die bereitgestellt werden dürfen, sondern dass der Lesesäle des Staatsarchivs aus Gründen des Freistaat auch langfristig in den Aufbau und Gesundheitsschutzes geschlossen, in den den nachhaltigen Betrieb der technischen In- dazwischen liegenden Monaten nur für eine frastruktur (einschließlich des dafür erforder- beschränkte Anzahl von Benutzerinnen und lichen Personals) investieren muss. Dennoch Aushang zur Schließung der Lesesäle Benutzern nach vorheriger Terminanmeldung werden die Bestände des Staatsarchivs auch (Foto Birgit Richter) zugänglich. Während des gesamten Berichts- mittel- und langfristig nicht vollständig digital jahres war das Staatsarchiv an fünf Tagen in verfügbar sein und der Lesesaal komplett in Das Staatsarchiv ist trotz aller Einschränkun- der Woche erreichbar, und Interessierte konn- den virtuellen Raum verlagert werden können. gen vergleichsweise gut durch das Krisenjahr ten online in elektronischen Erschließungs- 2020 gekommen. Durch frühzeitiges und be- informationen recherchieren, im Internet Die Personalsituation des Staatsarchivs hat sonnenes Handeln auf allen Ebenen konnten bereitgestellte Digitalisate kostenfrei nutzen, sich im Berichtsjahr insofern verschlechtert, der Dienst- und Lesesaalbetrieb an die sich schriftliche Anfragen stellen, die von Fachar- als frei gewordene Stellen meist erst nach immer wieder verändernde Situation ange- passt und alle wesentlichen Vorhaben fort- geführt werden. Alle Bediensteten haben sich mit einem hohen Maß an Eigenverantwortung und Kreativität in diesen Prozess eingebracht. Insofern hat die Krise auch positive Impulse gegeben und Entwicklungen insbesondere im Bereich der Informations- und Kommuni- kationstechnik erheblich beschleunigt. Nicht zuletzt durch die verstärkte Nutzung von Telefon- und Videokonferenzen hat sich die Kommunikation zwischen den Standorten und Abteilungen intensiviert, und das gegenseitige Verständnis und Vertrauen sind gewachsen. Neue Perspektiven der Zusammenarbeit hat vor allem die Einführung der mobilen Arbeit eröffnet, von der allerdings nicht alle Bediens- teten profitieren können. Zudem zeigen die Reduzierung des Präsenzdienstes und die Ver- lagerung der Arbeit in das Homeoffice auch Am 1. Oktober 2020 übergibt Dr. Volker Jäger, Leiter der Abteilung 3 Staatsarchiv Leipzig, die Amtsgeschäfte an im Staatsarchiv die bekannten negativen Be- Dr. Thekla Kluttig (Foto Regine Bartholdt) Einnahmen und Ausgaben 2019 2020 Personal Isteinnahme (T €) (ohne Fördermittel) 2006 2016 ** 2020 * insgesamt 83,80 58,4 insgesamt 127,88 106,12 101,45 Istausgabe (T €) Archiv 70,56 55,44 56,08 insgesamt 7.827,70 8.108,70 Bibliothek 1,50 1,50 1,38 Personal 6.479,40 6.682,50 Verwaltung 14,63 15,36 12,00 Benutzung 265,10 406,00 Magazin 20,44 13,80 12,38 Verwahrung und Erhaltung von Archivgut 567,70 509,50 technische Werkstätten 15,75 15,03 13,63 Datenverarbeitung 354,60 358,60 Sonstige (IuK u. AVM) 5,00 5,00 6,00 Druck von Publikationen 4,50 9,30 * P ersonal-Ist am 31.12.2020 (Stellen im Personalsoll A, ohne Auszubildende, Sicherungsverfilmung (Bundesmittel) 156,40 142,80 Anwärter und Referendare) ** Personalbedarf laut Personalkommission Sächsisches Archivblatt Heft 1-2021 | 1
monatelangen Vakanzen wieder besetzt werden konnten. Rechnerisch standen vier Vollzeitstellen weniger zur Verfügung, als die „Kommission zur umfassenden Evaluation der Aufgaben, Personal- und Sachausstattung“ des Freistaates zur Aufrechterhaltung des Jahresbericht Sächsisches Staatsarchiv 2020 Betriebs 2016 für notwendig erachtet hatte. Dabei sind krankheitsbedingte Ausfälle ebenso wenig berücksichtigt, wie die pandemiebe- dingten Abordnungen bzw. Zuweisungen von Bediensteten zur Unterstützung der Gesund- heitsämter in den Landkreisen und kreisfreien Städten. Der fachlichen Orientierung und strategischen Ausrichtung dienten auch während der Pande- mie die strategischen Ziele, die im Folgenden aufgegriffen und mit dem erreichten Sach- stand untersetzt werden. Wir erhöhen kontinuierlich die Zahl der Digitalisate Für die Digitalisierung von Archivgut hat das Staatsarchiv im Berichtsjahr rund 158.000 € aufgewendet. Mit Hilfe externer Dienstleis- ter konnten mehr als 5 Mio. Digitalisate von Mikrofilm und fast 65.000 vom Original an- gefertigt werden. Mehr als 16.000 € wurden außerdem für die Digitalisierung von audio- visuellen Medien – 3 Stunden kinematogra- fischer Film, 880 Stunden Videomaterial und 31 Stunden Audiomaterial – eingesetzt. Der Anteil des digitalisierten Archivguts beläuft sich damit inzwischen auf ca. 6 Prozent des Gesamtbestandes. Die Digitalisierung des Archivgutes macht einen stetigen Ausbau der technischen Infra- struktur zur Speicherung und Onlinestellung der Digitalisate erforderlich. Da der Markt keine Wassersäulenmaschine der Grube Segen Gottes Erbstolln (Sächsisches Staatsarchiv, Bergarchiv Freiberg (SächsStA-F), Lösung anbietet, die mit der Archivsoftware 40044 Generalrisse, Nr. 1-K20034) Neu beschaffter „Grazer Buchtisch“ zur schonenden Digitalisierung von Archivgut (Foto Diana Böhmer) Sächsisches Archivblatt Heft 1-2021 | 2
des Staatsarchivs auf der einen und dem Publikationswerkzeug SAX.Archiv zur Online- Stellung der Digitalisate auf der anderen Sei- te zusammenarbeitet, wurde ein Dienstleister mit der Programmierung einer Software zur Verwaltung der Digitalisate beauftragt. Diese Jahresbericht Sächsisches Staatsarchiv 2020 Dienstleistung kann jedoch voraussichtlich erst 2021 abgenommen werden. Obwohl an einem effizienten Workflow zur langfristigen Sicherung und Verwaltung der großen Da- tenmengen in der archivinternen Datenbank und zur Online-Stellung der Digitalisate noch gearbeitet wird, konnte die Zahl der online zugänglichen Digitalisate im Berichtsjahr mehr als verdoppelt werden. Für Benutze- rinnen und Benutzer standen am Ende des Jahres fast 3,4 Mio. Digitalisate kostenlos im Internet bereit. Einem schnelleren Fortschritt Panoramatour Staatsarchiv Leipzig, Screenshot „Treffpunkt“ (Produzent pixacon-360 Grad) bei der Digitalisierung von Archivgut und der Online-Stellung der Digitalisate stehen auch Bei der Bereitstellung des Online-Informationssystem des Staatsarchivs weiterhin Kapazitätsprobleme bei den exter- Archivgutes setzen wir verstärkt gelangen. Damit haben Benutzerinnen und nen Dienstleistern und rechtliche Hürden ent- auf moderne Technologien Benutzer einen komfortablen, direkten Zugriff gegen. Sofern sich im Rahmen der Anpassung nicht nur auf die Erschließungsinformatio- des Urheberrechts an die Erfordernisse des Im Mittelpunkt bei der Erreichung dieses stra- nen, sondern auch auf die Quellen selbst, die digitalen Binnenmarktes keine Verbesserungen tegischen Ziels stehen der kontinuierliche Aus- in besonders hoher Dichte Rechtsgeschäfte ergeben, können Archive nur bei Archivgut, das bau des Online-Angebots des Staatsarchivs vom ausgehenden Mittelalter bis zur Mitte des vor 1850 entstanden ist, zweifelsfrei von einer und die Optimierung seiner Benutzerfreund- 19. Jahrhunderts für nahezu alle Orte Sachsens Gemeinfreiheit ausgehen. lichkeit. Im Berichtsjahr wurde der Webauftritt dokumentieren. barrierefrei gestaltet, um ihn auch Menschen Bei der Online-Veröffentlichung der Digita- mit Behinderung grundsätzlich zugänglich zu Obwohl sich das digitale Angebot fortlaufend lisate wurde ein thematischer Schwerpunkt machen. Die neu bereitgestellte Panoramatour verbessert, wird die Benutzung des originalen auf die Präsentation der Geschichte der durch das Staatsarchiv Leipzig steht sinnbild- Archivgutes auch weiterhin zu einem großen sächsischen Industriekultur sowie der Welt- lich für den Anspruch, archivische Dienstleis- Teil in den Lesesälen stattfinden. Auch hier erberegion Erzgebirge/Krušnohoři gelegt. tungen an allen fünf Standorten modern und steht den Benutzerinnen und Benutzern mo- Fast 9.000 Karten der Bestände „Deponierte benutzerfreundlich zu präsentieren. Darüber dernste Technik zur Verfügung, um an Film- und Fiskalische Risse zum Erzbergbau“, deren hinaus sind erste konzeptionelle Vorberei- und Archivgutscannern selbst Reprografien Digitalisierung aufgrund ihrer herausragen- tungen getroffen worden, um den geplanten anzufertigen. Um dieses Serviceangebot den Bedeutung für den Erzbergbau Sachsens Webrelaunch an einen Dienstleister vergeben weiter zu verbessern, wurde im Berichtsjahr von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und realisieren zu können. die Möglichkeit geschaffen, Kopien von dafür (DFG) gefördert worden war, dokumentieren geeignetem Archivgut auch mit eigenem Ge- die Entwicklung des Montanwesens und den Die ansteigende Zahl an Zugriffen auf die rät, also z. B. mit einem Handy, anzufertigen. damit verbundenen Aufstieg Sachsens zu ei- Website zeigt, dass dieses Angebot auf stetig Dieses Angebot wird rege genutzt. Es hat aber nem der bedeutenden europäischen Territorien wachsendes Interesse stößt. Während 2019 auch zu einer Verringerung der Gebühren- des 16. bis 18. Jahrhunderts. noch 1,2 Mio. Klicks gezählt wurden, waren einnahmen geführt, die wiederum nicht für es 2020 bereits 1,4 Mio. Die Erschließungs weitere Digitalisierungsmaßnahmen zur Ver- Um eine langfristige, künftig auch für Benut- informationen und die Digitalisate des Staats- fügung stehen. Zur Reduktion der Einnahmen zerinnen und Benutzer transparente Digitali- archivs wurden von Besucherinnen und Be- trägt außerdem die pandemiebedingte Schlie- sierungsplanung aufstellen zu können, wurden suchern der Website besonders nachgefragt. ßung der Lesesäle bzw. die verminderte Anzahl Priorisierungskriterien für die Digitalisierung Zu dieser wachsenden Benutzungsfrequenz von Archivgut erarbeitet, die bereits in den trägt zum einen die Präsentation der Daten Vorjahren verwendet, aber nach den gemach- in Portalen wie dem Archivportal-D oder dem ten Erfahrungen weiter verfeinert worden Archivportal Europa bei. Der Zugriff steigt zum sind. Eine wesentliche Rolle spielen dabei die anderen aber auch durch die zunehmende nationale bzw. internationale Bedeutung des Vernetzung der Daten des Staatsarchivs mit Bestandes, die Benutzungsfrequenz sowie der denen seiner Partner. Beispielhaft ist hier die Erschließungs- und Erhaltungszustand des Website des Instituts für Sächsische Geschich- Archivguts. Einbezogen werden aber unter an- te und Volkskunde (ISGV) zu den sächsischen derem auch Fragen der Eignung für Projekte Gerichtsbüchern zu nennen, die 2020 um die mit Dritten oder der Weiterverarbeitungs- erforderlichen Hyperlinks ergänzt wurde, so möglichkeiten z. B. für die Texterkennung, die dass Forscherinnen und Forscher nach ei- Georeferenzierung oder die Verwendung von ner Orts- oder Gerichtsrecherche nun direkt Normdaten. zu den Digitalisaten der Gerichtsbücher im Selbstfotografie (Foto Sylvia Reinhardt) Sächsisches Archivblatt Heft 1-2021 | 3
an Benutzerplätzen bei. Statt an 175 Tagen wie im Vorjahr war das Staatsarchiv 2020 nur an 149 Tagen geöffnet. Die Anzahl der Benut- zertage reduzierte sich in dieser Zeit um rund 35 % und sank auf 6.334. Jahresbericht Sächsisches Staatsarchiv 2020 Die Digitalisierung nahezu aller Arbeitsabläufe in der Verwaltung führt dazu, dass auch im Staatsarchiv immer mehr Daten erstellt, ver- arbeitet und online bereitgestellt werden. Um der gewachsenen Bedeutung der Informa- tionssicherheit Rechnung zu tragen, wurde im Staatsarchiv erstmals die Funktion eines Beauftragten für die Informationssicherheit geschaffen, der gemeinsam mit der Behör- denleitung für die Umsetzung des Sächsischen Informationssicherheitsgesetzes verantwort- lich ist. Er baut in Abstimmung mit dem Be- Aber auch in den Magazinen des Staatsarchivs entgegen. Erst wenn ein „virtueller Lesesaal“ auftragten des Landes ein systematisches befinden sich noch große Mengen von Archiv- eingerichtet ist, in dem Anträge auf Schutz- Informationssicherheitsmanagement auf, gut, zu denen kein elektronisches Findmittel fristenverkürzung elektronisch bearbeitet und unterstützt das Sachgebiet Informations- vorliegt. Die Retrokonversion der Findmittel – personenbezogene Daten in einem geschütz- und Kommunikationstechnik bei der Umset- also die Umwandlung von Karteien und Find- ten virtuellen Raum bereitgestellt werden zung der erforderlichen Maßnahmen und ist büchern in eine maschinenlesbare Form – können, wird eine Online-Bereitstellung auch Ansprechpartner für alle Bediensteten. Erst- wird daher seit über zwanzig Jahren mit hoher dieser Daten möglich sein. Derzeit verfügt in mals absolvierten 2020 alle Bediensteten des Priorität vorangetrieben. Für die Beauftragung Deutschland jedoch noch kein Archiv über Staatsarchivs ein E-Learning-Selbstlernmodul externer Dienstleister standen dem Staatsarchiv eine solche Möglichkeit. Das Staatsarchiv zur Informationssicherheit am Arbeitsplatz. im Berichtsjahr erneut 100.000 € an Eigenmitteln stellte 2020 über 70 % seiner elektronischen und ein fast gleicher Betrag an Fördermitteln Erschließungsdaten zu fast 50 % seines Ge- der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur samtbestandes online. Im Vergleich zu den Alle Findmittel werden Verfügung. Darüber hinaus trugen in diesem übrigen deutschen Landesarchiven belegt es elektronisch erfasst Jahr auch die Bediensteten des Staatsarchivs in damit einen der vorderen Plätze. besonderem Maße zur Digitalisierung der Find- Moderne Technologien können nur dann zur mittel bei. Insbesondere während des ersten Bereitstellung des Archivgutes eingesetzt Lockdowns, aber auch in den darauffolgenden Wir konzentrieren uns auf die werden, wenn das Archivgut selbst oder zu- Monaten, wurde die Zeit im Homeoffice intensiv Überlieferung der wichtigsten mindest die das Archivgut beschreibenden genutzt, um die Zugänglichkeit des Archivgutes anbietungspflichtigen Stellen Daten in digitaler Form vorliegen. Bei elek- zu verbessern. Während der Umfang der elektro- tronischen Akten oder Daten aus Fachver- nisch erfassten Archivalien 2019 bereits um 4 % Alle Behörden, Gerichte und sonstigen öffentli- fahren, die das Staatsarchiv übernimmt, ist gesteigert werden konnte, waren es 2020 mehr chen Stellen des Freistaates – insgesamt 204 an beides der Fall. Allerdings legt die Verwaltung als 6 %. Im Ergebnis sind inzwischen rund 65 % der Zahl – sind nach dem Sächsischen Archiv- diese elektronischen Unterlagen – ebenso wie des Archivgutes elektronisch erfasst. gesetz verpflichtet, dem Staatsarchiv alle Un- ihre papierbasierten Vorläufer – zur internen terlagen spätestens nach 30 Jahren zur Über- Nachweisführung und Prozesssteuerung an. Einer vollständigen Online-Stellung der Er- nahme anzubieten. Hinzu kommen 23 Stellen Sie können daher in der Regel nicht unbearbei- schließungsinformationen stehen vor allem des Bundes, deren örtliche Zuständigkeit sich tet als Findmittel verwendet werden, sondern die geltenden archivgesetzlichen Schutzfristen auf Sachsen erstreckt. Das Staatsarchiv ent- müssen von Archivarinnen und Archivaren so aufbereitet werden, dass sie auch für Zwecke der Archivbenutzerinnen und -benutzer ver- Dem Staatsarchiv zur Bewertung angebotene Unterlagen (in km) wendbar sind. Anders sieht dies bei den Unterlagen in Pa- pierform aus, von denen sich noch hunder- te von Kilometern in den Registraturen der Behörden und Gerichte befinden. Sofern sie bereits in Registraturprogrammen erfasst sind, werden beschreibende Daten in digitaler Form mit den Unterlagen in das Staatsarchiv über- nommen. Andernfalls sind sie von den abge- benden Stellen nach den Vorgaben des Archivs so zu erfassen, dass die Daten zumindest als Grundgerüst für eine archivische Erschließung dienen können. Sächsisches Archivblatt Heft 1-2021 | 4
Umgang mit der Terrorgruppe „Nationalso- zialistischer Untergrund (NSU)“ aufzuklären. Ein probates Mittel, um den Prozess der Bewer- tung sowohl für die Behörden und Gerichte als auch für das Staatsarchiv planbar und effizient Jahresbericht Sächsisches Staatsarchiv 2020 zu gestalten, sind sogenannte Bewertungsmo- delle. Nach aufwändiger Analyse der Aufgaben und des daraus entstehenden Schriftgutes einer anbietungspflichtigen Stelle werden die Ent- scheidungen über die Archivwürdigkeit pro- spektiv getroffen und auch für die späteren Benutzerinnen und Benutzer transparent do- kumentiert. Im Berichtsjahr wurde ein solches Modell nach jahrelanger Vorarbeit gemeinsam mit dem Staatsbetrieb Geobasisinformation und Vermessung Sachsen (GeoSN) für das staatliche Liegenschaftskataster in Kraft gesetzt und im Internet veröffentlicht. Damit ist sichergestellt, dass das amtliche Verzeichnis aller Grundstücke im Freistaat Sachsen künftigen Generationen auch dann noch zur Verfügung steht, wenn es für die tägliche Arbeit der Vermessungsbe- hörden im Original nicht mehr benötigt wird. Die Überlieferung elektronischer Unterlagen wird aktiv ausgeweitet Katasterneuaufnahme [Dresden-]Cunnersdorf, 1869 (Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden (SächsStA-D), 13657 Katasterkarten, Nr. B 142) Der Bestand an elektronischen Archivalien (so- genannte Archivinformationspakete, AIP) ist scheidet innerhalb von sechs Monaten über rechtigter Belange betroffener Personen und 2020 um 13 % von 849 auf 962 angestiegen. den bleibenden Wert dieser Unterlagen und Institutionen oder Dritter“ zu bestimmen. Dies Der Gesamtumfang an elektronischem Archiv- übernimmt den archivwürdigen Teil. kann im Einzelfall dazu führen, dass ein erheb- gut von ca. 2,6 Terabyte bleibt noch immer lich größerer Teil oder sogar sämtliche ange- relativ gering, da bisher vor allem Daten aus Im Berichtsjahr sind der Anbietungspflicht 122 botenen Unterlagen übernommen werden. Im älteren Fachverfahren archiviert wurden, die Stellen nachgekommen. Während sich diese Berichtsjahr war dies z. B. bei der noch nicht vergleichsweise wenig Speicherplatz benöti- Zahl im Vergleich zu 2019 kaum verändert abgeschlossenen Bewertung von Gefangenen- gen. Außerdem kann die für 2020 angekündig- hat, legen die sprunghafte Zunahme an An- akten der Justizvollzugsanstalten aus der Zeit te Übernahme von Orthofotos voraussichtlich bietungen und an angebotenen Unterlagen die vor 1990 der Fall, ebenso wie bei den Unter- erst 2021 erfolgen. Vermutung nahe, dass viele Registraturen die lagen, die die Untersuchungsausschüsse des Corona-Pandemie genutzt haben, um ihre Alt- Sächsischen Landtages von den Staatsanwalt- Das Sachgebiet Elektronische Archivierung akten auszusondern. Die Zahl der Anbietungen schaften oder der Polizei herangezogen hatten, tritt jedoch nicht erst in Aktion, wenn die elek- ist um 30 % gestiegen, der Umfang der ange- um mögliche Versäumnisse der Behörden im tronischen Unterlagen von den Facharchiva- botenen Unterlagen sogar um mehr als 45 %. Insgesamt hat das Staatsarchiv fast 30 km Unterlagen bewertet, von denen nur etwa 1 % Elektronisches Archivgut (AIP) archiviert wurden. Die nicht archivwürdigen Unterlagen werden von den anbietungspflich- tigen Stellen nach Abschluss des Verfahrens datenschutzgerecht vernichtet. Diese seit Jahren sehr niedrige Übernahme quote bedeutet jedoch nicht, dass von jeder Anbietung grundsätzlich nur 1 % der Unter lagen archiviert wird. Vielmehr werden archiv- fachliche Kriterien angewendet und nachvoll- ziehbar dokumentiert, um den bleibenden Wert dieser Unterlagen – wie es im Archivgesetz heißt – „für Gesetzgebung, Rechtsprechung, Regierung und Verwaltung, für Wissenschaft und Forschung oder für die Sicherung be- Sächsisches Archivblatt Heft 1-2021 | 5
rinnen und -archivaren bewertet wurden und zur Übernahme anstehen. Es bringt sich schon im Vorfeld in den Prozess der Archivierung ein, um die Entstehung künftig benutzbarer Ar- chivinformationspakete und ihre reibungslose Übernahme in das elektronische Staatsarchiv Jahresbericht Sächsisches Staatsarchiv 2020 sicherzustellen. Von weitreichender Bedeutung für die gesamte sächsische Landesverwaltung ist der Pilot zur Aussonderung von elektroni- schen Akten, der 2020 unter der Federfüh- rung des bei der Staatskanzlei installierten „Kompetenzzentrums Vorgangsbearbeitung“ mit ausgewählten Behörden vorangetrieben wurde. Das Staatsarchiv ist außerdem eng ein- gebunden in das Vorhaben des Justizministe- riums, mit dem bis 2025 in allen sächsischen Gerichten die elektronische Verfahrensakte eingeführt werden soll. Völliges Neuland wur- de mit der ersten Übernahme von Nachrichten aus dem vom Innenministerium betriebenen Twitter-Kanal betreten. Hierbei galt und gilt es nicht nur die Frage des bleibenden Werts, sondern auch rechtliche und technische Fra- gen der Archivierbarkeit zu klären. Um die Nutzung dieses Mikrobloggingdienstes für die Information und die Kommunikation des Innenministeriums mit der Bevölkerung zu do- kumentieren, sind alle seit 2014 entstandenen Tweets archiviert worden. Das Archivgut wird komplett fachgerecht verpackt Orthofoto in Infrarot mit Geodaten (Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Leipzig (SächsStA-L), 22077 Staatliches Die fachgerechte Verpackung von Archivgut Amt für Landwirtschaft Mockrehna) stellt eine der effizientesten Maßnahmen der Bestandserhaltung dar. Für die zentrale Beschaffung des dabei verwendeten spe- Staatsarchivs arbeiten konnten, hat sich die Hubertusburg wurden 2020 ca. 85 Meter ziellen Verpackungsmaterials standen dem erbrachte Leistung im Berichtsjahr rückläufig Akten und über 6.000 Einzelblätter behan- Staatsarchiv auch 2020 rund 100.000 € zur entwickelt. Im Ergebnis konnten 1.187 Meter delt. An Fremdfirmen wurden Aufträge für Verfügung. Damit konnte der Anteil des ver- Archivgut und 4.162 Einzelarchivalien tech- die Bearbeitung von fast 125 Metern sowie packten Archivgutes inzwischen auf über 99 % nisch bearbeitet werden. fast 900 audiovisuellen Medien vergeben und gesteigert werden. Die in der Vergangenheit über 11.300 Fotos für die Vergabe vor- und verwendeten Verpackungsmaterialien ent- nachbereitet. Im Rahmen der landeseigenen sprechen jedoch nur teilweise den heutigen Wir konzentrieren die Bestandserhaltung Schutz- und der aus Bundesmitteln finan- fachlichen Anforderungen. Insbesondere die auf die Bestände mit hoher Priorität zierten Sicherungsverfilmung konnten mit Kartons aus der Zeit vor 1990 enthalten saure rund 670.000 Aufnahmen mehr als 150 Meter oder andere papierzerstörende Materialien und Das Staatsarchiv hat bereits 2014 ein Ver- Archivgut verfilmt werden. Diese Filme wer- müssen schrittweise ausgetauscht werden. fahren zur Priorisierung der zu behandelnden den vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz Das Staatsarchiv wird für diese Aufgabe da- Bestände eingeführt, das nicht nur einfach und Katastrophenhilfe (BBK) zur Sicherung her auch künftig erhebliche Mittel einsetzen anwendbar ist, sondern auch eine langfristige des Kulturguts im Katastrophenfall zentral in müssen. Maßnahmenplanung und einen kontinuierli- einem Stollen in der Nähe von Freiburg im chen Abfluss der Haushaltsmittel gewährleis- Breisgau gelagert, dem sogenannten Zentralen Die technische Bearbeitung des Archivgutes, tet. Auf dieser Grundlage können die im Ver- Bergungsort für Kulturgutschutz (ZBO). also die Reinigung und Entmetallisierung der hältnis zum geschädigten Archivgut geringen Bestände, erledigen unter der Anleitung des ei- personellen und finanziellen Ressourcen am Im Berichtsjahr wurde auch die Zusammenar- genen Fachpersonals zahlreiche Hilfskräfte. Da effektivsten eingesetzt werden. Da der Betrieb beit mit anderen Kulturgut verwahrenden Ein- die eingesetzten Menschen mit Behinderung der Werkstätten nach dem ersten Lockdown richtungen im Rahmen der Notfallprävention und die geringfügig Beschäftigten während unter strengen Hygienemaßnahmen wieder fortgesetzt. Während in Dresden, Leipzig und des Lockdowns und auch in den Folgemonaten aufgenommen werden konnte, ist in diesem Freiberg bereits Notfallverbünde zur gegensei- aus Gründen des Gesundheitsschutzes nur Bereich kein gravierender, pandemiebedingter tigen personellen und materiellen Hilfestellung mit Einschränkungen in den Werkstätten des Rückgang zu verzeichnen. Im Archivzentrum im Ernstfall bestehen, befindet sich der Notfall- Sächsisches Archivblatt Heft 1-2021 | 6
Wir etablieren die Marke Staatsarchiv Verpackungszustand (geschätzt) in laufenden Metern (lfm) In diesem von der Corona-Pandemie dominier- ten Jahr mussten nicht nur die Pläne zur Ent- wicklung einer Marke zurückgestellt, sondern auch fast alle Veranstaltungen abgesagt oder Jahresbericht Sächsisches Staatsarchiv 2020 verschoben werden. Nur der Tag der Archive am 7. und 8. März, als die Pandemie bereits grassierte, die Gefahren und Auswirkungen aber noch nicht allgemein bekannt waren, hat noch stattgefunden. Mehr als 800 Besuche- rinnen und Besucher nutzten die Gelegenheit, im Rahmen dieser bundesweiten Veranstal- tung unter dem Titel „Kommunikation. Von der Depesche bis zum Tweet“, ein vielfältiges Programm aus Führungen, Filmpräsentatio- nen, Mitmachprojekten oder Informationen zu Aufgaben und Beständen zu besuchen. Mehrere Veranstaltungen und Online-Präsen- tationen des Staatsarchivs waren 2020 auf die 4. Sächsische Landesausstellung „Boom. 500 Jahre Industriekultur in Sachsen“ ausgerichtet, die pandemiebedingt und mit Einschränkun- verbund Chemnitz nach wie vor in Gründung. Bibliotheksgut. Ein erfolgreiches Ende fand gen erst am 11. Juli eröffnet werden konnte. Der Notfallverbund Freiberg konnte im Februar nach zehn Jahren die Kooperation mit dem Dort wurden nicht nur Leihgaben im Origi- noch einen zweitägigen Notfallworkshop in Historischen Archiv der Stadt Köln. Nach dem nal und Reproduktionen von Archivgut aus Präsenz durchführen, welcher von der Kus- Einsturz des Archivs 2009 waren in Räumen den Beständen des Staatsarchivs präsentiert. todie der Bergakademie Freiberg ausgerichtet und z. T. mit der Technik des Archivzentrums Vielmehr bot die Landesausstellung auch eine wurde. Die Teilnehmenden gewannen wichtige Hubertusburg beschädigte Archivalien vaku- Gelegenheit, auf die 26 Kilometer Wirtschafts- Erkenntnisse über die Ablauforganisation, den umgetrocknet und trockengereinigt worden. archivgut des Staatsarchivs und deren Nut- Umgang mit Kulturgut und die Unterschiede Sie sind heute sowohl im Original als auch in zungsmöglichkeiten aufmerksam zu machen. bei der Notfallbehandlung von Archiv- und digitaler Form wieder benutzbar. Geblieben sind die mehr als 1,5 Mio. Digitali- Tag der Archive im Hauptstaatsarchiv Dresden, Roland Pfirschke mit Besuchergruppe (Foto Sylvia Reinhardt) Sächsisches Archivblatt Heft 1-2021 | 7
sate und fast 2,8 Mio. Erschließungsdaten- Fachmann für Schafzucht, renommierten archivs sind an den Standorten, an denen die sätze zum Thema „Industriekultur“, die auch Kunstsammler und seiner weit verzweigten Inzidenz stabil unter 100 liegt, nach langer weiterhin online genutzt werden können. Sie Familie. Die Schau des Bergarchivs „Erbe Do- Schließung wieder geöffnet. Ein großer Teil bieten eine erste Grundlage, um sich u. a. mit kumente. Zeugnisse der Montanregion aus der Bediensteten arbeitet noch im Homeoffice, den Themen Bergbau, Maschinenbau, Fahr- dem Bergarchiv Freiberg“ zeigt ausgewählte und an den Standorten gelten nach wie vor zeugbau, Handel und Banken, Textilwirtschaft Stücke zum UNESCO-Welterbe Montanregion strenge Hygienemaßnahmen. Jahresbericht Sächsisches Staatsarchiv 2020 oder Verlagswesen in Sachsen zu befassen. Erzgebirge/Krušnohoři. Die durch die Absage von Veranstaltungen In den nächsten Wochen und Monaten wird gewonnene Zeit wurde u. a. dafür genutzt, es vor allem darauf ankommen, die Infektions- zwei Online- Ausstellungen zu veröffentlichen. Ausblick zahlen weiterhin gering zu halten, damit die Die Ausstellung des Staatsarchivs Leipzig „Ma- Lesesäle geöffnet bleiben und die wichtigs- ximilian Speck von Sternburg und seine Erben“ Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Archiv- ten der für 2021 geplanten Arbeitsvorhaben präsentiert Archivalien zum bedeutenden Leip- blatts scheint die dritte Welle der Pandemie umgesetzt werden können. Im Rahmen der ziger Wollhändler, international geschätzten gebrochen zu sein. Die Lesesäle des Staats- vorläufigen Haushaltsführung sind in den zurückliegenden sechs Monaten nur unauf- schiebbare Ausgaben getätigt worden. Sobald die Haushaltsmittel zugewiesen sind, die der Sächsische Landtag für den Doppelhaushalt 2021/22 beschlossen hat, können die für 2021 geplanten Vergabeverfahren eröffnet und erforderliche Beschaffungsmaßnahmen durchgeführt werden. Nicht zuletzt wegen der begrenzten Kapazitäten der zu beauftra- genden Dienstleister werden jedoch voraus- sichtlich nicht alle Vorhaben realisiert werden können. Wann eine Rückkehr zu einem normalen Dienstbetrieb möglich sein wird, ist indes noch nicht absehbar. In jedem Fall wird sich der Betrieb von dem der Vorjahre deutlich unter- scheiden. Das mobile Arbeiten und die Video- konferenzen sind nicht mehr wegzudenken, Besprechungen werden vermutlich häufiger, Dienstreisen hingegen seltener stattfinden. Auch das Angebot für Benutzerinnen und Benutzer wird sich künftig noch stärker in den virtuellen Raum verlagern. Ebenso wie für die Veranstaltungen des Staatsarchivs sind hierfür bestehende Konzepte zu überdenken und neue Formate zu entwickeln. Dennoch wird auch in Zukunft die Arbeit am und mit dem originalen Archivgut für Archivarinnen und Archivare ebenso wie für Benutzerinnen und Benutzer unverzichtbar bleiben. Um die Arbeit im Präsenzdienst und die Benutzung im Lesesaal gewährleisten zu können, wird auch das Staatsarchiv angemessene Regeln und präventive Konzepte zur Vermeidung bzw. zum besseren Umgang mit künftigen Pandemien dauerhaft etablieren. Andrea Wettmann (Sächsisches Staatsarchiv, Direktorin) Werbeplakat „Autobahn-Ferngang“ der Auto Union AG von 1938 (Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Chemnitz SächsStA-C), 31050 Auto Union AG, Chemnitz, Nr. P 30) Sächsisches Archivblatt Heft 1-2021 | 8
Wo sind die Rainsteine geblieben? Ein neuer Fund im Sächsischen Staatsarchiv zeigt, wie eine Karte Teil des frühneuzeitlichen Verwaltungshandelns wurde. Im Herbst des Jahres 1556 ist bei dem Königs- Gutachten füllt. Es geht dabei um die Frage der 12439/04 und Loc. 12439/05 überliefert sowie felder Gutsbesitzer Nicol (Niklas) von Ende Grenzziehung, des Nachweises der Rechtmä- im Bestand 20443 Rittergut Königsfeld in der das Maß voll. Er duldet nicht länger die „An- ßigkeit dieser Grenzen und der ursprünglichen Akte Nr. 1444. Anfangs ist der Oberhofrichter maßungen“ der Geithainer Bürger, wenn es Verortung der grenzbestimmenden Rainsteine. Dr. Melchior von Osse (1506/07–1557) mit um die Rechte an seinem zwischen Geithain Neben dem Rat von Geithain werden auch dem Fall betraut. Wer nach seinem Tod den und Rochlitz liegenden Grundstück geht, die der Geithainer Ratsherr Matthes Große und Fall übernahm, kann heute leider nicht mehr Zahnheide genannt. Immer wieder würden der Geithainer Geleitsmann Franz Schmidt eindeutig ermittelt werden. Melchior von Osse die Geithainer die bestehenden Ackergren- verklagt. bestellt die Amtsleute (Schösser) von Colditz zen missachten, sogar offensichtliche Wege und Rochlitz zu Commissarien, um vor Ort überpflügen, so seine Klage, die er an das die strittige Stätte zu besichtigen, um Ermitt- Oberhofgericht nach Leipzig schickt. Im No- Die archivische Überlieferung lungen und Zeugenbefragungen durchzu- vember 1556 beginnt ein aufwändiges Verfah- führen. Zeugen beider Seiten berichten ihnen ren zwischen ihm und dem Rat von Geithain, Der Gerichtsprozess ist im Sächsischen Staats- von Wegen, Teichen und Feldern, von alten welches sich bis 1562 hinzieht und vier dicke archiv im Bestand 10082 Oberhofgericht Rainsteinen, führen die Besitzer benachbarter Aktenkonvolute mit Zeugenbefragungen und Leipzig in den drei Akten Loc. 12439/03, Loc. Grundstücke als Zeugen ins Feld, geben detail- Streitkarte (SächsStA-D, 10082 Oberhofgericht Leipzig, Loc. 12439/04, Bl. 102) Sächsisches Archivblatt Heft 1-2021 | 9
lierte Beschreibungen der Gegebenheiten vor Ort ab. Eine Begehung findet am 26. April 1557 in Gegenwart der Beklagten statt. Im Ergebnis lassen die Amtsschösser zur Visualisierung der von ihnen aufgenommenen Aussagen eine Zeichnung anfertigen, die sich heute in dem Archivale Sächsisches Staatsarchiv, Haupt- staatsarchiv Dresden (SächsStA-D), 10082 Oberhofgericht Leipzig, Loc. 12439/04, auf Blatt 102 befindet. Bisher unbekannt, wurde die Karte im Rahmen der archivischen Erschlie- ßung entdeckt. Dargestellter Raum Bei der 55 x 90,5 cm großen Karte handelt es sich um eine aufwändig farbig gestaltete, sogenannte „Augenscheinkarte“ bzw. „Streit- karte“. Auch wenn bei der Besichtigung vor https://www.openstreetmap.de/karte.html?zoom=14&lat=51.05954&lon=12.71888&layers=B000TF Ort der Kläger fehlte, wie der Kartenlegende (Aufgerufen 23.03.2021) zu entnehmen ist, visualisiert sie dennoch die Position beider Seiten. Auf der Rückseite der Karte sind die Streitparteien noch einmal ge- nannt: der Kläger „Her Nicklas von Ende“ und der Beklagte „Rat zue Geitann“. Die mit Wasserfarben kolorierte Bildkarte, de- ren Urheber leider weder auf der Karte, noch in den Akten erwähnt wird, ist einer mittel alterlichen Tradition folgend nach Osten aus- gerichtet. Am oberen Bildrand - in Richtung Osten („Aufgang“) – ist Königsfeld („Kongis- feld“) erkennbar, rechts daneben, also südlich, der Rochlitzer Berg („Rachlitzer Bergk“). Links auf der Karte im Norden führt eine mit „L“ gekennzeichnete Straße von Geithain nach Nauenhain und weiter nach Colditz. Die Stra- ße ist von Feldern umgeben (M), welche als „Ottenhainische Güter“ bezeichnet werden. Im Mittelpunkt der Zeichnung liegt ein Teich, aus dem ein Bach in westlicher Richtung aus- läuft. In der zur Karte korrespondierenden Akte wird zudem ein „Holtze die Struete genannt“ erwähnt. Soweit die sichtbaren räumlichen Gegebenheiten. Ausgehend von den heute zwischen Geithain und Königsfeld liegenden zwei Ortschaften „Haide“ und „Mark Ottenhain“ sowie dem dazwischen liegenden Waldgebiet „Struth“ ist hier die historische Karte zu verorten. Der Gegenüberstellung von aktueller Karte (links) und historischer Karte (rechts) mit ungefährer Einnordung. Ursprung der heutigen Siedlung Haide ist in ei- Bild links: https://www.openstreetmap.de/karte.html?zoom=16&lat=51.06465&lon=12.71963&layers=B000TF nem erst 1618 gegründeten Vorwerk Heyden- haus zu suchen, das zum Rittergut Königsfeld gehörte. Auf der von Geithain nach Nauenhain führenden „Colditzer Straße“ (S 44) liegt heute der zur Stadt Geithain zählende Ortsteil „Mark Ottenhain“. Ottenhain selbst ist 1551 als eine zum Rittergut Gnandstein zählende Wüstung belegt. Um 1791 gehörten Flurstücke aber auch anteilig der Stadt Geithain. In dem an- Sächsisches Archivblatt Heft 1-2021 | 10
von Zeichnungen und erste Karten finden in jener Zeit ihren Einzug in die amtliche Über- lieferung und damit in die Bestände des Sächsischen Staatsarchivs. Die ältesten hier überlieferten amtlichen Karten lassen sich in das frühe 16. Jahrhundert datieren. Es sind so- genannte Augenscheinkarten, Bildkarten oder Streitkarten, wie das vorgestellte Objekt. Der Name verweist bereits auf den Entstehungs- kontext: Vor Ort werden Gegebenheiten in Augenschein genommen, Grenzen und Herr- schaftsbereiche aufgezeichnet, visualisiert, dokumentiert. Dies konnte vorausschauend geschehen, um im Streitfall die damit verbun- denen Rechte besser nachweisen zu können, oder wie im vorliegenden Fall als Streitkarte zur Visualisierung der verschiedenen Ansichten Die Zugehörigkeit der mit E und F gekennzeichneten Gebiete ist strittig. „G“ ist die Grenze aus Geithainer Sicht, von Kläger und Beklagten im Rahmen eines „A“ aus Sicht des Nicol von Ende. vor Gericht anhängigen Prozesses. Hier veran- schaulichen sie den Streitgegenstand in seiner grenzenden Waldgebiet „Struth“ gibt es heute schrifteten Grenzen) ihnen gehöre. Nicol von räumlichen Umgebung. noch zwei Teiche: den nördlicher gelegenen Ende beansprucht dieses Gebiet aber als Teil Kunzenteich sowie den südlicheren vom Kalk- der Zahnheide (in den blauen mit „A“ beschrif- Natürlich muss man immer quellenkritisch die bach gespeisten Schwemmteich. Vergleicht teten Grenzen) für sich. Mittlerweile hatte der Echtheit oder Fiktion solcher Zeichnungen hin- man die nicht maßstabsgerechte historische Geithainer Geleitsmann Franz Schmidt bereits terfragen und weitere Vergleichsquellen her- Zeichnung mit heutigem Kartenmaterial, so Tatsachen geschaffen und auf dem mit „F“ anziehen, wie beispielsweise aktuelles topo- lassen sich übereinstimmende Merkmale am bezeichneten Gebiet Bäume schlagen sowie grafisches Material. Bei der hier beschriebenen westlichen Ende des Waldgebietes erkennen: den Boden umackern lassen. Ein zweiter strit- Karte kam es nicht auf die maßstabsgerechte Noch heute verläuft hier die Grenze zwischen tiger Punkt ist mit weiß und „K“ eingezeichnet. Darstellung der Entfernungen nach Rochlitz den beiden Landkreisen Leipzig und Mittel- Darüber sei „in Vorfertigung des abriess hart oder Königsfeld an, sondern vielmehr auf die sachsen entlang des Kalkbachs und biegt am gestritten worden“, kann in der Kartenlegende Visualisierung der von dem Kläger, den Beklag- Waldrand nördlich in Richtung „Colditzer Stra- nachgelesen werden. ten und den Zeugen beschriebenen räumlichen ße“ ab. Dem alten und heutigen Grenzverlauf Gegebenheiten vor Ort. folgend, befindet sich hier das strittige Gebiet. Im Laufe des Prozesses beharren beide Seiten Der alte Teich ist heute nicht mehr vorhanden auf ihren Positionen. Auch umfangreiche Zeu- Mitte des 16. Jahrhunderts, der Entstehungs- (siehe Gegenüberstellung S. 10). genbefragungen führen zu keinem Ergebnis. zeit der vorliegenden Karte, beginnen sich Einen (vorläufigen?) Abschluss bildet der am Karten auch in Kursachsen als Besitzstands 21. Februar 1562 gerichtlich angeordnete Ver- dokumentation langsam durchzusetzen – Dargestellter Streitfall such einer nochmaligen außergerichtlichen nicht zuletzt auch durch das Interesse des Einigung, zu der als Vermittler die Adligen Kurfürsten August (1526–1586) an Kartogra- Der in der Karte abgebildete Teich ist in wei- Haugold/Hauboldt von Einsiedel (1521–1592), fie. Die bildliche Dokumentation von Grenzver- ten Teilen von der „Zahnheide“ (auch „Zanner Bernhard von Creutz (?–1612) und Abraham läufen zwischen Herrschaften, Ämtern, Dör- Heide“ oder „Zanheide“ genannt) umgeben von Bock (1531–1601) gerichtlich hinzugezo- fern, Städten, zwischen Wäldern und Feldern, und zählt zum Königsfelder Besitz. Den Teich gen werden. Die Kontrahenten werden aufge- von Nutzungsgerechtigkeiten, grundherrlichen und den Teichdamm habe vor Jahren Götz von fordert, „allen möglichen Fleiß“ aufzuwenden, Einkünften und Erträgen wird zunehmend zu Ende (1449–1527) teilweise auch auf Otten damit sich die Parteien „in Güte“ vergleichen. einem festen Bestandteil des frühneuzeitli- hainischem Boden anlegen lassen, so die Gei- Leider enden damit die Verfahrensakten. Ein chen Verwaltungshandelns. Sie sind bis in das thainer. Dafür habe der von Ende den Geithai- möglicherweise gesprochenes Urteil ist nicht 20. Jahrhundert hinein noch in Akten zu finden nern andere Feldstücke übergeben, führen die überliefert. Die korrespondierende Urteils- und werden vielfach durch weitere schriftliche Beklagten an. Die ursprünglich vorhandenen sammlung des Leipziger Oberhofgerichts für Informationen ergänzt. Gleichwohl sind sie in Rainsteine seien verbaut und beseitigt wor- die Jahre 1554 bis 1582 fehlt heute. Es ist den Archiven oft nicht auf den ersten Blick den, so dass jetzt eine klare Grenzziehung jedoch sehr wahrscheinlich, dass sich die Kon- sichtbar – das gilt insbesondere für Karten in nicht mehr möglich sei, so die Beklagten wei- trahenten tatsächlich außergerichtlich einigen fest formierten Akten. So ist davon auszuge- ter. Der Kläger hingegen verweist auf noch konnten. hen, dass sicherlich noch so mancher karto- sichtbare Steine, auf alte Markierungen und grafische Schatz in den Beständen schlum- auf die Aussagen seiner Zeugen. Während der mert, der darauf wartet, gehoben zu werden. Kläger davon ausgeht, dass die Geithainer als Augenscheinkarten im Archiv Kompensation ein mit „B“ gekennzeichnetes Feld erhalten haben, behaupten die Geithainer, Der steigende Wunsch nach mehr Rechts dass die in der Karte mit „E“ gekennzeichnete sicherheit und Verbindlichkeit führt zu Beginn Ute Essegern und bis zur Straße reichende Flur als Teil des der Neuzeit nicht nur zu einer zunehmenden (Sächsisches Staatsarchiv, Ottenhainer Guts (in den roten mit „G“ be- Schriftlichkeit. Auch Visualisierungen in Form Hauptstaatsarchiv Dresden) Sächsisches Archivblatt Heft 1-2021 | 11
Die Urkunden der Deutschordensballei Thüringen im Sächsischen Staatsarchiv – Eine lückenlose Überlieferungsgeschichte? Nicht immer ist der genaue Weg von Schrift- kunden hauptsächlich auf mehrere Archive im von Provenienz nicht immer passt bzw. nicht gütern in ein Archiv und dessen Nachfolge- mitteldeutschen Raum erwarten würde. Bevor weitreichend genug ist, um die Geschichte institutionen klar. In vielen Fällen muss die allerdings genauer auf die Überlieferungsge- des Archivales nachzeichnen zu können. Die Geschichte der Dokumente lange nach der schichte der Urkunden des Deutschen Ordens Berücksichtigung aller die Urkunden nutzen- Übernahme des Archivgutes aufwendig er- in Thüringen eingegangen werden kann, soll den Institutionen erscheint angesichts dessen forscht und nachgezeichnet werden: Der das Problem des Provenienz-Begriffes in dip- sehr sinnvoll. Diese Art der Provenienz wird Entstehungskontext und die Geschichte des lomatischem Kontext knapp diskutiert werden. als gleitende Provenienz bezeichnet. Bezogen Archivales können dabei wichtige Erkenntnisse auf unser Beispiel liegt die Provenienz der über die Entstehung von Beständen und Archi- Das Sächsische Staatsarchiv sichert im Be- Urkunden der Ordenshäuser nicht nur in den ven, aber natürlich auch für andere Bereiche stand 10001 Ältere Urkunden viele Urkunden einzelnen Niederlassungen des Ordens in der wie den der Geschichtsforschung oder der weltlicher und geistlicher Provenienzen. Da- Ballei Thüringen, sondern auch bei den sächsi- Sprachwissenschaften liefern. In diesem kur- bei kann der Provenienzbegriff im Wesent- schen Landesfürsten, die als letzte Institution zen Beitrag soll die Überlieferungsgeschichte lichen auf zwei verschiedene Arten gefasst die Urkunden in ihrem ursprünglichen Nutzen der Urkunden der Deutschordensballei Thürin- werden. Zum einen kann vor allem in Bezug als Rechtsquellen weiterverwendeten. Damit gen vorgestellt und diskutiert werden. auf geistliche Institutionen mit Provenienz wären die Urkunden im Sinne der gleitenden die historische Institution gemeint sein, die Provenienz auch dem frühen sächsischen Die Ballei Thüringen umfasste als Verwal- die betreffende Urkunde als Rechtsquelle Territorialstaat zuzuordnen. Aus praktischen tungsprovinz zeitweise bis zu 18 Ordenshäuser nutzte und aufbewahrte, bevor sie im Zuge Gründen wird heute die Provenienz der Ur- zwischen Zschillen (heute Wechselburg) im der Säkularisation und Sequestration in eine kunden des Deutschen Ordens im Sächsischen Osten, Mühlhausen im Westen, Eger (Cheb) im landesherrliche Registratur überging. Dieser Staatsarchiv vor allem im Sinne der wesent- Süden und Halle an der Saale im Norden und Provenienzbegriff vermittelt jedoch nicht für lichen nutzenden Institution vor der Über- ging damit deutlich über das Gebiet des heu- alle im Staatsarchiv lagernden Urkunden eine nahme durch die landesherrliche Registratur tigen Landes Thüringen hinaus. Heute liegen vollständige überlieferungsgeschichtliche In- im Zuge der Säkularisation weiterverwendet. die Urkunden der einzelnen Niederlassungen formation. Spricht man über die Provenienz Der Nachweis gleitender Provenienzen erfolgt des Deutschen Ordens der Ballei Thüringen von Urkunden, die den Besitzer gewechselt noch nicht durchgängig. weitgehend geschlossen im Hauptstaatsarchiv haben, ohne ihren ursprünglich angedachten Dresden, was insofern auf den ersten Blick Zweck als Rechtsdokument zu verlieren, so Der eben beschriebene Umstand liegt nicht überrascht, da man eine Verteilung der Ur- wird schnell deutlich, dass dieses Verständnis nur am Weg der Urkunden bis zum heutigen Lagerort, sondern auch an der Übernahme und Erschließung der Balleiurkunden. Sowohl anhand des überlieferten sächsischen Inven- tars, als auch an den Übernahmeverzeich- nissen und den älteren Findmitteln aus dem 19. Jahrhundert ist der Weg der Urkunden der Deutschordensballei Thüringen recht klar nachvollziehbar. Ein genauerer Blick in die Überlieferungsge- schichte klärt neben dem Provenienzproblem auch die Frage, weshalb die Deutschordensur- kunden heute in Dresden liegen. Zur Beant- wortung ist der historische Kontext des 16. Jahrhunderts heranzuziehen: Viele Nieder lassungen und vor allem die Landkomturei des Deutschen Ordens in Zwätzen, heute ein Stadtteil von Jena, lagen innerhalb der kur- sächsischen Einflusssphäre. Mit der Reforma- tion verstärkte sich der Zugriff der jeweiligen sächsischen Landesherren auf die Besitzungen geistlicher Institutionen bis hin zur Säkularisa- tion der Ordensniederlassungen. Die einzelnen Ordenshäuser verwalteten ihre Urkundenein- Es handelt sich weitgehend um Urkundeneingänge des Deutschen Ordens, wie in diesem Fall vom Zisterziense- rinnenkloster an die Ordensniederlassung in Weimar vom 5. Oktober 1414 (SächsStA-D, 10001 Ältere Urkunden, gänge zunächst selbst, sodass sich häufig zu Nr. 05648) den Urkunden im Sächsischen Staatsarchiv Sächsisches Archivblatt Heft 1-2021 | 12
auch eine zeitgenössische Parallelüberliefe- rung zum Beispiel in Form von Kopialbüchern in anderen Archiven (z. B. im Hauptstaatsar- chiv Weimar) erhalten hat. Nicht bis ins Letzte geklärt, aber sehr wahrscheinlich ist, dass in Zwätzen ein Zentralarchiv der Ballei Thüringen bestand, wo die Urkunden vor der Übernahme durch die sächsischen Landesfürsten lagerten. Die sich während des 16. Jahrhunderts verfes- tigenden kursächsischen Behörden übernah- men im Zuge der Säkularisation das Schriftgut der geistlichen Orden in der kursächsischen Einflusssphäre. So fanden auch die als Rechts- dokumente wichtigen Urkunden aus dem frü- heren Besitz des Deutschen Ordens Eingang in die kursächsische Verwaltung, während ein- zelne Ordenshäuser der Ballei Thüringen unter dem Einfluss der sächsischen Landesfürsten bis ins 19. Jahrhundert hinein existierten. Sächsisches Inventar zu den 1563 übernommenen Ur- Vermerk mit dem Verweis auf die Quittungen zur Konkret lässt sich der Vorgang der Urkunden kunden (SächsStA-D, 10036 Finanzarchiv, Loc. 32508 Übernahme der Urkunden geistlicher Institutionen aus übernahme an der frühneuzeitlichen Akten- Rep. 23 Gen. Nr. 0107, Bl. 222a) dem Finanzarchiv ins Hauptstaatsarchiv (SächsStA-D, überlieferung im Sächsischen Staatsarchiv 10036 Finanzarchiv, Loc. 32508 Rep. 23 Gen. Nr. 0107) aufzeigen. Heute befindet sich das „Verzeich- nis der Urkunden der Klöster“ (SächsStA-D, Inventar. Insgesamt spricht dies nicht nur für regesten und sachbezogenen Findbücher des 10036 Finanzarchiv, Loc. 32508, Rep. 23, Gen. eine stetige Perzeption und Rezeption der 19. Jahrhunderts um ein provenienzbezogenes Nr. 0107) mit dem Inventar der Urkunden des Urkunden in Zusammenhang mit der Prove- Findmittel ergänzt. Deutschen Ordens in der Ballei Thüringen im nienz in den einzelnen Ordensniederlassungen, Bestand Finanzarchiv. Dieses Inventar ent- sondern auch für eine nach der jeweiligen Heute werden die herkömmlichen älteren stand nach 1563 und verzeichnet nach dem Niederlassung geordnete Ablage der Urkunden Findmittel im Interesse der Nutzer nach und Provenienzprinzip die übernommenen Urkun- über die Jahrhunderte seit der Säkularisation. nach durch die Möglichkeiten der Online den mit Ausstellungsdatum und Kurzregest. Im recherche, die etwa Zugang nach chronolo- 18. oder 19. Jahrhundert wurde das Inventar Zu den 1834 und auch 1835 etwa 2.600 aus gischen oder sachbezogenen Kriterien, Prove- mit anderen Inventaren geistlicher Instituti- dem Finanzarchiv in die I. Abteilung des Haupt- nienz oder auch allgemein nach Stichworten onen (wie zum Beispiel zu den Urkunden der staatsarchivs übernommenen Urkunden geist- bietet, ersetzt. Hinzu kommt die dauerhafte Zisterzienserinnenabtei Nimbschen, der Zister- licher Institutionen zählen auch die 962 Ur- Bereitstellung von Urkundendigitalisaten, zienser in Buch oder der Kartause Martinstal kunden aus der Ballei Thüringen. Zunächst die im Zuge großer Digitalisierungsprojekte bei Crimmitschau) zusammengeführt und zu wurden nach der Übernahme zwei sachbe- zugänglich gemacht werden sollen: eine der heute überlieferten Akte gebunden. Über zogen sortierte Findbücher zu den Urkunden Chance, die Provenienzzusammenhänge und die weitere Geschichte der Urkunden und auch erstellt und zusätzlich auch die Zettelregesten die Überlieferungsgeschichte von Archivalien des „Verzeichnisses der Urkunden und Klöster“ zu den Urkunden des Hauptstaatsarchivs um nutzerfreundlich darzustellen. Die Überlie- gibt ein kurzer Vermerk auf dem Registerblatt die neu hinzugekommenen Urkunden ergänzt. ferungsgeschichte der Urkunden der Ballei des Verzeichnisses Auskunft. Neben dem Um- Auch heute sind die chronologisch sortierten Thüringen kann insgesamt relativ gut verfolgt stand, dass das Urkundenverzeichnis wohl ver- Zettelregesten zum Teil noch ein wichtiges werden und lässt nicht nur die Rekonstruktion legt und dann „1857 in einem verschlossenen Hilfsmittel zur Recherche von Urkunden der von Übernahmeprozessen zu, sondern bietet Schränkchen“ wieder aufgefunden wurde, wird Zeit bis 1806. Seit dem Jahr 1837 basieren auch die Chance, die Umfänge der einstigen auch auf eine Quittung zur Übernahme der die fortlaufende Signaturvergabe und die diplomatischen Überlieferung zu ermitteln. Urkunden verwiesen. Ablage der Urkunden des Bestandes 10001 Bei der Diskussion um die Provenienzfrage auf chronologischen Kriterien. Somit erhiel- wird vor dem Hintergrund der überlieferten Diese Akte mit eigentlich „Drey Quittungen ten auch die Balleiurkunden eine fortlaufende Verzeichnisse klar, dass den Bearbeitern die- über die im Jahre 1834 von dem K. S. Finanz- Nummerierung und wurden unabhängig von ses vergleichsweise umfassenden Urkunden- an das K. S. Haupt-Staats-Archiv abgegebenen ihrer Provenienz abgelegt. Erst in den 1950er fundus über die Jahrhunderte hinweg dessen Kloster-Urkunden“ (SächsStA-D, 10036 Fi- Jahren gab es neue Bemühungen um eine Re- Zusammenhang mit dem Deutschen Orden nanzarchiv, Loc. 32507, Rep. 23, Gen. Nr. 0096) konstruktion der Provenienz der Urkunden des und dessen Niederlassungen in Thüringen ist erhalten. Die Quittungen enthalten, ge- Sächsischen Staatsarchivs, die zur Erstellung stets bewusst war. Die Verbindung zwischen ordnet nach den einzelnen Ordenshäusern, von Provenienzverzeichnissen führten. Darin den Urkunden und der Ballei Thüringen als neben einer alten Registratursignatur des Fi- sind die aktuellen Signaturen der Urkunden deren ursprünglichem Inhaber blieb gewahrt nanzarchivs auch die Ausstellungsdaten der und deren Ausstellungsjahr geordnet nach und deren Überlieferungsgeschichte somit gut Urkunden. Die alten Signaturen des Finanz- den jeweiligen Institutionen, die vor der Säku- nachvollziehbar. archivs finden sich im Übrigen zum Teil auch larisation und Sequestration die Urkunden in auf den entsprechenden Originalurkunden und ihrer Funktion als Rechtsquelle nutzten. Somit Robert Harlaß im oben angesprochenen frühneuzeitlichen wurden die chronologisch abgelegten Zettel- (Kiel) Sächsisches Archivblatt Heft 1-2021 | 13
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