Spielzeit 19/20 Aug - Dez - Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock - Schaubühne

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Spielzeit 19/20 Aug - Dez - Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock - Schaubühne
Spielzeit  19/20      Aug. – Dez.

Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock   Jule Böwe
Spielzeit 19/20 Aug - Dez - Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock - Schaubühne
Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock   Carol Schuler
Spielzeit 19/20 Aug - Dez - Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock - Schaubühne
Ruth
Im   Rosenfeld.
   verbeulten   Im verbeulten
              Universum.      Universum.
                         Kampagne        Kampagne
                                    von John Bock  von John Bock Jörg Hartmann
Spielzeit 19/20 Aug - Dez - Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock - Schaubühne
Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock   Christoph Gawenda
Spielzeit 19/20 Aug - Dez - Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock - Schaubühne
Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock   Moritz Gottwald
Spielzeit 19/20 Aug - Dez - Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock - Schaubühne
Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock    Annika Meier
Spielzeit 19/20 Aug - Dez - Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock - Schaubühne
Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock   Joachim Meyerhoff
Spielzeit 19/20 Aug - Dez - Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock - Schaubühne
Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock   Kay Bartholomäus Schulze
Spielzeit 19/20 Aug - Dez - Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock - Schaubühne
Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock    Carolin Haupt
Spielzeit 19/20 Aug - Dez - Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock - Schaubühne
Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock   Iris Becher
Ruth
Im   Rosenfeld.
   verbeulten   Im verbeulten
              Universum.      Universum.
                         Kampagne        Kampagne
                                    von John Bock  von John Bock   Lukas Turtur
Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock    David Ruland
Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock    Robert Beyer
Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock   Ursina Lardi
Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock    Laurenz Laufenberg
Im verbeulten Universum. Kampagne von John Bock   Damir Avdic
Spielzeit  19/20                Aug. – Dez.
»Orlando« von Virginia Woolf, Regie: Katie Mitchell
»Jugend ohne Gott« von Ödön von Horváth, Regie: Thomas Ostermeier
»Amphitryon« von Molière, Regie: Herbert Fritsch
»Die Anderen« von Anne-Cécile Vandalem, Regie: Anne-Cécile Vandalem
»THE HUMAN CONDITION« nach Hannah Arendt, Realisation: Patrick Wengenroth
»Der kaukasische Kreidekreis« von Bertolt Brecht, Regie: Peter Kleinert
»Nur in der Entdeckung der gemeinsamen
Situation kommen wir zur Solidarität«
Heinz Bude im Gespräch mit Thomas Ostermeier und Florian Borchmeyer
Heinz Bude (*1954, Wuppertal) ist Professor für Makrosoziologie in Kassel und seit 2011 Gastgeber der Reihe »Streit
ums Politische« an der Schaubühne. Er studierte Soziologie, Philosophie und Psychologie an der Universität Tübingen
und an der Freien Universität Berlin. 1994 habilitierte er mit einer Studie zur Herkunftsgeschichte der 68er-­G eneration.
Von 1997 bis 2015 leitete er am Hamburger Institut für Sozialforschung den Forschungsbereich »Die Gesellschaft
der Bundesrepublik«. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Generations- und Exklusionsforschung. Zu seinen
­Publikationen zählen »Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft« (Hanser Verlag,
 2008), »­Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet« (Hanser Verlag, 2011), »Gesellschaft der Angst« (­Hamburger
 Edition, 2014) und »Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen« (Hanser Verlag, 2016). Im Rahmen der
 ­Premiere s­ eines jüngsten Buches »Solidarität: Die Zukunft einer großen Idee« (Hanser Verlag, 2019), in dem er für ein
  neues ­Verständnis von Solidarität in der Gesellschaft plädiert, um Spaltung entgegenzuwirken und eine neue Art des
  Zusammenlebens zu verwirklichen, kamen Florian Borchmeyer, Heinz Bude und Thomas Ostermeier im März an der
  ­Schaubühne zu diesem Gespräch zusammen.

 Florian Borchmeyer: Herr Bude, in                 finde man im Gegenteil ein Anwachsen             erwirtschaften den Profit, haben aber
 den vergangenen Jahren sind Sie – auch            der Räume des Gemeinsamen. Wo aber              über seine Verwendung kein Wort
 über Ihre Reihe »Streit ums Politische«           ist innerhalb der von Ihnen attestierten        mitzureden; sie müssen tun, was ihnen
 hinaus – ein intellektueller Wegbegleiter         Selbstsozialisation der Raum, in dem            gesagt wird, alles andere ist Arbeits­
 unserer Arbeit an der Schaubühne                  die Solidarität noch stattfinden kann?          verweigerung. Solidarität erwächst aus
 ­gewesen und haben uns ungeheuer viele            Heutige Arbeitende befinden sich in             der ­geteilten Erfahrung von Ausbeutung
  Stichworte gegeben. Während der                  ­keiner Fabrikhalle mehr, wo alle physisch      und U  ­ nterworfenheit. Die Klasse an
  ­Proben zu »­Professor Bernhardi« in der          präsent sind und als kollektive Masse          sich entsteht als solche erst durch die
   Spielzeit 2016/17 etwa legten Sie uns            agieren können. Sie teilen oft auch kein       Erfahrung gemeinsamer Stärke im
   in einem Gespräch für das Programmheft           gemeinsames Büro. Wie also wollen wir –       ­Widerstand gegen betriebliche ­Willkür-
dar, was Sie an Arthur Schnitzler so                denn das ist ein Anspruch Ihres Buches –       herrschaft und die gnadenlose Produk­
­fasziniere: dass er nämlich der erste              den Rechten, die sich neuerdings ein            tivitätspeitsche. Es ist die Solidarität der
 Autor der »Bürosozialisation« sei, die die         nach ihren Erfordernissen z­ ugeschnittenes     Arbeiterklasse, die diese Transformation
   bisher vorherrschende »­Fabriksozialisation«    Projekt der Solidarität auf die Fahnen           von »an sich« zu »für sich« möglich macht.
    ablöste. Die industrielle Fabriksoziali­        schreiben, die Idee der Solidarität wieder      Insofern gräbt sich der Kapitalismus
    sation war einst der Raum, in dem die           entringen, wenn wir doch alle vereinzelte       selbst das Wasser ab, indem er fremde
   Solidarität stattfinden konnte. Alle Arbeiter    »Ichlinge« sind?                                Menschen zusammenbringt und ihnen
   waren gemeinsam einer Situation der                                                             die ­gleiche Herrschaftserfahrung ange­
   Ausbeutung und des daraus notwendig             Solidarität ist etwas, das durch den            deihen lässt, ­welche sie ermächtigt, das
   werdenden Kampfes um ihre Rechte                ­Kapitalismus selbst produziert wird.           System der Herrschaft zu kippen. Das
   ausgesetzt. In der Bürosozialisation ist                                                        haben wir heute nur leider nicht mehr.
   das schwieriger. Denn dort ist man sich         Heinz Bude: Das ist ein wichtiger               Deshalb ist für mich das Existenzielle so
 vielmehr ständig gegenseitig als Indivi­          Punkt, weil ich glaube, dass uns mit der        bedeutend. Auf das Wir der Fabrik zu
   duum ausgesetzt. Diesen Gedanken habe           Erfahrung der Fabriksozialisation ein           ­hoffen, ist verlorene Nostalgie. Schon im
   ich jetzt beim Lesen Ihres neuen Buches         lange Zeit völlig selbstverständliches           Büro klappt das mit der Solidarität nicht
   »Solidarität – Die Zukunft einer großen         Modell von Solidarität verloren gegangen         mehr so richtig, erst recht nicht, wenn
   Idee« wiedergefunden. Mittlerweile sind            ist, nämlich, das einer Solidarität, die      viele von zu Hause am Rechner arbeiten.
   wir auch über die Bürosozialisation schon       auf einer ­Erfahrung von vorgegebener            Man kann nicht einfach ein vorhandenes
   wieder hinaus und befinden uns in etwas,        Kollektivität beruht. Das ist die Idee bei       Wir behaupten, an das ich appellieren
   das Sie die Selbstsozialisation nennen:            Marx: Solida­rität ist etwas, das durch       könnte. Selbst die Arbeitnehmergesell­
   in einer Gesellschaft der starken, weitge­      den Kapitalismus selbst produziert wird,         schaft der Nachkriegszeit existiert nicht
   hend voneinander losgelösten Einzelnen.         indem Menschen ganz unterschiedlicher            mehr. Das Wir ist nur noch durch das
   Das ist zunächst eine eher pessimistische         ­Herkunft in einer Fabrik zusammenge­          Ich zu gewinnen. Das ist die Wahrheit,
   Sicht. Denn unter isolierten Einzelnen          bracht und gemeinsam dem Regime                  die uns im Vergehen des Neoliberalismus
   gibt es keinen Platz für Gemeinsames.           des Kapitals unter­worfen werden: Alle,          entgegenschlägt.
   Ein Denker wie Antonio Negri würde              der Industriemeister genauso wie der
   ­hoffnungsvoll dagegensetzen, gerade in         ­M alocher an der Maschine, die Ange­          Thomas Ostermeier: In Ihrem Buch
    einer Gesellschaft des Postfordismus, wo        stellte im Büro ge­nau­so wie die Gabel­      rauscht im Hintergrund immer der
    die Arbeitenden in allen Arbeitsprozessen       staplerfahrerin im Magazin, erleben           Marxismus mit, aber er kommt nie so
    kommunikativ miteinander verbunden sind,        ­Ausbeutung und Unterdrückung. Sie            ­richtig zum Vorschein. Die Frage nach

Interview                                                                                                                                     2
dem revolutionären Subjekt zum Bespiel        erfahrung, somit wissen wir, dass wir           Verpflichtung für sich selbst ableiten
 wird nur gestreift. Wer könnte das            beide gemeinsam stark werden können.            kann, des Sich-Abhängig-Machens von
 sein? Das war ja mal die Arbeiterklasse.       Es ist extrem wichtig, sich klarzumachen,      anderen. Die geht eben nur über solche
 Sie ­fragen in Ihrem Buch, ob es heute         was wir eigentlich miteinander teilen.         Themen, nämlich die Vulnerabilität auf
 ­vielleicht die Angehörigen der Randbeleg­     Wer das sehr gut durchdacht hat, ist           einer Erde, die vor unseren Augen oder
  schaften in den Hochproduktivitätszent­       Bruno Latour, der dazu ein Pamphlet            in unserem Gefühl schwankt.
  ren seien, die als gering bezahlte mobile     geschrieben hat, »Das terrestrische Mani­
  Einsatzreserve oder als unterbezahlte         fest«. In dem sagt er, was wir erst einmal     TO: Da könnte ich jetzt einen Blick nach
  Zeitarbeiter_innen in Spitzenzeiten die       miteinander teilen, ist, dass wir alle auf     Frankreich werfen, wo unter der Maßgabe
  Stammbelegschaften ergänzen. Oder viel­       diesem sehr vulnerablen und sehr endli­        der Vulnerabilität unserer Erde eine
  leicht das neue Proletariat der einfachen     chen Kontinent leben, der Erde heißt. Und      Diesel­steuer, eine Benzinsteuer erhöht
  Dienstleistungen im Zustellungs- und          wir sind jetzt in der Lage zu erkennen,        wurde und sich die Menschen, die eine
  Transportgewerbe, in den Branchen der         dass diese Erde auch kaputt gehen kann         Erfahrung von Abgehängtsein teilen,
  Gebäudereinigung oder der Wach- und           und vor unseren Augen vielleicht sogar         ­nämlich dass es in ihren Ortschaften
  Sicherungsdienste, das Verkaufspersonal       kaputt geht. Das teilen wir miteinander.        keine Ärzte, keine Arbeit, keine Geschäfte
  der Billigketten oder das Pflegepersonal,     Die Vulnerabilität des Bodens, auf dem          mehr gibt, und die existentiell davon
  das etwa 12 bis 14 Prozent der Gesamt­        wir alle stehen, ist die Basis, auf der wir     abhängig sind, in den nächsten Ort zu
  beschäftigten ­insgesamt ausmacht und mit     zueinanderkommen können. Interessant            fahren, was unmöglich wird von dem
    1.000 bis 1.200 Euro netto im Monat         war für mich, dass es heute eine unge­          wenigen Geld, das ihnen bleibt, wenn die
    nach Hause geht. Oder die Grenzgänger       heure Suche nach Solidarität gibt, die          Benzinsteuer erhöht wird, und die sagen:
    am Arbeitsmarkt, die als prekär Beschäf­    sich aber ganz anderen Themen zuwendet,         »Vulnerabilität, mir doch egal, ich brauche
  tigte zwischen Beschäftigung und Nicht-       die für Marx völlig absurd wären – zum          was zu essen.« Manche haben eben
  Beschäftigung hin- und herpendeln.            Beispiel Solidarität mit Tieren oder gar        Angst vor dem Ende des Monats und
    Und es gibt weitere Momente in Ihrem        Pflanzen. Also die Diskussion um Donna          andere haben Angst vorm Ende der Welt,
  Buch, wo es diese Sehnsucht nach marxis-      Haraway über das Sich-Verwandt-Machen           wie es bei den Protesten in Frankreich hieß.
  tischen Begrifflichkeiten und Mechanis­       mit lebendigen Wesen auf dieser Erde –
  men gibt: zum einen das revolutionäre         um zu verstehen, dass wir mit denen eine       HB: Ich finde wieder, wenn der Weg zu
  Subjekt und zum anderen die Solidarität,      vulnerable Erde teilen. Oder gar mit           Solidarität über mich geht, dann kann ich
  die ja auch im Zusammenhang mit dem           den Pflanzen, die uns den Sauerstoff zur       nur fragen: Willst du in einer anständigen
  Klassenkampf immer bemüht wurde.              ­Verfügung stellen. Wenn es keine Pflanzen     Gesellschaft leben? Willst du in einer
  Wir verhalten uns im Klassenkampf soli­        gäbe, würden wir alle ersticken und zwar      Gesellschaft leben, in der deine Kinder in
  darisch mit den anderen Unterdrückten,         sofort. Dieses Motiv, die Suche nach          Sicherheit zur Schule gehen können und
  um die Klassengesellschaft zu über­            einem Abhängigsein, nachdem man an            du dich nicht sorgen musst? Dann wirst
  winden. Das ist ein sehr praktischer Soli­     eine gemeinsame Ausbeutungserfahrung,         du dich irgendwie um die Leute kümmern
  daritätsbegriff, der gar nicht sentimental     an eine gemeinsame Herrschaftserfah­          müssen, die einen Hass haben. Common
  ist und auch nichts mit der »Neuen             rung nicht mehr appellieren kann, ist mit     decency hat George Orwell das genannt
  ­Heimat« zu tun hat, sondern damit, die        Händen zu greifen: der Exit-Kapitalismus.     – ganz normale Anständigkeit. Und wenn
 ungerechte und als ungerecht empfun­          Es gibt viele Leute, die sagen, ich habe        du das willst, dann musst du die Leute
   dene Welt – denn Sie streben ja nach        einen ganz guten Job, irgendetwas Digita­       auch gescheit bezahlen und eine Vorstel­
   einer Welt­dimension – zu überwinden.         les, ich arbeite für einen Tagessatz von      lung von ihrer Respektabilität haben. Du
   Was unterscheidet diesen existenziellen       2.000 Euro. Und das mache ich vier Tage       brauchst die Leute, die Pakete bringen,
   Begriff der Solidarität von dem marxisti­     in der Woche, da kann ich noch was            sonst bekommst du keine mehr. Deshalb
   schen oder wo sind die Überschnei­            zurücklegen und wenn ich dann 48 bin –        kannst du nicht das ganze Geld nur dem
   dungen? Wie verhalten Sie sich zu den         Ende, auf Wiedersehen. Exit-Kapitalismus.     Gründer von Amazon geben, sondern du
   ­Fragen nach der Überwindung ungerech­        Das ist nur Selbstbewahrung. Und              musst auch an die denken, die dir die
    ter Ausbeutungsverhältnisse und danach,      wenn man dann einwendet, aber du bist         Pakete bringen. Und die müssen e  ­ infach
    wie wir anderen solidarisch zu Hilfe         doch auch abhängig von Digitalkonzernen,      mehr Geld verdienen. Das heißt, die Pakete
­kommen können?                                Urheberrechten, Plattformgebühren,              müssen für dich leider teurer werden.
                                               ­antworten die: »Das ist mir alles egal. Ich
Wir teilen eine Herrschaftserfahrung,           bin für die Freiheit des Netzes.« Es gibt      Wir müssen uns alle fragen, was uns
somit wissen wir, dass wir beide                keine gemeinsame Ausbeutungserfahrung          eine anständige Gesellschaft wert ist.
gemeinsam stark werden können.                  mit denen, die den Content liefern. Das ist
                                                die Schwierigkeit. Ich bin zum Beispiel        TO: Oder Herr Bezos verdient weniger.
HB: Der entscheidende Punkt in einer            nicht so sicher, ob die Respekt-Rente der
marxistischen Fassung des Begriffs ist die      Sozialdemokraten so eine gute Idee ist         HB: Oder Herr Bezos verdient weniger.
Gemeinsamkeit der Erfahrung von Aus­            unter dem Gesichtspunkt der Solidarität.       Die amerikanischen Demokraten sind
beutung und Herrschaft. Man wird nur            Weil die Gefahr besteht, dass sie als          ja ideologisch einigermaßen lebendig
­solidarisch, wenn es diese Basis durch die     eine Verliererabfindung verstanden wird.       geworden, einige fordern, es müsse einen
 gemeinsame Erfahrung gibt: Ich bin aus­        Solidarität hat nichts mit Verliererabfin­     fairen Anteil der Reichen an unseren all­
 gebeutet worden, wie du ausgebeutet wor­        dungen zu tun, sondern Solidarität ist eine   gemeinen Dingen geben. Ich finde wichtig,
 den bist, und wir teilen eine Herrschafts­      gemeinsame Erfahrung, aus der man eine        was Alexandria Ocasio-Cortez macht.

Interview                                                                                                                                 3
Ich glaube, die politische Partei, die        ­ sychoanalytisch gedacht – dieser
                                               p                                              TO: Könnte es nicht schwer werden, für
 in der Zukunft bestehen will, muss diese      ­destruktiven Energie: Was willst du           ein solches Wahlprogramm Mehrheiten zu
­Themen angehen. Aber sie wird auch            eigentlich sein in der Welt, wenn du weißt,    finden und sich gegen die starken Lobby­
 sagen ­müssen, dass nicht nur die ­Reichen    dass du ein sterbliches Wesen in einer         gruppen, die ihre Pfründe schützen,
 mehr bezahlen sollen, sondern auch wir.       sterblichen Welt bist? Und was soll diese      durchzusetzen? Die Grünen haben zuvor
 Wir müssen uns alle fragen, was uns           ganze Orgie der Zerstörung?                    schon einmal probiert, die Anhebung
 eine anständige Gesellschaft wert ist.                                                       der Steuern in ihr Parteiprogramm zu
                                               TO: Und was passiert mit den Profiteuren?      ­setzen, und auch ein Teil der grünen,
TO: Sie haben ja auch gesagt, dass der         Wie werden die in die Pflicht genommen?         begüterten, städtischen Klientel hat sich
Begriff der Solidarität besonders bei den      Im Buch sagen Sie dankenswerterweise,           einverstanden erklärt und gesagt, sie
Rechten zum Tragen kommt, die an die           Sie möchten niemanden zur Solidarität           ­würden sogar gerne freiwillig mehr Steuern
Solidarität der Volksgemeinschaft appel­       verpflichten, Sie möchten keinen               zahlen, aber genutzt hat ihnen das in der
lieren. Ich befürchte, dass das nicht der      sentimen­talen Begriff von Solidarität.        Wahl dann leider doch nichts.
einzige Wettbewerbsvorteil der Rechten         Wer ­Solidarität übt, mag glücklicher sein,
ist. Der andere Wettbewerbsvorteil             aber wer nicht will, ist selbst schuld.        Natürlich wird das ein harter Kampf
besteht darin, dass sie zumindest die          Aber wie gehen wir mit denen um, die           werden, aber dann kann man auch
Menschen glauben machen wollen, dass           von ­dieser Welt, von diesem System, von       ein bisschen Kampf anbieten, das
sie das System überwinden. Ich habe            ­dieser Herrschaft der Märkte profitieren?     ist also gar nicht so schlecht.
davon gelesen, wie die Rechten den
­Straßenkampf mit den Linken trainieren        HB: Natürlich ist diese ganze schöne Zeit      HB: Das waren damals diese Trittin-­
 und ganze Ausbildungscamps existieren,        mit 36 Prozent Steuerhöchstsatz, wie wir       Wahlen, es gab so viele Steuern wie nie
 in denen Menschen sich mobilisieren für       ihn in den USA haben, bei uns ist es ein       und dann sagte er den Bürger_innen,
 den Tag X, an dem dieses System über­         bisschen mehr, vorbei. Die nächsten zehn,      man müsse die Steuern erhöhen. Das
 wunden wird. Ich glaube, das schwebt,         20 Jahre werden davon bestimmt sein,           war schon etwas ungeschickt. Aber die
 unabhängig von der Volksgemeinschaft,         diesen Steuersatz zu erhöhen – ich ver­        ­Situation ist jetzt eine andere, denn
 immer auch ein bisschen in den Köpfen         mute sogar von der konservativen Seite.         die Wähler_innen müssen schon mit zur
 mit. Müssen wir nicht auch so etwas                                                           Kasse gebeten werden. Natürlich wird
 anbieten? Denn im Moment hört sich die        TO: Wie Sie so schön in Ihrem Buch              das ein harter Kampf werden, aber dann
 von Ihnen vorgestellte Solidarität für mich   ­schreiben: Es gab mal eine Zeit, wo            kann man auch ein bisschen Kampf anbie­
 wie eine Solidarität der etwas Begüterten      Ford, Rockefeller und andere 94 Prozent        ten, das ist also gar nicht so schlecht.
 gegenüber den weniger Begüterten an,           ­Steuern in den USA bezahlt haben.
 aber die extremen Profiteure der neolibe­                                                    TO: Solidarität ist auch immer ein Begriff
 ralen Welt kommen nicht vor. Was              HB: Ja, das ist wahr, das war in den           aus dem Kampf.
 machen wir denn mit denen, die sich dann      Kriegszeiten, die Kriegssteuer. Die Leute
 freuen, dass die Mittelschicht sich soli­     haben das ohne Murren bezahlt. Und             HB: In der kommunistischen Moderne ist
 darisch mit den Abgehängten verhält und       ­Solidarität ist die Kraft, die sagt: »Wir     Solidarität immer Kampfsolidarität. Im
 sie ihren Beitrag nicht zu leisten haben?      müssen jetzt leider ein bisschen mehr         Kampf geboren, für den Kampf gebraucht.
                                                bezahlen, weil es um eine anständige
Allen Rechten ist eine Idee des                 Gesellschaft geht. Und denkt nicht, dass      FB: Doch führt Ihre Form von – wenn
­destruktiven Charakters gemein.                ihr euch zum Mond fliegen lassen oder         man so will – inklusiver Solidarität, im
                                                eure Charter Citys und eure Charter           Sinne einer Solidarität aller mit allen, nicht
HB: Einerseits sehe ich das ganz                Schools gründen könnt, nein. Wir bauen        eigentlich an der grundlegenden Essenz
genauso, dass von rechts ein außeror­           jetzt zusammen alles wieder neu auf.« Die     des Solidaritätsbegriffs vorbei? Muss
dentlich attraktives, aktivistisches            Zeit des digitalen Abenteuerkapitalismus      Solidarität nicht grundlegend immer
­Programm geboten wird, auch für junge          ist leider vorbei.                            ­exklusiv sein – sich abgrenzen von einem
 Leute. Der »Rassemblement National«                                                           ­Invasor, von einem Klassenfeind? Ein
 in Frankreich etwa wird nicht nur von alten   TO: Und machen die da alle freiwillig mit?       Kampfbegriff des Zusammenhalts inner­
 Idioten gewählt, sondern auch von vielen                                                       halb einer gesellschaftlichen Gruppe, die
 jungen Leuten. Die Rechte in Polen, das       HB: Nein, natürlich nicht. Deshalb will          sich, wenn man es mit C ­ hantal Mouffe
 sind junge Leute. Der Punkt ist, dass         ich ja auch den Solidaritätsbegriff für eine     benennen möchte, »­agonistisch« einer
 allen Rechten eine Idee des destruktiven      linksorientierte, aber natürlich auch mehr­      anderen Gruppe entgegensetzt? Zumin­
 Charakters gemein ist, der die Kraft der      heitsfähige Position zurückgewinnen              dest ist der heutige Begriff im 19. Jahr­
 Zerstörung propagiert. Überwindung ist        gegen die existierenden rechten Mehr­            hundert so e ­ ntstanden. Sie dagegen
 die Kraft der Zerstörung. Der klassische      heitspositionen. Das ist schwer genug.           sprechen in einem sehr schönen Kapitel
 Text zur Sache stammt bekanntlich von         Ich will keine Aktivist_innen, die ihr eige­     Ihres Buches von der Solidarität mit den
 Walter Benjamin. Es gibt diese unge­          nes Süppchen mit einer Gegenzerstörung           Tieren und den Pflanzen – oder auch von
 heure destruktive, zerstörerische Energie     kochen. Ich will eigentlich die binden,          den Solidaritätskonzepten bei Giordano
 in unseren westlichen Ländern, vielleicht     die sagen, sie wollten ein anspruchsvolles       Bruno und den Neoplatonikern. Bloß
 sogar auch in nicht-westlichen Gesell­        Leben – ein solidarisches Leben – führen.        ­hatten diese dafür einen anderen Begriff:
 schaften. Und demgegenüber ist Solidari­                                                        Liebe. Die Liebesbeziehung der Menschen
 tät eine Idee der Bindung – fast                                                                und selbst der Planeten zueinander – also

Interview                                                                                                                                 4
gewissermaßen die intergalaktische Soli­           ­ izepräsidenten Dick Cheney zeigt, was
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  darität – ist das, was das U    ­ niversum         für ein furchtbarer Mensch man wird, wenn      schwester und der Mann am Band nicht
  zusammenhält. Doch Liebe setzt ein per­            man den anderen nur im Kampfmodus              mehr als Arbeiterklasse definierbar?
  sönliches Kennen voraus, so wie auch die           begegnen kann. Das ist manchmal sicher         Die sind doch beide ausgebeutet.
    Freundschaft, die ­aristotelische philia,        notwendig, aber als Lebensprogramm
    oder der Begriff der Brüderlichkeit, wie ihn     desaströs, und zwar nicht nur für die ande­    HB: Nein.
    die Französische Revolution prägte, der          ren, sondern mehr noch für einen selbst.
    eine familiäre Gruppe ­voraussetzt. Was                                                         FB: Bloß, dass die eine vielleicht mehr
    hingegen an dem Solidaritätsbegriff des          TO: Das ist ja ein Phänomen von sozialen       ausgebeutet ist, weil der andere dreimal
    19. Jahrhunderts so unsentimental und            Bewegungen heute: Wenn die Hebam­              so viel verdient wie sie. Aber das ändert
    unpersönlich – ja, kalt – aber dadurch           men auf die Straße gehen, gehen wir, die       doch nichts an der Tatsache der Ungleich­
    auch so universal ist: er transportiert einen    wir für die Rechte von Homosexuellen           heit, die in Ihrem Buch, in dem Sie vor
    juristischen Begriff des Römischen Rechts        oder Migrant_innen sind, nicht mit den         allem von den Schwellenländern, so etwa
    in ein P­ olitik- und Gesellschaftsmodell hin­   Hebammen auf die Straße. Weil wir nicht        von China sprechen, ein bisschen unter
  ein; einen Begriff, der heute im BGB §420          solidarisch sind. Aber wir müssten natür­      den Tisch fällt. Diese hat sich gerade
  »Gesamtschuldnerische ­Haftung« heißt.             lich so solidarisch sein, dass wir jedes       in Deutschland immer mehr verschärft.
  Bei den Römern hieß er obligatio in                Wochenende auf der Straße sind.
­solidum und gab der Solidarität ihren                                                              HB: Es ist eine Spaltung. Im sozialdemo­
  Namen. Das Prinzip d      ­ ieser H
                                    ­ aftung ist:    Die Neubewertung von Arbeit im                 kratischen Jargon würde man sagen,
 Wir stehen als Gruppe einem Gläubiger               Lichte öffentlicher Güter, die uns             die Gemeinsamkeit zwischen den beiden
 gegenüber, doch wenn er s­ einen Anspruch           allen zugutekommen, steht uns bevor.           ist, dass sie abhängig Beschäftigte sind.
 bei uns gelten machen will, muss jede_r                                                            Die sozialdemokratische Politik war
 Einzelne von uns auch individuell für den           HB: Eines der ganz großen Themen der           ­traditionellerweise Politik für abhängig
 Gesamtbetrag herhalten – egal, welches              Solidarität für heute ist die Frage der Neu­    Beschäftigte. Also für die Sozialdemokra­
 die persönliche oder f­amiliäre Beziehung           bewertung von Arbeit. Wir wissen alle,          tie, die schon nicht mehr an die Macht
 der Einzelnen unter­einander ist. Diese             dass es in Zukunft nicht geht, dass das         der Klasse geglaubt hat. Das war die von
 ­anonyme, nicht durch ein Zusammengehö­             Gehalt einer Krankenschwester ein Drittel       mir angesprochene Arbeitnehmergesell­
  rigkeitsgefühl, sondern durch eine vertrag­        dessen beträgt, was jemand verdient, der        schaft des individuellen Glücks auf der
  liche Haftungsklausel juristisch bedingte          bei VW am Band steht. Man kann nicht            Basis kollektiver Anrechte. Aber das geht
  Verantwortung der ­Einzelnen für alle,             argumentieren, dass sie weniger harte           so einfach nicht mehr, weil aufgrund der
  hat sich im 19. Jahrhundert etabliert.             Arbeit leiste. Die Neubewertung von             ­Pluralisierung der Beschäftigungsverhält­
  Was daran bemerkenswert ist: dass wir              Arbeit im Lichte öffentlicher Güter, die         nisse für die Leute nicht mehr erfahrbar
  als Gruppe untereinander solidarisch               uns allen zugutekommen, steht uns bevor.         ist, dass sie alle die Gemeinsamkeit einer
  sind, also z. B. als Arbeiterschaft den                                                             Herrschafts- und Ausbeutungserfahrung
  ­Forderungen des Klassenfeinds als soli­           TO: Aber da vergleichen Sie wieder die           haben. Weil die Ausbeutungs- und Herr­
   darisches Kollektiv gemeinschaftlich              Mittelschicht und sagen, die einen, die am       schaftserfahrung eines Menschen, der
   ­entgegenstehen, ist in dieser Definition         Band stehen, müssen sich jetzt einmal            zu Hause sitzt und als Clickworker eine
    ursprünglich noch nicht einmal enthalten.        damit konfrontieren, dass sie weniger ver­       Seite konfiguriert, oder der sich in der
    Es gibt kein Anrecht des einzelnen               dienen, weil die Krankenschwestern mehr          Forschungs- und Entwicklungsabteilung
    Schuldners gegenüber den Gläubigern              bekommen. Aber wie wäre es denn, wenn            mit der Entwicklung von künstlicher
    darauf, die Last gerecht auf alle Schuld­        man mal darüber spricht, dass es Ende            ­Intelligenz befasst, ganz andere sind.
    ner zu verteilen. Der Gläubiger kann sich        der 1960er noch ein Skandalon war, dass           Der Clickworker sagt vielleicht: »I have
    willkürlich den aussuchen, den er z. B.          ein mittlerer Manager bei VW zwanzigmal           a lovely job.« Die weltweite Tendenz ist,
    für am solventesten hält. Solidarisch in         mehr verdient hat als der Arbeiter. Heute         dass die Polarisierung zwischen den
    unserem heutigen Sinne ist das nicht,            liegt das, glaube ich, eher bei zweihun­          lovely Jobs und den lousy Jobs fortschrei­
    wenn eine_r allein mit seinem Gesamtver­         dertmal mehr. Das stellt doch den Skandal         tet. Das für uns Furchtbare ist, dass die
    mögen für die Schulden der ganzen                dar. Da müsste man doch sagen, diese              lousy Jobs bis in die Mitte aufzufinden
    Gemeinschaft herhalten muss und andere           Manager sollten zur Verantwortung gezo­           sind. Das ist der Punkt. Das Feld, in dem
    womöglich nichts zahlen müssen.                  gen werden für das Gehalt der ­Kranken­-          heute lousy Jobs entstehen, ist der Wohl­
                                                     schwester und der Mann am Band muss               fahrtsstaat: Der Wohlfahrtsstaat an seinen
Niemand kommt allein durch.                          mindestens fünfmal so viel verdienen              Rändern ist ein Produzent von lousy Jobs,
                                                     wie bisher – und die Krankenschwester             denn die lovely Jobs sind woanders.
HB: In solidum heißt einer für alle, alle für        ebenso viel.
einen, und das finde ich als Prinzip immer                                                          TO: Aber dann haben wir doch eher eine
noch ganz klasse. Jede_r Einzelne kommt              HB: Das ist im Gange: Der SAP-Chef             Situation, wo Ausbeutungs- und Herr­
für alle auf – und die Gemeinschaft steht            verdient zum Beispiel ab nächstem Jahr         schaftsverhältnisse wieder mehr zum ­Tragen
für jede einzelne Person ein. Niemand                die Hälfte seines bisherigen Gehalts. Das      kommen als in den 1960er Jahren, als
kommt allein durch. Es sei denn, ich sage,           ist trotzdem noch genug, aber immerhin         der mittlere Verwaltungsangestellte bei
»America first« oder ich interessiere mich           nur noch die Hälfte.                           VW mit dem Manager noch einigermaßen
gar nicht mehr für die anderen, weil sie                                                            konform gehen konnte, weil der nicht nach
mir egal sind. Der Film »Vice« über den                                                             Brasilien flog und ihn nicht ausgebeutet hat.

Interview                                                                                                                                      5
Heute haben wir die Situation, dass die           rung von Solidarität geliefert an den von      TO: Welche Rolle spielt der Begriff der
Leute ständig das Gefühl haben,                   EU-Programmen zur Verkehrsberuhigung           Empathie bei Ihnen und wie ist dieser von
­ausgebeutet zu werden, nicht nur von             finanzierten Roundabouts. Was bedeutet         dem Begriff der Solidarität abzugrenzen?
 den Verhältnissen der Arbeit und der Aus­        das? Was wird daraus? Was hat das mit          Wo führt Empathie zu Solidarität? Sie
 beutung, sondern vor allen Dingen von            den Einzelnen gemacht? Meine Antwort           haben den Begriff der Empathie in Ihrem
 den Verhältnissen des Profits, von den           ist: Existenzialisierung. Sie sagen jetzt,     Buch genau differenziert beschrieben:
 Umverteilungen, was Reichtum in der              naja, das bleibt alles im luftleeren Raum,     »Ich kann mich nie in den anderen hinein­
 Gesellschaft anbelangt. Von daher haben          wenn es keinen Kampf gibt. Das stimmt.         versetzen, sondern immer nur in seine
 wir durch den Neoliberalismus eigentlich                                                        Situation und ich kann mir immer nur
 etwas Verschärftes, was wir Anfang des           TO: Das sagen wir, genau. Sie haben es         ­vorstellen, wie ich mich in der Situation
 20. Jahrhunderts mal hatten, als Vertei­         nur besser formuliert als wir.                  verhalten würde und so verstehen, wie
 lung von Armut und Reichtum. Wenn ich                                                            es ihm geht.«
 mal kurz von mir reden darf, als klassisch       HB: Das finde ich richtig. Nur würde ich        Und in dem Kontext habe ich Ihnen
 sozialdemokratisches Ideal: Ein Arbeiter­        mich glücklicher schätzen, wenn die Linke       erzählt, dass wir ganz am Anfang hier an
 kind geht ans Gymnasium, dann an die             beim Kämpfen gut aufgestellt wäre. Das          der Schaubühne, als ich aus der Baracke
 Universität und studiert in Berlin. Wenn         ist sie aber nicht. Das Problem meiner          kam, Stoffe wie »Shoppen & Ficken«
 ich mir heute die Situation in Berlin            Fragestellung war ja, dass die Solidarität      von Mark Ravenhill gemacht haben. Darin
 ­angucke – ich bin Ende der 1980er hier­         von rechts entwendet worden ist und die         wurde eine Generation abgebildet, die
  hergekommen –: Mit meiner Vita oder             Linken dastehen und nicht so genau              in England ganz klar erlebt hat, was der
  meiner Herkunft könnte ich hier kein            ­wissen, was sie machen sollen – das ist        Thatcherismus angerichtet hat, die kom­
  ­Studium mehr machen.                            die Situation, die mich beschäftigt. Ich       plett angekommen war im Neoliberalismus:
                                                   schreibe Bücher und hoffe, dass irgend­        Sie hatten lousy Jobs, haben Drogen ver­
HB: Ach, das ist doch Unsinn.                      eine Person, die Politik machen will, die      tickt, sich bei irgendwelchen W  ­ erbefirmen
                                                   auch mal liest. Ich verlange allerdings        auf Praktikantenstellen beworben, lebten
TO: Nein! Ich hatte eine Einzimmer­                vom politischen Personal einen anderen,        in einer WG, und haben sich gegenseitig
wohnung, wenn auch ohne Dusche, in                 existenzielleren Einsatz.                      die Bindung und die emotionale Wärme
­Neukölln, für die ich 75 Mark bezahlt habe.                                                      von Familie gegeben, weil sie selbst aus
 Dadurch, dass ich am Wochenende                  FB: In welche Richtung?                         dysfunktionalen Familien kamen. Das war
 ­gearbeitet habe, konnte ich ganz gut leben.                                                     ein relativ erfolgreiches Stück. Deshalb
  Das ist heute in der Form nicht mehr möglich.   Selbst, wenn wir verlieren, muss                dachte ich, wir könnten auf diesem Weg
                                                  diese Rebellion sein!                           weiter­gehen und dass es unser Auftrag
HB: Naja, ich will Ihnen nicht zu nahe                                                            sei, ­weiter die Geschichten der Abgehäng­
­treten, aber die Hälfte eines Jahrgangs          HB: In Richtung auf eine Mehrheit, die mit      ten zu erzählen.
 macht heute Abitur. Als Sie Abitur               Widerstand rechnen muss. Die politische         Das ging aber nicht weiter: Diese Erfah­
 gemacht haben, waren das vielleicht              Versammlung, die mir vorschwebt, ist eine       rung haben wir mit dem Publikum bei
 15 Prozent.                                      der Rebellion gegen eine Welt, in der man       »­Personenkreis 3.1« gemacht, einem
                                                  womöglich nichts ausrichten kann. Und           ­großen Panorama mit 125 Figuren von
TO: Das schon, aber ich spreche jetzt             selbst, wenn wir verlieren, muss diese           Lars Norén. Darin verhandelt er die
davon, nach dem Abitur zum Studieren in           Rebellion sein! Das ist Albert Camus: Die        Geschichten von Menschen, die der Kate­
die große Stadt zu gehen und mich ohne            Rebellion schafft eine Realität, auch wenn       gorie 3.1 angehören, ein administrativer
die Unterstützung meiner Eltern irgendwie         sie völlig sinnlos ist.                          Begriff schwedischer Behörden, der
in dieser Metropole aufzustellen.                                                                  Obdachlose, Arbeitslose, Drogenabhän­
                                                   FB: Aber dann sind wir ja wieder bei            gige, Alkohol­k ranke, psychisch Kranke,
HB: Ich meine nur, das ist ja das Problem,         der Opposition Links gegen Rechts.              also die Aus­gestoßenen der Gesellschafft
das ich im Augenblick mit vielen meiner            Das ist dann ja nicht mehr eine Frage der       umfasst – und das hat beim Publikum
Kollegen und Kolleginnen – natürlich nicht        ­gesamtgesellschaftlichen Solidarität.           nicht funktioniert. Erst als ich dann mit
mit Thomas Ostermeier – habe, die jetzt            Dann dreht es sich tatsächlich wieder um        dem Ibsen-Vehikel davon erzählte, wie
alle ihre Abkunft aus der Arbeiterklasse           einen Kampf zwischen agonistischen              stark die Gesellschaft der Angst, wie
entdecken. In den meisten Fällen waren             Gegengruppen.                                   groß die Furcht des Bürgertums und der
die Eltern jedoch keine Arbeiterinnen oder                                                         Mitte der Gesellschaft davor ist, genau
Arbeiter, sondern kleine Angestellte,             HB: Aber nicht als eine Romantik des Ant­        dorthin abzurutschen, funktionierte es
Gewerbetreibende, Handwerker, also aus            agonistischen wie bei Chantal Mouffe. Mir        auf einmal wieder.
dem Kleinbürgertum.                               gefällt die aktivistische Zersplitterung der     Über Repräsentation lässt sich Empathie
                                                  Linken nach dem Motto »Wir wollen jetzt          und somit Solidarität herstellen. Aber
TO: Das Post-Eribon-Phänomen!                     mal zusammen irgendwie Kampf machen«             wo sind die Abgehängten in den Medien
                                                  nicht. Ich bin für eine gemäßigte, linke         zu finden außer als irgendwelche Freaks
HB: Genau, das Post-Eribon-Phänomen.              Mehrheit, die sich auf einen anspruchsvol­       in Nachmittagsshows?
Ich finde, das ist eine sentimentale Drama­       len Begriff von Solidarität einigt und von       Diese Wirklichkeit findet in den fiktionalen
tisierung an der falschen Stelle. Die             denen, die sie wählen, ein Commitment            Welten im Kino, in Fernseh- oder Netflix-
­Probleme sind ernster. Stichwort: Gelb­          einfordert. Mehr will ich eigentlich im          Serien und im Theater nicht statt – und
 westen. Die haben den Leuten eine Erfah­         Augenblick gar nicht.                            damit sind diese Menschen nicht nur

Interview                                                                                                                                    6
­ olitisch nicht repräsentiert, sondern
p                                             Wie verstehen wir uns oder wie fühlen          ­ insicht, dass der Kampf nur dann
                                                                                             E
auch narrativ nicht. Und das führt zu einer   wir uns miteinander? Empathie ist ethisch      gewonnen werden kann, wenn man den
Erfahrung von Ausgegrenztsein, Nicht-         neutral. Der Peiniger ist genauso empa­        Feind nicht vernichtet. Der Ausgang aus
Verstanden-Sein, Nicht-in-der-Mitte-          thisch wie die Barmherzige.                    der langen Nacht gelingt den Unterworfe­
der-Gesellschaft-Sein. Wie würden Sie                                                        nen und Ignorierten nur dann, wenn
das analysieren?                               TO: Das ist die dunkle Seite der Empathie:    sie sich mit dem Hass auf die anderen
                                               Der Folterer, der sich mit seinem Opfer       auch vom Hass auf sich selbst befreien.
Das Gift des Neoliberalismus ist die           identifizieren kann, und gleichzeitig einen   Mbembe ist sich bewusst, dass das
Idee, man könne sich alleine retten.           sadistischen Lustgewinn hat. Aber es          ­Zeitalter des guten Rechts, das auf
                                               gibt ja auch die helle Seite der Empathie,     Stärke, Ignoranz und gutem Gewissen
HB: Das Gift des Neoliberalismus ist           die vielleicht eine Voraussetzung für          beruht und dessen Höhepunkt der Koloni­
die Idee, man könne sich alleine retten.      ­Solidarität ist.                               alismus ­darstellt, noch lange nicht hinter
­Deshalb macht man sich zu einem Investi­                                                     uns liegt. Aber nur die Solidarität in der
tionsobjekt in jeder Hinsicht: kognitiv,      HB: Nein, das glaube ich nicht. Für mich        einen Welt ermöglicht uns, nicht im
sozial und emotional. Gemeinsam mit           ist Berührbarkeit wichtig. Dass wir uns in      Bestreben, den anderen zu benutzen und
anderen Wissenschaftler_innen habe ich        unserem je einzelnen Schicksal berühren         zu missachten, gemeinsam unterzugehen.
mich lange Zeit mit dem Dienstleistungs­      und auf das ausrichten, was wir teilen.
proletariat beschäftigt. Wir haben diese
Menschen nach ihren Zukunftsplänen            FB: Ich würde Ihrer Ablehnung der Empa­
befragt. Und fast immer war der Plan für      thie widersprechen. Sie haben über
die Zukunft, sich selbstständig zu machen     die Empathie etwas sehr Interessantes
und irgendwo einen kleinen Laden zu           geschrieben, nämlich, dass sie eben nicht
eröffnen. Das heißt, die Idee, sich selber    einfach die Identifikation mit dem anderen
zu retten, besteht selbst hier nicht darin,   Individuum ist, sondern mit der Situation
sich mit anderen zusammenzuschließen.         dieses anderen Individuums. Das heißt,
                                              die Erkenntnis, wie ich mich, wenn ich
TO: Bei Horváth war das ein Kolonial­         in derselben Lage wäre, verhalten würde.
warenladen, wir haben in unserer              Und das ist nicht nur die Arbeitstechnik
Be­arbeitung der »Italienischen Nacht«        des Folterers, sondern auch der Schau­
daraus einen Blumenladen gemacht …            spielerin. Das ist tatsächlich, wie wir
                                              hier arbeiten: Nicht durch Einfühlen in ein
HB: Wir haben Ich-AGler gefragt, wie          ­Individuum mit seiner Biografie, sondern
sie sich die Selbständigkeit vorstellen.       ­tatsächlich zu suchen, wie man sich als
­Beispielsweise träumt ein solounterneh­        diese Figur in dieser Situation verhalten
 merischer Friseur davon, eine Kette aufzu­     würde – egal, was deren Vorgeschichte
 bauen. Da ist mir klar geworden, dass          ist. Dieser Moment der Abstraktion ist
 das Gift des Neoliberalismus in unserem        Mimesis. Und genau dieser Moment der
 neuen Proletariat angekommen ist. Der          Abstraktion, der in der Empathie, und,
 Organisationsgrad ist sehr gering im           über diese hinausgehend, in einem aktiv
 Bereich der einfachen Dienstleistungen,        handelnden Mitgefühl enthalten ist, gibt
 das sind übrigens immer mehr Frauen und        uns auch wiederum die Chance – und
 Personen mit einer Zuwanderungsge­             deshalb machen wir Theater, denn warum
 schichte. Und diese Konstellation führt        sonst würden wir es tun – das Ganze
 dazu, dass diese Botschaft des Neo­            abstrahieren und analysieren zu können.
 liberalismus sich heute bei der weltweit
 wachsenden Gruppe der Solounter­             Solidarität verlangt im Unterschied
 nehmer_innen festgesetzt hat, die für den    zur Empathie ein Tun.
 Imbiss auf der Straße sorgen, die haus­
 haltsnahen Dienstleistungen zur Verfü­       HB: Nur in der Entdeckung der gemein­
 gung stellen oder die Schuhe putzen.         samen Situation kommen wir zur Solidari­
                                              tät. Solidarität verlangt im Unterschied
TO: Und wie ist es mit der Empathie?          zur Empathie ein Tun: Man tut etwas auch
Diesen Begriff verhandeln Sie leiden­         aus Solidarität, selbst wenn man die
schaftlich. Warum?                            andere Person nicht versteht. Ich bin auch
                                              mit Leuten solidarisch, die mir fremd sind,
HB: Ich bin gegen Empathie und für Soli­      die ich vielleicht sogar ablehne. Achille
darität. Empathie ist immer ein Verhältnis    Mbembe spricht von Nelson Mandela,
zwischen zwei Individuen. Solidarität         dem einzigen Führer seines Volkes der
­bildet ein Dreieck. Auf der Suche nach       Kolonisierten, der nicht ermordet worden
 ­Solidarität lautet die Frage: Was ist das   ist. Mandela wollte den Kampf und die
  Gemeinsame, das wir teilen? Und nicht:      Rache und gelangte im Kerker zu der

Interview                                                                                                                              7
Die Zeit
ist über
mich hin-
wegge-
gangen.*

* aus: »Orlando«
»Orlando«
von Virginia Woolf
Regie: Katie Mitchell
In einer Bühnenfassung von Alice Birch
Aus dem Englischen von Gerhild Steinbuch
 Mit: İlknur Bahadır, Philip Dechamps, Cathlen Gawlich, Carolin Haupt, Jenny König, Alessa Llinares, Isabelle Redfern,
­Konrad Singer sowie Nadja Krüger, Sebastian Pircher (Kamera) und Stefan Kessissoglou (Boom Operator)
Mitarbeit Regie: Lily McLeish, Bühne: Alex Eales, Kostüme: Sussie Juhlin-Wallén, Bildgestaltung: Grant Gee,
Video: Ingi Bekk, Mitarbeit Video: Ellie Thompson, Musik und Sounddesign: Melanie Wilson, Dramaturgie: Nils Haarmann,
Licht: Anthony Doran
Premiere am 5. September 2019

de Eine Heldin, die als Held geboren wird, oder ein Held, der
zur Heldin wird – spielt das überhaupt eine Rolle? O­ rlando
durchlebt vier Jahrhunderte britischer und europäischer
Menschheitsgeschichte, lebt am Hofe Elizabeths I., verliebt
sich während eines sagenumwobenen Festes von James I. auf
einem ­gefrorenen Fluss unglücklich in eine russische ­Prinzessin,   en   A heroine who is born a hero; or a hero who becomes
versucht sich als Schriftsteller, wird Gesandter Charles II.         a ­heroine – does it even matter? Orlando experiences four
in Konstantinopel, kehrt als Frau nach Großbritannien zurück,        ­centuries of British and European human history. He lives at
schreibt, gibt Partys im aufgeklärten 18. Jahrhundert, liebt          the court of Elizabeth I; falls tragically in love with a Russian
Männer und Frauen, Prostituierte wie Adlige, und heiratet im          ­princess at the fabled banquet on the frozen River Thames
zugeknöpften Viktorianischen Zeitalter einen Mann. Mann, Frau,         during the reign of James I; dabbles in writing; becomes
muss Orlando sich überhaupt entscheiden? Orlando erlebt,               Charles II’s ambassador to Constantinople. He returns to Great
wie Menschen, Natur, Systeme und Regime sich in einem                  Britain a woman, writes, throws parties in the enlightened 18th
ständigen Wandlungsprozess befinden; Sitten, Gebräuche                 century, loves men and women, both prostitutes and nobles
und Vorstellungen davon, was ein Mann, was eine Frau zu tun            and, in the buttoned-up Victorian era, marries a man. Man or
haben, was richtig und was falsch ist, worüber ein Künstler            woman, does Orlando even have to decide? Orlando witnesses
schreiben soll, worüber eine Frau nachdenken darf, sich ständig        how people, nature, systems and reigns are in a constant state
verändern. Orlando erlebt, wie sich das Wetter wandelt und             of flux; and how customs, habits and ideas of how a man or
das politische Klima, wie sich Begehren und Geschlechterrollen         a woman should behave are constantly being modified, as well
entwickeln. Orlando schaut auf Menschen, die für Natur halten,         as what is right and what is wrong, what an artist should write
was in Wahrheit doch menschengemacht ist.                              about and what a woman is allowed to think about. Orlando
                                                                       experiences how the weather and the political climate change,
Virginia Woolf schrieb mit ihrer Biografie von Orlando eine            how desire and gender roles develop. Orlando sees people who
Lebensbeschreibung, die alle starren Kategorien mit Leichtigkeit       take for nature what is actually man-made.
und künstlerischer Freiheit unterläuft, neu mit Bedeutung auf-
lädt oder als fluide vorführt. Spielerisch verwebt sie Leben und     In her biography of Orlando, Virginia Woolf describes a life that
Kunst, Realität und Fiktion miteinander zu einem visionären Werk.    undermines every rigid category with ease and artistic freedom,
Sie schuf eine_n der schillerndsten Held_innen der Literatur­-       imbuing them with new meaning or presenting them as fluid.
geschichte, deren Überfülle an Identitäten jedwede enge              She playfully interweaves life and art, reality and fiction into a
­Zuschreibung und starre Kategorisierung sprengt.                    visionary work and creates one of literary history’s most ­dazzling
                                                                     heroines whose overabundance of identities leapfrogs any
Katie Mitchell und Alice Birch untersuchen in einer Inszenierung,    ­narrow definition or rigid categorisation.
die Bühnengeschehen und Live-Video miteinander verbindet,
Orlandos queere Reise durch die verschiedenen Jahrhunderte           In a production combining performance on stage with live video,
patriarchaler Menschheitsgeschichte.                                 Katie Mitchell and Alice Birch explore Orlando’s queer journey
                                                                     through various centuries of the patriarchal history of humankind.
Koproduktion mit dem Odéon – Théâtre de l’Europe, Paris, den
Teatros del Canal Madrid, dem Göteborgs Stadsteater/Backa            Co-production with Odéon – Théâtre de l’Europe, Paris, ­
Teater und dem São Luiz Teatro Municipal, Lissabon. In Koope­        Teatros del Canal Madrid, Göteborgs Stadsteater/Backa Teater
ration mit dem europäischen Theaternetzwerk PROSPERO.                and São Luiz Teatro Municipal, Lisbon. In cooperation with the
Gefördert durch die Freunde der Schaubühne am Lehniner               ­European Theatre Network PROSPERO.
Platz e. V.                                                           Supported by the Friends of Schaubühne Berlin.

Premiere                                                                                                                               9
Morgen
beginnt
der
Ernst!*

* aus: »Jugend ohne Gott«
»Jugend ohne Gott«
von Ödön von Horváth
Regie: Thomas Ostermeier
In einer Fassung von Thomas Ostermeier und Florian Borchmeyer
Mit: Bernardo Arias Porras, Damir Avdic, Veronika Bachfischer, Moritz Gottwald, Jörg Hartmann, Laurenz Laufenberg,
Alina Stiegler, Lukas Turtur
Bühne: Jan Pappelbaum, Kostüme: Angelika Götz, Video: Sébastien Dupouey, Musik: Nils Ostendorf, Dramaturgie: Florian
Borchmeyer, Licht: Michael Gööck
Premiere bei den Salzburger Festspielen am 28. Juli 2019, Premiere an der Schaubühne am 7. September 2019

de    Alltag an einem Provinzgymnasium in totalitären Zeiten.
Die rechtsextreme Partei der »reichen Plebejer« hat die Macht
übernommen und »zieht sich in den Turm der Diktatur zurück«.             en Everyday life in a provincial grammar school in t­otalitarian
Die Bürger_innen werden auf einen kommenden Krieg                        times. The far-right »rich Plebeians« party has taken power
­ein­geschworen, die Medien gleichgeschaltet, die L     ­ ehrpläne       and »withdraws into the tower of dictatorship«. The citizens are
 ­nationalistisch umgeschrieben. Mit einem Mal soll der Geschichts­      being committed to a looming war, the media brought into line
  lehrer der Schule eine chauvinistische Ideologie lehren, die er        and the curriculum is being rewritten according to nationalistic
  zwar ablehnt, aus Angst und Antriebslosigkeit aber nicht kritisiert.   principles. The school’s history teacher is suddenly obliged
  Als der Lehrer es dennoch wagt, die hetzerisch-rassistischen           to teach a chauvinistic ideology which he rejects but which, out
   Ausfälle in einem Aufsatz des Schülers N zu bemängeln, f­allen        of fear and apathy, he does not criticise. When he nevertheless
   die Schüler- und die Elternschaft über ihn her und fordern Dis­       dares to deprecate the inflammatorily racist insults in pupil
  ziplinarmaßnahmen wegen »Humanitätsduselei« und »­Sabotage             N’s essay, the student body and parents pounce on him and
  am Vaterland«. Bei einer Klassenfahrt – de facto einer militä­         demand disciplinary action to be taken against him for his
  rischen Kampfausbildung mit bewaffneten Geländeübungen –               »humanitarian sentimentality« and »sabotage of the homeland«.
  kommt die täglich antrainierte Gewalt schließlich offen zum            On a school trip – a de facto military combat training completed
  ­Ausbruch: in Form eines rätsel­haften Mordes unter den Schülern.      with armed field exercises – the daily rehearsed violence finally
   Neid, Konkurrenzkampf und eine heimliche Affäre des Schülers          comes to a head: in the form of a mysterious murder amongst
   Z mit Eva, der Anführerin einer rebellischen Bande von Gesetz­        the student body. Envy, rivalry and pupil Z’s secret affair with
   losen, scheinen als G­ ründe für die Tat zusammenzuspielen.           Eva, leader of a rebellious gang of outlaws, all seem to play
   Der Gerichtsprozess, bei dem Richter wie Staatsanwaltschaft           a part in the motivation behind the crime. The trial, in which the
   die Falschen vorverurteilen, wirft kein Licht auf den wahren          judge and the state prosecutor prejudge the wrong people, fails
   Täter. Umso mehr dafür auf die Gesellschaft, die diesen hervor­       to shed a light on the true perpetrator. It does, however, unmask
   gebracht hat: ein Panorama aus Rücksichtslosigkeit und Kälte,         the society that produced him: a panorama of ruthlessness
   dessen bürgerliche Profiteure das reibungslose Funktionieren          and inhumanity whose bourgeois profiteers have ensured the
   totalitärer Strukturen sicher­gestellt haben.                         smooth functioning of a totalitarian system.

Zum zweiten Mal in kurzer Folge – nach dem Volksstück                    With his dramatization of the novel »Youth without God«, this is
­» Italienische Nacht« von 1931 – widmet sich Thomas Ostermeier          the second time in quick succession that Thomas Ostermeier –
 mit seiner Dramatisierung des Romans »Jugend ohne Gott«                 following the 1931 folk play »Italian Night« – is focusing on
 einem Text von Ödön von Horváth aus den 1930er Jahren, der              a text from the 1930s by Ödön von Horváth which deals with
 den Zusammenbruch von Demokratie und Zivilgesellschaft                  the collapse of democracy and civil society. Published in
 zum Thema hat. In einem Exilverlag in Amsterdam 1937 auf                German in 1937 by an exiled publishing house in Amsterdam,
 Deutsch veröffentlicht, wurde »Jugend ohne Gott« schlagartig            »Youth without God« became an overnight international sen­
 international berühmt: Als spiegelhafte Darstellung der ge­             sation as the mirror image depiction of the social mechanisms
 sellschaftlichen Mechanismen unter der N­ S-Diktatur. Dennoch           under the Nazi dictatorship. However, the text does not explicitly
 ­werden im Text weder Zeit noch Ort noch Machthabende                   name the time, place nor authorities in question. This allows
  explizit benannt. So weist der Roman zugleich parabelartig über        the novel simultaneously to become a parable going beyond its
  seinen historischen Kontext hinaus.                                    historical context.

Koproduktion mit den Salzburger Festspielen.                             Co-production with the Salzburg Festival.

Premiere                                                                                                                                 11
Warum,
wieso,
mit wel-
chem
Recht?*
* aus: »Amphitryon«
»Amphitryon«
von Molière
Regie und Bühne: Herbert Fritsch
Aus dem Französischen von Arthur Luther
Mit: Florian Anderer, Werner Eng, Annika Meier, Joachim Meyerhoff, Bastian Reiber, Carol Schuler, Axel Wandtke
sowie Ingo Günther, Taiko Saito (Musiker_innen)
Kostüme: Victoria Behr, Musik: Ingo Günther, Dramaturgie: Bettina Ehrlich, Licht: Erich Schneider
Premiere Mitte Oktober 2019

  de »Wer bin ich? Ich muss doch schließlich auch was sein.«
Stellen Sie sich vor, Sie begegnen sich selbst. Sie kehren heim,
wollen eigentlich nur vom Sieg Ihres Herrn über die Athener
berichten und werden von jemandem, der behauptet, Sie selbst
zu sein, brüsk vor die Tür gesetzt. Stellen Sie sich weiter vor,   en »Who am I? After all, I too must be something.«
Sie kommen nach Hause und müssen feststellen, dass Sie             Imagine meeting yourself. You return home just wanting to
­betrogen worden sind: Jemand hat Ihre Gestalt angenommen          report your master’s victory over the Athenians and are
 und die Nacht mit dem Menschen verbracht, den Sie lieben.         unceremoniously thrown out by someone claiming to be you.
 ­Malen Sie sich aus, diese andere Version von Ihnen wäre eine     Imagine, furthermore, that you arrive at your house and realise
  göttliche Version Ihres Selbst und alle hielten diese für das    you’ve been cuckolded: someone has taken on your appearance
  Original und Sie selbst nur für die schlechtere Kopie. Stellen   and spent the night with the one you love. Envisage that this
  Sie sich vor, niemand wäre sich mehr sicher, wer Sie sind.       other version of yourself is a god pretending to be you and
  Vor allem Sie selbst nicht. Die Identitätskrise wäre perfekt.    everyone believes them to be the original and you to be just an
  Und Sie mitten drin.                                             inferior copy. Imagine that nobody is sure anymore of who you
                                                                   are. Above all, yourself. A perfect identity crisis. And you’re
»Amphitryon«, 1668 in Paris uraufgeführt, ist das einzige Stück    caught in the middle of it.
Molières, in dem er sich einer Geschichte der antiken Mythologie
bedient. Die bitterböse Komödie, in welcher der Gott Jupiter       »Amphitryon«, which premiered in Paris in 1668, is Molière’s
in die Rolle des thebanischen Feldherren Amphitryon schlüpft,      only play based on a story from ancient mythology. This sardonic
um in dessen Abwesenheit seine Ehefrau Alkmene zu verführen,       comedy, in which the god Jupiter takes on the guise of Theban
ist ein raffiniertes Spiel um Schein und Sein und tragische        general Amphitryon to seduce the latter’s wife, Alcmene, in
­Reflexion existentieller Verunsicherung. Ein gefundener Stoff     his absence, is a subtle play about appearances and reality
 für Herbert Fritsch, der sich in seiner vierten Inszenierung      and provides a tragic reflection on existential insecurity. Fitting
 an der Schaubühne mitten hineinwirft in das Durcheinander der     material for Herbert Fritsch who, in his fourth production for
 Identitäten: Was, wenn wir nicht so unverwechselbar wären,        theSchaubühne, dives into the confusion of identities: what
 wie wir meinen?                                                   if we’re not as unique as we think we are?

Premiere                                                                                                                           13
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