Soziale Sicherheit 1/2013 - Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)

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Schwerpunkt
Soziale Sicherheit – gestern und morgen

Familie, Generationen und Gesellschaft
Einbezug der Selbstständigerwerbenden ins Familienzulagengesetz
Programm Jugend und Gewalt

Invalidenversicherung
ConCerto – Pilotprojekt zur Eingliederung

                         Soziale Sicherheit
                                                      CHSS1/2013
inhalt                     Inhalt   CHSS                                    1/2013 Januar / Februar

       Inhaltsverzeichnis Soziale Sicherheit CHSS 1/2013

       Editorial                                                      1    Familie, Generationen und Gesellschaft
       Chronik Dezember 2012 / Januar 2013                            2    Einbezug der Selbstständigerwerbenden ins Familien-
                                                                           zulagengesetz (Maia Jaggi, BSV)                              27
                                                                           Impulsprogramms für familienergänzende Kinderbetreuung –
                                                                           Prioritätenordnung (Cornelia Louis, BSV)                 31
       Schwerpunkt
                                                                           Programm Jugend und Gewalt (Liliane Galley)                  34
       Soziale Sicherheit – gestern und morgen
                                                                           Entwicklung des Gewaltverhaltens unter jungen Menschen
       Reform der Altersvorsorge 2020                                      in den letzten 20 Jahren (Dr. Denis Ribeaud, ETH Zürich)     35
       (Sibel Oezen und Bernadette Deplazes, BSV)                     5
       Handlungsbedarf und Handlungsfelder in der sozialen
       Krankenversicherung (Marie-Thérèse Furrer, BAG)               12    Invalidenversicherung
       Dezentral und fragmentiert: die Geschichte der sozialen             ConCerto – Pilotprojekt zur Eingliederung (Eva Lang, BSV)    46
       Sicherheit seit Mitte des 19. Jahrhunderts                          Votum der Initiantin des Projekts ConCerto
       (Prof. Martin Lengwiler, Universität Basel)                   16    (Susanne Buri, Swisscom AG)                                  50
       Bundesamt für Sozialversicherung
       (Dr. Urs Germann, Historiker, Universität Basel)              20    Parlament
       Unsicheres Alter, gesichertes Alter?                                Parlamentarische Vorstösse                                   51
       (Matthieu Leimgruber, Universität Genf)                       21
                                                                           Gesetzgebung (Vorlagen des Bundesrats)                       55
       Krankenversicherung: der lange Schatten des Föderalismus
       (Prof. Martin Lengwiler, Universität Basel)                   24
                                                                           Daten und Fakten
                                                                           Sozialversicherungsstatistik                                 56
                                                                           Agenda (Tagungen, Seminare, Lehrgänge)                       58
                                                                           Literatur                                                    59

                                                 .ch
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editorial                               Editorial

Gewachsener Sozialstaat

                                                                    14 Jahre. Heute leben Männer im Schnitt nach dem Errei-
                                                                    chen des Rentenalters noch 19, Frauen 22 Jahre lang; da-
                                                                    mals beliefen sich die Gesamtausgaben der Sozialversi-
                                                                    cherungen auf 1,8 Milliarden Franken, heute sind es über
                                                                    153 Milliarden; 1948 entsprach dies 9,6 Prozent des BIP,
                                                                    heute sind es 25,8 Prozent.
                                                                       Die Schweiz ist ein moderner und vorbildlicher Sozial-
                                                                    staat geworden. Die Sozialpolitik bildet das Fundament
                                                                    für den sozialen Frieden. Dieser ermöglicht die Entwick-
                                                                    lung unserer Wirtschaft, deren Stabilität die Niederlassung
                             Jürg Brechbühl                         ausländischer Firmen fördert, und garantiert den Einwoh-
                             Direktor des Bundesamtes               nerinnen und Einwohnern eine hohe Sicherheit gegenüber
                             für Sozialversicherungen               den Schicksalsschlägen des Lebens. Damit sie den Rück-
                                                                    halt, den sie in der Bevölkerung geniessen, behalten, müs-
                                                                    sen die Sozialversicherungen gestern wie heute im Ein-
   Das BSV ist hundert Jahre alt. Kein ungewöhnliches Alter         klang mit den Veränderungen der Umwelt stehen. Indivi-
   für eine öffentliche Einrichtung, aber ein Jubiläum, das aus     dualisierung, neue Familienstrukturen, höhere Lebens­
   zwei Gründen erwähnenswert ist. Zum einen war das BSV            erwartung, Globalisierung und Mobilität: Alle diese Ent-
   die erste Bundesstelle, die vom Parlament als Bundesamt          wicklungen bergen ebenso viele Chancen wie Herausfor-
   geschaffen wurde. Zum anderen – und das ist von grösse-          derungen und schaffen sowohl neue Möglichkeiten als
   rer Bedeutung – ermöglichte seine Gründung die Umset-            auch neue Bedürfnisse.
   zung der Krankenversicherung und anschliessend die                  Um legitim zu sein, muss jede Gesetzesanpassung und
   Entwicklung des schweizerischen Sozialversicherungssys-          jede Systemreform transparent und verständlich sein und
   tems. Zum Kranken- und Unfallversicherungsgesetz kamen           auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Leistungen
   nach und nach die AHV, die Familienzulagen in der Land-          und deren Finanzierbarkeit achten. In diesem Sinn sind
   wirtschaft, der Erwerbsersatz, die Invalidenversicherung,        wir auch die Reform der Altersvorsorge angegangen. Der
   die Ergänzungsleistungen, die Arbeitslosenversicherung,          auf dem sogenannten 3-Säulen-System gründende Schutz
   die berufliche Vorsorge und schliesslich die Mutterschafts-      ruht auf einer festen Basis, die solid bleiben muss, damit
   entschädigung und die Familienzulagen hinzu.                     jeder und jede von uns im Alter davon profitieren kann.
     Diese Ausweitung des Versicherungsschutzes auf weite-          Die Versicherten müssen wissen, wie viel sie bezahlen und
   re Risiken beruhte nicht auf einem einmaligen umfassen-          auf welche Leistungen sie Anspruch haben. Die Finanzie-
   den Konzept, sondern erfolgte – wie bei einem Puzzle –           rung bleibt eine wichtige Frage, die es zu diskutieren gilt,
   Stück für Stück, indem die Erfahrungen aus den bestehen-         und zwar jenseits des Links-rechts-Schemas. Denn die
   den Einrichtungen genutzt und die Grundsätze des Föde-           Rechnungen der Sozialversicherungen werden sich nicht
   ralismus respektiert wurden. Bei jeder Anpassung musste          wie von Zauberhand ausgleichen, sondern nur mit dem
   der Gesetzgeber den gesellschaftlichen Wandel, die Verän-        Willen aller Akteure, der nächsten Generation ein solides
   derungen der Arbeitswelt, die demografische und die wirt-        System der sozialen Sicherheit zu übergeben.
   schaftliche Entwicklung und auch die Fortschritte der               Dieses Jahr feiert die Zeitschrift «Soziale Sicherheit» ihr
   Medizin berücksichtigen und dabei die Kosten und die             20-jähriges-Bestehen. Wir konnten Sie darin regelmässig
   soziale Last unter Kontrolle behalten. Erinnern wir uns:         über die Entwicklung der sozialen Sicherheit, der Gesetz-
   Beim Inkrafttreten der AHV 1948 lebten in der Schweiz            gebung und der Herausforderungen informieren und
   4,6 Millionen Menschen, heute sind es knapp 8 Millionen;         werden dies auch in Zukunft tun. Im Schwerpunkt dieser
   430 000 davon waren im AHV-Alter, heute sind es                  Ausgabe wird die Entwicklung der Sozialversicherungen
   1,4 Millionen; die Lebenserwartung der 65-jährigen Män-          in der Schweiz nachgezeichnet. Wir hoffen, dass wir damit
   ner betrug 12 Jahre, jene der Frauen im gleichen Alter           Ihr Interesse wecken können.

                                                                                             Soziale Sicherheit CHSS 1/2013    1
chronik                         Chronik      Dezember 2012 / Januar 2013

                                           auf den 1. Januar 2013 an die Lohn-       in Kraft getretene Gesetz grundsätz­
Sozialversicherungen                       und Preisentwicklung anzupassen.          lich bewährt, sein Beitrag zur Ein­
                                           Damit kommt er der gesetzlichen           dämmung von Schwarzarbeit aber
Eine von vier Personen mit Behin-          Verpflichtung nach, mit der AHV/IV-       noch verbessert werden kann. Dies
derungen beanspruchte 2011 bei             Rentenanpassung Schritt zu halten.        liegt im Wesentlichen daran, dass das
der Arbeit eine Hilfsmassnahme.               Die Renten der noch nicht im           Gesetz für wichtige Fragen einen In­
   Zwei von drei Personen mit Behin­       AHV-Alter stehenden Versicherten          terpretationsspielraum offenlässt, der
derungen gehen einer Erwerbstätig­         der MV sowie jene der Ehegatten und       zu Unklarheiten beim Vollzug führt.
keit nach. Ein Viertel nimmt eine          Waisen von verstorbenen MV-Versi­         Im Weiteren lässt sich Schwarzarbeit
Hilfsmassnahme in Anspruch, die es         cherten, die am 31. Dezember 2012         mit den aktuellen Kompetenzen der
ihnen ermöglicht, zu arbeiten. Drei        das AHV-Rentenalter noch nicht er­        Kontrolleure sowie aufgrund der ge­
von vier Personen mit Behinderungen        reicht haben, werden um 2,2 Prozent       genwärtigen Ausgestaltung der De­
geben an, aufgrund ihrer gesundheit­       erhöht. Dies, falls die Rente im Jahr     klarationspflichten der Arbeitgeber
lichen Probleme bei der Erwerbs­           2010 oder früher festgesetzt wurde.       schwer nachweisen.
tätigkeit eingeschränkt zu sein. Am        Renten mit Spruchjahr 2011 werden            Nach Auffassung des Bundesrats
meisten verbreitet sind Einschrän­         um 1,4 Prozent erhöht.                    besteht Handlungsbedarf. Er hat das
kungen bei der Art der Arbeit sowie           Die übrigen Renten, darunter auch      Eidgenössische Departement für
bezüglich des Arbeitsumfangs. Diese        jene der Versicherten im AHV-Alter,       Wirtschaft, Bildung und Forschung
Ergebnisse gehen aus einem vom             werden aufgrund des zu schwachen          (WBF) sowie die betroffenen Bundes­
Bundesamt für Statistik (BFS) durch­       Anstiegs des Landesindexes der Kon­       ämter daher beauftragt, die Verbesse­
geführten Erhebungsmodul für das           sumentenpreise im fraglichen Zeit­        rung des Gesetzesvollzugs sowie eine
Jahr 2011 über die Beschäftigung von       raum nicht angepasst. Diese Renten        Gesetzes- oder Verordnungsrevision
Menschen mit Behinderungen hervor.         werden bei der nächsten Anpassung         bis spätestens Ende 2014 zu prüfen.
                                           überprüft. Der Höchstbetrag des ver­         Auf der Gesetzes- beziehungsweise
Finanzielle Lage der Vorsorge-             sicherten Jahresverdienstes für die       Verordnungsebene soll namentlich
einrichtungen im Jahr 2011                 Ermittlung der Taggelder und der          untersucht werden, wie der Kontroll-
   Der jährliche Bericht über die finan­   Renten beträgt 149 423 Franken. Die       auftrag der Kontrollorgane und
zielle Lage der Vorsorgeeinrichtungen      Anpassung der Leistungen der Mili­        die Zusammenarbeit zwischen den
zeigt per Ende 2011, dass sich die Si­     tärversicherung führt jährlich zu         Behörden klarer definiert werden
tuation gegenüber dem Vorjahr ver­         Mehrkosten für den Bund in der Hö­        können. Im Weiteren sollen eine Er­
schlechtert hat: Der Anteil der Pensi­     he von etwa 0,82 Millionen Franken.       weiterung der Kompetenzen der Kon­
onskassen in Unterdeckung hat sich                                                   trollorgane, eine Anpassung der zu
deutlich erhöht. Aufgrund der aktuell      Die Renten der obligatorischen            kontrollierenden Deklarationspflich­
guten Anlageerträge ist indes damit zu     Unfallversicherung bleiben                ten sowie eine Optimierung des Straf-
rechnen, dass sich bis Ende 2012 die       unverändert                               und Sanktionssystems geprüft und
Unterdeckungen der Vorsorgeeinrich­           Die Invaliden- und Hinterlassenen­     Grundlagen für einen einheitlicheren
tungen wieder verringern werden. Zur       renten der obligatorischen Unfallver­     Vollzug durch die Kantone ausgear­
Sicherung der Kontinuität präsentiert      sicherung bleiben per 1. Januar 2013      beitet werden. Schliesslich soll bei
die Oberaufsichtskommission Beruf­         unverändert. Die Teuerung ist seit der    dem zur Abrechnung geringfügiger
liche Vorsorge (OAK BV) in Zusam­          letzten Anpassung im Januar 2009          Lohnvolumen geschaffenen verein­
menarbeit mit dem Bundesamt für            nicht gestiegen und der Index der         fachten Verfahren geprüft werden,
Sozialversicherungen (BSV) nochmals        Konsumentenpreise ist seit 2008 sogar     wie die steuerliche Belastung gesenkt
die Ergebnisse dieser jährlichen Erhe­     leicht rückläufig.                        werden kann. Auf der Vollzugsebene
bung. Ab 2013 wird diese nun aber auf         Seit der Änderung des Bundesge­        sollen die Ausbildung der Inspektoren
eine aktuellere und aussagekräftige        setzes über die Unfallversicherung        und die Zusammenarbeit mit den
Bewertungsgrundlage gestellt. Insbe­       (UVG) von 1991 werden die Renten          Partnerbehörden verbessert werden.
sondere soll mit der Erhebung des          der obligatorischen Unfallversiche­
technischen Zinssatzes eine effektive      rung gleichzeitig mit den AHV-Ren­
Vergleichbarkeit der einzelnen De­         ten an die Teuerung angepasst.
ckungsgrade erreicht werden.                                                         Sozialhilfe
                                           Bilanz über die Umsetzung des
Anpassung der Renten                       Gesetzes gegen die Schwarzarbeit          Änderungen und Ergänzungen der
der Militärversicherung                      Die Evaluation des Bundesgesetzes       SKOS-Richtlinien per 1. Januar 2013
 Der Bundesrat hat beschlossen, die        über die Schwarzarbeit (BGSA) er­           Der Vorstand der SKOS hat im Jahr
Renten der Militärversicherung (MV)        gab, dass sich dieses am 1. Januar 2008   2012 diverse Anpassungen und Er­

2    Soziale Sicherheit CHSS 1/2013
Chronik      Dezember 2012 / Januar 2013

gänzungen der SKOS-Richtlinien              Die Mitgliedstaaten verabschiede­      menhalt zu wahren, insbesondere
beschlossen. Die SKOS empfiehlt den      ten praktisch den gesamten Entwurf        vor dem Hintergrund der aktuellen
Kantonen, die Änderungen per 1. Ja­      der Schlusserklärung. Sie erklären        Krise. Zwei Unterthemen standen
nuar 2013 in Kraft zu setzen. So wur­    sich bereit, die Umsetzung innovati­      im Zentrum der Debatten: Schutz
de beispielsweise die bisherige Pra­     ver Jugendpolitiken zu fördern. Fol­      und Stärkung der Rolle sozial schwa­
xishilfe (H.10) gekürzt und auf die      gende Ziele stehen dabei im Vorder­       cher Gruppen, insbesondere in Kri­
neuen Normen des Kapitels A.5.2 der      grund: den Jugendlichen den Zugang        senzeiten, und soziale Nachhaltigkeit
Richtlinien abgestimmt. Die neue         zu Rechten erleichtern, die Selbstbe­     durch Solidarität zwischen den Ge­
Praxishilfe führt zu einer besseren      stimmung von Jugendlichen und die         nerationen. Im Anschluss an die
Unterscheidung zwischen der Berech­      volle Teilhabe an der Gesellschaft        Konferenz verabschiedeten die Mi­
nung des Konkubinatsbeitrags und         fördern, Jugendliche besser für beste­    nister eine Erklärung. Darin ver­
der Berechnung der Entschädigung         hende Rechte sensibilisieren. Uneinig     pflichten sie sich insbesondere, eine
für Haushaltführung. Die vollständi­     war man sich bei der Frage, ob die        kohärente Politik für den sozialen
ge Übersicht über die Änderungen         Diskriminierung gegenüber Jugend­         Zusammenhalt auf nationaler Ebene
sowie Informationen zur Teuerung         lichen aufgrund von «sexueller Ori­       zu fördern und die Zusammenarbeit
(siehe SKOS-News 08/2012) sind auf       entierung» und «Geschlechteridenti­       in diesem Bereich im Europarat wei­
der Website der SKOS publiziert.         tät» in die Erklärung aufgenommen         terzuführen. Philippe Perrenoud,
                                         werden soll. Dies führte dazu, dass die   Berner Regierungsrat, führte die
                                         Schlusserklärung schliesslich nicht       Schweizer Delegation an.
                                         verabschiedet worden ist! Seit Beste­     Internetseite der Konferenz:
International                            hen der Konferenz ist dies noch nie       http://www.socialcohesionistanbul.com
                                         vorgekommen.
9. Konferenz der Jugendminister             Peter Gomm, Solothurner Regie­
des Europarates in Sankt                 rungsrat und Präsident der Sozial­
Petersburg.                              direktorenkonferenz SODK, führte          Initiativen
   252 Teilnehmende, darunter ein        die Schweizer Delegation an.                 Die eidgenössische Volksinitiative
Dutzend Minister sowie 90 Jugend­                                                  «Familien stärken! Steuerfreie Kin­
vertreter, nahmen Ende September         Eine sichere Zukunft                      der- und Ausbildungszulagen» ist for­
an der Konferenz teil. Das Schwer­       für alle schaffen                         mell zustande gekommen. Die Prü­
punktthema war der «Zugang von              Die zweite Konferenz der Minister      fung der Unterschriftenlisten durch
jungen Menschen zu Rechten», die         für sozialen Zusammenhalt des Eu­         die Bundeskanzlei hat ergeben, dass
soziale Inklusion von jungen Men­        roparates fand am 11. und 12. Okto­       von insgesamt 119 590 eingereichten
schen, Demokratie und Teilhabe so­       ber 2012 in Istanbul statt. Das Thema     Unterschriften 118 425 gültig sind.
wie das Zusammenleben in pluralis­       lautete: «Eine sichere Zukunft für           Die eidgenössische Volksinitiative
tischen Gesellschaften. Im Vorfeld der   alle schaffen». Die Veranstaltung zog     «Für Ehe und Familie – gegen die
Konferenz trafen sich die Jugendli­      Bilanz über die Umsetzung des             Heiratsstrafe» ist formell zustande
chen an einem Jugendanlass. Dort         «Neuen Strategie- und Aktions­            gekommen. Die Prüfung der Unter­
konnten sie ihre Meinung äussern und     plans» des Europarates für den so­        schriftenlisten durch die Bundeskanz­
den Ministern ihre Schlussfolgerun­      zialen Zusammenhalt und hob be­           lei hat ergeben, dass von insgesamt
gen zum Zugang von jungen Men­           währte Praktiken hervor, um so ein        121 214 eingereichten Unterschriften
schen zu Rechten unterbreiten.           hohes Niveau an sozialem Zusam­           120 161 gültig sind.

                                                                                       Soziale Sicherheit CHSS 1/2013     3
schwerpunkt                                                      Schwerpunkt            Soziale Sicherheit – gestern und morgen

Soziale Sicherheit – gestern und morgen

Bundesrat Hans-Peter Tschudi (SP) auf einem Bundesrats-Reisli 1970 beim Überwinden eines Hindernisses, zusammen mit seinen Kollegen   Foto: Keystone
Ernst Brugger, Nello Celio, Bundeskanzler Huber und Pierre Graber (v.l.n.r.).

            4      Soziale Sicherheit CHSS 1/2013
schwerpunkt                                             Schwerpunkt   Soziale Sicherheit – gestern und morgen

Reform der Altersvorsorge 2020

Die demografischen Veränderungen und die wirt-                        seit 1985 obligatorisch ist (Bundesgesetz über die beruf­
schaftliche Entwicklung konfrontieren die schweizeri-                 liche Vorsorge; BVG). Mit den Leistungen aus beiden
                                                                      Säulen soll die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung
sche Altersvorsorge mit grossen Herausforderungen.
                                                                      in angemessener Weise ermöglicht werden. Die dritte
Der Bundesrat hat daher Ende November 2012 die                        Säule beinhaltet das freiwillige, steuerlich privilegierte
Leitlinien für eine zukunftsfähige Altersvorsorge                     Sparen. Die Schweiz hat mit diesem Dreisäulenkonzept
definiert. Er verfolgt dabei einen gesamtheitlichen                   ein sehr gut ausgebautes Vorsorgesystem realisiert, das
Ansatz, bei dem die Leistungen der ersten und der                     es auch für künftige Generationen zu sichern gilt.
zweiten Säule gemeinsam betrachtet und aufeinander
abgestimmt werden. Im Zentrum stehen die Bedürfnis-                   Demografische und wirtschaftliche
se der Menschen. Sie müssen darauf vertrauen dürfen,                  Entwicklung als Herausforderung
dass ihre Renten nicht sinken und nachhaltig finan-                   für die Altersvorsorge
ziert sind. Der Bundesrat hat das Eidgenössische
                                                                         Das Gesamtsystem der Altersvorsorge unterliegt den
Departement des Innern (EDI) beauftragt, auf der
                                                                      Folgen der demografischen und wirtschaftlichen Ent­
Basis der Leitlinien die Eckwerte der Reform «Alters-                 wicklungen, wobei sich die Auswirkungen in der ersten
vorsorge 2020» auszuarbeiten und bis im nächsten                      und zweiten Säule voneinander unterscheiden.
Sommer dem Bundesrat vorzulegen.                                         Die demografische Entwicklung ist geprägt durch die
                                                                      Verringerung der Kinderzahl je Frau und die Verlänge­
                                                                      rung der Lebenserwartung. In der ersten Säule setzt das
                                                                      Umlageverfahren ein Gleichgewicht zwischen den lau­
                                                                      fenden Einnahmen und Ausgaben voraus. Dieses Gleich­
                                                                      gewicht wird durch die demografische Entwicklung in­
                                                                      stabil, weil sich das Verhältnis der beitragszahlenden
                                                                      Aktiven und rentenbeziehenden Pensionierten ver­
                                                                      schlechtert. Das Kapitaldeckungsverfahren in der zweiten
                                                                      Säule hingegen ist von der längeren Rentenbezugsdauer
                                                                      betroffen, das heisst, die individuellen Guthaben müssen
                                                                      auf einen längeren Zeitraum verteilt werden.
                                                                         Eine massgebende Rolle für die Altersvorsorge spielt
                                                                      auch die wirtschaftliche Entwicklung. Von einer guten
                                                                      wirtschaftlichen Entwicklung profitiert die AHV, weil
                                                                      eine solche in der Regel zu einer Erhöhung der Lohn­
                                                                      summe führt. Langfristig dürfte entsprechend zwar auch
                                                                      die Rentensumme steigen. Weil jedoch die Renten auf­
     Sibel Oezen                        Bernadette Deplazes           grund des Mischindexes (arithmetisches Mittel aus Lohn­
     Bundesamt für Sozialversicherungen                               index und Preisindex) lediglich um die Hälfte der Real­
                                                                      lohnentwicklung steigen, wirkt sich ein hohes Lohnniveau
                                                                      positiv auf die Bildung von Reserven im AHV-Fonds aus.
        Die drei Säulen des schweizerischen Sozialver-                Für die berufliche Vorsorge gilt dieser konjunkturelle
        sicherungssystems – ein bewährtes Konzept                     Zusammenhang grundsätzlich nicht. Einerseits wird sie
                                                                      vom Lohnsummen- bzw. vom Beschäftigungswachstum
          Eingeführt im Jahr 1948 und seither schrittweise ver­       nur am Rande beeinflusst, andererseits ist die Wirkung
        bessert, gehört die AHV als erste Säule zum wichtigsten       der konjunkturellen Entwicklung auf die Anlagerenditen
        sozialen Fundament unseres Landes. Sie hat zum Ziel,          ungewiss. Entscheidend für die Nachhaltigkeit der beruf­
        zusammen mit den Ergänzungsleistungen den Existenz­           lichen Vorsorge ist, dass langfristig unabhängig von der
        bedarf angemessen zu decken. Ergänzt wird die AHV             Konjunktur eine Rendite erreicht wird, die höher ist als
        durch die zweite Säule, d.h. die berufliche Vorsorge, die     das Lohnwachstum und die Inflation.

                                                                                              Soziale Sicherheit CHSS 1/2013   5
Schwerpunkt       Soziale Sicherheit – gestern und morgen

Entwicklung des Altersquotienten                                                                                                                     G1
                                                                         Bestände und Altersquotient
                      6000                                                                                                                     60%

                      5500               Szenario «tief»
                                         Szenario «mittel»                                                                                     50%
                      5000               Szenario «hoch»

                      4500
                                                                                                                                               40%
In Tausend Personen

                      4000
                                                Aktive
                      3500

                                                                                                                                                     Altersquotient
                                                                                                                                               30%

                      3000
                                                                Altersquotient
                      2500                                                                                                                     20%

                      2000
                                                                                                                                               10%
                      1500
                                                                                      Renten
                      1000
                                                                                                                                               0%
                       500

                        0                                                                                                                    – 10%
                         1960            1970            1980            1990          2000            2010            2020              2030

Die oben stehende Grafik zeigt den Einfluss der Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung auf den Altersquotienten ab dem Jahr 2010 auf. Der Einfluss auf die
Entwicklung der Anzahl der Rentenbeziehenden ist nur bis 2030 erkennbar. Auch nach 2030 ist dem schrittweisen Erreichen des Rentenalters der Kohorten
Rechnung zu tragen.
Quelle: BSV.

Finanzierungsperspektiven der AHV                                                   lich der Demografie (das tiefe Szenario mit einem
                                                                                    Wanderungssaldo von 30 000 Personen; das mittlere
  Dank verschiedener finanzieller Massnahmen, die                                   Szenario mit 40 000 Personen und das hohe Szenario
seit Ende der 1990er-Jahre1 umgesetzt wurden, sowie                                 mit 50 000 Personen).
des positiven Einflusses der bilateralen Abkommen und                                  Der AHV-Fonds ist heute ausreichend ausgestattet,
der Migration üben die demografischen Faktoren heu­                                 um die ersten Defizite des Umlageergebnisses, welches
te noch keinen beachtlichen Druck auf die Rechnung                                  die Differenz aus den jährlichen Einnahmen ohne Zins­
der AHV aus. Gleichwohl wird die sinkende Geburten­                                 erträge und den Ausgaben ausweist, zu decken. Im Jahr
rate – zusammen mit der längeren Lebenserwartung –                                  2011 deckten die Einnahmen der AHV von 39 Milliarden
den Abstand zwischen den Aktiven und den Renten­                                    Franken die Gesamtausgaben von 38 Milliarden Franken
berechtigten vergrössern. Dieses Ungleichgewicht dürf­                              und führten zu einem Überschuss von einer Milliarde
te sich in den 2030er-Jahren durch das Erreichen des                                Franken. Die Trennung des AHV-Fonds und des IV-Fonds
Rentenalters der geburtenstarken Jahrgänge (Pensio­                                 brachte eine Überweisung von 5 Milliarden Franken à
nierung der zweiten Welle der Babyboom-Generation                                   fonds perdu an den IV-Fonds mit sich. 2011 deckte der
der 1970er-Jahre) noch akzentuieren. Die Grafik G1                                  AHV-Fonds 105,5 Prozent einer Jahresausgabe. Damit
zeigt die reale Entwicklung des Altersquotienten in der                             lag diese Grenze über der gesetzlichen Anforderung
Vergangenheit und die Szenarien zur zukünftigen Ent­                                (Art. 107 Abs. 3 AHVG). Gemäss den Finanzszenarien
wicklung, gestützt auf verschiedene Annahmen bezüg­                                 der AHV dürfte das Umlageergebnis ca. 2015 negativ
                                                                                    werden. Danach dürften die Kapitalerträge das Defizit
1 Die Zuweisung eines Mehrwertsteuerprozentes zugunsten der AHV seit
                                                                                    beim Umlageergebnis bis ungefähr 2020 auffangen kön­
  1999 und die Einnahmen aus der Spielbankenabgabe seit 2000, die                   nen. Ab diesem Zeitpunkt muss das Vermögen der AHV
  Auszahlung des Erlöses aus dem Goldverkauf der SNB, schliesslich die              in Anspruch genommen werden, um die laufenden Ren­
  schrittweise Erhöhung des Rentenalters der Frauen von 62 auf 64 Jahre
  bis 2005.                                                                         ten zu zahlen.

6                      Soziale Sicherheit CHSS 1/2013
Schwerpunkt      Soziale Sicherheit – gestern und morgen

Umlageergebnis der AHV; Differenz aus den Einnahmen, ohne Zinserträge, und den Ausgaben                               G2
in Millionen Franken

  2000

      0

 –2000

                    Szenario «tief»
 – 4000             Szenario «mittel»
                    Szenario «hoch»
 – 6000

 – 8000

–10000

–12000

–14000
      2011        2013        2015       2017       2019       2021        2023        2025           2027      2029

  Sämtliche Finanzierungsszenarien der AHV zeigen,          teten, als für einen BVG-Umwandlungssatz von 6,8 Pro­
dass der zusätzliche Finanzbedarf ab 2020 durch das ak­     zent erforderlich gewesen wäre.
tuelle System der AHV nicht mehr gedeckt werden kann.          Diese Situation wird verschärft durch die stetige Er­
Für die Finanzierung der Leistungen müssen ab diesem        höhung der Lebenserwartung, welche zur Folge hat, dass
Zeitpunkt neue finanzielle Mittel herangezogen werden.      das Deckungskapital auf eine längere Zeitperiode auf­
                                                            geteilt werden muss. Diese Ausgangslage führt in der
                                                            beruflichen Vorsorge dazu, dass der Vermögensertrag
Finanzierungsperspektiven                                   primär für die Verzinsung der Kapitalien der Rentenbe­
der beruflichen Vorsorge                                    züger verwendet werden muss, was zu einer Umverteilung
                                                            von den aktiven Versicherten zu den Rentenbeziehenden
   Die berufliche Vorsorge ist seit zehn Jahren mit einem   führt. Diese Umverteilung ist umso höher, je höher der
konstanten Rückgang der durchschnittlichen Kapital­         Anteil der Rentendeckungskapitalien an den gesamten
rendite konfrontiert. Der Zinssatz der 10-jährigen Bun­     Vorsorgekapitalien einer Vorsorgeeinrichtung ist.
desobligationen sank Ende Januar 2000 von 3,8 Prozent          Diese Entwicklung hat in den letzten zehn Jahren
auf derzeit 0,6 Prozent. Die durchschnittliche Rendite      dazu geführt, dass zahlreiche Vorsorgeeinrichtungen
des Pictet Index 93, mit einem Aktienanteil von 25 Pro­     Pensionierungsverluste in Kauf nehmen mussten. Dass
zent, betrug in den letzten zehn Jahren lediglich           dieser Verlauf nicht stärkere negative Auswirkungen
2,77 Prozent. In derselben Periode setzte der seit der      auf die Stabilität der beruflichen Vorsorge hat, erklärt
1. BVG-Revision geltende Umwandlungssatz von 6,8            sich durch den Umstand, dass der Mindestumwand­
Prozent eine Rendite von 4,5 bis 5,0 Prozent voraus.        lungssatz nur für die obligatorische Minimalvorsorge
Dieser Index entspricht dem Anlageportefeuille zahl­        gilt. Die Mehrheit der Vorsorgeeinrichtungen versichert
reicher Vorsorgeeinrichtungen.                              auch im überobligatorischen Bereich und führt die ge­
   Der Pictet Index 93 entspricht der Anlagepolitik eines   setzliche Mindestvorsorge lediglich im Rahmen einer
Grossteils der Vorsorgeeinrichtungen und ist somit in der   so­genannten Schattenrechnung. Diese Vorsorgeeinrich­
beruflichen Vorsorge weit verbreitet und anerkannt. Die     tungen können den Umwandlungssatz unter den
Grafik G3 zeigt auf, dass Vorsorgeeinrichtungen, welche     gesetzlichen Mindestumwandlungssatz senken und ma­
ihr Vermögen gemäss diesem Index anlegten, seit 2001        chen davon auch Gebrauch. Der Mindestumwandlungs­
einen tieferen Ertrag aus der Kapitalanlage erwirtschaf­    satz muss jedoch so festgelegt werden, dass er auch von

                                                                                    Soziale Sicherheit CHSS 1/2013     7
Schwerpunkt                  Soziale Sicherheit – gestern und morgen

Vorsorgeeinrichtungen erbracht werden kann, welche                                                          zu zwei Drittel der privatrechtlichen Vorsorgeeinrich­
nur die obligatorische Vorsorge oder wenig darüber                                                          tungen von Unternehmen über keine oder ungenügen­
hinaus versichern.                                                                                          de Wertschwankungsreserven verfügen. Anders gesagt,
   Die finanzielle Lage der Vorsorgeeinrichtungen ist mit                                                   können solche Vorsorgeeinrichtungen eine weitere
Unsicherheiten behaftet. Die Entwicklung des Deckungs­                                                      Finanzkrise nicht mehr abfedern, falls die Entwicklung
grades der Vorsorgeunternehmen zeigt klar auf, dass                                                         der Finanzmärkte weiterhin stagniert oder sich sogar
letztere nicht in allen Fällen ihren Stand vor der Finanz­                                                  verschlechtert.
krise im Jahre 2008 erreicht haben. In den ersten neun
Monaten des Jahres 2012 konnte zwar ein leichter Um­
kehrtrend – gegenüber den Jahren 2010 und 2011 – fest­                                                      Die Reformpläne des Bundesrates
gestellt werden. Aber trotz der Stabilisierung der De­
ckungsgrade konnten mit den realisierten Gewinnen im
Allgemeinen noch keine ausreichenden Wertschwan­                                                            Gesamtsicht und umfassender Lösungsansatz
kungsreserven gebildet werden.                                                                              für eine Reform, die 2020 wirksam wird
   Es besteht also weiterhin ein kurz- bzw. mittelfristiges                                                    Die Reformen, mit denen in den vergangenen Jahren
Risiko von Unterdeckungen. So befanden sich Ende Sep­                                                       versucht wurde, die Altersvorsorge an diese Entwicklun­
tember 2012 noch immer 9 Prozent der Vorsorgeeinrich­                                                       gen anzupassen, sind gescheitert: die 11. AHV-Revision
tungen ohne Staatsgarantie in Unterdeckung. Die Brut­                                                       in der Volksabstimmung vom 16. Mail 2004 und beim
torendite der Vorsorgeeinrichtungen betrug zwischen                                                         zweiten Anlauf 2010 im Parlament, die Anpassung des
Ende 2011 und Ende September 2012 etwa 6 Prozent,                                                           BVG-Umwandlungssatzes in der Volksabstimmung vom
wobei sie sich für das Jahr 2011 schätzungsweise auf                                                        7. März 2010. Der Bundesrat ist heute überzeugt, dass nur
1,1 Prozent belief.                                                                                         eine Gesamtsicht der Probleme und ein umfassender
   Der Wiederanstieg der Deckungsgrade hängt namhaft                                                        Lösungsansatz erfolgversprechend sind. Er betrachtet
von der mittel- bzw. langfristigen Entwicklung der                                                          darum die beiden Säulen der Altersvorsorge gemeinsam
Finanzmärkte ab. In dieser Hinsicht hat die Schulden­                                                       und will sie so reformieren, dass deren Leistungen und
krise die Ungewissheit verschärft, und die Mehrheit der                                                     Finanzierungen aufeinander abgestimmt sind.
Vorsorgeeinrichtungen muss künftig den Risiken ohne                                                            Gemäss den aktuellen finanziellen Perspektiven für
Wertschwankungsreserven gegenübertreten. Trotz eines                                                        die AHV ist davon auszugehen, dass eine Reform der
leichten Anstiegs seit Ende 2011 ist es nicht ausgeschlos­                                                  Altersvorsorge spätestens ab dem Jahr 2020 greifen muss.
sen, dass sich der Deckungsgrad der Vorsorgeeinrich­                                                        Diese Zeit muss nach Ansicht des Bundesrats genutzt
tungen noch verschlechtert, sollte sich die Lage an den                                                     werden, um die Reform ausgewogen zu gestalten und bei
Finanzmärkten weiterhin verschärfen. Insgesamt wird                                                         den politischen Kräften sowie in der Bevölkerung zu
festgestellt, dass die Situation schwierig bleibt, da nahe­                                                 verankern. Dem Parlament sollen daher in der laufenden

Entwicklung der Kapitalrenditen                                                                                                                                                                 G3
                20,0

                15,0

                10,0
 Rendite in %

                 5,0

                 0,0

                –5,0
                                                            Notwendige Rendite für Umwandlungssatz 6.8 % im Jahr 2015
                                                            Kapitalanlage mit 25 % Aktien (Pictet BVG 93 Index)
                                                            Trend der Kapitalrendite (Pictet BVG 93 Index)
            –10,0
                                            1991

                                                                                                                    2001

                                                                                                                                                                                          2011
                       1988

                              1989

                                     1990

                                                   1992

                                                          1993

                                                                 1994

                                                                        1995

                                                                                1996

                                                                                       1997

                                                                                              1998

                                                                                                     1999

                                                                                                             2000

                                                                                                                           2002

                                                                                                                                  2003

                                                                                                                                         2004

                                                                                                                                                2005

                                                                                                                                                       2006

                                                                                                                                                              2007

                                                                                                                                                                     2008

                                                                                                                                                                            2009

                                                                                                                                                                                   2010

                                                                                                                                                                                                 2012

8               Soziale Sicherheit CHSS 1/2013
Schwerpunkt      Soziale Sicherheit – gestern und morgen

Legislatur die notwendigen Gesetzesänderungen unter­
breitet werden, damit sie ab dem Jahr 2020 wirksam wer­
den können.
                                                                       Generelle Ziele des Bundesrates für die künftige
                                                                       Entwicklung des Sozialversicherungssystems
Die Leitlinien für eine umfassende Reform
  Nach Ansicht des Bundesrates müssen bei der Ausar­
beitung einer mehrheitsfähigen Vorlage einige Leitlinien               • Gewährleistung sicherer und angemessener Sozialleistungen
beachtet werden.
                                                                       • Sicherstellung eines nachhaltigen finanziellen Gleichgewichts
                                                                         der Sozialwerke
Referenzalter für Männer und Frauen bei                                • Grösstmögliche Transparenz, um das Vertrauen in das System
65 Jahren (AHV und BVG) mit Möglichkeiten                                der sozialen Sicherheit zu erhöhen
für einen flexiblen Altersrücktritt
                                                                       • Bekämpfung der Armut durch die Verbesserung der Synergien
                                                                         zwischen den Sozialversicherungen
   Aufgrund der Strukturveränderung der Alterspyrami­
de und der finanziellen Perspektiven der Altersvorsorge
wäre eine Erhöhung des Rentenalters folgerichtig. Zwei
andere entscheidende Aspekte sind jedoch zu berück­
sichtigen: die Realitäten des Arbeitsmarktes sowie die
bestehende Ungleichheit bei der Lebenserwartung und          Heirat etc.) einer Vorsorgeeinrichtung und vom techni­
den Möglichkeiten, über ein gewisses Alter hinaus er­        schen Zinssatz (Zinssatz, der für die Berechnung der
werbstätig zu bleiben.                                       Deckungskapitalien verwendet wird).
   In diesem Kontext schlägt der Bundesrat vor, ein ein­        Da sich die berufliche Vorsorge aufgrund der sinkenden
heitliches Referenzalter für Männer und Frauen bei           Kapitalrendite und der steigenden Lebenserwartung in
65 Jahren vorzusehen, und zwar sowohl in der ersten als      einer schwierigen Finanzlage befindet, erachtet es der
auch der zweiten Säule. Dieses Referenzalter soll kom­       Bundesrat als notwendig, den Mindestumwandlungssatz
biniert werden mit einem flexiblen Altersrücktrittssystem    für den obligatorischen Teil auf eine angemessene Höhe
für eine bestimmte Altersbandbreite, basierend auf ver­      zu senken.
sicherungstechnischen Grundsätzen. Damit wird dem               Mit einer Senkung des Umwandlungssatzes auf ein
Bedürfnis der Menschen, die einen flexibleren Übergang       technisch adäquates Niveau könnte das dem Dreisäulen­
in den Ruhestand wünschen oder benötigen, Rechnung           konzept zugrunde liegende Ziel, wonach die Leistungen
getragen. Da ein längerer Verbleib im Erwerbsleben für       der BVG-Minimalvorsorge zusammen mit den Renten
die finanzielle Sicherung der Sozialwerke wünschenswert      der AHV/IV eine Ersatzquote von rund 60 Prozent des
ist, möchte der Bundesrat Anreize schaffen, sei es im        letzten Einkommens erreichen sollen, vereitelt werden.
System der Altersvorsorge oder in der Beschäftigungs­        Um dies zu verhindern, schlägt der Bundesrat Kompen­
politik, mit denen die Erwerbstätigkeit bis zum Referenz­    sationsmassnahmen vor. Zum einen soll mit zusätzlichen
alter und darüber hinaus ausgeübt werden kann. Parallel      Altersgutschriften, die durch einen früheren Beginn des
dazu soll der vorzeitige Altersrücktritt an Attraktivität    Sparprozesses, durch höhere Beiträge oder durch eine
verlieren, etwa durch die Anhebung der Schwelle von          Reduktion des Koordinationsabzuges realisiert werden
58 Jahren für den frühesten Zeitpunkt des Altersrücktritts   können, das Leistungsniveau nach BVG erhalten werden.
in der beruflichen Vorsorge.                                 Zum andern sind besondere Übergangslösungen zu schaf­
                                                             fen für diejenigen Personen, die aufgrund ihres Alters
                                                             nicht mehr in der Lage sind, das BVG-Altersguthaben
Anpassung des BVG-Mindestumwandlungs­                        mit höheren Beiträgen auf die erforderliche Höhe anzu­
satzes, verbunden mit Kompensationsmassnah-                  heben. Solche Kompensationen für die Übergangsgene­
men zur Erhaltung des Leistungsniveaus                       ration könnten in der ersten oder der zweiten Säule rea­
                                                             lisiert werden. Mit einem Kapitalzuschlag aus dem Sicher­
  Die Renten der beruflichen Vorsorge werden durch           heitsfonds könnte den Betroffenen, die nur über eine
den Umwandlungssatz bestimmt, mit dem das Altersgut­         BVG-Minimalvorsorge verfügen, das Vorsorgeguthaben
haben einer versicherten Person bei Eintritt eines Vor­      erhöht werden. Das gleiche Ziel könnte aber auch mit
sorgefalls in eine jährliche Rente der beruflichen Vorsor­   einer entsprechenden Erhöhung der AHV-Altersrente
ge umgewandelt wird. Der Umwandlungssatz seinerseits         für die betroffene Übergangsgeneration erreicht werden.
hängt von zwei Faktoren ab: von den gewählten versi­            Zusätzlich sollen im Bereich der beruflichen Vorsorge
cherungstechnischen Grundlagen (statistische Wahr­           institutionelle Aspekte im Hinblick auf die Verbesserung
scheinlichkeiten zur Lebenserwartung, Verwitwung,            der Transparenz berücksichtigt werden. Zu prüfen sind

                                                                                      Soziale Sicherheit CHSS 1/2013      9
Schwerpunkt        Soziale Sicherheit – gestern und morgen

dabei die institutionellen Massnahmen zur Erweiterung             der Finanzlücken in der AHV müssen weitere Wege
der Aufsicht der FINMA in Richtung eines effektiven               ausgelotet werden, um zusätzliche Finanzquellen zu
Versichertenschutzes, zu Verbesserung der Transparenz             erschliessen. Angesichts des aktuellen AHV-Leistungs­
bei den Versicherern und für eine ausgewogene Gewinn­             niveaus und der erwähnten Ziele der Fortsetzung der
verteilung zwischen Versicherten und Aktionären.                  gewohnten Lebenshaltung wird eine allgemeine Her­
                                                                  absetzung der Altersleistungen grundsätzlich ausge­
                                                                  schlossen. Das bisherige Leistungsniveau zu erhalten,
Nachhaltige Finanzierung der AHV                                  bleibt daher oberste Priorität.
                                                                    Mit gezielten und angesichts der gesellschaftlichen
  Da der Finanzierungsdruck auf die AHV noch nicht                Entwicklung vertretbaren Anpassungen lassen sich da­
akut ist, sind rigorose Sanierungsmassnahmen derzeit              gegen die Ausgaben eindämmen bzw. die Finanzmittel
nicht angezeigt. Angesichts des Ausmasses des erwar­              erhöhen. Das EDI soll daher einen Massnahmenkatalog
teten Defizits sind jedoch mittelfristig rechtzeitige Mass­       der Leistungen und Beiträge erstellen, um realistische
nahmen zur finanziellen Konsolidierung der AHV ge­                Einsparungen bzw. Mehreinnahmen zu erzielen. Fol­
rechtfertigt.                                                     genden Grundsätzen muss aber Rechnung getragen
  Die Harmonisierung des Referenzalters bei 65 Jahren             werden: Die Massnahmen dürfen nicht zu wirtschaftli­
und die gleichzeitige Einleitung von Massnahmen, um               cher Not führen und der soziale Schutz von schwächeren
den Zeitpunkt des effektiven Altersrücktritts demjeni­            Gruppen muss gewahrt bleiben. Aus dieser Sicht wird
gen des Referenzalters anzunähern, ermöglichen es, die            das EDI besonders die Leistungen an Hinterbliebene,
erwartete Finanzierungslücke in der AHV teilweise zu              die Regelung der Beiträge von Selbstständigerwerben­
verringern. Damit allein ist das langfristige Finanzgleich­       den und die Beitragsprivilegien überprüfen.
gewicht aber noch nicht gewährleistet. Zur Deckung

Rentenalter in Europa (Stand per 1.1.2012)                                                                                     T1

                                Gesetzliches
  Land                                             Bemerkungen
                                Rentenalter
                           Mann         Frau
  Schweden                 61–67        61–67      Flexibles Rentenalter seit 2003

  Frankreich               60           60         Erhöhung auf 62 bis 2017
  Ungarn                   62           62         Schrittweise Erhöhung auf 65 bis 2022
  Polen                    65           60         Ab 2013, Erhöhung auf 67
                                                   – für Männer bis 2020
                                                   – für Frauen bis 2040

  Österreich               65           60         Schrittweise Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 zwischen 2024 und 2033
  Grossbritannien          65           60         Schrittweise Erhöhung auf 65 für alle bis 2018 und ab 2018 auf 66 bis 2020
  Belgien                  65           65
  Griechenland             65           65         Für Personen, welche seit 1993 versichert sind
  Finnland                 65           65
  Portugal                 65           65         Für alle seit 2007
  Dänemark                 65           65         Schrittweise Erhöhung auf 67 zwischen 2019 und 2022 und danach auf Basis
                                                   der Lebenserwartung
  Niederlande              65           65         Ab 2013, schrittweise Erhöhung auf 66 bis 2019 und auf 67 bis 2023
  Spanien                  65           65
  Deutschland              65           65         Schrittweise Erhöhung auf 67 zwischen 2012 und 2029 (monatsweise)
  Italien                  66           62         Schrittweise Erhöhung des Frauenrentenalters auf 66 bis 2018
  Irland                   66           66

10    Soziale Sicherheit CHSS 1/2013
Schwerpunkt       Soziale Sicherheit – gestern und morgen

  Zur Deckung des restlichen Finanzierungsbedarfs soll       19,55 Prozent der Ausgaben der AHV. Als Folge der de­
die Suche nach neuen Geldquellen ausgeweitet werden.         mografischen Entwicklung wird dieser stark anwachsen.
Da eine Erhöhung der Lohnkosten nur die Erwerbstäti­
gen belasten und überdies die Beschäftigung und die
Löhne negativ beeinflussen würde, wird eine Finanzierung     Die nächsten Schritte
über die Mehrwertsteuer bevorzugt.
                                                               Der Bundesrat hat das EDI beauftragt, auf der Basis
                                                             dieser Leitlinien die Eckwerte der «Altersvorsorge 2020»
Interventionsmechanismus in der AHV                          zu konkretisieren und die damit einhergehenden finan­
                                                             ziellen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen vertieft zu
   Der Bundesrat zeigt sich offen für ein finanzielles Re­   prüfen. Danach soll ein Entwurf für die Reform ausge­
gulierungsinstrument in der AHV, das innerhalb von ge­       arbeitet und Ende 2013 in die Vernehmlassung geschickt
setzlich genau definierten Vorgaben greifen kann. Ein        werden.
solcher Interventionsmechanismus sollte im politischen
System eine Warnung auslösen und gegebenenfalls ge­
zielte und begrenzte automatische Aktionen ermöglichen.
Der in der IV-Revision 6b, die sich noch in der parlamen­    Sibel Oezen, stv. Leiterin Bereich Leistungen AHV/EO/EL,
tarischen Beratungsphase befindet, vorgeschlagene Inter­     Geschäftsfeld Alters- und Hinterlassenenvorsorge, BSV.
ventionsmechanismus könnte in seinen Grundzügen als          E-Mail: sibel.oezen@bsv.admin.ch
Modell für die AHV dienen. Ferner will der Bundesrat
prüfen, ob der Bundesbeitrag an die AHV von den Aus­
gaben entkoppelt und stattdessen an die Entwicklung          Bernadette Deplazes, Juristin, Bereich Leistungen AHV/EO/EL,
der Mehrwertsteuererträge angebunden werden soll.            Geschäftsfeld Alters- und Hinterlassenenvorsorge, BSV.
Derzeit beträgt der Beitrag des Bundes an die AHV            E-Mail: bernadette.deplazes@bsv.admin.ch

                                                                                       Soziale Sicherheit CHSS 1/2013      11
schwerpunkt                                           Schwerpunkt   Soziale Sicherheit – gestern und morgen

Handlungsbedarf und Handlungsfelder
in der sozialen Krankenversicherung
Das Bundesgesetz vom 18. März 1994 (KVG) über die                   zes über die Krankenversicherung vom Mai 2004. Ein
Krankenversicherung ist am 1. Januar 1996 in Kraft                  Teil der vorgeschlagenen Änderungen ist inzwischen in
                                                                    Kraft getreten, ein Teil ist in den eidgenössischen Räten
getreten. Es hat die schweizerische Krankenversiche-
                                                                    oder in der Volksabstimmung gescheitert.
rung umfassend reformiert. Der Gesetzgeber verfolg-                   Der Bericht des Eidgenössischen Departements des
te drei Hauptziele: Erstens sollte die Solidarität                  Innern zur Strategie des Bundesrates im Bereich der
zwischen Versicherten mit unterschiedlichem Krank-                  Gesundheitspolitik vom Juni 2011 und die gesundheits­
heitsrisiko und mit unterschiedlichem Einkommen                     politische Agenda 2020 vom 23. Januar 2013 erweitern
                                                                    das Spektrum und integrieren die Weiterentwicklung der
verstärkt werden. Zweitens ging es darum, den
                                                                    OKP in den gesundheitspolitischen Kontext. Die Wah­
Zugang zu einer qualitativ hochstehenden, aber für                  rung des Erreichten wird als eines der Ziele der schwei­
alle finanziell tragbaren medizinische Versorgung                   zerischen Gesundheitspolitik bezeichnet. Die gesund­
sicherzustellen und die Lücken in der obligatorischen               heitspolitische Strategie soll die heutigen Stärken stützen
Krankenpflegeversicherung (OKP) zu schliessen.                      und die identifizierten Schwächen so weit als möglich
                                                                    beseitigen.
Drittens sollte der neue gesetzliche Rahmen zu einer
                                                                      Nachfolgend werden die Handlungsfelder dargestellt,
massvollen Kostenentwicklung beitragen, indem                       in denen Systemoptimierungen im Bereich der OKP in
kosteneindämmende Wettbewerbsmechanismen in                         Angriff genommen worden sind.
einem definierten ordnungspolitischen Rahmen zum
Zuge kommen sollten.
                                                                    Aufsicht über die Krankenversicherer

                                                                    Aufsichtsgesetz
                                                                       Bei Inkrafttreten des KVG waren im Gesetz nur we­
                                                                    nige Bestimmungen zur Versicherungsaufsicht enthalten.
                                                                    Damals wurde festgestellt, dass sich die Krankenkassen
                                                                    auch ohne die entsprechenden rechtlichen Grundlagen
                                                                    an die Vorgaben des Bundes hielten. In der Zwischenzeit
                                                                    haben jedoch die Entwicklung des Krankenversiche­
                                                                    rungsmarktes und der Organisation der Krankenkassen
                                                                    sowie ihre bisweilen angespannte finanzielle Situation
                                  Marie-Thérèse Furrer              deutlich gemacht, dass gesetzliche Grundlagen fehlen,
                                  Bundesamt für Gesundheit          die der Aufsichtsbehörde erlauben, Massnahmen zu er­
                                                                    greifen. Die verstärkte Aufsicht über die Versicherer soll
                                                                    sich zudem auf das Vertrauen der Versicherten in das
                                                                    Krankenversicherungssystem auswirken. Unter Respek­
          Anlässlich einer Klausursitzung und einer vertieften      tierung der Grundsätze der sozialen Krankenversiche­
       Analyse des geltenden Systems hielt der Bundesrat im         rung braucht es Mittel, um die Aufsicht wirksam wahr­
       Mai 2002 fest, dass sich das KVG grundsätzlich bewährt       zunehmen und so den Erwartungen der Versicherten zu
       hat. Er wies darauf hin, dass verschiedene Faktoren – wie    entsprechen. Zudem erhöht ein solches Gesetz die Trans­
       der medizinische Fortschritt oder die demografische Ent­     parenz in Bezug auf die Organisation und die finanzielle
       wicklung – und Eigenheiten des Gesundheitssystems zu         Situation der Versicherer.
       einer Kostensteigerung führen, die tendenziell über der         Das Instrument, mit dem der Aufsichtsbehörde an­
       allgemeinen Lohn- und Preisentwicklung liegt. Im Vor­        gemessene Mittel zur Verfügung gestellt werden, ist
       dergrund stehe deshalb die Optimierung des Systems,          eine gesetzliche Grundlage. Ein separater Erlass soll
       insbesondere durch ökonomische Anreize. Auf die Stra­        Klarheit darüber schaffen, unter welchen Vorausset­
       tegie der Systemkonsolidierung berief sich der Bundesrat     zungen die Aufsichtsbehörde intervenieren kann oder
       auch in seiner Botschaft zur Änderung des Bundesgeset­       muss und welche Massnahmen sie anwenden darf. Der

       12   Soziale Sicherheit CHSS 1/2013
Schwerpunkt      Soziale Sicherheit – gestern und morgen

Bundesrat hat den Gesetzesentwurf und die entspre­          mit denen die stationäre Behandlung im Spital vergütet
chende Botschaft am 16. Februar 2012 an das Parlament       wird, übernehmen.
überwiesen.                                                    Die neue Finanzierungsregelung ist noch nicht voll­
                                                            ständig umgesetzt. Die leistungsbezogenen Pauschalen
Initiative «Für eine öffentliche Krankenkasse» und          wurden vorerst nur im akutstationären Bereich eingeführt
Gegenvorschlag                                              (SwissDRG), in den Bereichen Psychiatrie und Rehabi­
   Die Initiative «Für eine öffentliche Krankenkasse»,      litation müssen die einheitlichen Tarifstrukturen fertig
die am 23. Mai 2012 eingereicht worden ist, fordert, dass   entwickelt werden, bevor diese dem Bundesrat zur Ge­
die soziale Krankenversicherung von einer einheitlichen,    nehmigung unterbreitet werden können. Die Abgeltung
nationalen Einrichtung durchgeführt wird und dass für       der Investitionskosten erfolgt noch nicht, wie vom Gesetz
jeden Kanton einheitliche Prämien definiert werden.         vorgegeben, leistungsbezogen, sondern durch einen Pau­
Die Initianten bemängeln, dass im heutigen System der       schalzuschlag. Im Übrigen ist die Spitalplanung, die mit
Wettbewerb zwischen den Krankenversicherern oftmals         der KVG-Revision auf der Grundlage von Qualität und
am falschen Ort spiele, indem Anstrengungen zur Risi­       Wirtschaftlichkeit vorgenommen werden muss, ein Pro­
koselektion für die Versicherer betriebswirtschaftlich      zess, der erst begonnen hat. Bis Ende 2014 müssen alle
mehr einbringen als solche, die auf bessere Qualität,       Kantone über eine Spitalplanung verfügen, die den neu­
kundenfreundliche Dienstleistungen und Innovation           en Anforderungen entspricht.
abzielen. Ein indirekter Gegenvorschlag zur Initiative         Um die Auswirkungen der KVG-Revision im Bereich
nimmt diese Kritik auf, ohne aber den Wettbewerb zwi­       der Spitalfinanzierung zu untersuchen, hat der Bundesrat
schen den Krankenversicherern aufzuheben und da­            im Mai 2011 die Durchführung einer entsprechenden
durch die Versicherten der Möglichkeit zu berauben,         Wirkungsanalyse in den Jahren 2012 bis 2018 gutgeheis­
den Versicherer zu wechseln, wenn sie mit der Dienst­       sen und deren Finanzierung von 2012 bis 2015 gesprochen.
leistung unzufrieden sind. Mit dem Gegenvorschlag           Nach der Hälfte der Studiendauer sind der weitere Bedarf
werden weitere Verbesserungen des Systems eingeführt        und die Umsetzungsmöglichkeiten neu zu prüfen. Ge­
und Fehlanreize behoben. Der vom Bundesrat skizzier­        stützt auf die Vorschläge, die in einer im Jahre 2010 im
te Vorschlag basiert auf zwei Elementen. Erstens wird       Auftrag des BAG durchgeführten Machbarkeits- und
mit dem Zusammenspiel zwischen einer neu eingerich­         Konzeptstudie zur Evaluation der KVG-Revision im
teten Rückversicherung für sehr hohe Kosten und einem       Bereich der Spitalfinanzierung enthalten sind, sollen von
verfeinerten Risikoausgleich, der als weiteres Kriterium    2012 bis 2018 sechs wissenschaftliche Studien durchge­
neu auch die Medikamentenkosten mit einbezieht, die         führt werden.
Risikoselektion unterbunden. Somit kann der Wettbe­
werb dort spielen, wo er vom Gesetzgeber ursprünglich       Qualitätsstrategie
gewollt ist, nämlich bei der Qualität der Versicherungs­       Der Bundesrat hat am 28. Oktober 2009 den Bericht
angebote. Das zweite Element des indirekten Gegen­          zur Qualitätsstrategie des Bundes im Schweizerischen
vorschlags ist die Trennung von Grund- und Zusatzver­       Gesundheitswesen und am 25. Mai 2011 den entspre­
sicherungen. Die Versicherungen sollen in Zukunft von       chenden Konkretisierungsbericht gutgeheissen. Damit
unterschiedlichen juristischen Einheiten durchgeführt       der Bund seine neue aktive Rolle in der Qualitätssiche­
werden, zwischen denen Informationsbarrieren beste­         rung langfristig wahrnehmen und die Vorhaben in den
hen. Auch dieses Element dient der Eindämmung der           neun Aktionsfeldern der Qualitätsstrategie wirkungsvoll
Risikoselektion. Zudem verbessert es die Transparenz        und nachhaltig umsetzen kann, sollen unterstützende
und den Datenschutz.                                        nationale Strukturen geschaffen werden. Ein Qualitäts­
                                                            institut soll fachliche Grundlagenarbeiten durchführen,
                                                            den Bund fachlich beraten und die vom Bund bestimm­
Leistungen und Finanzierung                                 ten Qualitätsprogramme und Qualitätserhebungen um­
                                                            setzen. Eine nationale Qualitätsplattform aus Vertretern
                                                            der Akteure des Gesundheitswesens soll den Bund stra­
Wirkungsanalyse zur KVG-Revision im Bereich                 tegisch beraten. Für die nachhaltige Finanzierung des
der Spitalfinanzierung                                      gesamten Umsetzungsprozesses soll die gesetzliche
  Am 23. Dezember 2007 beschlossen die eidgenössi­          Grundlage geschaffen werden.
schen Räte die KVG-Revision im Bereich der Spitalfi­           Für eine Übergangsphase (2012 bis 2014) bis zur Schaf­
nanzierung. Die Gesetzesänderung trat Anfang 2009 in        fung der gesetzlichen Grundlagen wurde vom Bundesrat
Kraft und die neue Finanzierungsordnung gilt seit Anfang    eine Erhöhung des Finanzierungsplafonds um 1,2 Mio.
2012. Mit der dual-fixen Finanzierung der Leistungen        Franken pro Jahr beschlossen. Damit werden ein erstes
müssen die Kantone mindestens 55 Prozent und die OKP        nationales Qualitätsprogramm, die Erarbeitung von Qua­
höchstens 45 Prozent der leistungsbezogenen Pauschalen,     litätsindikatoren sowie weitere Sofortmassnahmen an­

                                                                                    Soziale Sicherheit CHSS 1/2013   13
Schwerpunkt       Soziale Sicherheit – gestern und morgen

gegangen werden. Parallel dazu erfolgt die Erarbeitung       eingeführt. Unter den TARMED-Tarifpartnern herrscht
der Grundlagen zur strukturellen Umsetzung und deren         Konsens, dass die Tarifstruktur TARMED umfassend
Finanzierung.                                                revidiert werden muss. Der Bundesrat hat bereits im
   Mit Durchführung von Nationalen Qualitätsprogram­         Rahmen der Genehmigungen der Anpassungen des TAR­
men will der Bund in einem ersten Schritt die Themen         MED in den Jahren 2005 und 2006 eine Revision gefor­
«Sichere Chirurgie» und «Medikationssicherheit» ange­        dert. Auch die Eidgenössische Finanzkontrolle stellte
hen. Die Stiftung für Patientensicherheit wurde mit der      nach ihrer Evaluation des TARMED Ende 2010 einen
Durchführung der entsprechenden Programme beauf­             grundlegenden Revisionsbedarf fest. Insbesondere geht
tragt. Der Start des Pilotprogramms «Sichere Chirurgie»      es darum, die seinerzeit verwendeten Kostengrundlagen
ist auf Mitte 2013 geplant. Das Pilotprogramm «Medika­       zu aktualisieren und der seit Einführung des Tarifs ein­
tionssicherheit» wird ein Jahr später erfolgen.              getretenen medizinischen und technischen Entwicklung
                                                             Rechnung zu tragen.
Health Technology Assessment                                   Die Tarifpartner haben mit den Revisionsarbeiten be­
   Unter dem Begriff Health Technology Assessment            gonnen. Das KVG gibt vor, dass sie auf eine betriebs­
(HTA) wird die Informationssynthese über Nutzen, Scha­       wirtschaftliche Bemessung und eine sachgerechte Struk­
den, Wirtschaftlichkeit sowie ethische und gesellschaft­     tur der Tarife zu achten haben. Zudem müssen sie dem
liche Aspekte von medizinischen Leistungen verstanden,       im KVG verankerten Wirtschaftlichkeitsgebot und dem
die die Entscheidungsfindung auf politischer und insti­      daraus abgeleiteten Grundsatz Rechnung tragen, dass
tutioneller Ebene unterstützt. Die Prozesse zur Bezeich­     ein Wechsel des Tarifmodells keine Mehrkosten verur­
nung der OKP-Leistungen orientieren sich bereits seit        sachen darf. Angesichts der Komplexität des TARMED
Jahren an HTA-Grundsätzen, indem für Anträge Vorga­          und der unterschiedlichen Interessen der am Tarifvertrag
ben gelten, die die Vollständigkeit und Neutralität der      beteiligten Leistungserbringer und Versicherer ist nicht
Informationen zur Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und           mit einer schnellen Lösung zu rechnen. Deshalb haben
Wirtschaftlichkeit sicherstellen sollen. Die Geschäftsprü­   die eidgenössischen Räte am 23. Dezember 2011 eine
fungskommission des Nationalrats (GPK-N) hat im Ja­          subsidiäre Eingriffsmöglichkeit des Bundesrates be­
nuar 2009 verschiedene Empfehlungen zu diesen Pro­           schlossen. Ab 1. Januar 2013 kann der Bundesrat Anpas­
zessen abgegeben: so soll das Antragssystem beibehalten      sungen an einer bereits bestehenden Tarifstruktur fest­
werden, Verwaltung und beratende Kommissionen sollen         setzen, wenn sich die Struktur als nicht mehr sachgerecht
aber mehr personelle und finanzielle Mittel erhalten, um     erweist und sich die Parteien nicht auf eine Revision
die Anträge zu validieren, ergänzende Berichte einzuho­      einigen können.
len und bestehende Leistungen zu überprüfen.
   Der Bundesrat hat in seinen Antworten auf die (vom        Arzneimittel: neues Preisfestsetzungssystem
Parlament überwiesenen) Motionen 10.3353 und 10.3451,           Das KVG bestimmt, welche Leistungen von der OKP
die die Institutionalisierung von Health Technology As­      vergütet werden. Die zu übernehmenden Leistungen
sessment fordern, in Aussicht gestellt, in einem ersten      müssen den Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmässig­
Schritt Zielgruppen, methodische Arbeitsweise, Träger­       keit und Wirtschaftlichkeit entsprechen. Als vergütungs­
schaft und Finanzbedarf zu klären und einen Umset­           pflichtig erklärt das KVG u.a. die ärztlich oder allenfalls
zungsvorschlag zu erarbeiten. Dabei sollen das Antrags­      von Chiropraktoren oder Chiropraktorinnen verordne­
system beibehalten, aber ergänzend Mittel und Struktu­       ten Arzneimittel, die in der Spezialitätenliste (SL) auf­
ren für HTA bereitgestellt werden, sodass künftig            geführt sind.
vermehrt unabhängige ergänzende Berichte zur Entschei­          Vor dem Hintergrund der ausserordentlichen Wäh­
dungsunterstützung verfügbar sind. Dabei kann einerseits     rungssituation hat der Bundesrat im März 2012 beschlos­
auf bestehende Strukturen und Fachkompetenz in der           sen, die Überprüfungsmechanismen der Preise der in
Schweiz abgestellt, anderseits internationale, vor allem     der SL gelisteten Arzneimittel so anzupassen, dass Wech­
europäische Zusammenarbeit genutzt werden.                   selkursschwankungen besser berücksichtigt werden.
                                                             Diese Massnahmen lösten divergierende Reaktionen
TARMED: Überarbeitung der Tarifstruktur                      bei den betroffenen Stakeholdern aus und wurden auch
sowie subsidiäre Kompetenz des Bundesrates                   in verschiedenen parlamentarischen Vorstössen thema­
zur Anpassung von Tarifstrukturen                            tisiert.
   Der Arzttarif TARMED gelangt sowohl in der obliga­           Mit der Annahme des Postulates 12.3614 «Medika­
torischen Unfallversicherung, Militär- und Invalidenver­     mentenpreise. Neue Methode für die Preisfestsetzung»
sicherung als auch der in der OKP zur Anwendung. Der         durch den Nationalrat hat der Bundesrat zu prüfen und
Bundesrat genehmigte die Einführungsversion im Sep­          in einem Bericht darzulegen, wie ab dem Jahr 2015 die
tember 2002. Für die OKP wurde der TARMED per                Preisfestsetzung angepasst werden kann. Erste Gesprä­
1. Januar 2004 in den Arztpraxen wie in den Spitälern        che dazu haben mit den Vertretern der Verbände der

14   Soziale Sicherheit CHSS 1/2013
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