Soziale Sicherheit 1/2013 - Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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Schwerpunkt Soziale Sicherheit – gestern und morgen Familie, Generationen und Gesellschaft Einbezug der Selbstständigerwerbenden ins Familienzulagengesetz Programm Jugend und Gewalt Invalidenversicherung ConCerto – Pilotprojekt zur Eingliederung Soziale Sicherheit CHSS1/2013
inhalt Inhalt CHSS 1/2013 Januar / Februar Inhaltsverzeichnis Soziale Sicherheit CHSS 1/2013 Editorial 1 Familie, Generationen und Gesellschaft Chronik Dezember 2012 / Januar 2013 2 Einbezug der Selbstständigerwerbenden ins Familien- zulagengesetz (Maia Jaggi, BSV) 27 Impulsprogramms für familienergänzende Kinderbetreuung – Prioritätenordnung (Cornelia Louis, BSV) 31 Schwerpunkt Programm Jugend und Gewalt (Liliane Galley) 34 Soziale Sicherheit – gestern und morgen Entwicklung des Gewaltverhaltens unter jungen Menschen Reform der Altersvorsorge 2020 in den letzten 20 Jahren (Dr. Denis Ribeaud, ETH Zürich) 35 (Sibel Oezen und Bernadette Deplazes, BSV) 5 Handlungsbedarf und Handlungsfelder in der sozialen Krankenversicherung (Marie-Thérèse Furrer, BAG) 12 Invalidenversicherung Dezentral und fragmentiert: die Geschichte der sozialen ConCerto – Pilotprojekt zur Eingliederung (Eva Lang, BSV) 46 Sicherheit seit Mitte des 19. Jahrhunderts Votum der Initiantin des Projekts ConCerto (Prof. Martin Lengwiler, Universität Basel) 16 (Susanne Buri, Swisscom AG) 50 Bundesamt für Sozialversicherung (Dr. Urs Germann, Historiker, Universität Basel) 20 Parlament Unsicheres Alter, gesichertes Alter? Parlamentarische Vorstösse 51 (Matthieu Leimgruber, Universität Genf) 21 Gesetzgebung (Vorlagen des Bundesrats) 55 Krankenversicherung: der lange Schatten des Föderalismus (Prof. Martin Lengwiler, Universität Basel) 24 Daten und Fakten Sozialversicherungsstatistik 56 Agenda (Tagungen, Seminare, Lehrgänge) 58 Literatur 59 .ch chen Sie uns u nter . b s v. admin Besu www
editorial Editorial Gewachsener Sozialstaat 14 Jahre. Heute leben Männer im Schnitt nach dem Errei- chen des Rentenalters noch 19, Frauen 22 Jahre lang; da- mals beliefen sich die Gesamtausgaben der Sozialversi- cherungen auf 1,8 Milliarden Franken, heute sind es über 153 Milliarden; 1948 entsprach dies 9,6 Prozent des BIP, heute sind es 25,8 Prozent. Die Schweiz ist ein moderner und vorbildlicher Sozial- staat geworden. Die Sozialpolitik bildet das Fundament für den sozialen Frieden. Dieser ermöglicht die Entwick- lung unserer Wirtschaft, deren Stabilität die Niederlassung Jürg Brechbühl ausländischer Firmen fördert, und garantiert den Einwoh- Direktor des Bundesamtes nerinnen und Einwohnern eine hohe Sicherheit gegenüber für Sozialversicherungen den Schicksalsschlägen des Lebens. Damit sie den Rück- halt, den sie in der Bevölkerung geniessen, behalten, müs- sen die Sozialversicherungen gestern wie heute im Ein- Das BSV ist hundert Jahre alt. Kein ungewöhnliches Alter klang mit den Veränderungen der Umwelt stehen. Indivi- für eine öffentliche Einrichtung, aber ein Jubiläum, das aus dualisierung, neue Familienstrukturen, höhere Lebens zwei Gründen erwähnenswert ist. Zum einen war das BSV erwartung, Globalisierung und Mobilität: Alle diese Ent- die erste Bundesstelle, die vom Parlament als Bundesamt wicklungen bergen ebenso viele Chancen wie Herausfor- geschaffen wurde. Zum anderen – und das ist von grösse- derungen und schaffen sowohl neue Möglichkeiten als rer Bedeutung – ermöglichte seine Gründung die Umset- auch neue Bedürfnisse. zung der Krankenversicherung und anschliessend die Um legitim zu sein, muss jede Gesetzesanpassung und Entwicklung des schweizerischen Sozialversicherungssys- jede Systemreform transparent und verständlich sein und tems. Zum Kranken- und Unfallversicherungsgesetz kamen auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Leistungen nach und nach die AHV, die Familienzulagen in der Land- und deren Finanzierbarkeit achten. In diesem Sinn sind wirtschaft, der Erwerbsersatz, die Invalidenversicherung, wir auch die Reform der Altersvorsorge angegangen. Der die Ergänzungsleistungen, die Arbeitslosenversicherung, auf dem sogenannten 3-Säulen-System gründende Schutz die berufliche Vorsorge und schliesslich die Mutterschafts- ruht auf einer festen Basis, die solid bleiben muss, damit entschädigung und die Familienzulagen hinzu. jeder und jede von uns im Alter davon profitieren kann. Diese Ausweitung des Versicherungsschutzes auf weite- Die Versicherten müssen wissen, wie viel sie bezahlen und re Risiken beruhte nicht auf einem einmaligen umfassen- auf welche Leistungen sie Anspruch haben. Die Finanzie- den Konzept, sondern erfolgte – wie bei einem Puzzle – rung bleibt eine wichtige Frage, die es zu diskutieren gilt, Stück für Stück, indem die Erfahrungen aus den bestehen- und zwar jenseits des Links-rechts-Schemas. Denn die den Einrichtungen genutzt und die Grundsätze des Föde- Rechnungen der Sozialversicherungen werden sich nicht ralismus respektiert wurden. Bei jeder Anpassung musste wie von Zauberhand ausgleichen, sondern nur mit dem der Gesetzgeber den gesellschaftlichen Wandel, die Verän- Willen aller Akteure, der nächsten Generation ein solides derungen der Arbeitswelt, die demografische und die wirt- System der sozialen Sicherheit zu übergeben. schaftliche Entwicklung und auch die Fortschritte der Dieses Jahr feiert die Zeitschrift «Soziale Sicherheit» ihr Medizin berücksichtigen und dabei die Kosten und die 20-jähriges-Bestehen. Wir konnten Sie darin regelmässig soziale Last unter Kontrolle behalten. Erinnern wir uns: über die Entwicklung der sozialen Sicherheit, der Gesetz- Beim Inkrafttreten der AHV 1948 lebten in der Schweiz gebung und der Herausforderungen informieren und 4,6 Millionen Menschen, heute sind es knapp 8 Millionen; werden dies auch in Zukunft tun. Im Schwerpunkt dieser 430 000 davon waren im AHV-Alter, heute sind es Ausgabe wird die Entwicklung der Sozialversicherungen 1,4 Millionen; die Lebenserwartung der 65-jährigen Män- in der Schweiz nachgezeichnet. Wir hoffen, dass wir damit ner betrug 12 Jahre, jene der Frauen im gleichen Alter Ihr Interesse wecken können. Soziale Sicherheit CHSS 1/2013 1
chronik Chronik Dezember 2012 / Januar 2013 auf den 1. Januar 2013 an die Lohn- in Kraft getretene Gesetz grundsätz Sozialversicherungen und Preisentwicklung anzupassen. lich bewährt, sein Beitrag zur Ein Damit kommt er der gesetzlichen dämmung von Schwarzarbeit aber Eine von vier Personen mit Behin- Verpflichtung nach, mit der AHV/IV- noch verbessert werden kann. Dies derungen beanspruchte 2011 bei Rentenanpassung Schritt zu halten. liegt im Wesentlichen daran, dass das der Arbeit eine Hilfsmassnahme. Die Renten der noch nicht im Gesetz für wichtige Fragen einen In Zwei von drei Personen mit Behin AHV-Alter stehenden Versicherten terpretationsspielraum offenlässt, der derungen gehen einer Erwerbstätig der MV sowie jene der Ehegatten und zu Unklarheiten beim Vollzug führt. keit nach. Ein Viertel nimmt eine Waisen von verstorbenen MV-Versi Im Weiteren lässt sich Schwarzarbeit Hilfsmassnahme in Anspruch, die es cherten, die am 31. Dezember 2012 mit den aktuellen Kompetenzen der ihnen ermöglicht, zu arbeiten. Drei das AHV-Rentenalter noch nicht er Kontrolleure sowie aufgrund der ge von vier Personen mit Behinderungen reicht haben, werden um 2,2 Prozent genwärtigen Ausgestaltung der De geben an, aufgrund ihrer gesundheit erhöht. Dies, falls die Rente im Jahr klarationspflichten der Arbeitgeber lichen Probleme bei der Erwerbs 2010 oder früher festgesetzt wurde. schwer nachweisen. tätigkeit eingeschränkt zu sein. Am Renten mit Spruchjahr 2011 werden Nach Auffassung des Bundesrats meisten verbreitet sind Einschrän um 1,4 Prozent erhöht. besteht Handlungsbedarf. Er hat das kungen bei der Art der Arbeit sowie Die übrigen Renten, darunter auch Eidgenössische Departement für bezüglich des Arbeitsumfangs. Diese jene der Versicherten im AHV-Alter, Wirtschaft, Bildung und Forschung Ergebnisse gehen aus einem vom werden aufgrund des zu schwachen (WBF) sowie die betroffenen Bundes Bundesamt für Statistik (BFS) durch Anstiegs des Landesindexes der Kon ämter daher beauftragt, die Verbesse geführten Erhebungsmodul für das sumentenpreise im fraglichen Zeit rung des Gesetzesvollzugs sowie eine Jahr 2011 über die Beschäftigung von raum nicht angepasst. Diese Renten Gesetzes- oder Verordnungsrevision Menschen mit Behinderungen hervor. werden bei der nächsten Anpassung bis spätestens Ende 2014 zu prüfen. überprüft. Der Höchstbetrag des ver Auf der Gesetzes- beziehungsweise Finanzielle Lage der Vorsorge- sicherten Jahresverdienstes für die Verordnungsebene soll namentlich einrichtungen im Jahr 2011 Ermittlung der Taggelder und der untersucht werden, wie der Kontroll- Der jährliche Bericht über die finan Renten beträgt 149 423 Franken. Die auftrag der Kontrollorgane und zielle Lage der Vorsorgeeinrichtungen Anpassung der Leistungen der Mili die Zusammenarbeit zwischen den zeigt per Ende 2011, dass sich die Si tärversicherung führt jährlich zu Behörden klarer definiert werden tuation gegenüber dem Vorjahr ver Mehrkosten für den Bund in der Hö können. Im Weiteren sollen eine Er schlechtert hat: Der Anteil der Pensi he von etwa 0,82 Millionen Franken. weiterung der Kompetenzen der Kon onskassen in Unterdeckung hat sich trollorgane, eine Anpassung der zu deutlich erhöht. Aufgrund der aktuell Die Renten der obligatorischen kontrollierenden Deklarationspflich guten Anlageerträge ist indes damit zu Unfallversicherung bleiben ten sowie eine Optimierung des Straf- rechnen, dass sich bis Ende 2012 die unverändert und Sanktionssystems geprüft und Unterdeckungen der Vorsorgeeinrich Die Invaliden- und Hinterlassenen Grundlagen für einen einheitlicheren tungen wieder verringern werden. Zur renten der obligatorischen Unfallver Vollzug durch die Kantone ausgear Sicherung der Kontinuität präsentiert sicherung bleiben per 1. Januar 2013 beitet werden. Schliesslich soll bei die Oberaufsichtskommission Beruf unverändert. Die Teuerung ist seit der dem zur Abrechnung geringfügiger liche Vorsorge (OAK BV) in Zusam letzten Anpassung im Januar 2009 Lohnvolumen geschaffenen verein menarbeit mit dem Bundesamt für nicht gestiegen und der Index der fachten Verfahren geprüft werden, Sozialversicherungen (BSV) nochmals Konsumentenpreise ist seit 2008 sogar wie die steuerliche Belastung gesenkt die Ergebnisse dieser jährlichen Erhe leicht rückläufig. werden kann. Auf der Vollzugsebene bung. Ab 2013 wird diese nun aber auf Seit der Änderung des Bundesge sollen die Ausbildung der Inspektoren eine aktuellere und aussagekräftige setzes über die Unfallversicherung und die Zusammenarbeit mit den Bewertungsgrundlage gestellt. Insbe (UVG) von 1991 werden die Renten Partnerbehörden verbessert werden. sondere soll mit der Erhebung des der obligatorischen Unfallversiche technischen Zinssatzes eine effektive rung gleichzeitig mit den AHV-Ren Vergleichbarkeit der einzelnen De ten an die Teuerung angepasst. ckungsgrade erreicht werden. Sozialhilfe Bilanz über die Umsetzung des Anpassung der Renten Gesetzes gegen die Schwarzarbeit Änderungen und Ergänzungen der der Militärversicherung Die Evaluation des Bundesgesetzes SKOS-Richtlinien per 1. Januar 2013 Der Bundesrat hat beschlossen, die über die Schwarzarbeit (BGSA) er Der Vorstand der SKOS hat im Jahr Renten der Militärversicherung (MV) gab, dass sich dieses am 1. Januar 2008 2012 diverse Anpassungen und Er 2 Soziale Sicherheit CHSS 1/2013
Chronik Dezember 2012 / Januar 2013 gänzungen der SKOS-Richtlinien Die Mitgliedstaaten verabschiede menhalt zu wahren, insbesondere beschlossen. Die SKOS empfiehlt den ten praktisch den gesamten Entwurf vor dem Hintergrund der aktuellen Kantonen, die Änderungen per 1. Ja der Schlusserklärung. Sie erklären Krise. Zwei Unterthemen standen nuar 2013 in Kraft zu setzen. So wur sich bereit, die Umsetzung innovati im Zentrum der Debatten: Schutz de beispielsweise die bisherige Pra ver Jugendpolitiken zu fördern. Fol und Stärkung der Rolle sozial schwa xishilfe (H.10) gekürzt und auf die gende Ziele stehen dabei im Vorder cher Gruppen, insbesondere in Kri neuen Normen des Kapitels A.5.2 der grund: den Jugendlichen den Zugang senzeiten, und soziale Nachhaltigkeit Richtlinien abgestimmt. Die neue zu Rechten erleichtern, die Selbstbe durch Solidarität zwischen den Ge Praxishilfe führt zu einer besseren stimmung von Jugendlichen und die nerationen. Im Anschluss an die Unterscheidung zwischen der Berech volle Teilhabe an der Gesellschaft Konferenz verabschiedeten die Mi nung des Konkubinatsbeitrags und fördern, Jugendliche besser für beste nister eine Erklärung. Darin ver der Berechnung der Entschädigung hende Rechte sensibilisieren. Uneinig pflichten sie sich insbesondere, eine für Haushaltführung. Die vollständi war man sich bei der Frage, ob die kohärente Politik für den sozialen ge Übersicht über die Änderungen Diskriminierung gegenüber Jugend Zusammenhalt auf nationaler Ebene sowie Informationen zur Teuerung lichen aufgrund von «sexueller Ori zu fördern und die Zusammenarbeit (siehe SKOS-News 08/2012) sind auf entierung» und «Geschlechteridenti in diesem Bereich im Europarat wei der Website der SKOS publiziert. tät» in die Erklärung aufgenommen terzuführen. Philippe Perrenoud, werden soll. Dies führte dazu, dass die Berner Regierungsrat, führte die Schlusserklärung schliesslich nicht Schweizer Delegation an. verabschiedet worden ist! Seit Beste Internetseite der Konferenz: International hen der Konferenz ist dies noch nie http://www.socialcohesionistanbul.com vorgekommen. 9. Konferenz der Jugendminister Peter Gomm, Solothurner Regie des Europarates in Sankt rungsrat und Präsident der Sozial Petersburg. direktorenkonferenz SODK, führte Initiativen 252 Teilnehmende, darunter ein die Schweizer Delegation an. Die eidgenössische Volksinitiative Dutzend Minister sowie 90 Jugend «Familien stärken! Steuerfreie Kin vertreter, nahmen Ende September Eine sichere Zukunft der- und Ausbildungszulagen» ist for an der Konferenz teil. Das Schwer für alle schaffen mell zustande gekommen. Die Prü punktthema war der «Zugang von Die zweite Konferenz der Minister fung der Unterschriftenlisten durch jungen Menschen zu Rechten», die für sozialen Zusammenhalt des Eu die Bundeskanzlei hat ergeben, dass soziale Inklusion von jungen Men roparates fand am 11. und 12. Okto von insgesamt 119 590 eingereichten schen, Demokratie und Teilhabe so ber 2012 in Istanbul statt. Das Thema Unterschriften 118 425 gültig sind. wie das Zusammenleben in pluralis lautete: «Eine sichere Zukunft für Die eidgenössische Volksinitiative tischen Gesellschaften. Im Vorfeld der alle schaffen». Die Veranstaltung zog «Für Ehe und Familie – gegen die Konferenz trafen sich die Jugendli Bilanz über die Umsetzung des Heiratsstrafe» ist formell zustande chen an einem Jugendanlass. Dort «Neuen Strategie- und Aktions gekommen. Die Prüfung der Unter konnten sie ihre Meinung äussern und plans» des Europarates für den so schriftenlisten durch die Bundeskanz den Ministern ihre Schlussfolgerun zialen Zusammenhalt und hob be lei hat ergeben, dass von insgesamt gen zum Zugang von jungen Men währte Praktiken hervor, um so ein 121 214 eingereichten Unterschriften schen zu Rechten unterbreiten. hohes Niveau an sozialem Zusam 120 161 gültig sind. Soziale Sicherheit CHSS 1/2013 3
schwerpunkt Schwerpunkt Soziale Sicherheit – gestern und morgen Soziale Sicherheit – gestern und morgen Bundesrat Hans-Peter Tschudi (SP) auf einem Bundesrats-Reisli 1970 beim Überwinden eines Hindernisses, zusammen mit seinen Kollegen Foto: Keystone Ernst Brugger, Nello Celio, Bundeskanzler Huber und Pierre Graber (v.l.n.r.). 4 Soziale Sicherheit CHSS 1/2013
schwerpunkt Schwerpunkt Soziale Sicherheit – gestern und morgen Reform der Altersvorsorge 2020 Die demografischen Veränderungen und die wirt- seit 1985 obligatorisch ist (Bundesgesetz über die beruf schaftliche Entwicklung konfrontieren die schweizeri- liche Vorsorge; BVG). Mit den Leistungen aus beiden Säulen soll die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung sche Altersvorsorge mit grossen Herausforderungen. in angemessener Weise ermöglicht werden. Die dritte Der Bundesrat hat daher Ende November 2012 die Säule beinhaltet das freiwillige, steuerlich privilegierte Leitlinien für eine zukunftsfähige Altersvorsorge Sparen. Die Schweiz hat mit diesem Dreisäulenkonzept definiert. Er verfolgt dabei einen gesamtheitlichen ein sehr gut ausgebautes Vorsorgesystem realisiert, das Ansatz, bei dem die Leistungen der ersten und der es auch für künftige Generationen zu sichern gilt. zweiten Säule gemeinsam betrachtet und aufeinander abgestimmt werden. Im Zentrum stehen die Bedürfnis- Demografische und wirtschaftliche se der Menschen. Sie müssen darauf vertrauen dürfen, Entwicklung als Herausforderung dass ihre Renten nicht sinken und nachhaltig finan- für die Altersvorsorge ziert sind. Der Bundesrat hat das Eidgenössische Das Gesamtsystem der Altersvorsorge unterliegt den Departement des Innern (EDI) beauftragt, auf der Folgen der demografischen und wirtschaftlichen Ent Basis der Leitlinien die Eckwerte der Reform «Alters- wicklungen, wobei sich die Auswirkungen in der ersten vorsorge 2020» auszuarbeiten und bis im nächsten und zweiten Säule voneinander unterscheiden. Sommer dem Bundesrat vorzulegen. Die demografische Entwicklung ist geprägt durch die Verringerung der Kinderzahl je Frau und die Verlänge rung der Lebenserwartung. In der ersten Säule setzt das Umlageverfahren ein Gleichgewicht zwischen den lau fenden Einnahmen und Ausgaben voraus. Dieses Gleich gewicht wird durch die demografische Entwicklung in stabil, weil sich das Verhältnis der beitragszahlenden Aktiven und rentenbeziehenden Pensionierten ver schlechtert. Das Kapitaldeckungsverfahren in der zweiten Säule hingegen ist von der längeren Rentenbezugsdauer betroffen, das heisst, die individuellen Guthaben müssen auf einen längeren Zeitraum verteilt werden. Eine massgebende Rolle für die Altersvorsorge spielt auch die wirtschaftliche Entwicklung. Von einer guten wirtschaftlichen Entwicklung profitiert die AHV, weil eine solche in der Regel zu einer Erhöhung der Lohn summe führt. Langfristig dürfte entsprechend zwar auch die Rentensumme steigen. Weil jedoch die Renten auf Sibel Oezen Bernadette Deplazes grund des Mischindexes (arithmetisches Mittel aus Lohn Bundesamt für Sozialversicherungen index und Preisindex) lediglich um die Hälfte der Real lohnentwicklung steigen, wirkt sich ein hohes Lohnniveau positiv auf die Bildung von Reserven im AHV-Fonds aus. Die drei Säulen des schweizerischen Sozialver- Für die berufliche Vorsorge gilt dieser konjunkturelle sicherungssystems – ein bewährtes Konzept Zusammenhang grundsätzlich nicht. Einerseits wird sie vom Lohnsummen- bzw. vom Beschäftigungswachstum Eingeführt im Jahr 1948 und seither schrittweise ver nur am Rande beeinflusst, andererseits ist die Wirkung bessert, gehört die AHV als erste Säule zum wichtigsten der konjunkturellen Entwicklung auf die Anlagerenditen sozialen Fundament unseres Landes. Sie hat zum Ziel, ungewiss. Entscheidend für die Nachhaltigkeit der beruf zusammen mit den Ergänzungsleistungen den Existenz lichen Vorsorge ist, dass langfristig unabhängig von der bedarf angemessen zu decken. Ergänzt wird die AHV Konjunktur eine Rendite erreicht wird, die höher ist als durch die zweite Säule, d.h. die berufliche Vorsorge, die das Lohnwachstum und die Inflation. Soziale Sicherheit CHSS 1/2013 5
Schwerpunkt Soziale Sicherheit – gestern und morgen Entwicklung des Altersquotienten G1 Bestände und Altersquotient 6000 60% 5500 Szenario «tief» Szenario «mittel» 50% 5000 Szenario «hoch» 4500 40% In Tausend Personen 4000 Aktive 3500 Altersquotient 30% 3000 Altersquotient 2500 20% 2000 10% 1500 Renten 1000 0% 500 0 – 10% 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 2030 Die oben stehende Grafik zeigt den Einfluss der Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung auf den Altersquotienten ab dem Jahr 2010 auf. Der Einfluss auf die Entwicklung der Anzahl der Rentenbeziehenden ist nur bis 2030 erkennbar. Auch nach 2030 ist dem schrittweisen Erreichen des Rentenalters der Kohorten Rechnung zu tragen. Quelle: BSV. Finanzierungsperspektiven der AHV lich der Demografie (das tiefe Szenario mit einem Wanderungssaldo von 30 000 Personen; das mittlere Dank verschiedener finanzieller Massnahmen, die Szenario mit 40 000 Personen und das hohe Szenario seit Ende der 1990er-Jahre1 umgesetzt wurden, sowie mit 50 000 Personen). des positiven Einflusses der bilateralen Abkommen und Der AHV-Fonds ist heute ausreichend ausgestattet, der Migration üben die demografischen Faktoren heu um die ersten Defizite des Umlageergebnisses, welches te noch keinen beachtlichen Druck auf die Rechnung die Differenz aus den jährlichen Einnahmen ohne Zins der AHV aus. Gleichwohl wird die sinkende Geburten erträge und den Ausgaben ausweist, zu decken. Im Jahr rate – zusammen mit der längeren Lebenserwartung – 2011 deckten die Einnahmen der AHV von 39 Milliarden den Abstand zwischen den Aktiven und den Renten Franken die Gesamtausgaben von 38 Milliarden Franken berechtigten vergrössern. Dieses Ungleichgewicht dürf und führten zu einem Überschuss von einer Milliarde te sich in den 2030er-Jahren durch das Erreichen des Franken. Die Trennung des AHV-Fonds und des IV-Fonds Rentenalters der geburtenstarken Jahrgänge (Pensio brachte eine Überweisung von 5 Milliarden Franken à nierung der zweiten Welle der Babyboom-Generation fonds perdu an den IV-Fonds mit sich. 2011 deckte der der 1970er-Jahre) noch akzentuieren. Die Grafik G1 AHV-Fonds 105,5 Prozent einer Jahresausgabe. Damit zeigt die reale Entwicklung des Altersquotienten in der lag diese Grenze über der gesetzlichen Anforderung Vergangenheit und die Szenarien zur zukünftigen Ent (Art. 107 Abs. 3 AHVG). Gemäss den Finanzszenarien wicklung, gestützt auf verschiedene Annahmen bezüg der AHV dürfte das Umlageergebnis ca. 2015 negativ werden. Danach dürften die Kapitalerträge das Defizit 1 Die Zuweisung eines Mehrwertsteuerprozentes zugunsten der AHV seit beim Umlageergebnis bis ungefähr 2020 auffangen kön 1999 und die Einnahmen aus der Spielbankenabgabe seit 2000, die nen. Ab diesem Zeitpunkt muss das Vermögen der AHV Auszahlung des Erlöses aus dem Goldverkauf der SNB, schliesslich die in Anspruch genommen werden, um die laufenden Ren schrittweise Erhöhung des Rentenalters der Frauen von 62 auf 64 Jahre bis 2005. ten zu zahlen. 6 Soziale Sicherheit CHSS 1/2013
Schwerpunkt Soziale Sicherheit – gestern und morgen Umlageergebnis der AHV; Differenz aus den Einnahmen, ohne Zinserträge, und den Ausgaben G2 in Millionen Franken 2000 0 –2000 Szenario «tief» – 4000 Szenario «mittel» Szenario «hoch» – 6000 – 8000 –10000 –12000 –14000 2011 2013 2015 2017 2019 2021 2023 2025 2027 2029 Sämtliche Finanzierungsszenarien der AHV zeigen, teten, als für einen BVG-Umwandlungssatz von 6,8 Pro dass der zusätzliche Finanzbedarf ab 2020 durch das ak zent erforderlich gewesen wäre. tuelle System der AHV nicht mehr gedeckt werden kann. Diese Situation wird verschärft durch die stetige Er Für die Finanzierung der Leistungen müssen ab diesem höhung der Lebenserwartung, welche zur Folge hat, dass Zeitpunkt neue finanzielle Mittel herangezogen werden. das Deckungskapital auf eine längere Zeitperiode auf geteilt werden muss. Diese Ausgangslage führt in der beruflichen Vorsorge dazu, dass der Vermögensertrag Finanzierungsperspektiven primär für die Verzinsung der Kapitalien der Rentenbe der beruflichen Vorsorge züger verwendet werden muss, was zu einer Umverteilung von den aktiven Versicherten zu den Rentenbeziehenden Die berufliche Vorsorge ist seit zehn Jahren mit einem führt. Diese Umverteilung ist umso höher, je höher der konstanten Rückgang der durchschnittlichen Kapital Anteil der Rentendeckungskapitalien an den gesamten rendite konfrontiert. Der Zinssatz der 10-jährigen Bun Vorsorgekapitalien einer Vorsorgeeinrichtung ist. desobligationen sank Ende Januar 2000 von 3,8 Prozent Diese Entwicklung hat in den letzten zehn Jahren auf derzeit 0,6 Prozent. Die durchschnittliche Rendite dazu geführt, dass zahlreiche Vorsorgeeinrichtungen des Pictet Index 93, mit einem Aktienanteil von 25 Pro Pensionierungsverluste in Kauf nehmen mussten. Dass zent, betrug in den letzten zehn Jahren lediglich dieser Verlauf nicht stärkere negative Auswirkungen 2,77 Prozent. In derselben Periode setzte der seit der auf die Stabilität der beruflichen Vorsorge hat, erklärt 1. BVG-Revision geltende Umwandlungssatz von 6,8 sich durch den Umstand, dass der Mindestumwand Prozent eine Rendite von 4,5 bis 5,0 Prozent voraus. lungssatz nur für die obligatorische Minimalvorsorge Dieser Index entspricht dem Anlageportefeuille zahl gilt. Die Mehrheit der Vorsorgeeinrichtungen versichert reicher Vorsorgeeinrichtungen. auch im überobligatorischen Bereich und führt die ge Der Pictet Index 93 entspricht der Anlagepolitik eines setzliche Mindestvorsorge lediglich im Rahmen einer Grossteils der Vorsorgeeinrichtungen und ist somit in der sogenannten Schattenrechnung. Diese Vorsorgeeinrich beruflichen Vorsorge weit verbreitet und anerkannt. Die tungen können den Umwandlungssatz unter den Grafik G3 zeigt auf, dass Vorsorgeeinrichtungen, welche gesetzlichen Mindestumwandlungssatz senken und ma ihr Vermögen gemäss diesem Index anlegten, seit 2001 chen davon auch Gebrauch. Der Mindestumwandlungs einen tieferen Ertrag aus der Kapitalanlage erwirtschaf satz muss jedoch so festgelegt werden, dass er auch von Soziale Sicherheit CHSS 1/2013 7
Schwerpunkt Soziale Sicherheit – gestern und morgen Vorsorgeeinrichtungen erbracht werden kann, welche zu zwei Drittel der privatrechtlichen Vorsorgeeinrich nur die obligatorische Vorsorge oder wenig darüber tungen von Unternehmen über keine oder ungenügen hinaus versichern. de Wertschwankungsreserven verfügen. Anders gesagt, Die finanzielle Lage der Vorsorgeeinrichtungen ist mit können solche Vorsorgeeinrichtungen eine weitere Unsicherheiten behaftet. Die Entwicklung des Deckungs Finanzkrise nicht mehr abfedern, falls die Entwicklung grades der Vorsorgeunternehmen zeigt klar auf, dass der Finanzmärkte weiterhin stagniert oder sich sogar letztere nicht in allen Fällen ihren Stand vor der Finanz verschlechtert. krise im Jahre 2008 erreicht haben. In den ersten neun Monaten des Jahres 2012 konnte zwar ein leichter Um kehrtrend – gegenüber den Jahren 2010 und 2011 – fest Die Reformpläne des Bundesrates gestellt werden. Aber trotz der Stabilisierung der De ckungsgrade konnten mit den realisierten Gewinnen im Allgemeinen noch keine ausreichenden Wertschwan Gesamtsicht und umfassender Lösungsansatz kungsreserven gebildet werden. für eine Reform, die 2020 wirksam wird Es besteht also weiterhin ein kurz- bzw. mittelfristiges Die Reformen, mit denen in den vergangenen Jahren Risiko von Unterdeckungen. So befanden sich Ende Sep versucht wurde, die Altersvorsorge an diese Entwicklun tember 2012 noch immer 9 Prozent der Vorsorgeeinrich gen anzupassen, sind gescheitert: die 11. AHV-Revision tungen ohne Staatsgarantie in Unterdeckung. Die Brut in der Volksabstimmung vom 16. Mail 2004 und beim torendite der Vorsorgeeinrichtungen betrug zwischen zweiten Anlauf 2010 im Parlament, die Anpassung des Ende 2011 und Ende September 2012 etwa 6 Prozent, BVG-Umwandlungssatzes in der Volksabstimmung vom wobei sie sich für das Jahr 2011 schätzungsweise auf 7. März 2010. Der Bundesrat ist heute überzeugt, dass nur 1,1 Prozent belief. eine Gesamtsicht der Probleme und ein umfassender Der Wiederanstieg der Deckungsgrade hängt namhaft Lösungsansatz erfolgversprechend sind. Er betrachtet von der mittel- bzw. langfristigen Entwicklung der darum die beiden Säulen der Altersvorsorge gemeinsam Finanzmärkte ab. In dieser Hinsicht hat die Schulden und will sie so reformieren, dass deren Leistungen und krise die Ungewissheit verschärft, und die Mehrheit der Finanzierungen aufeinander abgestimmt sind. Vorsorgeeinrichtungen muss künftig den Risiken ohne Gemäss den aktuellen finanziellen Perspektiven für Wertschwankungsreserven gegenübertreten. Trotz eines die AHV ist davon auszugehen, dass eine Reform der leichten Anstiegs seit Ende 2011 ist es nicht ausgeschlos Altersvorsorge spätestens ab dem Jahr 2020 greifen muss. sen, dass sich der Deckungsgrad der Vorsorgeeinrich Diese Zeit muss nach Ansicht des Bundesrats genutzt tungen noch verschlechtert, sollte sich die Lage an den werden, um die Reform ausgewogen zu gestalten und bei Finanzmärkten weiterhin verschärfen. Insgesamt wird den politischen Kräften sowie in der Bevölkerung zu festgestellt, dass die Situation schwierig bleibt, da nahe verankern. Dem Parlament sollen daher in der laufenden Entwicklung der Kapitalrenditen G3 20,0 15,0 10,0 Rendite in % 5,0 0,0 –5,0 Notwendige Rendite für Umwandlungssatz 6.8 % im Jahr 2015 Kapitalanlage mit 25 % Aktien (Pictet BVG 93 Index) Trend der Kapitalrendite (Pictet BVG 93 Index) –10,0 1991 2001 2011 1988 1989 1990 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2012 8 Soziale Sicherheit CHSS 1/2013
Schwerpunkt Soziale Sicherheit – gestern und morgen Legislatur die notwendigen Gesetzesänderungen unter breitet werden, damit sie ab dem Jahr 2020 wirksam wer den können. Generelle Ziele des Bundesrates für die künftige Entwicklung des Sozialversicherungssystems Die Leitlinien für eine umfassende Reform Nach Ansicht des Bundesrates müssen bei der Ausar beitung einer mehrheitsfähigen Vorlage einige Leitlinien • Gewährleistung sicherer und angemessener Sozialleistungen beachtet werden. • Sicherstellung eines nachhaltigen finanziellen Gleichgewichts der Sozialwerke Referenzalter für Männer und Frauen bei • Grösstmögliche Transparenz, um das Vertrauen in das System 65 Jahren (AHV und BVG) mit Möglichkeiten der sozialen Sicherheit zu erhöhen für einen flexiblen Altersrücktritt • Bekämpfung der Armut durch die Verbesserung der Synergien zwischen den Sozialversicherungen Aufgrund der Strukturveränderung der Alterspyrami de und der finanziellen Perspektiven der Altersvorsorge wäre eine Erhöhung des Rentenalters folgerichtig. Zwei andere entscheidende Aspekte sind jedoch zu berück sichtigen: die Realitäten des Arbeitsmarktes sowie die bestehende Ungleichheit bei der Lebenserwartung und Heirat etc.) einer Vorsorgeeinrichtung und vom techni den Möglichkeiten, über ein gewisses Alter hinaus er schen Zinssatz (Zinssatz, der für die Berechnung der werbstätig zu bleiben. Deckungskapitalien verwendet wird). In diesem Kontext schlägt der Bundesrat vor, ein ein Da sich die berufliche Vorsorge aufgrund der sinkenden heitliches Referenzalter für Männer und Frauen bei Kapitalrendite und der steigenden Lebenserwartung in 65 Jahren vorzusehen, und zwar sowohl in der ersten als einer schwierigen Finanzlage befindet, erachtet es der auch der zweiten Säule. Dieses Referenzalter soll kom Bundesrat als notwendig, den Mindestumwandlungssatz biniert werden mit einem flexiblen Altersrücktrittssystem für den obligatorischen Teil auf eine angemessene Höhe für eine bestimmte Altersbandbreite, basierend auf ver zu senken. sicherungstechnischen Grundsätzen. Damit wird dem Mit einer Senkung des Umwandlungssatzes auf ein Bedürfnis der Menschen, die einen flexibleren Übergang technisch adäquates Niveau könnte das dem Dreisäulen in den Ruhestand wünschen oder benötigen, Rechnung konzept zugrunde liegende Ziel, wonach die Leistungen getragen. Da ein längerer Verbleib im Erwerbsleben für der BVG-Minimalvorsorge zusammen mit den Renten die finanzielle Sicherung der Sozialwerke wünschenswert der AHV/IV eine Ersatzquote von rund 60 Prozent des ist, möchte der Bundesrat Anreize schaffen, sei es im letzten Einkommens erreichen sollen, vereitelt werden. System der Altersvorsorge oder in der Beschäftigungs Um dies zu verhindern, schlägt der Bundesrat Kompen politik, mit denen die Erwerbstätigkeit bis zum Referenz sationsmassnahmen vor. Zum einen soll mit zusätzlichen alter und darüber hinaus ausgeübt werden kann. Parallel Altersgutschriften, die durch einen früheren Beginn des dazu soll der vorzeitige Altersrücktritt an Attraktivität Sparprozesses, durch höhere Beiträge oder durch eine verlieren, etwa durch die Anhebung der Schwelle von Reduktion des Koordinationsabzuges realisiert werden 58 Jahren für den frühesten Zeitpunkt des Altersrücktritts können, das Leistungsniveau nach BVG erhalten werden. in der beruflichen Vorsorge. Zum andern sind besondere Übergangslösungen zu schaf fen für diejenigen Personen, die aufgrund ihres Alters nicht mehr in der Lage sind, das BVG-Altersguthaben Anpassung des BVG-Mindestumwandlungs mit höheren Beiträgen auf die erforderliche Höhe anzu satzes, verbunden mit Kompensationsmassnah- heben. Solche Kompensationen für die Übergangsgene men zur Erhaltung des Leistungsniveaus ration könnten in der ersten oder der zweiten Säule rea lisiert werden. Mit einem Kapitalzuschlag aus dem Sicher Die Renten der beruflichen Vorsorge werden durch heitsfonds könnte den Betroffenen, die nur über eine den Umwandlungssatz bestimmt, mit dem das Altersgut BVG-Minimalvorsorge verfügen, das Vorsorgeguthaben haben einer versicherten Person bei Eintritt eines Vor erhöht werden. Das gleiche Ziel könnte aber auch mit sorgefalls in eine jährliche Rente der beruflichen Vorsor einer entsprechenden Erhöhung der AHV-Altersrente ge umgewandelt wird. Der Umwandlungssatz seinerseits für die betroffene Übergangsgeneration erreicht werden. hängt von zwei Faktoren ab: von den gewählten versi Zusätzlich sollen im Bereich der beruflichen Vorsorge cherungstechnischen Grundlagen (statistische Wahr institutionelle Aspekte im Hinblick auf die Verbesserung scheinlichkeiten zur Lebenserwartung, Verwitwung, der Transparenz berücksichtigt werden. Zu prüfen sind Soziale Sicherheit CHSS 1/2013 9
Schwerpunkt Soziale Sicherheit – gestern und morgen dabei die institutionellen Massnahmen zur Erweiterung der Finanzlücken in der AHV müssen weitere Wege der Aufsicht der FINMA in Richtung eines effektiven ausgelotet werden, um zusätzliche Finanzquellen zu Versichertenschutzes, zu Verbesserung der Transparenz erschliessen. Angesichts des aktuellen AHV-Leistungs bei den Versicherern und für eine ausgewogene Gewinn niveaus und der erwähnten Ziele der Fortsetzung der verteilung zwischen Versicherten und Aktionären. gewohnten Lebenshaltung wird eine allgemeine Her absetzung der Altersleistungen grundsätzlich ausge schlossen. Das bisherige Leistungsniveau zu erhalten, Nachhaltige Finanzierung der AHV bleibt daher oberste Priorität. Mit gezielten und angesichts der gesellschaftlichen Da der Finanzierungsdruck auf die AHV noch nicht Entwicklung vertretbaren Anpassungen lassen sich da akut ist, sind rigorose Sanierungsmassnahmen derzeit gegen die Ausgaben eindämmen bzw. die Finanzmittel nicht angezeigt. Angesichts des Ausmasses des erwar erhöhen. Das EDI soll daher einen Massnahmenkatalog teten Defizits sind jedoch mittelfristig rechtzeitige Mass der Leistungen und Beiträge erstellen, um realistische nahmen zur finanziellen Konsolidierung der AHV ge Einsparungen bzw. Mehreinnahmen zu erzielen. Fol rechtfertigt. genden Grundsätzen muss aber Rechnung getragen Die Harmonisierung des Referenzalters bei 65 Jahren werden: Die Massnahmen dürfen nicht zu wirtschaftli und die gleichzeitige Einleitung von Massnahmen, um cher Not führen und der soziale Schutz von schwächeren den Zeitpunkt des effektiven Altersrücktritts demjeni Gruppen muss gewahrt bleiben. Aus dieser Sicht wird gen des Referenzalters anzunähern, ermöglichen es, die das EDI besonders die Leistungen an Hinterbliebene, erwartete Finanzierungslücke in der AHV teilweise zu die Regelung der Beiträge von Selbstständigerwerben verringern. Damit allein ist das langfristige Finanzgleich den und die Beitragsprivilegien überprüfen. gewicht aber noch nicht gewährleistet. Zur Deckung Rentenalter in Europa (Stand per 1.1.2012) T1 Gesetzliches Land Bemerkungen Rentenalter Mann Frau Schweden 61–67 61–67 Flexibles Rentenalter seit 2003 Frankreich 60 60 Erhöhung auf 62 bis 2017 Ungarn 62 62 Schrittweise Erhöhung auf 65 bis 2022 Polen 65 60 Ab 2013, Erhöhung auf 67 – für Männer bis 2020 – für Frauen bis 2040 Österreich 65 60 Schrittweise Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 zwischen 2024 und 2033 Grossbritannien 65 60 Schrittweise Erhöhung auf 65 für alle bis 2018 und ab 2018 auf 66 bis 2020 Belgien 65 65 Griechenland 65 65 Für Personen, welche seit 1993 versichert sind Finnland 65 65 Portugal 65 65 Für alle seit 2007 Dänemark 65 65 Schrittweise Erhöhung auf 67 zwischen 2019 und 2022 und danach auf Basis der Lebenserwartung Niederlande 65 65 Ab 2013, schrittweise Erhöhung auf 66 bis 2019 und auf 67 bis 2023 Spanien 65 65 Deutschland 65 65 Schrittweise Erhöhung auf 67 zwischen 2012 und 2029 (monatsweise) Italien 66 62 Schrittweise Erhöhung des Frauenrentenalters auf 66 bis 2018 Irland 66 66 10 Soziale Sicherheit CHSS 1/2013
Schwerpunkt Soziale Sicherheit – gestern und morgen Zur Deckung des restlichen Finanzierungsbedarfs soll 19,55 Prozent der Ausgaben der AHV. Als Folge der de die Suche nach neuen Geldquellen ausgeweitet werden. mografischen Entwicklung wird dieser stark anwachsen. Da eine Erhöhung der Lohnkosten nur die Erwerbstäti gen belasten und überdies die Beschäftigung und die Löhne negativ beeinflussen würde, wird eine Finanzierung Die nächsten Schritte über die Mehrwertsteuer bevorzugt. Der Bundesrat hat das EDI beauftragt, auf der Basis dieser Leitlinien die Eckwerte der «Altersvorsorge 2020» Interventionsmechanismus in der AHV zu konkretisieren und die damit einhergehenden finan ziellen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen vertieft zu Der Bundesrat zeigt sich offen für ein finanzielles Re prüfen. Danach soll ein Entwurf für die Reform ausge gulierungsinstrument in der AHV, das innerhalb von ge arbeitet und Ende 2013 in die Vernehmlassung geschickt setzlich genau definierten Vorgaben greifen kann. Ein werden. solcher Interventionsmechanismus sollte im politischen System eine Warnung auslösen und gegebenenfalls ge zielte und begrenzte automatische Aktionen ermöglichen. Der in der IV-Revision 6b, die sich noch in der parlamen Sibel Oezen, stv. Leiterin Bereich Leistungen AHV/EO/EL, tarischen Beratungsphase befindet, vorgeschlagene Inter Geschäftsfeld Alters- und Hinterlassenenvorsorge, BSV. ventionsmechanismus könnte in seinen Grundzügen als E-Mail: sibel.oezen@bsv.admin.ch Modell für die AHV dienen. Ferner will der Bundesrat prüfen, ob der Bundesbeitrag an die AHV von den Aus gaben entkoppelt und stattdessen an die Entwicklung Bernadette Deplazes, Juristin, Bereich Leistungen AHV/EO/EL, der Mehrwertsteuererträge angebunden werden soll. Geschäftsfeld Alters- und Hinterlassenenvorsorge, BSV. Derzeit beträgt der Beitrag des Bundes an die AHV E-Mail: bernadette.deplazes@bsv.admin.ch Soziale Sicherheit CHSS 1/2013 11
schwerpunkt Schwerpunkt Soziale Sicherheit – gestern und morgen Handlungsbedarf und Handlungsfelder in der sozialen Krankenversicherung Das Bundesgesetz vom 18. März 1994 (KVG) über die zes über die Krankenversicherung vom Mai 2004. Ein Krankenversicherung ist am 1. Januar 1996 in Kraft Teil der vorgeschlagenen Änderungen ist inzwischen in Kraft getreten, ein Teil ist in den eidgenössischen Räten getreten. Es hat die schweizerische Krankenversiche- oder in der Volksabstimmung gescheitert. rung umfassend reformiert. Der Gesetzgeber verfolg- Der Bericht des Eidgenössischen Departements des te drei Hauptziele: Erstens sollte die Solidarität Innern zur Strategie des Bundesrates im Bereich der zwischen Versicherten mit unterschiedlichem Krank- Gesundheitspolitik vom Juni 2011 und die gesundheits heitsrisiko und mit unterschiedlichem Einkommen politische Agenda 2020 vom 23. Januar 2013 erweitern das Spektrum und integrieren die Weiterentwicklung der verstärkt werden. Zweitens ging es darum, den OKP in den gesundheitspolitischen Kontext. Die Wah Zugang zu einer qualitativ hochstehenden, aber für rung des Erreichten wird als eines der Ziele der schwei alle finanziell tragbaren medizinische Versorgung zerischen Gesundheitspolitik bezeichnet. Die gesund sicherzustellen und die Lücken in der obligatorischen heitspolitische Strategie soll die heutigen Stärken stützen Krankenpflegeversicherung (OKP) zu schliessen. und die identifizierten Schwächen so weit als möglich beseitigen. Drittens sollte der neue gesetzliche Rahmen zu einer Nachfolgend werden die Handlungsfelder dargestellt, massvollen Kostenentwicklung beitragen, indem in denen Systemoptimierungen im Bereich der OKP in kosteneindämmende Wettbewerbsmechanismen in Angriff genommen worden sind. einem definierten ordnungspolitischen Rahmen zum Zuge kommen sollten. Aufsicht über die Krankenversicherer Aufsichtsgesetz Bei Inkrafttreten des KVG waren im Gesetz nur we nige Bestimmungen zur Versicherungsaufsicht enthalten. Damals wurde festgestellt, dass sich die Krankenkassen auch ohne die entsprechenden rechtlichen Grundlagen an die Vorgaben des Bundes hielten. In der Zwischenzeit haben jedoch die Entwicklung des Krankenversiche rungsmarktes und der Organisation der Krankenkassen sowie ihre bisweilen angespannte finanzielle Situation Marie-Thérèse Furrer deutlich gemacht, dass gesetzliche Grundlagen fehlen, Bundesamt für Gesundheit die der Aufsichtsbehörde erlauben, Massnahmen zu er greifen. Die verstärkte Aufsicht über die Versicherer soll sich zudem auf das Vertrauen der Versicherten in das Krankenversicherungssystem auswirken. Unter Respek Anlässlich einer Klausursitzung und einer vertieften tierung der Grundsätze der sozialen Krankenversiche Analyse des geltenden Systems hielt der Bundesrat im rung braucht es Mittel, um die Aufsicht wirksam wahr Mai 2002 fest, dass sich das KVG grundsätzlich bewährt zunehmen und so den Erwartungen der Versicherten zu hat. Er wies darauf hin, dass verschiedene Faktoren – wie entsprechen. Zudem erhöht ein solches Gesetz die Trans der medizinische Fortschritt oder die demografische Ent parenz in Bezug auf die Organisation und die finanzielle wicklung – und Eigenheiten des Gesundheitssystems zu Situation der Versicherer. einer Kostensteigerung führen, die tendenziell über der Das Instrument, mit dem der Aufsichtsbehörde an allgemeinen Lohn- und Preisentwicklung liegt. Im Vor gemessene Mittel zur Verfügung gestellt werden, ist dergrund stehe deshalb die Optimierung des Systems, eine gesetzliche Grundlage. Ein separater Erlass soll insbesondere durch ökonomische Anreize. Auf die Stra Klarheit darüber schaffen, unter welchen Vorausset tegie der Systemkonsolidierung berief sich der Bundesrat zungen die Aufsichtsbehörde intervenieren kann oder auch in seiner Botschaft zur Änderung des Bundesgeset muss und welche Massnahmen sie anwenden darf. Der 12 Soziale Sicherheit CHSS 1/2013
Schwerpunkt Soziale Sicherheit – gestern und morgen Bundesrat hat den Gesetzesentwurf und die entspre mit denen die stationäre Behandlung im Spital vergütet chende Botschaft am 16. Februar 2012 an das Parlament wird, übernehmen. überwiesen. Die neue Finanzierungsregelung ist noch nicht voll ständig umgesetzt. Die leistungsbezogenen Pauschalen Initiative «Für eine öffentliche Krankenkasse» und wurden vorerst nur im akutstationären Bereich eingeführt Gegenvorschlag (SwissDRG), in den Bereichen Psychiatrie und Rehabi Die Initiative «Für eine öffentliche Krankenkasse», litation müssen die einheitlichen Tarifstrukturen fertig die am 23. Mai 2012 eingereicht worden ist, fordert, dass entwickelt werden, bevor diese dem Bundesrat zur Ge die soziale Krankenversicherung von einer einheitlichen, nehmigung unterbreitet werden können. Die Abgeltung nationalen Einrichtung durchgeführt wird und dass für der Investitionskosten erfolgt noch nicht, wie vom Gesetz jeden Kanton einheitliche Prämien definiert werden. vorgegeben, leistungsbezogen, sondern durch einen Pau Die Initianten bemängeln, dass im heutigen System der schalzuschlag. Im Übrigen ist die Spitalplanung, die mit Wettbewerb zwischen den Krankenversicherern oftmals der KVG-Revision auf der Grundlage von Qualität und am falschen Ort spiele, indem Anstrengungen zur Risi Wirtschaftlichkeit vorgenommen werden muss, ein Pro koselektion für die Versicherer betriebswirtschaftlich zess, der erst begonnen hat. Bis Ende 2014 müssen alle mehr einbringen als solche, die auf bessere Qualität, Kantone über eine Spitalplanung verfügen, die den neu kundenfreundliche Dienstleistungen und Innovation en Anforderungen entspricht. abzielen. Ein indirekter Gegenvorschlag zur Initiative Um die Auswirkungen der KVG-Revision im Bereich nimmt diese Kritik auf, ohne aber den Wettbewerb zwi der Spitalfinanzierung zu untersuchen, hat der Bundesrat schen den Krankenversicherern aufzuheben und da im Mai 2011 die Durchführung einer entsprechenden durch die Versicherten der Möglichkeit zu berauben, Wirkungsanalyse in den Jahren 2012 bis 2018 gutgeheis den Versicherer zu wechseln, wenn sie mit der Dienst sen und deren Finanzierung von 2012 bis 2015 gesprochen. leistung unzufrieden sind. Mit dem Gegenvorschlag Nach der Hälfte der Studiendauer sind der weitere Bedarf werden weitere Verbesserungen des Systems eingeführt und die Umsetzungsmöglichkeiten neu zu prüfen. Ge und Fehlanreize behoben. Der vom Bundesrat skizzier stützt auf die Vorschläge, die in einer im Jahre 2010 im te Vorschlag basiert auf zwei Elementen. Erstens wird Auftrag des BAG durchgeführten Machbarkeits- und mit dem Zusammenspiel zwischen einer neu eingerich Konzeptstudie zur Evaluation der KVG-Revision im teten Rückversicherung für sehr hohe Kosten und einem Bereich der Spitalfinanzierung enthalten sind, sollen von verfeinerten Risikoausgleich, der als weiteres Kriterium 2012 bis 2018 sechs wissenschaftliche Studien durchge neu auch die Medikamentenkosten mit einbezieht, die führt werden. Risikoselektion unterbunden. Somit kann der Wettbe werb dort spielen, wo er vom Gesetzgeber ursprünglich Qualitätsstrategie gewollt ist, nämlich bei der Qualität der Versicherungs Der Bundesrat hat am 28. Oktober 2009 den Bericht angebote. Das zweite Element des indirekten Gegen zur Qualitätsstrategie des Bundes im Schweizerischen vorschlags ist die Trennung von Grund- und Zusatzver Gesundheitswesen und am 25. Mai 2011 den entspre sicherungen. Die Versicherungen sollen in Zukunft von chenden Konkretisierungsbericht gutgeheissen. Damit unterschiedlichen juristischen Einheiten durchgeführt der Bund seine neue aktive Rolle in der Qualitätssiche werden, zwischen denen Informationsbarrieren beste rung langfristig wahrnehmen und die Vorhaben in den hen. Auch dieses Element dient der Eindämmung der neun Aktionsfeldern der Qualitätsstrategie wirkungsvoll Risikoselektion. Zudem verbessert es die Transparenz und nachhaltig umsetzen kann, sollen unterstützende und den Datenschutz. nationale Strukturen geschaffen werden. Ein Qualitäts institut soll fachliche Grundlagenarbeiten durchführen, den Bund fachlich beraten und die vom Bund bestimm Leistungen und Finanzierung ten Qualitätsprogramme und Qualitätserhebungen um setzen. Eine nationale Qualitätsplattform aus Vertretern der Akteure des Gesundheitswesens soll den Bund stra Wirkungsanalyse zur KVG-Revision im Bereich tegisch beraten. Für die nachhaltige Finanzierung des der Spitalfinanzierung gesamten Umsetzungsprozesses soll die gesetzliche Am 23. Dezember 2007 beschlossen die eidgenössi Grundlage geschaffen werden. schen Räte die KVG-Revision im Bereich der Spitalfi Für eine Übergangsphase (2012 bis 2014) bis zur Schaf nanzierung. Die Gesetzesänderung trat Anfang 2009 in fung der gesetzlichen Grundlagen wurde vom Bundesrat Kraft und die neue Finanzierungsordnung gilt seit Anfang eine Erhöhung des Finanzierungsplafonds um 1,2 Mio. 2012. Mit der dual-fixen Finanzierung der Leistungen Franken pro Jahr beschlossen. Damit werden ein erstes müssen die Kantone mindestens 55 Prozent und die OKP nationales Qualitätsprogramm, die Erarbeitung von Qua höchstens 45 Prozent der leistungsbezogenen Pauschalen, litätsindikatoren sowie weitere Sofortmassnahmen an Soziale Sicherheit CHSS 1/2013 13
Schwerpunkt Soziale Sicherheit – gestern und morgen gegangen werden. Parallel dazu erfolgt die Erarbeitung eingeführt. Unter den TARMED-Tarifpartnern herrscht der Grundlagen zur strukturellen Umsetzung und deren Konsens, dass die Tarifstruktur TARMED umfassend Finanzierung. revidiert werden muss. Der Bundesrat hat bereits im Mit Durchführung von Nationalen Qualitätsprogram Rahmen der Genehmigungen der Anpassungen des TAR men will der Bund in einem ersten Schritt die Themen MED in den Jahren 2005 und 2006 eine Revision gefor «Sichere Chirurgie» und «Medikationssicherheit» ange dert. Auch die Eidgenössische Finanzkontrolle stellte hen. Die Stiftung für Patientensicherheit wurde mit der nach ihrer Evaluation des TARMED Ende 2010 einen Durchführung der entsprechenden Programme beauf grundlegenden Revisionsbedarf fest. Insbesondere geht tragt. Der Start des Pilotprogramms «Sichere Chirurgie» es darum, die seinerzeit verwendeten Kostengrundlagen ist auf Mitte 2013 geplant. Das Pilotprogramm «Medika zu aktualisieren und der seit Einführung des Tarifs ein tionssicherheit» wird ein Jahr später erfolgen. getretenen medizinischen und technischen Entwicklung Rechnung zu tragen. Health Technology Assessment Die Tarifpartner haben mit den Revisionsarbeiten be Unter dem Begriff Health Technology Assessment gonnen. Das KVG gibt vor, dass sie auf eine betriebs (HTA) wird die Informationssynthese über Nutzen, Scha wirtschaftliche Bemessung und eine sachgerechte Struk den, Wirtschaftlichkeit sowie ethische und gesellschaft tur der Tarife zu achten haben. Zudem müssen sie dem liche Aspekte von medizinischen Leistungen verstanden, im KVG verankerten Wirtschaftlichkeitsgebot und dem die die Entscheidungsfindung auf politischer und insti daraus abgeleiteten Grundsatz Rechnung tragen, dass tutioneller Ebene unterstützt. Die Prozesse zur Bezeich ein Wechsel des Tarifmodells keine Mehrkosten verur nung der OKP-Leistungen orientieren sich bereits seit sachen darf. Angesichts der Komplexität des TARMED Jahren an HTA-Grundsätzen, indem für Anträge Vorga und der unterschiedlichen Interessen der am Tarifvertrag ben gelten, die die Vollständigkeit und Neutralität der beteiligten Leistungserbringer und Versicherer ist nicht Informationen zur Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und mit einer schnellen Lösung zu rechnen. Deshalb haben Wirtschaftlichkeit sicherstellen sollen. Die Geschäftsprü die eidgenössischen Räte am 23. Dezember 2011 eine fungskommission des Nationalrats (GPK-N) hat im Ja subsidiäre Eingriffsmöglichkeit des Bundesrates be nuar 2009 verschiedene Empfehlungen zu diesen Pro schlossen. Ab 1. Januar 2013 kann der Bundesrat Anpas zessen abgegeben: so soll das Antragssystem beibehalten sungen an einer bereits bestehenden Tarifstruktur fest werden, Verwaltung und beratende Kommissionen sollen setzen, wenn sich die Struktur als nicht mehr sachgerecht aber mehr personelle und finanzielle Mittel erhalten, um erweist und sich die Parteien nicht auf eine Revision die Anträge zu validieren, ergänzende Berichte einzuho einigen können. len und bestehende Leistungen zu überprüfen. Der Bundesrat hat in seinen Antworten auf die (vom Arzneimittel: neues Preisfestsetzungssystem Parlament überwiesenen) Motionen 10.3353 und 10.3451, Das KVG bestimmt, welche Leistungen von der OKP die die Institutionalisierung von Health Technology As vergütet werden. Die zu übernehmenden Leistungen sessment fordern, in Aussicht gestellt, in einem ersten müssen den Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmässig Schritt Zielgruppen, methodische Arbeitsweise, Träger keit und Wirtschaftlichkeit entsprechen. Als vergütungs schaft und Finanzbedarf zu klären und einen Umset pflichtig erklärt das KVG u.a. die ärztlich oder allenfalls zungsvorschlag zu erarbeiten. Dabei sollen das Antrags von Chiropraktoren oder Chiropraktorinnen verordne system beibehalten, aber ergänzend Mittel und Struktu ten Arzneimittel, die in der Spezialitätenliste (SL) auf ren für HTA bereitgestellt werden, sodass künftig geführt sind. vermehrt unabhängige ergänzende Berichte zur Entschei Vor dem Hintergrund der ausserordentlichen Wäh dungsunterstützung verfügbar sind. Dabei kann einerseits rungssituation hat der Bundesrat im März 2012 beschlos auf bestehende Strukturen und Fachkompetenz in der sen, die Überprüfungsmechanismen der Preise der in Schweiz abgestellt, anderseits internationale, vor allem der SL gelisteten Arzneimittel so anzupassen, dass Wech europäische Zusammenarbeit genutzt werden. selkursschwankungen besser berücksichtigt werden. Diese Massnahmen lösten divergierende Reaktionen TARMED: Überarbeitung der Tarifstruktur bei den betroffenen Stakeholdern aus und wurden auch sowie subsidiäre Kompetenz des Bundesrates in verschiedenen parlamentarischen Vorstössen thema zur Anpassung von Tarifstrukturen tisiert. Der Arzttarif TARMED gelangt sowohl in der obliga Mit der Annahme des Postulates 12.3614 «Medika torischen Unfallversicherung, Militär- und Invalidenver mentenpreise. Neue Methode für die Preisfestsetzung» sicherung als auch der in der OKP zur Anwendung. Der durch den Nationalrat hat der Bundesrat zu prüfen und Bundesrat genehmigte die Einführungsversion im Sep in einem Bericht darzulegen, wie ab dem Jahr 2015 die tember 2002. Für die OKP wurde der TARMED per Preisfestsetzung angepasst werden kann. Erste Gesprä 1. Januar 2004 in den Arztpraxen wie in den Spitälern che dazu haben mit den Vertretern der Verbände der 14 Soziale Sicherheit CHSS 1/2013
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