STEPHAN BÖCKENFÖRDE Militärische Gewalt als Mittel künftiger amerikanischer Außenpolitik
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STEPHAN BÖCKENFÖRDE Militärische Gewalt als Mittel künftiger amerikanischer Außenpolitik M ilitäroperationen stellen für die Vereinigten Staaten die Fortsetzung der Politik mit ande- ren Mitteln dar. Sie dienen zur Durchsetzung des des Militärs, und indem er die materiellen Voraus- setzungen kontrolliert, bestimmt er auch indirekt über die militärischen Einsatzmöglichkeiten mit. nationalen Interesses. Seit 1947 besteht dieses für Konkreten Entscheidungen über Militäreinsätze die Vereinigten Staaten nun nicht mehr nur aus geht der Kongress aber in der Regel aus dem Weg einem klassischen »genuin nationalen« Interesse, und überlässt der Regierung die alleinige Verant- sondern ist untrennbar gepaart mit der selbstauf- wortung für Wohl und Wehe – beispielsweise im erlegten Übernahme der Verantwortung für den Falle der Resolutionen, mit denen der Kongress Erhalt globaler Stabilität. Die Vereinigten Staaten am 12.1.1991 dem Präsidenten das Recht gab, am nehmen seitdem die Rolle einer Weltordnungs- Persischen Golf Krieg zu führen. Lediglich fünf- macht wahr. An dieser Aufgabe orientiert haben mal kam der Kongress seiner in der Verfassung ver- sie – in Abkehr von dem zuvor praktizierten welt- ankerten Aufgabe nach, formal selbst einen Krieg politischen Isolationismus – ihr militärisches Poten- zu erklären – zum letzten Mal 1941 (davor 1812, zial seit den späten 40er Jahren aufgebaut. Sie 1846 und 1917; 1898 geschah dies sogar gegen den haben seitdem die Verantwortung für die Siche- Willen des damaligen Präsidenten McKinley). rung der Weltordnung nicht an Dritte – andere Zum Stopp eines Einsatzes – der War Powers Act Staaten oder internationale Organisationen – abge- schafft dafür die rechtliche Grundlage – ist es bis- treten, und eine solche Entwicklung ist auch für her dagegen noch niemals gekommen. die Zukunft nicht zu erwarten; stattdessen ver- So sehr sich also die Mehrheit der Kongress- folgen die Vereinigten Staaten konsequent die mitglieder im Ernstfall bei Entscheidungen zurück- Politik eines globalen »leadership«. hält oder sogar explizit die Prärogative des Präsi- Sicherlich wird jede US-Regierung von ihrem denten in außen- und sicherheitspolitischen Fragen militärischen Potenzial Gebrauch machen, wenn verteidigt, so gering ist letzten Endes auch der Ein- das Überleben der Nation oder zentrale Pfeiler der fluss der öffentlichen Meinung bei Entscheidun- Weltordnung auf dem Spiel stehen. Unterhalb gen zu Militäreinsätzen. Denn sobald US-Soldaten dieses Interesses von »höchstem vitalen Wert« in einen Kampfeinsatz geschickt werden, trägt eine aber basieren die Entscheidungen zu militärischen Bevölkerungsmehrheit – von einem patriotischen Einsätzen auf der Abwägung der politischen Kos- »rally-around-the-flag«-Gefühl beseelt – für einen ten und des zu erwartenden Nutzens. So kann gewissen Zeitraum eine solche Entscheidung der unter Umständen der Einsatz militärischer Mittel Regierung mit. (So war es beispielsweise für Clin- gerade auch in solchen Fällen opportun erscheinen, ton möglich, 1994 den Haiti-Einsatz selbst gegen in denen offensichtlich weniger drängende Interes- die Ablehnung durch eine Mehrheit in der Bevöl- sen durchgesetzt werden sollen. Militäreinsätze kerung anzuordnen.) sind also nicht unbedingt immer das »letzte Mit- Diese weitgehende Autonomie bei Entschei- tel«, sondern ein Mittel unter anderen im Katalog dungen über Militäreinsätze besitzt die Regie- machtpolitischer Möglichkeiten. rungsspitze auch gegenüber einzelnen Interessen- Jeder Militäreinsatz steht in den Vereinigten gruppen. Gerade der Einfluss, den »die Wirt- Staaten unter einem innenpolitischen Vorbehalt. schaft« auf diese Entscheidungen angeblich haben Dieser wird allerdings oft überschätzt: Zwar be- soll, wird gemeinhin überschätzt. Auch hier gilt: sitzt der Kongress über seine Haushaltskompeten- Die Regierung entscheidet weitgehend selbststän- zen einen großen Einfluss auf den Alltagsbetrieb dig. Sicherlich gibt es oft deutliche Konvergenzen 398 Stephan Böckennförde, Militärische Gewalt als Mittel künftiger amerikanischer Außenpolitik IPG 4/2001
zwischen dem »nationalen« Interesse, das die Kämpfen um lokale bzw. regionale Gewaltmono- Regierung wahrzunehmen hat, und demjenigen pole, einem Nebeneinander von nationalen und verschiedener gesellschaftlicher Akteure. Es ist post-nationalen Strukturen sowie von nationalen zudem nur natürlich, dass einige dieser Akteure und transnationalen Bedrohungen geprägt werden unmittelbar von den Folgen militärischer Einsätze wird. profitieren. Das bedeutet aber nicht, dass Mili- Auf der traditionellen nationalstaatlichen und täreinsätze nun primär zur Durchsetzung von Parti- geostrategischen Ebene wird der Brennpunkt des kularinteressen durchgeführt würden. Nach wie Weltordnungskonfliktes in Zukunft nicht mehr in vor hat Stephen Krasners Feststellung von 1978 Europa liegen (um zahlreiche »Stellvertreter- Bestand, dass Militäreinsätze nur nachgeordnet kriege« in Afrika, Asien und Lateinamerika er- der Wahrnehmung von Sonderinteressen dienen. gänzt), sondern in Asien. Die sich abzeichnenden Zugleich gibt es nach dem Ende des Ost-West- Spannungen werden dabei einerseits durch die Konfliktes aber auch ein neues Phänomen: Den Konsequenzen von Bevölkerungswachstum und Einfluss des öffentlichen Diskurses auf Entschei- den Ressourcen- (im Wesentlichen: Energie-) dungen zu Militäreinsätzen. So kann man feststel- Bedarf der neuen Wirtschaftszentren Ostasiens, len, dass sich Partikularinteressen dann auf diese andererseits durch die zu erwartenden Folgen der Entscheidungen auswirken, wenn ihnen über einen Großmachtambitionen Chinas bestimmt werden. längeren Zeitraum hinweg im innenpolitischen In den Szenarien vieler »Realisten« in den Verei- Diskurs eine besondere Prominenz verliehen wor- nigten Staaten wird in der Zukunft China als neue, den ist und dabei die Regierung möglicherweise expansive Weltmacht gegenüber den Vereinigten unter Handlungszwang geriet oder diese Interes- Staaten diejenige Rolle spielen, die früher die sen im Verlauf der öffentlichen Debatte äußerlich Sowjetunion eingenommen hatte. (Voraussetzung den Charakter von »nationalen« Interessen ange- dafür ist allerdings, dass China in den kommenden nommen haben. In solchen Fällen sind die Opera- Jahren im Zuge der wirtschaftlichen und gesell- tionen weniger außenpolitisch als vielmehr innen- schaftlichen Öffnung an seinen inneren Wider- politisch motiviert. Dieses Phänomen hat vor sprüchen nicht zerbricht.) Russland wiederum wird allem bei den Operationen in Somalia, in Haiti, in in der näheren Zukunft allenfalls durch seine Atom- Bosnien und im Kosovo eine maßgebliche Rolle waffen und seinen Beitrag bei der Verbreitung von gespielt. Massenvernichtungswaffen noch bedeutsam sein. Außerdem wird erwartet, dass auch Indien in der Zukunft einen Großmachtstatus erreicht. Der Bedrohungskatalog: Das Nebeneinander von alten Daneben könnte Japan seine Bedeutung durch und neuen Konfliktformen den Ausbau seiner Streitmacht deutlich erhöhen, sollte dazu der politische Wille (möglicherweise Ein wesentliches Problem für jede US-Regierung sogar die innenpolitische Notwendigkeit) vorhan- besteht darin, die (globale) Reichweite der von ihr den sein. Unklar ist noch, welche Entwicklung die wahrgenommenen nationalen Interessen und ihre beiden Koreas nehmen werden und welche Rolle Fähigkeiten zur Machtprojektion in Übereinstim- ein sich zunehmend öffnender Iran spielen wird, mung zu bringen. Das betrifft zum einen die geo- aber auch diese Staaten können ihre Bedeutung graphischen Dimensionen, zum anderen aber auch vergrößern. die Mittel, über die sie für denkbare Militär- Neben der Herausbildung dieser Machtzentren einsätze rechtzeitig verfügen muss. Dem zweiten werden im asiatischen Raum auf der anderen Seite Punkt wird in der näheren Zukunft ein besonderes auch Regionen großer Instabilität entstehen, vor Gewicht zukommen: Es geht nicht mehr nur allem im indonesisch-philippinischen Raum, aber darum, wie bisher das bestehende militärische auch in Pakistan/Afghanistan und schließlich im Inventar zu modernisieren und gegebenenfalls schwach besiedelten östlichen Teil Russlands. So auszubauen, sondern es auch durch neue Plattfor- wird es zu einem unmittelbaren, den Kontinent men und darauf abgestimmte Einsatzstrategien zu unter Umständen stark destabilisierenden Neben- ergänzen. Man wird Herausforderungen in einer einander von neuen Machtzentren und ausge- Umwelt begegnen müssen, die zunehmend von sprochen schwachen Regionen kommen. IPG 4/2001 Stephan Böckennförde, Militärische Gewalt als Mittel künftiger amerikanischer Außenpolitik 399
Die sich anbahnenden zentralen Umwälzun- die Drohung mit biologischen, chemischen oder gen im internationalen System werden die Verei- sogar nuklearen Waffen die Regionen zu destabili- nigten Staaten fast zwangsläufig zum Eingreifen sieren oder – mittels Raketen oder durch terroristi- herausfordern. Denn zum einen ist es für große sche Akte – die US-Alliierten in Europa und in Teile der politischen Elite in den Vereinigten Staa- Asien, am Ende gar die Vereinigten Staaten selbst ten unvorstellbar, den Aufstieg einer antagonis- zu treffen. Darüber hinaus sind der Irak und der tischen Großmacht – im Klartext: vor allem den Iran unmittelbar in der Lage, den Zugang zu den Aufstieg Chinas zu einer militärischen Weltmacht Ölquellen des Nahen Ostens zu versperren, womit – widerstandslos hinzunehmen. Entsprechend diesen beiden Staaten eine besondere Rolle zu- wird man Chinas (geopolitische) Rolle so stark wie kommt. möglich einzuschränken versuchen. Zum anderen Neben diese Bedrohungen traditioneller geo- werden die Vereinigten Staaten angesichts der politischer Natur – wenn auch mit neuen Akteuren wachsenden Spannungen und möglichen Verwer- und an anderen Schauplätzen – treten zunehmend fungen ihre Rolle als stabilitätssichernde Weltord- »transnationale« bzw. »post-nationale« Gefahren. nungsmacht an wesentlichen Brennpunkten – War es bis vor einigen Jahren in erster Linie noch wenn auch nicht an allen – erfüllen wollen. die internationale Kriminalität, vor allem in der Dabei kommt es zusätzlich zwischen den Verei- Form der Drogenkriminalität, der man in der nigten Staaten und den aufsteigenden geostrate- außenpolitischen Diskussion in den Vereinigten gischen Mächten zu einer – aus dem Ost-West- Staaten besondere Bedeutung beimaß, so tritt seit Konflikt nicht bekannten – unmittelbaren Konkur- einigen Jahren der internationale Terrorismus an renz um Märkte und Ressourcen. Dies betrifft vor diese Stelle. Mittlerweile ist eine Vielzahl von allem die Verfügung über die endlichen Weltener- Institutionen in den Vereinigten Staaten entstan- giereserven und wird die Vereinigten Staaten (und den, mit denen man auf den internationalen Ter- ihre Konkurrenten) zu einer besonderen Beach- rorismus reagiert, etwa die große Gruppe staat- tung aller Entwicklungen veranlassen, die sich in licher Zivilschutz-Agenturen, die in das Netz der den erdölreichen Regionen am Persischen Golf Nationalen Sicherheitsstruktur eingebunden sind, und im Kaukasus sowie entlang der wichtigen See- oder der vor zwei Jahren gebildete »Senatsunter- wege anbahnen. ausschuss zur Behandlung entstehender Gefahren« Schließlich wird auch der erdnahe Weltraum (Senate Subcommittee on Emerging Threats), der verstärkt ins Blickfeld der Geostrategen geraten. sich bisher besonders diesen neuen Bedrohungen Er besitzt für die technologische Infrastruktur der – von biologischen und chemischen Waffen bis industrialisierten Welt eine elementare Bedeutung, zum »Cyber-Terrorismus« – widmete. und im Weltraum stationierte Waffensysteme bie- Auch wenn diese »neuen« Gefahren zum Teil ten heute schon unverzichtbare, in der Zukunft noch – etwa als »asymmetrische Bedrohungen« – praktisch ungeahnte neue Möglichkeiten zur von (»Schurken«-)Staaten ausgehen oder zumin- Kriegsführung auf der Erde. Entsprechend wird dest von ihnen geduldet werden (z. B. von Afgha- der Weltraum in Zukunft militarisiert werden und nistan im Falle Osama bin Ladens), so besteht einen neuen potenziellen Kriegsschauplatz für die ihre neuartige Qualität doch darin, dass sie sich Technologiemächte darstellen – Militärs in den zunehmend der staatenweltlichen Sphäre entzie- Vereinigten Staaten gehen davon aus, dass es ab hen. Entsprechend sind sie mit den herkömm- 2015 zu militärischen Auseinandersetzungen im All lichen diplomatischen Mitteln nicht mehr in den kommen könnte. Griff zu bekommen. Und auch die klassischen Neben den »neuen Großmächten« und der militärischen Mittel aus der Zeit des Ost-West- sich ergebenden Verschiebung der Konfliktregio- Konfliktes sind weitgehend ungeeignet in diesen nen werden die »Sorgenstaaten« (»states of con- Auseinandersetzungen. cern« bzw. »rogue states«) – z. B. der Irak, der Ein wichtiger Herd für die neuen Gefahren Iran, Nordkorea oder Libyen – bis auf weiteres sind neben den »Schurkenstaaten« auch die »kolla- ihre prominente Rolle in den sicherheitspoli- bierenden Staaten« – Nationen also, in denen tischen Konzeptionen der Vereinigten Staaten die staatliche Ordnung stark eingeschränkt oder behalten. Ihnen traut man gemeinhin zu, durch bereits weitgehend zusammengebrochen ist. Als 400 Stephan Böckennförde, Militärische Gewalt als Mittel künftiger amerikanischer Außenpolitik IPG 4/2001
Ausgangspunkt für Bedrohungen werden diese waffe getragen, aber möglicherweise auch als »geschwächten« Länder in den Vereinigten Staa- Landkrieg geführt. In den Katalog möglicher ten als mindestens so gefährlich eingeschätzt wie Kriegsschauplätze wird dabei in den kommen- die »starken« Staaten. den Jahren zunehmend der Weltraum einbe- Zivile/politische Krisenprävention, wie sie von zogen werden. Diese militärischen Einsätze den Europäern seit einiger Zeit konzipiert wird, ist dienen den Vereinigten Staaten zum Erhalt in den Vereinigten Staaten eher unpopulär – hier des geopolitischen Systems und/oder dem wird Krisenprävention nach wie vor vor allem als Schutz überragender eigener Interessen. Mögli- Systemumbau und Reduzierung von Waffen in che zukünftige Gegner sind China, eventuell »starken« Staaten verstanden (etwa in Form der auch der Irak oder Nordkorea. Sicherung von Nuklearwaffen in der ehemaligen Der »kleine Krieg«, der entweder mit dem Sowjetunion). Entsprechend fehlt den Vereinigten Ziel der Wiederherstellung regionaler Stabilität Staaten weitgehend das außenpolitische Instru- geführt wird (möglicherweise in Kolumbien u. a.) mentarium, um jenseits von militärischen Maß- oder der im Wesentlichen auf innenpolitische nahmen auf die Bedrohungen zu reagieren, die Faktoren in den Vereinigten Staaten zurückzu- von kollabierenden Staaten ausgehen. führen ist und der in diesen Fällen stark huma- Schließlich wird auch von einigen amerika- nitär motiviert sein wird (z. B. ein mögliches nischen Beobachtern auf die Gefahren hingewie- Eingreifen im Sudan). sen, die sich langfristig aus nicht-traditionellen Kriege »niedriger Intensität« und Einsätze von Krisen ergeben können. Diese Krisen resultieren Spezialeinheiten in Unruhezonen. vor allem aus Umweltproblemen, aus dem Fehlen Kommandoeinsätze oder isolierte Luftschläge von sauberem Wasser, aus Epidemien und Hun- zur Bekämpfung von Terrorismus, Drogenhan- gersnöten. Die entstehenden Gefahren wirken eben- del oder der Verbreitung von Massenvernich- falls transnational, und schleichend können sie tungswaffen; möglicherweise auch Vergeltungs- große Weltregionen destabilisieren. Im Vorder- schläge. grund wird hier in der Zukunft sicherlich Afrika Kommando-Operationen zum Schutz von stehen. Lösen lassen sich solche Krisen nur mit Staatsbürgern oder US-Einrichtungen im Aus- großen lang anhaltenden Kraftanstrengungen, land. in denen das Militär allenfalls eine untergeord- Insgesamt ist bemerkenswert, dass die Vereinigten nete, assistierende Rolle bei der vorübergehenden Staaten auch nach dem Ende des Ost-West-Kon- Stabilisierung von Unruheregionen spielen kann. fliktes für die »großen Kriege« am besten gerüstet Da sich diese Regionen zugleich – bis auf Ostafrika bleiben, während diese Konflikte zugleich auf- – weit entfernt von den geopolitisch brisanten grund der hohen politischen Kosten für alle Betei- Räumen befinden, besitzen sie – wie etwa der ligten am unwahrscheinlichsten erscheinen. Ein Sudan zur Zeit – allenfalls das Potenzial, über wesentlicher Grund für das langsame Reagieren lange Zeit die innenpolitische Diskussion in den auf die veränderte Lage liegt in der Schwerfäl- Vereinigten Staaten zunehmend zu beeinflussen ligkeit des militärischen Apparates und in der und gegebenenfalls über den Weg der Innen- Fähigkeit der politischen Eliten in den Vereinigten politik schließlich auch militärische Einsätze zu Staaten, zum Schutz ihrer Pfründe weitgehend provozieren. reformresistent die bestehenden Strukturen zu Aus den unterschiedlichen perzipierten Bedro- erhalten. In diesem Zusammenhang spielt der hungen für das geopolitische System in seiner der- Kongress eine herausragende Rolle, dessen Mit- zeitigen Gestalt und den Gefahren für die Verei- glieder zugunsten ihrer Wahlkreise – »all politics nigten Staaten sowie für ihre nationalen Interessen is local« – im Verteilungskampf um die Mittel ergeben sich fünf unterschiedliche Formen mili- oft noch über die Forderungen der Militärs tärischer Einsätze, zu denen sich die US-Regierun- hinausgehen und so grundlegende Veränderun- gen in den kommenden Jahren veranlasst sehen gen, Neuausrichtungen und Umstrukturierungen könnten: behindern. Traditionelle Kriege auf einer nationalstaat- lichen Ebene, im Wesentlichen von der Luft- IPG 4/2001 Stephan Böckennförde, Militärische Gewalt als Mittel künftiger amerikanischer Außenpolitik 401
Die sicherheitspolitischen Vorstellungen in der neuen genheit wiederholt unmissverständlich gefordert, Regierung unter Präsident Bush dass militärische Operationen nur unter sehr klar definierten Umständen durchgeführt werden Der – für neue US-Regierungen durchaus normale dürften. Damit wird sich die Führung im Außen- – außen- und sicherheitspolitische Schlingerkurs ministerium in der näheren Zukunft gegen neue der ersten Monate ist mittlerweile einem ruhi- Einsätze aussprechen – zumindest solange keine geren außenpolitischen Alltagsgeschäft gewichen, unmittelbare Bedrohung vitaler Interessen vor- und der Alarmismus der Anfangszeit ist verklun- liegt. Das bedeutet, dass auch die Zeit der »huma- gen. Einige Überprüfungen des von Clintons nitären Falken« vorbei ist, die in den 1990er Jahren Regierung Hinterlassenen sind beendet, erste kon- zur Durchsetzung nobler Ziele schnell zu Waffen krete Planungsstudien im Umlauf. Bei Formulie- griffen. Gleichzeitig wird Powell – aus diploma- rung und Umsetzung sind unterschiedliche Strö- tischen Gründen – an bestehenden Missionen, mungen in der Regierungsspitze zu identifizieren. etwa auf dem Balkan, festhalten wollen, solange Im Weißen Haus selbst erweist sich Präsident Bush die Verbündeten die Vereinigten Staaten nicht aus als kompromissloser Befürworter der Raketen- ihrer (moralischen) Pflicht entlassen, zumindest abwehr; darüber hinaus sind seine Positionen symbolische Beiträge zu leisten. relativ ungenau, gar widersprüchlich und damit Die Falkenfraktion besteht im Wesentlichen aus wenig analysezugänglich geblieben. Alle Vorhaben Vizepräsident Richard Cheney, Verteidigungsmi- müssen sich jedoch seiner Hauptmission – der nister Donald Rumsfeld, seinem Stellvertreter Paul großangelegten Steuerreform – unterordnen. Wolfowitz und zunehmend Sicherheitsberaterin Im Übrigen weisen die personellen Konstella- Condoleezza Rice. Ihre härtere Haltung äußert tionen in der Regierungsspitze für die Zukunft auf sich vor allem in dem konfrontativeren Auftreten ein militärisches »selective engagement« hin. Zwar gegenüber Russland und China. Mit dieser Kon- gibt es in der Regierung die typische Spannung zentration auf »das Wesentliche« geht einher, zwischen den »Falken« und »Tauben«, wobei – trotz einer eigentlich interventionistischen Grund- untypisch für US-Regierungen – die »Tauben« vor- haltung die im Ausland stationierten Truppen wiegend im Außen- und die »Falken« eher an der zunächst in die Vereinigten Staaten zurückzuver- Spitze des Verteidigungsministeriums zu finden legen und nach Möglichkeit keine neuen Einsätze sind. Aber die Differenzen zwischen beiden Seiten mehr durchzuführen. Dies hat nicht nur mit betreffen bislang eher die Frage, welchen Stellen- einer neuen Schwerpunktsetzung zu tun, sondern wert man der internationalen Diplomatie geben ist zum Teil auch auf den Zustand des durch und wie man den Umgang mit Verbündeten und die vielen Auslandseinsätze strapazierten Militärs Konkurrenten (je nach Sichtweise auch: Gegnern) zurückzuführen. Zwar kann man die Streitkräfte gestalten soll. In der Frage militärischer Einsätze noch nicht als »ausgehöhlt« bezeichnen (ein gibt es deutliche Übereinstimmungen zwischen Zustand, der in den Anfangsjahren der Präsident- beiden Lagern: so wenig, wie nur eben möglich. schaft Ronald Reagans immer wieder beklagt Außenminister Colin Powell steht Militärein- wurde). Aber vor allem, seit in Folge der guten sätzen grundsätzlich reserviert gegenüber, solange konjunkturellen Lage der vergangenen Jahre der keine unumstößlichen Argumente für derartige Arbeitsmarkt in den Vereinigten Staaten eng Einsätze vorliegen. Man kann auch sicher sein, geworden ist und die Löhne in der freien Wirt- dass er den Grundsätzen folgen wird, die er als schaft den Soldatenberuf unattraktiv gemacht Generalstabschef Anfang der 1990er Jahre auf- haben, ist die Personaldecke dünn geworden. stellte und in denen er die Schwellen für militäri- Häufiger Dienst in Krisengebieten macht die sche Operationen sehr hoch legte. Das Militär soll Rekrutierung noch schwieriger. Neben der Belas- nicht unnötig als diplomatisches Druckmittel miss- tung für die Mannschaften wird kritisiert, dass braucht werden. In dieser Haltung wird er von das Material oft nicht erneuert werde und Moder- seinem Planungschef Richard Haass sicherlich nisierungen seltener als erhofft stattfänden (die bestärkt werden: Haass könnte zwar militärischen Luftwaffe klagt über Überalterung, und von der Einsätzen etwas weniger ablehnend gegenüber- unter Reagan angepeilten 600-Schiff-Marine sind stehen als Powell, aber auch er hat in der Vergan- noch rund 230 Schiffe übriggeblieben). Schon 402 Stephan Böckennförde, Militärische Gewalt als Mittel künftiger amerikanischer Außenpolitik IPG 4/2001
vor diesem Hintergrund wird die Spitze im Ver- kretär für inter-amerikanische Angelegenheiten, teidigungsministerium »zweitrangige« Auslandsein- Elliott Abrams, leitete, bevor dieser Anfang Juli sätze weitgehend beenden wollen. zum Direktor des »Büros für Demokratie, Men- Allenfalls Operationen der Spezialeinheiten schenrechte und internationale Operationen« des oder isolierte Luftschläge wie 1998 gegen den Nationalen Sicherheitsrates ernannt wurde. Ab- Sudan und Afghanistan oder die wiederholten rams’ Einflussmöglichkeiten sind bislang schwer Angriffe auf die irakischen Luftabwehranlagen im zu bestimmen, ist doch die gesamte Frage der Zusammenhang mit dem »stillen Krieg« gegen Rolle religiöser Gruppen bislang eher nebulös ge- den Irak könnte man bewusst verfolgen. Gerade blieben. Aber Abrams ist durchaus als ein Inter- für solche Operationen bestehen relativ geringe ventionist einzuschätzen, für den Religionsfreiheit Risiken, während der vordergründige Nutzen im Katalog der Menschenrechte einen besonderen dagegen unter Umständen als hoch angesehen Rang einnimmt. Daher kann man davon ausgehen, werden kann. Ein Indiz könnte in diesem Zusam- dass die neue Konstellation sich vor allem in menhang sein, dass man unter Präsident Bush im den Fällen sicherheitspolitisch auswirken wird, in Weißen Haus die Abteilungen für die Kontrolle denen Konfliktlinien in Unruhegebieten vorder- der Nicht-Verbreitung von Massenvernichtungs- gründig entlang von Religionszugehörigkeiten ver- waffen (Non-Proliferation) und für die aktive laufen. In diesen Fällen könnte der Präsident – Bekämpfung dieser Waffen (Counterproliferation) unterstützt von Abrams und religiösen Gruppen – zusammengelegt hat. Möglicherweise will man eine aktive Rolle für die Vereinigten Staaten also in Zukunft die Nichtverbreitung von Mas- suchen wollen und möglicherweise auch an den senvernichtungswaffen verstärkt mit militärischen Einsatz von Militär denken – nicht unbedingt in Mitteln durchsetzen. Beispiele für ein solches Vor- Form von Kampfeinsätzen, aber beispielsweise gehen sind der unter Clinton durchgeführte durch die militärische Absicherung international Angriff auf eine pharmazeutische Fabrik im Sudan durchgeführter Maßnahmen. 1998, in der möglicherweise chemische Kampf- Im Übrigen wird die neue Regierung vor allem stoffe produziert worden waren, oder die offenbar bemüht sein, während der Phase der Einsatzredu- ebenfalls angedachten Bombardierungen von zierung die großen Weichen zu stellen. Dieses Nuklearanlagen in Nordkorea 1994. Eine solche betrifft die Erneuerung des bestehenden Materi- Politik würde zudem einer neueren Tendenz in als, vor allem aber den Einstieg in die Militarisie- der amerikanischen Sicherheitspolitik entsprechen, rung des Weltraums, als deren wichtigster Fürspre- der klassischen Rüstungskontrolle aus den Zeiten cher Verteidigungsminister Rumsfeld gelten kann. des Kalten Krieges zunehmend weniger Wert bei- Der Aufbau einer Raketenabwehr, die unter Clin- zumessen und statt dessen militärische Wege zu ton als »begrenzte« Raketenabwehr ins Leben beschreiten. Isolierte Luftschläge könnten auch gerufen wurde und deren Pläne mittlerweile aus- eine Rolle bei möglichen Vergeltungsmaßnahmen gewachsene Abwehrsysteme auf unterschiedlichen (wie im April 1986 gegen Libyen) spielen. Ziele Ebenen vorsehen, die aber letztlich eine Wieder- wären in diesen Fällen vor allem Staaten, die im geburt (wenn auch mit vollkommenen anderen Verdacht stehen, Stützpunkte für den internatio- geostrategischen Voraussetzungen) von Reagans nalen Terrorismus zu sein (etwa Afghanistan, wie Strategic Defense Initiative und Bushs Brilliant bereits im Jahr 1998). Pebbles ist, stellt dabei nur den Anfang der ange- Ein besonderes, in seiner Bedeutung noch strebten Neuorientierung dar. nicht einzuschätzendes Element bringt Präsident Hinter dieser Neuorientierung steht neben Bush mit seiner Betonung weltweiter Religions- Rumsfeld vor allem das Team um Andrew Mar- freiheit – natürlich de facto die Öffnung der »Reli- shall, Chef des Office of Net Assessment (ONA). So gionsmärkte« für christliche Gruppen aus den Ver- gibt es einen deutlichen Konflikt zwischen dem einigten Staaten – in den außenpolitischen Diskurs Rumsfeld/Marshall-Flügel und dessen Gegnern aus ein. Bereits kurz nach der Amtsübernahme hatte Militär und Kongress, an dessen Ende ein Kom- er im Weißen Haus eine »Regierungskommission promiss steht: Auf der einen Seite setzt sich Mar- zur Internationalen Religionsfreiheit« einrichten shall mit wesentlichen Elementen seines Konzep- lassen, die zunächst Reagans ehemaliger Staatsse- tes durch – Verlagerung der Aufmerksamkeit von IPG 4/2001 Stephan Böckennförde, Militärische Gewalt als Mittel künftiger amerikanischer Außenpolitik 403
Europa nach Asien, vor allem auf China und Mega-Städte Asiens, Ostafrikas oder Lateinameri- Südostasien, Kriegsführung aus der Distanz, Ent- kas hingewiesen. Auf diese neuen Herausforderun- wicklung von High-Tech-Waffen, Einstieg in die gen, denen sich das Militär zusätzlich zu den tradi- Raketenabwehr und allmähliche Militarisierung tionellen Bedrohungen stellen muss, hat die Mili- des Weltraums. Auf der anderen Seite bleibt viel tärführung reagiert und strebt nun eine »Überle- von dem Alten bestehen (Finanzierung des F-22- genheit auf der ganzen Linie« an (»full spectrum Kampfflugzeugs, Erhalt von Auslandsbasen u. a.). dominance«): Der Katalog der Joint Vision 2020 Dennoch bekommt die Regierung Bush insge- umfasst Einsätze, die von Hilfsoperationen nach samt genug Ressourcen, um den militärtechni- Naturkatastrophen über humanitär motivierte schen Vorsprung der Vereinigten Staaten vor dem Einsätze, die Übernahme von Polizeiaufgaben, Rest der Welt immer größer werden zu lassen. »friedensschaffende« Operationen bis zu atomar Keine andere Nation wird sie bremsen können. geführten Kriegen reichen. Entsprechend erklärt Verteidigungsminister Rums- Diese umfangreiche Erweiterung des Einsatz- feld, dass man schon mittelfristig seine militä- spektrums geht einher mit der Abkehr von der rischen Strategien nicht mehr an möglichen alten »Zwei-Kriege«-Doktrin. Danach sollten die Bedrohungen (also externen Faktoren), sondern US-Streitkräfte in der Lage sein, zwei regionale vor allem an den eigenen Fähigkeiten (damit inter- Kriege praktisch simultan zu führen und nachein- nen Faktoren) ausrichten wird. ander zu gewinnen (»Win-Hold-Win«-Modell). Als mögliches Szenario galt ein Parallelkrieg am Persischen Golf und auf der koreanischen Halb- Die Anpassung des Militärs an die neuen Bedingungen insel. Dieses Szenario war aber bereits seit länge- rem von vielen Seiten als unwahrscheinlich kriti- Unabhängig von den konkreten politischen Ent- siert worden; statt dessen wurde die Vorstellung scheidungen zu militärischen Einsätzen geht es mehrerer unterschiedlich großer Einsätze mit im Augenblick vor allem darum, das Militär auf divergierenden Zielen als zeitgemäßer propagiert – die Bedingungen der Zukunft vorzubereiten. So beispielsweise ein großer Landkrieg mit der zeit- befindet sich das Militär derzeit – neben dem gleichen Eindämmung eines Gegners und dem bereits lange laufenden Versuch, die klassische Einsatz weiterer Truppenkontingente in einem Konkurrenz zwischen den vier Diensten Heer, lokalen Konflikt. Diese Neuorientierung hat man Marine, Luftwaffe und Marines zu beenden und an der Spitze des Verteidigungsministeriums nun eine weitgehende Interoperabilität herzustellen – vollzogen. Der Paradigmenwechsel geht einher im Prozess, die globalen Interessen der Vereinig- mit dem wahrscheinlichen Verzicht auf zahlreiche ten Staaten und die Machtprojektionsmöglich- teure Großprojekte: Der Bau neuer Flugzeugträ- keiten wieder in Übereinstimmung zu bringen. ger, die Entwicklung einer neuen Generation von Neben den klassischen Abnutzungskrieg, wie er Kampfflugzeugen und anderes werden in Zukunft die Planungen während des Ost-West-Konfliktes noch umstrittener sein als bisher, auch wenn der bestimmte, sind neue Formen getreten: Zunächst Kongress gerade ein (allerdings gegenüber den die asymmetrische Kriegsführung, bei der ein ursprünglichen Planungen deutlich reduziertes) technologisch und/oder zahlenmäßig unterlegener Programm zur Beschaffung der neuen F-22- Gegner seine Schwäche beispielsweise durch den Kampfflugzeuge beschlossen hat und die Entschei- Einsatz von Massenvernichtungswaffen auszuglei- dungen zum Joint-Strike Fighter bevorstehen. chen versucht. Dies macht einen passiven und akti- Neben der grundsätzlichen Modernisierung ven Schutz für die US-Soldaten erforderlich. Dazu dieser im Grunde »alten Waffen« betreibt man ver- kommen Bedrohungen durch transnational agie- stärkt die Entwicklung neuartiger Plattformen. rende Gruppen. Unterhalb von staatlichen Struk- Der Grundstein dafür wurde in den 1990er Jahren turen häufen sich die Kämpfe um das lokale oder mit der »Revolution in Military Affairs« gelegt: regionale Gewaltmonopol; als besondere militä- Begünstigt durch die Firmenzusammenlegungen rische Problematik wird in diesem Zusammenhang in der Rüstungsindustrie wurden neue, auf Hoch- immer wieder auf das Szenario möglicher Kriegs- technologie basierende Waffen konzipiert, die eine führung im städtischen Raum der künftigen bis dahin unerreichte datentechnische Vernetzung 404 Stephan Böckennförde, Militärische Gewalt als Mittel künftiger amerikanischer Außenpolitik IPG 4/2001
und gleichzeitige Autonomie der Kampfeinheiten auch der Bau unbemannter Kampfflugzeuge, die erlauben. Diese Neuerungen machen tiefgreifende aus der Ferne und vom Boden navigiert werden. Veränderungen in der Einsatzstrategie erforder- Zugleich wird man versuchen, die eigenen lich. Am Ende werden kleine, hochmobile Kampf- Truppen am Boden und die eigene Bevölkerung einheiten stehen, die – gegenüber ihren Gegnern (sowie die der Alliierten) durch Raketenabwehr- mit einem Informationsvorsprung versehen und systeme zu schützen. Dabei wird das Spektrum über Datenaustausch miteinander vernetzt – in von Gefechtsfeldwaffen (wie dem Patriotsystem) der Form von »Expeditionsstreitkräften« in allen bis hin zu Kontinente überspannenden Systemen Umgebungen und unter allen Bedingungen ein- reichen. Dahinter steht die strategische Überle- gesetzt werden können. Gleichzeitig müssen sich gung, dass die weitgehende Stabilität aus der Zeit die US-Truppen aufgrund der Abhängigkeit von des Ost-West-Konfliktes, die für die Kernregionen Hochtechnologie vor dann möglichen »Cyber- der Blöcke im Wesentlichen durch Abschreckungs- War«-Attacken schützen können, außerdem müs- politik in Form gegenseitig gesicherter Zerstörung sen die unverzichtbaren Satellitensysteme gesichert aufrechterhalten wurde, seit längerem durch die werden, um die notwendige Datenübertragung zu enorme Weiterverbreitung von Massenvernich- garantieren. Andernfalls droht eine «Blendung«. tungswaffen und Raketen in Frage gestellt wird. Um die geforderte Beweglichkeit der Truppen Ohne einen Schutz vor raketengestützten Massen- zu erreichen, werden neue Transportmittel wie vernichtungswaffen würden sich die großen der V-22 Osprey entwickelt, der mit Schwenkro- Mächte zur Tatenlosigkeit verdammt sehen. Rake- toren die Transportkapazität und Schnelligkeit tenabwehrsysteme sollen den Vereinigten Staaten eines Flugzeugs mit den vertikalen Start- und eine Handlungsfähigkeit auch gegenüber denje- Landeeigenschaften eines Hubschraubers verbin- nigen Staaten erhalten, die auf eine asymmetrische det. Schweres Gerät wie der Kampfpanzer Abrams, Kriegsführung setzen. Dieses betrifft im Augen- das sich (ursprünglich für den Landkrieg in blick vor allem die »Sorgenstaaten« Nordkorea, Europa entwickelt) zwar im Wüstenterrain des Irak, Iran, aber auch Syrien und Libyen. Darüber Irak bewährt hat, aber beispielsweise in den hinaus werden diese Waffen langfristig eine Bergen des Kosovo nur eingeschränkt einsetzbar wesentliche Rolle in Konflikten zwischen den gewesen wäre, wird durch die verstärkte Ein- Großmächten selbst spielen, beispielsweise in führung leichter Fahrzeuge ergänzt werden. Die einem künftigen Konflikt mit China über Taiwan. technologische Entwicklung wird dahin gehen, Die Entwicklung der Raketenabwehr ist aber später auch unbemannte Fahrzeuge einzusetzen. nur ein erster Schritt in der umfassenden Militari- Luftangriffe werden in Zukunft aus großer sierung des Weltraums. Auf der einen Seite befin- Höhe und von weit entfernt liegenden Basen aus- det sich hier die gewaltige Achillesferse der zivilen geführt werden. Solche Angriffe bieten die und der militärischen Informationsinfrastruktur Chance, die Zahl der eigenen Opfer gering zu der Vereinigten Staaten (und der westlichen Welt). halten und so die innenpolitische Akzeptanz für Ein Ausfall ziviler Satelliten hätte unabsehbare militärische Operationen über einen langen Zeit- Folgen für die modernen, auf Informationsüber- raum zu gewährleisten. Ein Beispiel dafür war der tragung angewiesenen Gesellschaften. Ein erfolg- Einsatz der B-2-Bomber während des Kosovo- reicher Angriff auf Militärsatelliten der Vereinigten Krieges, die – über dem Atlantik betankt – aus den Staaten würde weite Teile ihres militärischen Vereinigten Staaten heraus operierten und ihre Apparates lahmlegen – entsprechend warnte Ver- Bomben außerhalb der Reichweite der serbischen teidigungsminister Rumsfeld, der maßgeblich hin- Luftabwehr abwarfen. Ein solches Konzept wird ter der Weltraummilitarisierung steht, vor einem gerade für den pazifischen Raum von Bedeutung »space Pearl Harbor«. Satelliten – militärische wie sein, in dem die Entfernungen weit und die Basen zivile – gelte es zu schützen. Auf der anderen Seite politisch umstritten und zusätzlich ein leichtes Ziel bietet der Weltraum auch militärische Potenziale: für politische Gegner sind. Der nächste Schritt Praktisch lückenlose Bodenaufklärung wird mög- wird im Einsatz von unbemannten Flugzeugen lich, Tarnungsversuche des Gegners weitgehend bestehen. Diese werden derzeit in erster Linie für nutzlos. Satellitensteuerung erlaubt es, Geschosse Aufklärungszwecke entwickelt, aber geplant ist exakt ins Ziel lenken. Schaltet man gleichzeitig die IPG 4/2001 Stephan Böckennförde, Militärische Gewalt als Mittel künftiger amerikanischer Außenpolitik 405
gegnerischen Satellitensysteme aus, ist der Gegner Im Ergebnis kommt es vielfach zu einer Parallel- selbst »geblendet«. Darüber hinaus erlaubt der diplomatie, in der die Special Operation Forces – Weltraum die Stationierung von Waffensystemen. der Kontrolle durch den Kongress weitgehend Im Januar 2001 fand ein erstes »Weltraum- entzogen – Aufgaben des Außenministeriums Manöver« statt: Dabei wurde der Versuch einer wahrnehmen (vor allen in Lateinamerika und in feindlichen Macht (mit deutlichen Parallelen zu Zentralafrika) und zu einer schleichenden Militari- China) simuliert, als Vorstufe zu einem Boden- sierung der US-Außenpolitik beitragen. krieg US-Satelliten auszuschalten. Bis 2015 – so die Darüber hinaus bedient sich die US-Regierung Vorhersage der Planer – könnten sich die Vereinig- zur Durchführung »semi«-militärischer Aufgaben ten Staaten mit einer rivalisierenden Macht in diesen Ländern zunehmend privater Unter- tatsächlich in einer kriegerischen Auseinanderset- nehmen. Deren Mitarbeiter sind vielfach ehema- zung im Weltraum befinden. lige Militärs, die nach dem Erreichen des niedrigen Jenseits der Vorbereitung auf solch – im weite- Pensionsalters ihre Kenntnisse, Fähigkeiten und sten Sinne noch – traditionelle Einsätze im Rah- nicht zuletzt Kontakte auf dem Arbeitsmarkt men der Staatenwelt sieht sich das US-Militär anbieten. Durch das Einschalten dieser Unterneh- mit der Frage konfrontiert, wie man in Zukunft men kann die US-Regierung als notwendig in »post-nationale« Konflikte eingreifen kann, betrachtete politisch-militärische Aufgaben ausla- die in ihrer Form der ungelösten Krise auf dem gern und wird zugleich nicht mehr unmittelbar Balkan, der Intifada in Israel/Palästina, dem mit Auslandsoperationen in Verbindung gebracht. Krieg in Kolumbien oder den unübersichtlichen Vor allem aber: Damit kann die US-Regierung dem Gewaltausbrüchen in einigen Teilen Afrikas glei- Kongress die Kontrolle ihrer Auslandsaktivitäten chen werden. Bislang fehlt dem US-Militär das erschweren – eine Lehre, die sie vor allem aus der nötige Instrumentarium, um mit diesen Konflik- innenpolitischen Krise nach dem Bekanntwerden ten angemessen umzugehen. Da Mittel und Stra- der Iran-Contra-Verwicklungen gezogen hat. Die tegien sich bislang im Rahmen der staatenwelt- Einsatzbereiche der privaten Unternehmen sind lichen Kriege bewegen, sind allenfalls die Sonder- relativ weit gefächert und reichen von Bau und einheiten (Special Operation Forces) für solche Wartung elektronischer Anlagen über das Be- Einsätze geeignet. sprühen von Coca-Plantagen in Kolumbien mit Diese Kräfte – in den 60er Jahren für Opera- Pflanzengiften bis hin zur Ausbildung von Sol- tionen in der Dritten Welt aufgestellt – sind heute daten in Entwicklungsländern. Damit nehmen trotz ihrer geringen zahlenmäßigen Größe und die Vereinigten Staaten unterhalb der Schwelle ihres begrenzten Haushalts in über einhundert militärischer Einsätze Einfluss in lokale und regio- Staaten der Welt im Einsatz. Offiziell bilden sie in nale Konflikte. den meisten Fällen lokale Partner in der Bekämp- fung von Drogenproduktion und –handel aus. Tatsächlich aber geht ihr Einsatz viel weiter: In Regionale Konfliktszenarien zahlreichen Staaten sind die Grenzen zwischen dem Drogensektor – und der Kriminalität im all- In den Vereinigten Staaten kursiert unter den gemeinen – und dem »politischen Untergrund« so Planern und Strategen eine Vielzahl von Konflikt- fließend, dass die Ausbildung durch die Special szenarien. Einige Probleme – der Umgang mit Operation Forces in der Regel auf die Vermittlung dem Irak beispielsweise – sind drängend. Andere von Techniken der Unterdrückung politischer krisenhafte Veränderungen werden in aller Wahr- Unruhen und damit sehr stark auf ein Eingreifen scheinlichkeit nicht mehr die Amtszeit von George in die inneren Auseinandersetzungen der jewei- W. Bush betreffen, aber sie bestimmen das Den- ligen Staaten hinausläuft. Gleichzeitig haben die ken der Planer und Strategen, was die Frage von USA nach 1990 das diplomatische Personal in vielen Militäreinsätzen betrifft. Im Überblick besitzen Regionen der Welt so drastisch reduziert, dass folgende Entwicklungen eine relativ große Wahr- häufig die örtlichen Kommandeure der Special scheinlichkeit für die unterschiedlichen Weltre- Operation Forces die unmittelbaren Ansprech- gionen: partner für ihre Gastgeberregierungen darstellen. 406 Stephan Böckennförde, Militärische Gewalt als Mittel künftiger amerikanischer Außenpolitik IPG 4/2001
Europa Asien Europa wird in den Planungen der amerikanischen Für die Entwicklung in Asien existiert eine große Militärstrategen eine zunehmend untergeordnete Zahl unterschiedlicher Szenarien. Im Vordergrund Rolle spielen. Es wird den Europäern überlassen, steht meist China, mit dem sich die Vereinigten für die Sicherheit und Stabilität in Europa und in Staaten schon kurzfristig in einem regionalen Kon- den angrenzenden Gebieten selbst zu sorgen. In flikt befinden könnten. der Spannung zwischen dem amerikanischen Kon- Die größte unmittelbare Gefahr geht zunächst troll- und Dominanzbedürfnis gegenüber den von einer möglichen Taiwankrise aus. Zwar wird Alliierten einerseits und dem geostrategischen China auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein, Prioritätenwechsel andererseits könnte am Ende Taiwan militärisch zu erobern. Denkbar ist aber, angesichts der auch für die USA – gerade nach den dass China versuchen könnte, die »abtrünnige Pro- Steuersenkungen – knappen Ressourcen der weit- vinz« durch einen massiven Beschuss mit Kurz- gehende Rückzug aus Europa stehen. Zwar wird streckenraketen in Verbindung mit einer Seeblocka- oft, gerade im Kongress, auf die Wichtigkeit de zu einem Anschluss zu zwingen. Es wird der europäischen Alliierten und die Pflege dieser weder für die gegenwärtige noch für die kom- Beziehungen hingewiesen, doch zumindest unter menden chinesischen Führungen möglich sein, der Regierung von George W. Bush werden diese ihren Anspruch auf Taiwan aufzugeben. Ein Argumente wenig gelten. Wirtschaftlich sind die solcher Schritt würde zu einer innenpolitischen Westeuropäer ohnedies schon lange zu Konkur- Krise nicht mehr kalkulierbaren Ausmaßes führen, renten der USA geworden, so dass die Übernahme das durch die Folgen der wirtschaftlichen und militärischer Aufgaben für das »wohlhabende« gesellschaftlichen Öffnung zusätzlich verstärkt Europa für die jeweilige amerikanische Regie- würde. Darüber hinaus wäre eine Aufgabe Tai- rung schon seit längerem innenpolitisch immer wans ein mögliches Signal an andere Problemre- schwerer zu vertreten gewesen ist. Mit der Ver- gionen in China (Tibet, Xinjiang), dass der Griff lagerung der Schwerpunkte in den asiatisch-pazi- der Zentralregierung schwächer werden könnte. fischen Raum und der Entwicklung von Diesen Eindruck wird die Regierung in Peking Langstrecken- und Weltraumwaffen wird Europa vermeiden müssen, um keine Sezessionskrisen zu darüber hinaus viel von seiner Bedeutung als provozieren. Auf der anderen Seite fühlen sich Drehscheibe und Standort für Militärbasen ein- die USA verpflichtet, eine durch militärische büßen. Konflikte wie der auf dem Balkan spielen Mittel herbeigeführte Veränderung von Taiwans für die Vereinigten Staaten allenfalls noch des- Status auf keinen Fall hinzunehmen. So dürfte halb eine Rolle, weil die Verbündeten weitgehend jede Verschärfung der Situation in der Straße von unvorbereitet davon getroffen wurden und es Taiwan – wie bei den Spannungen im Jahr 1996 – zugleich einen starken innenpolitischen Druck mit der Entsendung von Marineeinheiten beant- zugunsten eines Einschreitens gegeben hatte. Im wortet werden. Bei einem tatsächlichen Ausbruch weltweiten Vergleich und mit Blick auf die mittel- von Feindseligkeiten würden die Vereinigten Staa- fristig erwarteten Konflikte im asiatischen Raum ten damit unweigerlich in den Konflikt hinein- kann der Balkankonflikt für die Vereinigten Staa- gezogen. ten aber nur ein Nebenschauplatz sein. Ent- Am Verhalten der USA gegenüber China wird sprechend werden sie ihre Kräfte in Europa nicht ihre Glaubwürdigkeit als globale Ordnungsmacht mehr unnötig binden; vor allem Sicherheitsbera- gemessen werden. Es ist beispielsweise vorstell- terin Rice und Minister Rumsfeld drängen in bar, dass bei etwaigen Zweifeln (so in dem Fall, diesem Zusammenhang schon lange offen auf den dass die Vereinigten Staaten zögerten, Taiwan vor weitgehenden Rückzug. einem militärischen Zugriff Chinas zu schützen) die Regierung in Tokio angesichts der sino-japa- nischen Rivalitäten dazu verleitet werden könnte, ihre eigenen militärischen Kapazitäten dramatisch auszubauen (bis zu einem Aufbau von Atomstreit- kräften). IPG 4/2001 Stephan Böckennförde, Militärische Gewalt als Mittel künftiger amerikanischer Außenpolitik 407
Ungeachtet der speziellen Taiwanproblematik allem ihre bewährten Koalitionen (mit Japan, Süd- gibt es eine generelle Skepsis in den Vereinigten korea und Australien) aufrechterhalten. Gleich- Staaten gegenüber China, die in der Vergangen- zeitig wird man sich aber auch nach möglichen heit ständig gewachsen ist: Im letzten Jahr wurde neuen Standorten für etwaige weitere Basen um- Chinas Regierung im Cox-Bericht (an dessen Ent- sehen (sofern man nicht vollkommen auf Ab- stehen Cheneys Stabschef und Sicherheitsberater standswaffen vertrauen wollte – eine Vorstellung, I. Lewis Libby maßgeblich beteiligt war) beschul- die einigen »traditionellen« Militärs sehr unsympa- digt, umfangreiche Militärspionage in den Verei- thisch ist). Eine Rückkehr auf die Philippinen wäre nigten Staaten vor allem auf dem Gebiet der eine Option, eine mögliche Öffnung Vietnams Nuklear- und Raketentechnologie betrieben zu eine andere. haben. Der Umgang mit den Anhängern des Vor allem aber böte sich Indonesien an. Bereits Falun-Gong-Kultes, die Verhaftungen chinesischer heute ist die ganze Region eine Unruhezone: Die Wissenschafter, die ihren ersten Wohnsitz in den Straße von Malakka, die für die Energieversorgung Vereinigten Staaten besitzen, und die Vorgänge des gesamten pazifischen Raums von enormer um das amerikanische EP-3-Aufklärungsflugzeug Bedeutung ist, ist zu einem Zentrum der Piraterie haben das Misstrauen der Amerikaner nur gestei- geworden; Indonesien als Anrainerstaat – immer- gert. Trotz ihrer Verhandlungsbereitschaft über hin die viertgrößte Nation der Welt und der bevöl- den Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation kerungsreichste muslimische Staat – kommt seit ist die US-Regierung sicherheitspolitisch kompro- dem Sturz von Suharto nicht zur Ruhe. Ein weite- misslos. rer Zerfall der staatlichen Ordnung in Indonesien Das hat Auswirkungen auf die Entwicklung des könnte die Vereinigten Staaten zu einem Eingrei- Verhältnisses. Denn es wird angenommen, dass fen bewegen, um die Lage zu stabilisieren und die China langfristig – sofern es nicht vorher an seinen eigene Position in der Region zu stärken (gleiches inneren Widersprüchen im Rahmen der wirtschaft- gilt für die Philippinen). Entsprechend haben die lichen Öffnung zerbrochen ist – über einen Vereinigten Staaten die Veränderungen, die sich Anschluss Taiwans hinaus die Stellung als die ent- mit der Amtsübernahme von Megawati Sukarno- scheidende Großmacht Asiens anstreben wird. Das putri ergaben, genutzt, um ihre Verbindungen beträfe zunächst den Raum des Südchinesischen zum indonesischen Militär aufzufrischen. Meeres, der mit seinen Seewegen für die Energie- Neben China wird Indien zu einer nuklearen versorgung des gesamten pazifischen Wirtschafts- Großmacht aufsteigen, während die innenpoli- raumes von größter Bedeutung ist. Es beträfe auch tische Stabilität des benachbarten Nuklearstaates die alte Konkurrenz mit Indien. Möglicherweise Pakistan weiter abnehmen wird. Denkbar wäre könnte China sogar in die schwach bevölkerten ein Krieg zwischen den beiden Nationen um die Regionen des ostsibirischen Teils Russlands vorzu- umkämpfte Kaschmirregion, vorstellbar in der dringen versuchen. Eine derartige Entwicklung, zu mittelfristigen Perspektive aber auch ein Absinken der es im Laufe der bevorstehenden zehn bis zwan- des gesamten pakistanisch-afghanischen Raumes in zig Jahre kommen könnte, müsste zwangsläufig Chaos. Davon wären die Nachbarstaaten Indien massive Gegenreaktionen der USA provozieren. und Iran, aber auch China und die südlichen Eine andere Frage ist die nach der Zukunft GUS-Republiken sowie – aufgrund der Nähe dieses der beiden Koreas: Nordkorea steht im Verdacht, Krisenherdes zu den Ölquellen des arabisch/kas- bereits jetzt über Massenvernichtungswaffen und pischen Raumes – alle in der Region aktiven Ord- geeignete Trägersysteme zu verfügen. Sollte es nungsmächte betroffen. Das militärische Eingrei- zu einer Vereinigung Nord- und Südkoreas und fen einer oder mehrerer Parteien wäre in diesem damit zu einem Zusammenführen der wirtschaft- Fall praktisch unvermeidlich, zumal die Notwen- lichen und der militärischen Kapazitäten bei einer digkeit bestünde, die pakistanischen Atomwaffen gleichzeitigen Schließung der US-Basen im Süden vor dem Zugriff Dritter zu sichern. kommen, hätte auch dieses weitreichende Folgen für das strategische Machtverhältnis in Ostasien. Um ihre militärische Präsenz in der Region langfristig zu sichern, werden die USA daher vor 408 Stephan Böckennförde, Militärische Gewalt als Mittel künftiger amerikanischer Außenpolitik IPG 4/2001
Der Nahe und Mittlere Osten Sehr viel wird in der näheren Zukunft davon abhängen, auf welche Modifizierungen des Sank- Neben der Ungewissheit, welche Rolle langfristig tionsregimes sich die fünf ständigen Mitglieder des der Iran in der Region spielen wird, muss man sich UN-Sicherheitsrates einigen und wie Saddam Hus- vor allem mit der Frage des Palästinakonfliktes und sein und die öffentliche Weltmeinung auf diese des Umganges mit dem Irak auseinandersetzen. Es neuen Entwicklungen reagieren werden. Auf der ist anzunehmen, dass die US-Regierung sich diplo- einen Seite ist es kaum vorstellbar, dass eine US- matisch im Palästinakonflikt engagieren wird, um Regierung unter George W. Bush, Richard Che- sowohl eine geographische Ausweitung als auch ney und Colin Powell die irakische Führung unter eine weitere Eskalation zu verhindern. Ein militä- Saddam Hussein noch lange gewähren lassen risches Eingreifen von außen, wie es Präsident wird. Andererseits hat seit dem Frühjahr 2001 der Reagan 1982 im Falle des Libanon versuchte, ist öffentliche Druck zugunsten einer Lockerung dagegen sehr unwahrscheinlich – die Bindungen oder gar Aufhebung der Sanktionen wieder spür- an eine der beiden Seiten sind nicht so stark, dass bar nachgelassen, so dass im Augenblick kein man sich militärisch in einem praktisch unlösbaren unmittelbarer Handlungsbedarf besteht und die bürgerkriegsähnlichen Konflikt aufreiben und ver- Vereinigten Staaten noch eine Weile an den Sank- ausgaben wird. tionen und den sporadischen Luftangriffen (for- Gegenüber dem Irak ist die Entwicklung der mal als Reaktion auf Attacken der Iraker gegen US- amerikanischen Politik uneindeutig. Im irakischen amerikanische und britische Flugzeuge dargestellt) Luftraum sind die USA gemeinsam mit Großbritan- festhalten können. nien seit zehn Jahren präsent und führen in den Flugverbotszonen nach wie vor ihren »stillen Krieg«, der nur in seltenen Ausnahmefällen der Afrika letzten Zeit in das Bewusstsein der Öffentlichkeit rückt. Einige der heute führenden Regierungs- Auch wenn Außenminister Powell Afrika eine mitglieder hatten sich vor der Amtsübernahme große Bedeutung beimisst und im Frühjahr 2001 von George W. Bush für einen – notfalls auch eine längere Reise in die Region unternommen militärisch herbeigeführten – Sturz von Saddam hat, während Präsident Bush Erklärungen zugun- Hussein ausgesprochen. Seitdem ist man zurück- sten einer aktiven Afrika-Politik abgibt, ist Afrika haltender geworden und hat sich mit der – vor doch für die Vereinigten Staaten nach den poli- allem von Powell befürworteten – Strategie abge- tisch-wirtschaftlichen Bemühungen durch die funden, über gezielte Sanktionen zumindest die Clinton-Regierung eher wieder zu einem »ster- irakische Militärmacht schwach zu halten. Immer- benden Kontinent« geworden. hin ist der Irak bereits heute über das »Food-for- Eine mögliche Ausnahme stellt der Sudan Oil«-Programm der Vereinten Nationen zum dar – allerdings vor allem aus innen-, nicht aus sechstwichtigsten Öllieferanten der Vereinigten außenpolitischen Überlegungen. Denn Bürger- Staaten geworden, und seine Bedeutung für die krieg, Hungersnot und Sklavenhandel haben eine Weltenergieversorgung wird in den kommenden sehr heterogene amerikanische Koalition aus ver- Jahren angesichts der vorhersehbaren Mehrnach- schiedenen Interessensgruppen entstehen lassen. frage noch weiter wachsen. Eine Verschärfung der Die Liste reicht vom ultrakonservativen Family Krise um den Irak ist nicht im amerikanischen Research Center über diverse ausgesprochen pro- Interesse, eine endlose Fortsetzung ebenfalls nicht. minente und einflussreiche christliche Organisatio- In dieser vorläufigen Schwebesituation unter- nen bis zu afro-amerikanischen Bewegungen – stützen die Vereinigten Staaten vor allem die – allesamt Gruppen, die hochpolitisiert und ein- wenngleich nur wenig geschätzte – irakische Exil- flussreich sind und die seit langem eine aktivere opposition finanziell, und es gibt immer noch amerikanische Rolle im Sudan fordern. Regierungsmitglieder (etwa Paul Wolfowitz), die Bislang ist es der Regierungsspitze – wie Clin- sich – hinter vorgehaltener Hand – für eine gewalt- ton zuvor in Bezug auf Ruanda und den Kongo – same Beseitigung des irakischen Regimes aus- offenbar gelungen, durch kleinere diplomatische sprechen. Erfolge den innenpolitischen Gruppen in den Ver- IPG 4/2001 Stephan Böckennförde, Militärische Gewalt als Mittel künftiger amerikanischer Außenpolitik 409
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