Swissfuture Zukunft der Behinderung - Magazin für Zukunftsmonitoring 03/19
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swissfuture Magazin für Zukunftsmonitoring 03/19 Zukunft der Behinderung
IMPRESSUM swissfuture Nr. 03/19 Offizielles Organ der swissfuture Schweizerische Vereinigung für Zukunftsforschung, Organe officiel de la Société suisse pour la recherche prospective 46. Jahrgang Herausgeber swissfuture Schweizerische Vereinigung für Zukunftsforschung c/o Büro für Kongressorganisation GmbH Claudia Willi Vonmattstrasse 26 6003 Luzern T: +41 (0)41 240 63 33 M: +41 (0)79 399 45 99 future@swissfuture.ch www.swissfuture.ch Co-Präsidium Daniel Huber, Andreas Krafft, Cla Semadeni Chefredaktion Francis Müller, francis.mueller@swissfuture.ch Autoren und Autorinnen Lukas Drosten, Meinrad Furrer, Anni Kern, Delphine Magara, Daniel Stanislaus Martel, Bertolt Meyer, Georges T. Roos, Jakub Samochowiec, Mareike Teigeler, Katharina Tietze Lektorat und Korrektorat Jens Ossadnik Übersetzungen (Englisch) Anna Brailovsky Umschlag und Layout Andrea Mettler (andreamettler.ch) Druck UD Medien AG, Luzern Erscheinungsweise 4x jährlich Einzelexemplar CHF 30.- Mitgliedschaft swissfuture (inkl. Magazin) Einzelpersonen CHF 100.– Studierende CHF 30.– Firmen CHF 280.– Zielsetzung der Zeitschrift Das Magazin behandelt die transdisziplinäre Zukunftsforschung, die Früherkennung und die prospektiven Sozialwissenschaften. Es macht deren neuen Erkenntnisse der Fachwelt, Entscheidungsträgern aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft sowie einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich. SAGW Unterstützt durch die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW), Bern. www.sagw.ch ISSN 1661-3082
EDITORIAL Liebe Leserinnen, liebe Leser, als ich vor einigen Jahren in Angola über Tretminenopfer feldforschte, unter- hielt ich mich mit dem angolanischen Soziologen Paulo de Carvalho, der sich seit Jahren mit Behinderung beschäftigt. Während unseres Gesprächs sagte er, dass wir zwei eigentlich auch behindert seien, denn wir tragen ja eine Brille. Wie eine Beinprothese ist auch eine Brille ein technisches Artefakt, das an den Körper an- gebracht wird und das ein physisches Defizit kompensiert. Damit soll nicht eine schwere Behinderung wie das Fehlen der Beine verharmlost und mit einer Brille gleichgesetzt werden. Vielmehr soll das Beispiel zeigen, dass gewisse Formen der technischen Korrektur gesellschaftlich akzeptiert sind und andere nicht. Gerade in Angola führt die sichtbare Prothese zur Diskriminierung, während die ebenfalls sichtbare Brille mit Bildung konnotiert wird. Diese Bewertung zeigt, dass Behinderung nicht nur essentiell ein körperliches oder mentales Defizit beschreibt, sondern aktiv zugeschrieben wird: Behinderung hat eine gesellschaftliche Norm als Referenzpunkt, die definiert, was deviant (feh- lendes Bein) ist und was nicht (Sehschwäche). Es herrscht kein Konsens, was Behinderung eigentlich ist: Diejenigen, die ein es- sentialistisches Verständnis von Behinderung haben, gehen von universalen Vor- stellungen von einem gesunden Körper und intakten Leben aus – und mitunter von der utilitaristischen Argumentation, dass Behinderung für Betroffene und de- ren Umfeld viel Leid bedeutet. Die anderen hingegen, die eine konstruktivistische Auffassung von Behinderung vertreten, sind der Ansicht, dass dieses intakte Le- ben eine normative und gesellschaftlich geprägte Vorstellung ist. Der Soziologe Günther Cloerkes definiert Behinderung als «eine dauerhafte und sichtbare Abweichung im körperlichen, geistigen oder seelischen Bereich, der all- gemein ein negativer Wert zugeschrieben wird». In den Disability Studies ist von «Labeling» die Rede, wobei moralische oder medizinische Ursachen geltend ge- macht werden können. Die Idee, dass eine Behinderung die Folge eines immo- ralischen Verhaltens und damit selbstverschuldet ist, ist unvereinbar mit einem humanistischen, modernen Menschenbild. Allerdings hat sich in Europa erst im 19. Jahrhundert im Zuge des aufkommenden Positivismus die Idee durchgesetzt, dass Behinderung medizinische und nicht moralische Ursachen hat. Die Zukunftsdiskussion zur Behinderung wird aus nachvollziehbaren Gründen stark technologisch geführt: Die Technologie schafft neue Realitäten, die bisher allenfalls in der Welt der Mythen und Fantasien situiert waren. Sie ermöglicht nicht nur Korrekturen von körperlichen Defiziten, sondern sie steigert körperliche und mentale Fähigkeiten. Am «CYBLATHON», den die ETH 2016 zum ersten Mal durchführte und über den Anni Kern in diesem Magazin berichtet, begeben sich Menschen mit Exoskeletten und Armprothesen in sportliche Wettkämpfe – und in einigen Fällen sind sie deutlich leistungsfähiger als Spitzensportler und Spitzen- sportlerinnen ohne Prothesen, womit die Frage, wer behindert ist und wer nicht, ganz anders gestellt werden könnte. Der Zukunftsforscher Georges T. Roos unterhält sich mit dem Psychologen Ber- tolt Meyer, der übrigens selbst eine Armprothese trägt, in diesem Magazin über die Frage, was soziale Folgen dieses «Human Performance Enhancement» sein könnten. Meyer erwähnt soziale Klassifikationen wie «warm/inkompetent» und «kalt/kompetent», wobei Menschen mit Behinderung zur ersten gehören. Diese | Zukunft der Behinderung | 1
Klassifikation ändert sich, wenn Menschen mit Behinderung durch Biotechnolo- gie neue Kompetenzen entwickeln. Jakub Samochowiec vom Gottlieb Duttwei- ler Institut (GDI) beleuchtet in seinem Artikel Technologien, die Menschen mit Be- hinderungen neue Teilhaben am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Zugleich entstehen neue Hürden, die diese Teilhabe wiederum erschweren und mitunter verunmöglichen. Prothesen setzen Ressourcen voraus: Der Futurologe und Politologe Daniel Stanislaus Martel behandelt in seinem Beitrag die Frage, wie die für Prothesen notwendigen Ressourcen in einer zukünftigen Welt verteilt werden könnten, und er operiert hierzu mit den vier Szenarien «Planetare Plutokratie», «Vergessen im Untergang», «Globale Industrie 4.0» und «Terra Nova». Auch Lukas Drosten be- schäftigt sich mit Prothesen, allerdings im Kontext eines angewandten Projekts in Subsahara-Afrika: Drosten ist aktiv im Projekt «Circleg», einem Social Entreprise in Zürich, das in Uganda und Kenia kostengünstige Beinprothesen herstellt und das auch einen Beitrag zur Entstigmatisierung von Prothesen leisten möchte. Wie die Beiträge zeigen, sind Technologien stets mit sozialen und kulturellen Fragen ver- bunden. Schon die Frage, ob eine Technologie ein körperliches Defizit korrigieren soll, setzt ein bestimmtes Menschenbild und Weltdeutungsschemata voraus, die nicht einfach gegeben, sondern in historischen und sozialen Kontexten entstan- den sind. Entsprechend relevant sind soziale und nicht zuletzt auch ethische Di- mensionen, wenn es um Behinderung geht. Katharina Tietze, die an der Zürcher Hochschule der Künste die Fachrichtung Trends & Identity leitet, erkennt in ihrem Artikel «‹Applaus gefällt mir gut› – Ge- stalterische Bildung und Menschen mit Down-Syndrom» einen Graben zwischen der UN-Konvention der Rechte für Menschen mit Behinderung und der Realität in der Schweiz: Tietze betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung, die Kul- tur- und Bildungsinstitutionen zur erstrebten Inklusion leisten können. Die Sozio login Mareike Teigeler stellt in ihrem Artikel fest, dass Menschen mit Down-Syn- drom sichtbarer werden, ohne aber an ihrer Sichtbarwerdung beteiligt zu sein. Sie fordert die Politik, hier neue Räume des Miteinanders zu eröffnen. Dass die Tendenz zur Selbstoptimierung und die normativen Konzepte von «wert- vollem Leben» besonders jene unter Druck setzt, die den stets höheren Anfor- derungen nicht genügen können, stellt der katholische Theologe Meinrad Fur- rer in seinem Artikel fest: «Inklusion meint also mehr als barrierefreien Zugang zu den Angeboten unserer Gesellschaft. Barrierefreiheit entsteht zuerst in unseren Grundeinstellungen. Gelungene Inklusion gibt allen das Gefühl der Zugehörigkeit in Einzigartigkeit und Vielfalt.» Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre. Dr. phil. Francis Müller 2 | swissfuture | 03/19
INHALT 1 Editorial 4 Imperfekte Theologie: Impulse zur Diskussion über die Zukunft der Behinderung | Meinrad Furrer 7 Frankenstein 2050 | Bertolt Meyer im Gespräch mit Georges T. Roos 12 «Applaus gefällt mir gut» – Gestalterische Bildung und Menschen mit Down-Syndrom | Katharina Tietze 16 Stütze für viele oder Luxus für wenige? | Daniel Stanislaus Martel 19 Zur (Un-)Sichtbarkeit des Down-Syndroms | Mareike Teigeler 22 Auf dem Weg zur Inklusion – Wie neue Technologien helfen können | Jakub Samochowiec 26 Ganzheitlicher Ansatz zur selbstbestimmten Mobilität | Lukas Drosten 30 CYBATHLON – bewegt Mensch und Technik | Anni Kern 33 Abstracts 36 «Da ich mich als Macherin sehe, kann die Zukunft ja nicht so schlimm werden» | Interview mit Regula Stämpfli 37 Demokratie für die Künstliche Intelligenz | Delphine Magara 39 Veranstaltungen | Zukunft der Behinderung | 3
IMPERFEKTE THEOLOGIE: IMPULSE ZUR DISKUSSION ÜBER DIE ZUKUNFT DER BEHINDERUNG Der Trend zur (Selbst-)Optimierung tritt deutlich zutage in unserer Gesellschaft, die zunehmend narzisstischer zu werden droht. Schicksale werden vermeidbar, wenn z. B. mit den Möglichkeiten der pränatalen Technik die Definition von «wertvollem» Leben zur Diskussion gestellt wird. Der Autor plädiert aus theologischer Sicht für ein Umdenken und die Bereitschaft aller, sich selbst als bedürftig zu erfahren, um die «Unterteilung der Menschen in Helfende und Hilfsempfänger» aufzubrechen. Keywords: (Selbst-)Optimierung, Machbarkeitskultur, Leistungsgesellschaft, Christentum, Menschenbild, Jesus, Inklusion, Schöpfung Meinrad Furrer Ausgangslage Leben zur Diskussion zu stellen. Damit verengt sich In der Studie «Menschen mit Behinderung in der Welt das Spektrum dessen, was wir als lebenswert erach- vom 2035» stellen die Autorinnen fest: «Politische, ten. In einem Kommentar in der taz schreibt Patri- gesellschaftliche und technologische Entwicklungen cia Hecht: «Das Signal, das vom krankenkassenfi- führen zu einer zunehmenden Normalisierung im nanzierten Test auf Trisomie 21 ausgeht, ist deutlich: Umgang mit behinderten Menschen.» (Hauser und erwünscht ist, was der Norm entspricht, perfektio- Tenger 2015: 2) Medizinische und technische Fort- niert nach Kriterien der Leistungsgesellschaft. Wer schritte vereinfachen das Leben. Bauliche und soziale anders ist, passt nicht in unsere Welt» (Hecht 2019). Tendenzen machen den Alltag barrierefreier. Durch- Die Zukunft von Behinderung kann also durchaus lässigere Wohn-, Bildungs- und Arbeitsformen erhö- ambivalent beschrieben werden. Einerseits wachsen hen den Zugang zum gesellschaftlichen Leben. Es die Möglichkeiten für behinderte Menschen, am ge- gibt aber auch Bremser in dieser Entwicklung. Durch sellschaftlichen Leben teilzuhaben. Andererseits ge- die zunehmende Individualisierung werden Bedürf- raten Menschen mit Behinderung infolge des Opti- nisse anderer nebensächlicher, unserer Gesellschaft mierungs- und Machbarkeitsglaubens unter Druck. zeigt stark narzisstische Tendenzen. Es ist anzuneh- Im Folgenden skizziere ich vier theologische The- men, dass der Ausbau der Wohlfahrt nicht in glei- menfelder, die Diskussionsimpulse zu dieser span- chem Mass weiter gehen wird wie in den letzten Jahr- nungsvollen Ausgangslage anbieten. zehnten. Durch Sparmassnahmen wird dann eine Priorisierung der Bedürfnisse nötig. Es könnte sein, Lob der Ambivalenz dass Menschen mit Behinderung in dieser Wertedis- 1999 wurde die Präambel der Schweizerischen Bun- kussion zu den Verlierern gehören werden. Denn ein desverfassung um einen bemerkenswerten Satz an- anderer Trend zeigt sich in unserer Gesellschaft ganz gereichert; nämlich, «dass die Stärke des Volkes sich deutlich: der Wunsch nach (Selbst-)Optimierung. misst am Wohl der Schwachen» (zit. nach Hauser «Wenn … im heutigen Optimierungszeitalter alles und Tenger 2015: 11). Das ist in der Tat bemerkens- als machbar gilt, werden Schicksale vermeidbar. Die- wert, zumal es sich zunehmend nicht mehr um ei- se Machbarkeitskultur stellt eine neue Herausforde- nen Konsens handeln dürfte. Wir beobachten eine rung dar für die Akzeptanz von Menschen mit Behin- starke Polarisierung. Die Debatten sind geprägt von derung. Durch die vermehrte Inklusion geraten auch der Optimierung der eigenen Anliegen und von pla- Menschen mit Behinderung zunehmend unter Leis kativen Eindeutigkeiten, oft genug in einem Schema tungs- und Normierungsdruck – der Statusstress er- von richtig und falsch. Da hinein könnte eine «imper- reicht die Schwächsten» (Hauser und Tenger 2015: 2). fekte Theologie» (Krauss 2014: 414) wichtige Impulse Ich werde in der theologischen Argumentation zei- setzen. Diese ist offen für Ambivalenzerfahrungen gen, dass gerade nicht die Inklusion diesen Effekt und Uneindeutigkeiten. Sie hält die Widersprüche auslöst. Ich teile hingegen die Beobachtung, dass in aus und vermeidet so einen Standpunkt, der Men- einer Optimierungs- und Machbarkeitskultur auch schen ausschliesst. Sie betont, dass jedes Leben stets Menschen mit Behinderung unter Anpassungsdruck Fragment bleibt und sich den Optimierungsfanta- geraten könnten. Ebenso geraten Eltern unter Druck. sien entzieht. In den ersten Schriften des Christen- Die Möglichkeiten von pränataler Diagnostik eröff- tums finden sich verschiedene Formulierungen, die nen ein weites Feld, die Definition von wertvollem die Ambivalenz kultivieren. «So findet man bei Paulus 4 | swissfuture | 03/19
scheinbar paradoxe Wendungen, die die bisherigen unterschiedlich ausgebildete Fähigkeitspotenzial des Wertvorstellungen ad absurdum führen, z. B. ‹Stärke einzelnen Menschen im Blick zu haben. Jeder Mensch durch Schwäche› …» (Krauss 2014: 414). Dieselbe hat seine Behinderungen und seine Begabungen. Ambiguität liegt den zentralen Zeichenhandlungen Wir sollten deshalb nicht versuchen, durch Integrati- des Christentums inne. Getauft wird auf den Tod und on die Andersheit des andern zu zerstören, sondern die Auferstehung von Jesus Christus, das Mahl macht ihre Kultur zu respektieren und ihre Lebensweise zu im Brechen des Brotes die fragmentarische und ge- schützen (Fuchs 2012: 36). Darin liegt wohl auch ein brochene menschliche Existenz sinnlich erfahrbar kritisches Potenzial für die ganze Gesellschaft: Men- (vgl. dazu: 2 Kor 12,10; Gal 3,26–28). Diese Bilder lau- schen mit offensichtlichen Behinderungen halten fen dem Wunsch nach Eindeutigkeiten entgegen. den Spiegel vor, mit welchem Aufwand wir die Brü- Und sie können den Einzelnen in seinen Brüchen und chigkeit des Lebens zu überdecken oder minimieren die Gemeinschaft vom Druck der Perfektion entlas versuchen. Dieses Potenzial sollten wir durch Integra- ten. Henning Luther beschreibt die Wirkung von op- tionszwang nicht verspielen. timierten und idealen Vorstellungen von Leben in Be- zug auf Krankheit und Behinderung: «Zerstören sie Der behinderte Gott nicht das uns lebbare Leben? Unser Leben mit all sei- In Jesus Christus hat sich Gott nach christlichem nen Brüchen, Fehlern, Unvollkommenheiten, Schwä- Verständnis ganz und gar inkarniert. Als Kind, das chen? … Ist der Mythos der Ganzheit nicht eine gleich nach der Geburt zum Flüchtlingskind wird, einzige Lebenslüge, die unsere schüchternen und zeigt er sich in Verletzlichkeit und Angewiesensein. unvollkommenen Tastversuche, unseren Versuch zu Dem Mensch gewordenen Gott wird schliesslich am leben, im Keim erstickt und abtötet?» (Luther 1991: Kreuz der Leib gebrochen. Selbst der Auferstandene 263) trägt immer noch deutlich die Zeichen der Versehr- theit. Eine Theologie der Inkarnation «ruft dazu auf, Ebenbild Gottes für Unvorhersehbarkeiten, Sterblichkeit und die Kon- «Heute leben nach wie vor mehr als 10 % der Schwei- kretheit von Schöpfung und Leiden einzustehen» zer Bevölkerung im erwerbstätigen Alter mit ei- (Eiesland 2001: 10 f.) Der inkarnierte Gott teilt Erfah- ner Behinderung, sei das durch ein Geburtsgebre- rungen der Verletzlichkeit bis hin zur völligen Hinga- chen, einen Unfall oder eine Krankheit» (Hauser und be des Lebens am Kreuz und kann so zum tröstlichen Tenger 2015: 11). Aus diesem Grund greift die Rede Beistand für Menschen mit Behinderungen werden. von dem behinderten Menschen zu kurz. Die Er- Das ändert die Perspektive: Die Erfahrung einer Be- scheinungsformen sind sehr vielfältig und indivi- hinderung muss nicht als Minusvariante mensch- duell. Auch aus christlicher Sicht ergibt es keinen licher Normalität erlebt werden, sondern als andere Sinn, von einem behinderten Menschen zu spre- ungewohnte und ungewöhnliche Variante mensch- chen. Dualistische Unterscheidungen wie Behinder- licher Existenz. Von der biblischen Tradition her be- te und Nichtbehinderte sind durch christliche Grund deutet ein glückendes Leben nicht konsequent ein überzeugungen aufgehoben (vgl. auch hierzu: Gal perfektes Leben (Krauss (2014: 411). Die christliche 3,26–28). Die Kindschaft Gottes ist jedem Menschen Grundbotschaft besagt, dass der Wert des Lebens zugesprochen, jenseits menschengemachter Unter- und seine Würde gerade nicht vom Gelingen und scheidungen. Genauso verhält es sich mit dem Bild, Scheitern menschlicher Lebensführung und Selbst- dass der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen wur- verwirklichung abhängen, sondern von der Teilhabe de. «Und Gott schuf den Menschen als sein Bild, als am Leben Gottes und seiner Fülle (Krauss 2014: 260). Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er Dies beinhaltet ein leidenschaftliches Engagement sie» (Gen 1,27). In aller Verschiedenheit ist jede Per- für das Aufbrechen von Strukturen, in denen Men- son erst mal Mensch. In diesem Verständnis wird dem schen von dieser Fülle abgeschnitten werden. Menschen seine Würde und auch seine Freiheit von Gott her geschenkt. Vor jeder Leistung oder Anpas- Reich Gottes sung an irgendwelche Ideale ist jeder bedingungslos In ihrem Kommentar zu krankenkassenfinanzierten von Gott geliebt. Die Würde leitet sich nicht von der Bluttests schreibt Patricia Hecht in der taz: «Derzeit Autonomie des Subjekts her, sondern vom Zuspruch geht der Trend dahin, Menschen zu optimieren. Aber Gottes, der sich im Zuspruch der Menschen spiegelt. das Ziel sollte sein, die Bedingungen zu optimieren, Die Würde des Menschen ergibt sich aus seiner Bezo- unter denen wir leben.» In welcher Gesellschaft wol- genheit, er ist zugewendet und lebt von Zuwendung. len wir leben? Dieser Frage widmete sich vor 2000 Christliches Menschenbild «achtet Menschen mit Be- Jahren das Wirken des Wanderpredigers Jesus. In hinderung gerade in ihrem Sosein und lässt nicht zu, seinem Bild des Reiches Gottes verdichtet sich sei- dass ihre Defizite gegenüber ‹autonomen›, anschei- ne Vorstellung in immer neuen Bildern und Zeichen- nend völlig selbstbestimmten Menschen den Blick handlungen. Die Marginalisierten und Schutzbedürf- auf sie bestimmen» (Eurich 2012: 28). Selbstbestim- tigen werden ins Zentrum gestellt. Wesentlich für mung beinhaltet deshalb auch immer, das jeweils sein Handeln ist das Fehlen von Berührungsängsten | Zukunft der Behinderung | 5
zu Ausgeschlossenen. Sich den Bedürftigen adäquat Meinrad Furrer zuzuwenden, wird auch zum privilegierten Ort der Meinrad Furrer ist Beauftragter für Spiritualität bei «Katholisch Stadt Zürich» und freier Ritualbegleiter. Er Gottesbegegnung (vgl. die Rede zum Weltgericht bei studierte katholische Theologie in Luzern und Paris Mt 25, 31–46). Ebenso wird deutlich, dass das Anneh- und Gesang in Luzern und Basel. Zudem hat er sich in einem Masterstudium im spirituellen und inter- men von Zuwendung ebenfalls eine Gotteserfahrung religiösen Bereich zum Master of Spiritual Theology ausbilden lassen. Nach Jahren der Gemeindeseelsorge ist. Im Lichte der Erzählungen über das Reich Gottes arbeitet er im Projekt «Kirche urban» in Zürich und verfolgt interdisziplinär innovative Projekte zu gehört es zu einem erfüllten Leben, nicht ohne frem- Spiritualität und Community. de Hilfe leben zu können. Nur Mächtige und Opti- mierer sehen darin einen Widerspruch. Aber wir alle Literatur leben von der Hilfe und der Zuwendung anderer. Kei- Die Bibelzitate richten sich nach der Zürcher Bibel ner verdankt das Leben und das Überleben sich sel- 2007. Verlag der Zürcher Bibel beim Theologischen ber. Unverständlich bleibt deshalb für Jesus in sei- Verlag Zürich. nem Reich-Gottes-Denken, dass die Leistungen der Eiesland, Nancy L. (2001): Dem behinderten Gott begegnen. Theologische und soziale Anstösse einer Mächtigen und Erfolgreichen wertgeschätzt, die all- Befreiungstheologie der Behinderung, in: Stephan Leimgruber, Annebelle Pithan, Martin Spiekermann tägliche unspektakuläre Zuwendung von Menschen (Hg.), Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Forum für ein gutes Leben hingegen kaum beachtet wird. für Heil- und Religionspädagogik, Münster, S. 7–25. Wichtige Impulse dazu liefert die Care-Ökonomie Eukirch, Johannes (2012): Gerechtigkeit und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung, in: (vgl. dazu https://wirtschaft-ist-care.org/). Eine Care- Behinderung & Pastoral 18. Internes Forum zum Austausch von Erfahrungen und Informationen für zentrierte Ökonomie öffnet eine andere Perspekti- hauptamtlich und ehrenamtlich Engagierte und ve für Menschen mit Behinderung. Nicht die Einglie- Interessierte der Behindertenarbeit in Deutschland. Themenschwerpunkt: Behinderung und Kirche. Arbeits- derung in eine leistungsstarke und konsumfreudige stelle Pastoral für Menschen mit Behinderung der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), S. 22–28. Gesellschaft ist das Ziel, es sei denn, dies entspre- Fuchs, Othmar (2012): Inklusion als theologische che den Wünschen einer Person mit Behinderung. Im Leitkategorie, in: Behinderung & Pastoral 18. Internes Zentrum stehen die Befriedigung der individuellen Forum zum Austausch von Erfahrungen und Informationen für hauptamtlichund ehrenamtlich Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung und die Engagierte und Interessierte der Behindertenarbeit in Deutschland. Themenschwerpunkt: Behinderung und Möglichkeit, sich mit dem eigenen Potenzial einbrin- Kirche. Arbeitsstelle Pastoral für Menschen mit Behinderung der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), gen zu können. S. 29–40. Hauser, Mirjam; Tenger, Daniela (2015): Menschen mit Fazit Behinderung in der Welt 2035. Wie technologische und gesellschaftliche Trends den Alltag verändern. Studie des Die dominanten Werte unserer Gesellschaft wie Au- GDI Gottlieb Duttweiler Institut. Im Auftrag von: Stiftung Cerebral. Online verfügbar unter: https://www. tonomie, Selbstbestimmung und Leistungsbereit- cerebral.ch/uploads/media/StudieGDIBarrierefreieVer- schaft setzen all jene unter Druck, die diesen Anfor- sion.pdf. Zuletzt geprüft am 10.10.2019. derungen nicht genügen können. Und sie verstärken Hecht, Patricia (2019): Kasse zahlt Downsyndrom-Blut- tests. Gewollt ist nur die Norm. Kommentar in der taz eine grundlegende Schwierigkeit von Menschen: Es vom 19.09.2019. Rubrik Gesellschaft / Alltag. Online verfügbar unter https://taz.de/Kasse-zahlt-Downsyn- ist nicht einfach, auf Hilfe angewiesen zu sein in un- drom-Bluttests/!5624829/?fbclid=IwAR2SbnZYpQL4LQ serer auf Optimierung und Selbstverwirklichung ge- WVOOnrUlnq3fFnC2FDj5sb03MO3WrfROa3P27UgQ4T- QeQ. Zuletzt geprüft am 10.10.2019. trimmten Gesellschaft, wo vor allem der individuelle Krauss, Anne (2014): Barrierefreie Theologie. Das Werk Erfolg zählt. Wir brauchen deshalb eine Bereitschaft Ulrich Bachs vorgestellt und weitergedacht. Behinderung – Theologie – Kirche Band 8, Kohlhammer. von allen, sich selber als bedürftig zu erfahren. Da- mit überwinden wir die Unterteilung der Menschen Luther, Henning (1991): Leben als Fragment. Der Mythos von der Ganzheit, in: Wege zum Menschen 43 (5), in Helfende und Hilfsempfänger, welche die einen zu S. 262–273. den (immer) Starken überhöht und die anderen zu den (ewig) Schwachen degradiert. Damit werden die dominanten Werte unserer Kultur durch Erfahrungen ergänzt, die für die Zufriedenheit entscheidend sind: Demut, Dankbarkeit, Verbundenheit. Es gibt einem das Gefühl, getragen zu sein – dazuzugehören. In- klusion meint also mehr als barrierefreien Zugang zu den Angeboten unserer Gesellschaft. Barrierefreiheit entsteht zuerst in unseren Grundeinstellungen. Ge- lungene Inklusion gibt allen das Gefühl der Zugehö- rigkeit in Einzigartigkeit und Vielfalt. Vielfalt soll zur Norm werden. Und darin ermöglicht sich die Einsicht, dass wir alle aufeinander angewiesen sind und gera- de dies unser Leben bereichert. 6 | swissfuture | 03/19
FRANKENSTEIN 2050 Bisher hat der Mensch durch Technik seine Umwelt verändert. Immer mehr verändert er nun sich selbst – durch implantierte Technik. Er wird zu einem Cyborg. Noch dienen smarte Prothesen Menschen mit Behinderung, diese zu kompensieren. In Zukunft könnten künstliche Körperteile aber besser sein als ihre biologischen Originale. Der Mensch wird sich aufrüsten können. Warum das geschehen wird und was es mit uns und der Gesellschaft macht, diskutieren der Zukunftsforscher Georges T. Roos und der Psychologe Bertolt Meyer, der bereits heute in gewisser Weise ein Cyborg ist. Keywords: Cyborg, Kompetenz/Inkompetenz, künstliche Intelligenz, Neuro-Enhancement, Normen, Prothesen Bertolt Meyer im Gespräch mit Georges T. Roos Georges T. Roos: Herr Meyer, die Schnittstelle zwischen Hand zu bauen, die sich genauso bewegen lässt wie Mensch und Technik verschiebt sich immer weiter in den eine menschliche Hand. Noch nicht gelöst ist hinge- menschlichen Körper hinein. Damit werden wir immer gen das Interface – die Schnittstelle: Wie lässt sich mehr zu Cyborgs – zu einem Mischwesen von Biologie eine Handprothese mit 27 Freiheitsgraden und Dut- und Technologie. Wir wollen der Frage nachgehen, was zenden von Elektromotoren steuern? Wie soll die es bedeutet, wenn wir den Organismus in Zukunft durch Schnittstelle zwischen Gehirn und Prothese funktio- Technologie aufrüsten und verbessern, zum «Cyborg nieren? Wir waren im Advanced Physics Laboratory 2050» mutieren. Die wenigsten Menschen wissen, was der Johns Hopkins University in Baltimore. Dort ar- heute bereits möglich ist. Sie waren Gastgeber in der bri- beitet man mit viel Geld, gestiftet durch das US-Mi- tischen Fernsehdokumentation «How to Build a Bionic litär, am MPL-Projekt (Modular Prosthetic Limb), mit Man», in der alle künstlichen Ersatzteile des menschli- dem erklärten Ziel, einen menschlichen Arm von der chen Körpers zu einem bionischen Menschen zusam- Schulter bis zur Hand voll funktionsfähig nachzubau- mengesetzt wurden. Waren Sie selbst auch überrascht, en und ansteuerbar zu machen. Meine eigene Pro- was alles bereits möglich ist? these hat zwei Elektroden auf der Haut. Dort arbeitet man mit sechzehn Elektroden, und ich habe sie aus- Bertolt Meyer: Ich habe dieses bionische Wesen Fran- probiert. Ich sass auf einem Stuhl, alle Elektroden an- kenstein genannt! Ich war sehr überrascht, wie weit geschlossen, doch der Arm hing noch an einem Ge- einige künstliche Organe schon gedrungen sind: stell in zwei Metern Entfernung. Dann stellte ich mir Im bionischen Menschen war ein Prototyp einer au- vor, den Arm zu bewegen, und zwei Meter weiter tark arbeitenden transplantierbaren künstlichen weg bewegte sich dieser Arm – ausserhalb des Kör- Niere eingebaut. Wenn man sich überlegt, wie viele pers. Das war bizarr. Menschen auf eine Dialyse oder Nierentransplan- tation angewiesen sind, dann hat das Versprechen Bis heute geht es darum, eine Behinderung zu kompen- auf eine transplantierbare bionische Niere ein en- sieren: Blinde sehend und Taube wieder hörend zu ma- ormes Potenzial. Auch der Prototyp einer transplan- chen, fehlende Gliedmassen zu ersetzen. Meine These tierbaren künstlichen Lunge wurde verwendet. Sehr ist, dass wir zu einem neuen Paradigma der Gesundheit beeindruckt hat mich überdies das künstliche Blut: unterwegs sind. Es lässt sich am besten bezeichnen mit eine Flüssigkeit, die mit anorganischen Nanopar- Human Performance Enhancement – die Steigerung der tikeln angereichert war, die in der Lage waren, wie Leistungsfähigkeit des Menschen. Durch Implantate, rote Blutkörperchen Sauerstoff zu binden und wie- aber auch durch chemische Eingriffe soll die Leistungs- der abzugeben. Natürlich ist das noch kein vollwer- fähigkeit des Menschen über die natürlichen Grenzen tiger Blutersatz, aber in der Ersten Hilfe im Trauma hinaus gesteigert werden – physisch, psychisch und ko- kontext viel potenter und viel hilfreicher als etwa gnitiv. Was macht es mit uns, mit der Gesellschaft, wenn Kochsalzlösung. es bis 2050 Implantate geben wird, die eine bessere Funktionalität haben werden als das natürliche, biolo- Ich habe in dieser TV-Dokumentation gesehen, wie be- gische Original? geistert Sie von neuen Schnittstellen zwischen Nerven und technischen Geräten waren. Die heutigen Produkte zielen darauf ab, eine ver- letzte oder unterschrittene Norm wieder herzustel- Ich bin persönlich von diesen Entwicklungen betrof- len. Die gesellschaftliche Norm ist, dass ein Mensch fen, da ich ohne linken Unterarm zur Welt gekom- zwei Arme und zwei Beine hat. Bis jetzt versucht men bin und eine Prothese trage. Die technische Her man also die Angleichung an die Norm und nennt es ausforderung besteht heute nicht mehr darin, eine Therapie. Beim Enhancement geht es nicht um die | Zukunft der Behinderung | 7
Wiederherstellung der Norm, sondern um ihre Über- inkompetenten Person eine sehr kompetente Person. schreitung. Bisher hat der Mensch seine Umwelt ver- Jetzt ist die Frage, welche Absicht unterstellt wird. So- ändert, um die eigenen Einschränkungen auszu- bald ich anfange, negative Absichten zu unterstellen, gleichen. Nun sind wir auf dem Weg, uns selbst zu verändert sich die Wahrnehmung dieser Person zu verändern. Das ist ein Paradigmenwechsel. Und er ist kalt und kompetent, was negative Reaktionen nach faszinierend! Allerdings sind die Grenzen fliessend: sich zieht. Deshalb glaube ich, dass die neuen Tech- Meine Handprothese ist im Grossen und Ganzen nologien, die wir an und in den Körper bauen, eine nicht so gut wie eine natürliche Hand. Ich kann bei- enorme gesellschaftliche Auswirkung haben werden. spielsweise mit dieser Prothese nicht Klavier spielen. Sie werden die Art und Weise verändern, wie wir mit Aber ich kann das Handgelenk um 360 Grad drehen. Behinderung umgehen. Denn sie haben das Potenzi- Wozu das auch immer gut sein mag, aber es ist eine al, das Stigma von Behinderung von inkompetent zu Fähigkeit, die Sie nicht haben. Es kann also durch- kompetent zu verändern. Die entscheidende Frage aus sein, dass man in bestimmten Bereichen un- wird sein, ob dies einhergeht mit einer Verschiebung ter der Norm bleibt, in anderen Bereichen aber über von warm zu kalt. Wenn dem so wäre, würden wir auf der Norm liegt. Die beinamputierten Hochleistungs- eine düstere Zukunft zusteuern. sportler mit den Karbonfedern können damit nicht besonders gut laufen, sie haben einen humpelnden Das würde bedeuten, dass die technisch aufgerüsteten Gang. Beim Sport hingegen haben sie dank der Pro- Menschen als Bedrohung und Gefahr wahrgenommen these eine Energieausbeutung, die darüber hinaus- würden. In der Dokumentation über bionische Men- geht, was der natürliche Körper anzubieten hat. schen kam auch eine Ratte vor, die durch einen implan- tierten Chip intelligenter gemacht wurde. Im Film hiess Beim südafrikanischen Läufer Oscar Pistorius war es, dass diese Ratte eine um siebzig Prozent gesteigerte von einem «unstatthaften Vorteil» die Rede, von Hirnleistung aufwies. Techno-Doping. Auch dieser Chip wurde zunächst im Kontext der Das lässt sich gut sozialpsychologisch erklären: Wir Therapie entwickelt. Das Ziel dieses Forschungs- kategorisieren Menschen, wenn wir ihnen begegnen, teams ist der Bau einer Prothese für ein bestimmtes erst einmal grob nach Ähnlich-unähnlich-Kategorien. Hirnareal, den Hippocampus. Dieses Areal spielt un- Wenn ich das Gefühl habe, jemand sei nicht so wie ter anderem beim Gedächtnis eine zentrale Rolle. Der ich, nicht meiner sozialen Gruppe angehörig, ist das Hippocampus ist eine der Stellen im Gehirn, an de- zumeist erst mal negativ für die Wahrnehmung die- nen Demenz zuschlägt. Die Idee hinter diesem Pro- ses Menschen. Eine gut sichtbare körperliche Behin- jekt ist, durch ein mathematisches Modell einen Teil derung ist ein Merkmal, das stark Andersartigkeit si- der Funktion des Hippocampus nachzubilden und es gnalisiert. Diese Andersartigkeit eines Menschen auf einen Chip zu laden, damit der Chip wie eine Krü- kann ich allerdings unterschiedlich bewerten. Die cke oder Brücke den defekten Teil ersetzen kann. Die Theorie und die Empirie sagen, dass wir die Bewer- ursprünglichen Experimente zielten darauf ab, Rat- tung auf zwei Dimensionen vornehmen. Die eine ist ten die Navigation durch ein Labyrinth beizubringen die Kompetenzdimension: Hat er die Fähigkeit, sei- und dann die Ratten entweder unter Drogen zu set- ne Absichten in die Tat umzusetzen? Die zweite ist zen oder durch einen chirurgischen Eingriff am Hip- die Wärmedimension: Hat er gute oder schlechte Ab- pocampus zu schädigen. Und obwohl sie durch die sichten? Paradebeispiel sind Grossmütter: Wenn Sie Drogen oder die Schädigung eigentlich nicht mehr an eine stereotype Grossmutter denken, denken Sie hätten fähig sein dürfen, sich zu erinnern, wie sie sich an eine niedliche alte Frau, der man über die Strasse in diesem Labyrinth orientieren können, waren sie helfen soll. Warum ist das so? Wir unterstellen Gross- trotzdem dazu in der Lage, sobald man diesen Chip müttern eine positive Absicht. Sie sind aber nicht be- eingeschaltet hatte. Der Impetus war also die Wieder- sonders gut darin, ihre Absichten umzusetzen. Des- herstellung einer verloren gegangenen Norm. Aber halb muss man ihnen helfen. Die Konsequenz ist dann hat man geguckt, was passiert, wenn man ei- Mitleid, und die Handlungsaufforderung ist Hilfe. nen solchen Chip in das Gehirn einer gesunden Ratte Kalt/kompetent ist ganz problematisch. Es suggeriert einsetzt. Da zeigte sich, dass die Gedächtniskapazität böse Absichten und die Fähigkeit, diese Absichten in dieser Ratte weit über dem liegt, was man normaler- die Tat umzusetzen. Behinderte gehören zur Grup- weise von einer gesunden Ratte erwarten darf. So pe warm/inkompetent. Unsere Reaktion darauf sind hatten sie dann die Superratte. Mitleid und der Wunsch, zu helfen. Jetzt kommt ein Pistorius, dessen Körper durch Hightech aufgerüstet Wir sind auf dem Weg zu den Supermenschen. Was ge- ist. Nichts strahlt mehr Kompetenz aus als Hightech. schieht mit der Gesellschaft, wenn wir 2050 Hirnprothe- Damit geschieht etwas Interessantes: Die Verbin- sen auch für Gesunde haben? Oder dasselbe Ergebnis dung von Behinderung – in diesem Fall die Abwe- auf pharmakologischem Weg erzielen, was ja noch na- senheit von Beinen – und Hightech macht aus einer heliegender ist? Im Film «Limitless» aus dem Jahre 2011 8 | swissfuture | 03/19
gelangt der Held in den Besitz eines chemischen Hirn- Menschen reagieren zumeist anders als Sie. Die Scheu Boosters. Zuvor erfolglos als Schriftsteller, ist er damit in bei Gehirn-Enhancement ist, dass dadurch das eigene der Lage, geniale Bücher im Schnellverfahren zu schrei- Wesen verändert wird. ben. Bald aber wird die Verbrecherwelt auf seine Fähig- keiten aufmerksam und nimmt ihn in ihre Gewalt. Wir haben weniger Vorbehalte gegenüber körper- lichen Veränderungen durch Enhancement als ge- Es ist doch interessant: Aus dem «Schlufi» – also warm genüber geistigen. Wir haben auch weniger Vorbe- und inkompetent – wurde kompetent und kalt. Wir halte gegenüber medikamentösen Veränderungen sprachen eben über den Begriff der Norm. Was pas- als gegenüber technischen. siert, wenn sich solche Chips immer mehr durchset- zen? Der Durchschnitt verändert sich, die Norm ver- Bisher haben wir darüber gesprochen, den Menschen schiebt sich. Das bedeutet, dass diejenigen, die noch zu verbessern. Die andere Zukunft am Horizont besteht in oder am Rand der Norm waren, bevor es den Chip darin, Maschinen menschenähnlich zu machen. Zum gab, irgendeinmal so weit weg von der Norm sind, Beispiel am Human Brain Project, einem EU-Flagship- dass sie – in Anführungszeichen – behindert sind. Es Forschungsprojekt, das mit über einer Milliarde Euro geht also weniger um die Frage, ob ich Angst vor ei- gefördert wird. Ziel ist ein Supercomputer, der am Ende ner Entwicklung habe, als vielmehr darum, ob ich ir- ein Gehirn simulieren soll. Das Projekt will aber auch ler- gendwann vom technischen Fortschritt so weit abge- nen, wie das Gehirn funktioniert, um Computer bauen hängt werde, dass mir daraus ein objektiver Nachteil zu können, die mit derselben unvorstellbaren Energieef- entsteht. fizienz und Geschwindigkeit wie unser Gehirn Operati- onen ausführen können. Es gibt also Bestrebungen, Ma- Bereits vor über zehn Jahren haben Neurowissen- schinen zu bauen, die so intelligent wie ein Mensch sein schaftler bedeutender Universitäten in einem Positi- werden. Die Forschungen laufen unter dem Titel künst- onspapier darüber diskutiert, welche ethischen Fragen liche Intelligenz beziehungsweise KI. Mittlerweile gibt das Neuro-Enhancement aufwirft. Wir haben bereits es sehr beeindruckende Fortschritte, zum Beispiel Wat- über Fairness gesprochen: Wer hat Zugang, wer nicht? son von IBM. Diese Maschine versteht natürliche Spra- Daneben diskutieren diese Forscher über Sicherheit: che, bildet autonom eigene Hypothesen, überprüft die- Wie viele Risiken und unerwünschte Nebeneffekte sind se auch und lernt ganz von allein dazu. Die potenziellen vertretbar bei einem an sich gesunden Menschen? Des Auswirkungen sind enorm. Wie sehen Sie die Zukunft Weiteren erörtern sie Enhancement unter dem Aspekt unseres Zusammenlebens mit künstlicher Intelligenz? von Freiheit und möglichem Zwang: Wird der Mensch aus Überlebensgründen zum Enhancement gezwun- Zunächst wird die sprachliche Interaktion mit Com- gen, da er andernfalls seine ökonomischen und sozi- putern kommen, wie wir es bereits ansatzweise bei alen Chancen verspielt? Besonders spannend ist aber Siri oder Google Voice sehen. Vor wenigen Jahren auch die vierte Frage, die besprochen wird: Was macht schienen wir davon noch sehr weit entfernt zu sein. Enhancement mit der Persönlichkeit eines Menschen? Es ist durchaus denkbar, dass wir in dreissig Jahren Sind wir noch dieselben, wenn wir Hirndoping prakti- ein System haben, das den Turing-Test besteht. Das zieren? Bin ich noch derselbe, wenn es gelänge, meine ist der Standardtest für künstliche Intelligenz. Inter Erinnerungsfähigkeit oder das logische Denken massiv essant ist, dass sich der Turing-Test ausschliesslich zu verbessern? Die Antwort liegt nicht gleich auf der auf das Verhalten einer Maschine und nicht auf de- Hand. Wenn ich zwei Gläser Wein getrunken habe, bin ren Aufbau bezieht. Eine Maschine besteht den Test, ich auch nicht derselbe. Wenn ich ein Liebender bin, wenn ein Mensch in einer Interaktion mit der Maschi- bin ich nicht derselbe, wie wenn ich im Büro eine neue ne nicht merkt, ob er sich mit einem anderen Men- Strategie umsetze. Die Idee, wir seien eine einzige Iden- schen oder mit einer Maschine unterhält. Also bei- tität, die sich durch Enhancement verändert, greift auf spielsweise eine Chat-Unterhaltung, bei der ich nicht jeden Fall zu kurz. merke, dass die Antworten von einer Maschine und nicht von einem Menschen kommen. Bisher hat noch Menschen haben in jeder Kultur das Bedürfnis ge- keine Maschine diesen Test bestanden, wenn die habt, ihr Bewusstsein zu ändern. In jeder Kultur Konversation völlig frei sein durfte. gibt es Drogen, teilweise richtig hartes Zeug. Nie- mand würde sagen, sie seien deswegen keine Men- Noch nicht, aber das wird wohl einmal. Wir haben bei- schen mehr. Sie sind einfach in einem anderen Zu- de den Film «Her» von Spike Jonze gesehen, in dem der stand. Ob jetzt mein Körper zu fünfzig, sechzig oder Hauptdarsteller sich in das emotional intelligente Be- achtzig Prozent aus Technik besteht, ist doch voll- triebssystem seines Rechners verliebt. Stimmen Sie mir kommen sekundär. Ob jetzt mein Erinnerungsver- zu, wenn ich sage: Eine Maschine wird niemals Emoti- mögen erweitert ist oder nicht, spielt keine Rolle. onen empfinden, aber irgendeinmal in der Lage sein, Mein iPhone ist ja bereits eine Erweiterung meines Emotionen so gut zu simulieren, dass es für uns – zu- Gedächtnisses. mindest in bestimmten Situationen – genügt? | Zukunft der Behinderung | 9
Da bin ich völlig Ihrer Meinung. Wir müssen nicht Das geht aber nicht, denn es gibt schlicht und ein- bis ins letzte Detail verstehen, wie das Gehirn funk- fach keine anderen Menschen. Die Option ist nicht: tioniert, um künstliche Intelligenz zu erschaffen. Das Spricht der alte Mensch mit einer Maschine oder Gedankenexperiment, das es dafür in der KI-For- mit einem Menschen? – sondern: Spricht der alte schung gibt, ist das chinesische Zimmer. Stellen Sie Mensch mit einer Maschine oder gar nicht? Es ist auf sich vor, ein Mensch sitzt in einem Zimmer. Dieser jeden Fall besser, dass der alte Mensch die Möglich- Mensch spricht kein Chinesisch. Durch einen Schlitz keit hat, eine befriedigende emotionale Beziehung in einer Wand werden Zettel ins Zimmer gereicht, zu irgendetwas aufzubauen. Menschen haben emo- auf denen chinesische Schriftzeichen stehen. Die- tionale Beziehungen zu Haustieren. Warum also nicht ser Mensch besitzt ein gigantisches Regelwerk, wie zu einem Pflegeroboter? Ich sehe da keine ethischen er auf chinesische Schriftzeichen antworten muss. Probleme. Er malt also Schriftzeichen nach, ohne deren Sinn zu kennen. Jetzt kommt von aussen jemand, der Chine- Wird es 2050 Liebesbeziehungen zwischen Menschen sisch spricht, und schreibt auf einen Zettel: Was ist und Maschinen geben? deine Lieblingsfarbe? Darauf kommt ein Zettel zu- rück, auf dem steht: Blau, aber Rot gefällt mir auch Ja, na und? Menschliche Sexualität ist sehr komplex. sehr gut. Die Frage ist nun: Das Zimmer als System, Es gibt nichts, was es nicht gibt. Es gibt heute schon also der Mensch mit den Regelbüchern, spricht die- Vorlieben und Fetische, welche für viele Menschen ses System Chinesisch? Ja oder Nein? Ich würde sa- unvorstellbar sind. Wir leben in einer freien Gesell- gen Ja, dabei spielt es überhaupt keine Rolle, dass schaft. Solange das Ausleben von Bedürfnissen an- dieser Mensch im Zimmer nicht versteht, was er auf deren Menschen nicht schadet, finde ich das in Ord- den Zettel schreibt. nung. Die Debatte läuft schon lange, ob das Internet und die Technologie die Sexualität gefährden. Die Also dieser Mensch, das Zimmer und das Regelwerk zu- gesamte Pornosammlung der Menschheit ist auf je- sammen als System wären die künstliche Intelligenz? dem Mobiltelefon für jeden und zu jeder Zeit verfüg- bar. Hat das bisher einen enormen Einfluss auf das Genau. Es spielt dabei überhaupt keine Rolle, ob die- zwischenmenschliche Beziehungsverhalten? Steigt se Maschine Bewusstsein hat oder nicht. die Anzahl der Sexualdelikte? Verrohen die Leute? Heiraten sie weniger? Gehen die Leute weniger Be- Was macht es mit uns, wenn wir künftig umgeben sind ziehungen ein? Was hat man nicht alles geschrien, von Maschinen, die auch emotional intelligent sind? als der Fernseher sich verbreitete. Das Video. Der Computer. Jetzt schreit man wegen der künstlichen Es wird zunächst einmal die Interaktion zwischen Intelligenz. Hat all das dazu geführt, dass wir bezie- Mensch und Technik enorm vereinfachen, weil wir hungsunfähig geworden sind? Reproduktionsunfä- uns nicht mehr der Technologie anpassen müssen. hig? Dass die Gesellschaft insgesamt schlechter ge- Wir müssen weder programmieren lernen noch die worden ist? Ich glaube nicht. Deswegen wird es auch Suchanfrage in einer bestimmten Syntax eingeben. nicht passieren, wenn künstliche Intelligenz sich aus- Wir müssen nicht einmal mehr lernen, auf bestimmte breiten wird. Knöpfe zu drücken, sondern können eine natürliche sprachliche Konversation mit der Technik führen. Das In gewisser Science-Fiction werden die Roboter huma- ist doch grossartig. Das macht Technologie für viele noid dargestellt, sie sehen also aus wie echte Menschen. Menschen erst zugänglich. In der Dokumentation trug der bionische Mensch eine Maske, die nach Ihrem Ebenbild geschaffen war ... Teilen Sie die Befürchtung, dass damit zwischen- menschliche Aspekte vernachlässigt werden? Zum Bei- Das war grauenvoll! Da habe ich richtig die Fassung spiel, wenn solche Maschinen in der Pflege betagter verloren, bin aus dem Raum gestürmt und habe die Menschen eingesetzt werden? Tür zugeschlagen. Ist denn eine Unterhaltung mit einer Maschine Ist es für Sie eine denkbare Vision, mit humanoiden Ro- schlechter als eine Unterhaltung mit einem Men- botern zusammenzuleben, zusammenzuarbeiten? schen? Wer sind wir, dass wir uns anmassen, für die- se Person in ihrer Situation zu urteilen? Ich halte es Ich glaube nicht, dass Roboter so aussehen werden für eine Arroganz, zu sagen, das müsste alles viel bes- wie Menschen. Es gibt die Theorie des uncanny val- ser sein. Wenn ich mir die Situation heute in Alters- ley, des unangenehmen, Angst auslösenden Tales. heimen in Japan anschaue, in einer Gesellschaft also, Der empirische Nachweis gestaltet sich schwierig. Ich die beispielhaft für die demografische Zukunft der aber bin überzeugt von dieser Theorie. Sie besagt: Je restlichen Welt steht: Natürlich wäre es schön, wenn humanoider ein Roboter ist, desto mehr mögen wir die Alten mit anderen Menschen sprechen könnten. ihn. Dabei wird irgendeinmal ein Punkt erreicht, wo 10 | swissfuture | 03/19
er fast menschengleich, aber ein kleines bisschen da- Nun sind wir aber wieder bei der Frage, ob das Enhance- neben ist. Wie eine Wachsfigur, die das Original nicht ment die eigene Persönlichkeit verändern würde. perfekt trifft. Das ist die Situation, die für viele Men- schen extrem unangenehm ist, mich eingeschlossen. Ich muss da auch ehrlich sein mit mir. Mein Selbst- Wenn man ganz nah ans Original herankommt, stösst wertgefühl ist nicht gerade das allerbeste. Gehen Sie man auf eine Delle in der Mögen-Kurve. Besonders mal als Zwölfjähriger mit so einer Behinderung ins krass ist es, wenn Sie auf einen Roboter schauen, der Freibad. Da brauchen Sie ein sehr dickes Fell. Das hat- Ihr eigenes Gesicht trägt und es sich fast so anfühlt, te ich nicht. Ich habe mich immer geschämt. Dieses als würden Sie in den Spiegel schauen, aber nicht so Hightech-Gerät wertet mich jetzt ungemein auf! Es richtig. Es ist wie in einem Albtraum. Dieser Moment ist nicht nur eine physische Prothese, es ist auch eine in der Fernsehdokumentation war widerwärtig. psychologische Prothese. Für den eigenen Selbst- wert. Ich bin nicht stolz darauf, so zu empfinden. Worum geht es, wenn wir eine Maschine als humanoid Aber zumindest glaube ich gerade deshalb, dass die- erscheinen lassen wollen? ses Enhancement ein grosses Potenzial hat. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass es nicht nur funktional, Als Psychologe bin ich der Auffassung, dass es darum sondern auch psychologisch aufwertet. geht, die Maschine als warm erscheinen zu lassen. Die Maschine wird immer das andere sein. Um zu ihr 2050 werden wir also bionische Menschen sein? einen guten Zugang zu haben, darf ich sie nicht als kalt – mit bösen Absichten – empfinden. Idealerweise Ich bin überzeugt, dass die Enhancement-Technolo- muss sie nett und niedlich aussehen. Vor allem aber gie einmal weit verbreitet sein wird: Momentan sind muss sie sich natürlich bewegen. Sie muss gar nicht bionische Körperteile im weitesten Sinne Nischen- natürlich aussehen von der Oberfläche her, vielmehr produkte, die sich nur an ganz wenige Menschen muss die gesamte Anmutung der Bewegungen na- richten, die eine Behinderung haben, die man mehr türlich erscheinen. An der Johns-Hopkins-Universität schlecht als recht durch solche Produkte ausgleichen nennen sie dies die kinetische Kosmetik. Die Bewe- kann. Das ist noch ein kleiner Markt. Sobald es dem gung muss stimmen. Deshalb glaube ich nicht, dass ersten Hersteller gelingt, ein Produkt zu schaffen, das Maschinen für ein gutes, positives Zusammenleben die natürliche Funktionalität überschreitet – zum Bei- genauso aussehen müssen wie wir. spiel ein Herz, das länger lebt, oder eine Leber, mit der man mehr Alkohol trinken kann, oder was auch Wir können sagen, dass Sie mit Ihrer Hightech-Prothese immer –, dann wird aus dem Nischenprodukt ein po- bereits ein Cyborg sind. Spüren Sie, dass mit dem Begriff tenzielles Massenprodukt. Denn dann sind bionische Kälte und Ablehnung verbunden werden? Körperteile potenziell interessant für alle Menschen. In diesem Moment, da bin ich mir sicher, werden jeg- Manchmal regt es mich auf. Sehen Sie: Mir fehlt ein liche ethische Bedenken über Bord geworfen. Es sind Arm. Und der ist ersetzt durch eine wirklich hervor- also nicht nur technologische Prozesse, die diese Ent- ragend gemachte Handprothese. Ich habe die Erfah- wicklung befeuern, sondern schlicht und einfach rung gemacht, dass dieses Stück Technik absolut Teil auch marktwirtschaftliche Prozesse. des eigenen Körpers werden kann. Ich ziehe die Pro- Bertolt Meyer these an, wenn ich morgens aufstehe, und das Letz- Bertolt Meyer ist Professor für Organisations- und te, was ich abends tue, ist, sie wieder auszuziehen. Wirtschaftspsychologie an der TU Chemnitz, wo er sich Ich trage dieses Ding also immer. Das geht einem in unter anderem mit Gruppenprozessen, Diversity und Stereotypen beschäftigt. Er ist Ambassador für Touch Fleisch und Blut über. Es wird Teil des eigenen Kör- Bionics, der schottischen Herstellerfirma seiner bionischen I-Limb-Handprothese. Er moderierte unter perschemas. Und warum soll das ein Problem sein? anderem die preisgekrönte britische TV-Wissenschafts- dokumentation How to Build a Bionic Man (2013). Auch wenn mein ganzer Körper aus Prothesen beste- Darin werden die neuesten verfügbaren und hen würde, würde mich das weniger zu einem Men- experimentellen bionischen Körperteile und Organe zu einem bionischen Menschen zusammengesetzt, schen machen? Quatsch! Es würde mich zu einem an- dessen Gesicht nach dem Ebenbild Bertolt Meyers geschaffen ist. deren Menschen machen. Natürlich sind mein Wesen und meine Persönlichkeit durch meine körperlichen Georges T. Roos Erfahrungen geprägt. Aber ich mache einfach andere Georges T. Roos, 1963 in Basel geboren, ist Zukunftsforscher in Luzern. Er beschäftigt sich mit den Erfahrungen. Und wenn morgen die gute Fee käme Megatrends des gesellschaftlichen Wandels und mit und ich einen Wunsch frei hätte, so wäre der nicht, disruptiven Zukünften, zu denen er die Gesundheit zählt. Er ist Gründer des privat finanzierten dass ich gern meinen zweiten Arm hätte. Ich würde Zukunftsinstituts Roos Trends & Futures und der European Futurists Conference Lucerne. Ein zweiter es nicht wollen. Meine Behinderung und meine Er- Schwerpunkt seiner Tätigkeit ist die Früherkennung neuer Trends und Entwicklungen. fahrungen mit dieser Prothese haben mich zu dem gemacht, was und wie ich heute bin. Es wäre eine Ne- gation meiner Persönlichkeit, zu sagen, ich will das Das Gespräch zwischen Bertolt Meyer und Georges T. Roos wurde zuerst im nicht. Kulturmagazin DU «Zukunft» (2016, Heft 863) publiziert. | Zukunft der Behinderung | 11
«APPLAUS GEFÄLLT MIR GUT» – GESTALTERISCHE BILDUNG UND MENSCHEN MIT DOWN-SYNDROM Das Down-Syndrom, auch Trisomie 21 genannt, geht mit einer körperlichen und geistigen Beeinträchtigung einher, die unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Von einer Gleichstellung aber – 2006 in der UN-Konvention für Menschenrechte verabschiedet –, sind die von dieser Behinderung Betroffenen im Alltag teilweise nach wie vor entfernt, wie ein Blick auf die Umsetzung in verschiedenen Ländern zeigt. Doch es gibt auch erfreuliche Ansätze, welche die Inklusion weiter fördern. Keywords: Down-Syndrom, Identität, Inklusion, Trisomie 21, Gleichstellung, Teilhabe Katharina Tietze Für diesen Text gibt es zwei Anlässe. Zum einen be- für ärmere Menschen gegründet worden war. Lang- schäftigt mich seit einiger Zeit der Begriff der Identi- don Down kümmerte sich sorgfältig um die Förde- tät. Die Fachrichtung an der Zürcher Hochschule der rung der Behinderten, von denen etwa zehn Prozent Künste, die ich leite, trägt ihn seit September 2018 das Down-Syndrom aufwiesen. Die Fotos, die er von in ihrem Titel: Trends & Identity. Neben der Tatsache, den Patientinnen und Patienten machte, zeigen seine dass Identität konstruiert, also nie einfach vorhan- Wertschätzung. Sie lebten zum Teil Jahrzehnte dort den ist, sondern immer aufs Neue gestaltet werden und wurden für damalige Zeit ungewöhnlich alt. Spä- muss, erscheint mir die Differenzierung von Carolin ter gründete er ein eigenes Heim, das Normansfield Emcke wichtig. Sie unterscheidet zwischen «Grup- Training Institut. Langdon Down beschrieb die Eigen- pen, die durch wechselseitige Anerkennung entstan- heiten dieser Personen, die er auch als mongoloid den sind und deren Mitglieder ihre Zugehörigkeit bezeichnete, ein Begriff der heute als rassistisch ver- aufgrund individueller Überzeugung erlangen, und pönt ist. Er ging auch auf ihre speziellen Begabungen solchen Gruppen (...) die durch Zuschreibungen ent- ein: «Sie verfügen über beträchtliche Nachahmungs- standen sind» (Emcke 2018: 8). Bei Behinderungen, fähigkeit, die sogar bis zur Schauspielerei geht. Sie wozu auch das Down-Syndrom gezählt wird, handelt sind humorvoll; ein lebhafter Sinn fürs Lächerliche es sich um letztere. Es ist lohnend, das Thema in ei- bewegt oft ihre Mimik» (Weiske 2008: 37). Während ner Perspektive des Designs genauer zu betrachten, des Nationalsozialismus wurden in Deutschland viele sowohl seine diskriminierende Seite als auch das ge- Menschen mit Down-Syndrom im Rahmen der so- stalterische Potenzial. genannten Aktion T4 ermordet. Man berief sich da- Zum anderen habe ich einen Neffen, Heinrich, der bei auf Rasse-Theorien, die in ganz Europa verbrei- vor sechzehn Jahren mit dem Down-Syndrom ge- tet waren. Die genetische Ursache wurde erst 1959 boren wurde. Er lebt mit seinen Eltern in Sachsen- entdeckt. Anhalt, seine beiden grossen Schwestern haben vor kurzem das Haus zum Studieren verlassen. Ich schät- Gleichstellung und Teilhabe – Theorie und Praxis ze ihn als lustigen, originellen und eigensinnigen Typ Wie sieht es nun heute mit der Gleichstellung von sehr und verfolge die Bemühungen seiner Eltern um Menschen mit Beeinträchtigung aus? 2006 wur- Inklusion. Heinrich musste vor kurzem von einer all- de eine UN-Konvention für die Rechte behinder- gemeinen Schule auf eine Förderschule für Behinder- ter Menschen verabschiedet. Sie fordert keine Son- te wechseln. Aber dazu später mehr. derrechte, sondern die Gleichstellung und Teilhabe, d. h. zum Beispiel das Recht auf Mobilität, Bildung Das Down-Syndrom und Arbeit. Ausserdem wird die Auffassung vertre- Bei Menschen mit Down-Syndrom, auch Trisomie 21 ten, dass Behinderte nicht krank sind, sondern durch genannt, kommt das 21. Chromosom dreimal statt die Gesellschaft behindert werden. Die Schweiz hat zweimal vor. Dadurch sind sie körperlich und geistig die Konvention 2014 ratifiziert, allerdings das Fakul- beeinträchtigt, wobei der Grad der Beeinträchtigung tativprotokoll nicht unterschrieben, welches einen stark differiert. Ein typisches körperliches Merkmal Beschwerdeweg ermöglichen würde. Die Elternor- sind die schräggestellten Augen. Der Name stammt ganisation insieme kritisiert, dass der Rechenschafts- von dem englischen Arzt John Langdon Down, der bericht zur Umsetzung von 2016 zu schönfärberisch 1866 das Syndrom erstmals beschrieb. Er leitete das war. Daher legten die Behindertenorganisationen Asylum For Idiots in Earlswood, das 1847 vor allem 2017 einen Schattenbericht vor, in dem eingewendet 12 | swissfuture | 03/19
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