Bulletin - Gottardo - Freie Sicht - Credit Suisse

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CREDIT SUISSE

              Bulletin  Seit 1895. Das älteste Bankmagazin der Welt. N° 2 / 2016

          Freie Sicht . . .
075360D

                                  Gottardo
             Vom schweizerischen Mythos zum längsten Tunnel der Welt
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Foto: Image Source / Keystone
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. . . aufs Mittelmeer *

* Ab Dezember 2016 ist der Weg in den Süden etwa
  eine halbe Stunde kürzer, ab 2020 etwa eine ganze Stunde.
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Unser Beitrag für eine bessere Zukunft:
Innovationen, die grossen Ideen
zum Durchbruch verhelfen.

Es ist der längste Eisenbahntunnel der Welt: Über 57 Kilometer führt das Jahrhundertbauwerk tief
unter dem Gotthardmassiv hindurch. Pro Tag werden ab Dezember 2016 bis zu 260 Güter- und
65 Passagierzüge durch den Tunnel verkehren – bis zu 2300 Meter Gebirge über sich und bis zu
250 km/h schnell. Dafür ist der neue Basistunnel auf eine perfekte Infrastruktur und zuverlässige
Belüftung angewiesen. ABB trug dazu innovative Energietechnik und Steuerung für das stärkste
Ventilationssystem der Welt bei – und setzt damit eine Erfolgsgeschichte fort.
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— Editorial —

                                      Der Geist des Aufbruchs –
                                      damals und heute

                                     D
                                                er Gotthard steht für universelle Rekorde. Der erste Eisenbahntunnel
                                                war bei seiner Eröffnung 1882 der längste Tunnel der Welt. Auch
                                                der neue Gotthard-Basistunnel, der am 1. Juni dieses Jahres eröffnet
                                      wird, ist mit 57 Kilometern der heute längste Tunnel der Welt.
                                           Der Gotthard steht zudem für die visionäre Kraft der Schweiz. Also für
                                      etwas, was man unserem Land bisweilen abspricht. Die Schweiz, so hört
                                      man immer wieder, sei angeblich zu grossen Würfen weder fähig noch willens.
                                      Der Gotthard beweist das Gegenteil – damals wie heute.
                                           Der erste Gotthard-Eisenbahntunnel, der wesentlich auf die Tatkraft, den
                                      Pioniergeist und den Mut von Alfred Escher zurückging, war «Ausdruck einer
                                      dynamischen, offenen und zukunftsgerichteten Schweiz», wie der Historiker
                                      Joseph Jung bilanziert (Seite 21). Da Escher auch Gründer der Schweizerischen
                                      Kreditanstalt – der heutigen Credit Suisse – war, sind wir stolz darauf, die
                                      Eröffnung des Jahrhundertbauwerks Gotthard-Basistunnel als Hauptpartner
                                      zu unterstützen.

                                     M
                                                  it dem Gotthard-Projekt ist die Schweiz damals über sich hinaus-
                                                  gewachsen – und heute ist es ebenso. Peter Jedelhauser, der
                                                  Projektleiter des Gotthard-Basistunnels, beschreibt im Gespräch
                                      genau diesen Geist des Aufbruchs, der in unserem Land auch heute noch
                                      herrscht: «Gemeinsam sagten wir: ‹Ja, das machen wir!› » (Seite 14). Welchen
                                      Nutzen die neue Bahnlinie der Schweiz bringt, hat das Economic Research
                                      der Credit Suisse in einer gross angelegten Studie eruiert (Seite 26).
                                           Der Gotthard steht für Superlative, für Mythen, für Visionen. Aber er
                                      steht noch für etwas anderes, das vielleicht weniger spektakulär ist, aber
                                      dafür umso wichtiger: für helvetische Tugenden wie Beharrungsvermögen,
                                      Pragmatismus, Genauigkeit und Verlässlichkeit. So hatte der Gotthard-
                                      Basistunnel beim Durchstich eine Abweichung von 0,00014 Prozent. Kaum
                                      etwas veranschaulicht die Stärken unseres Landes besser als diese Präzision.

                                     B
                                             einahe hätte ich die berühmteste Schweizer Tugend vergessen: die
                                             Pünktlichkeit. Auf diese wird man ja im Ausland immer wieder
                                             angesprochen (was uns stets ein wenig verlegen macht). Pünktlichkeit?
                                      Überpünktlichkeit! Der Gotthard-Basistunnel wird ein Jahr früher in
                                      Betrieb genommen als geplant … Wie soll man das nur im Ausland erklären?

                                                                Ich wünsche Ihnen eine anregende
                                                                und erkenntnisreiche Lektüre!

                                                                Thomas Gottstein,
                                                                CEO Swiss Universal Bank, Credit Suisse AG

Titelbild: AlpTransit Gotthard AG; Foto: Rainer Wolfensberger                                                          Bulletin N° 2 / 2016 — 1
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Die Uhr der alten Dame
1952 in Betrieb genommen, transportierten die 120 Loks Tausende von Menschen und      Edelstahlgehäuse individuell nummeriert. Kratzfestes Saphirglas. Präzises Schweizer
Tonnen von Gütern durch die Schweiz. «Ae 6/6» heisst sie offiziell, «Gotthardlok»     Quarzuhrwerk mit Sekundenstopp (stop2go) wie das Original am Bahnhof. Geschenk-
wurde sie wegen ihres Einsatzgebietes von den Lokführern genannt. Die alte Dame       verpackung mit Zertifikat und Informationen. 2 Jahre internationale Garantie. Erhältlich
wird den neuen Gotthardtunnel nicht mehr durchfahren, jedoch als exklusive Uhr        für Fr. 750.- bei
«Gottardo2016» die ganze Welt bereisen. Exakt 2016 Lünetten wurden aus Original
                                                                                      www.shop.mondaine.com
Ae 6/6 Führerstandstüren gestanzt und verwandeln jedes Modell in ein Unikat.
                                                                                      Weiterhin gute Reise!

                             Bestellschein                                            Vor-/Name:
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                             Keine Wunschnummer möglich.                              Strasse/Nr.:

                                                                                      PLZ/Ort:
                             Gottardo2016                                     Menge
 1.           2.
                             1. A9500.30363.G.SET        Beige    750.–               E-Mail:
                             2. A9500.30363.H.SET        Braun    750.–
                                                                                      Tel. Nr.:

                             Gottardo Nord Sud                                Menge   Unterschrift:

 3.           4.             3. A669.30305GOT.SET        30 mm    260.–               (solange Vorrat)                    Coupon bitte vollständig ausfüllen und einsenden an:
                             4. A627.30303GOT.SET        40 mm    260.–               Diese Bestellung ist verbindlich.   Mondaine Watch Ltd.
                                                                                                                          www.shop.mondaine.com
                                                                                                                          Etzelstrasse 27
                                                                                                                          8808 Pfäffikon
                                                                                                                          Schweiz
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— Gottardo —

                                                                                                Inhalt

4              Der Tunnel und ich                                                     14   «Zwei Gleise, viel Beton»        38   Aus dem Innern
               Neun Menschen erzählen,                                                     SBB-Projektleiter Peter               Sechs Unternehmer über die
               wie der Gotthard ihr Leben                                                  Jedelhauser hat für fast alles        besonderen Herausforderungen
               verändert.                                                                  fast immer einen Plan.                beim Tunnelbau.

12             Schneller, länger, besser                                                                                    43   Der Heilige und der Teufel
               Ein Jahrhundertbau in                                                                                             Wie der Gotthard
               Zahlen und Fakten.                                                                                                zu seinem Namen kam.

                                                                                                                            44   Im Granitschoss der Helvetia
                                                                                                                                 Von Dürrenmatt bis Dobelli:
                                                                                                                                 der Gotthard und die Literatur.

                                                                                      20   Helvetisches Weltwunder          50   Gotthard ist überall
                                                                                           Wie die moderne Schweiz dank          Eine Reise in Bildern zu
                                                                                           Alfred Escher gebaut wurde.           den Gotthards dieser Welt.

                                                                                      24   Wer soll das bezahlen?           52   Tiere im Untergrund
                                                                                           Finanzierungssorgen bei der           In der Tierwelt bieten Tunnel
                                                                                           ersten Gotthardbahn.                  Schutz vor Feinden und der
                                                                                                                                 harschen Umwelt.

                                        ECONOMIC RESEARCH

      26 EINLEITUNG
         Am Gotthard werden die Uhren
         neu gestellt.

      28 ÖFFENTLICHER VERKEHR
         Die Schweiz rückt zusammen.

      30 ENTWICKLUNGSGEBIET                                                                                                 56   Anschluss an die Welt
         ALTDORF: Wiederholt                                                                                                     Wie beeinflussen sich
         sich die Geschichte?                                                                                                    Infrastrukturbauten und
                                                                                  35 ENTWICKLUNGSGEBIET                          Wirtschaftswachstum?

                                                                                                                            66
      31 IMMOBILIENMARKT                                                             BELLINZONA: ein neues Tor
         Wohnen in Bellinzona,                                                       ins Tessin.                                 Aussteigen, bitte
         arbeiten in Lugano.                                                                                                     Zwischen der Deutschschweiz
                                                                                  36 TOURISMUS                                   und dem Tessin.

                                                                                                                            68
      32 GÜTERVERKEHR                                                                Ein Tag an der Sonne und wie
         U-Bahn für den Handel.                                                      das Tessin sich näherkommt.                 Leserbriefe/
                                                                                                                                                                     und
                                                                                                                                 Impressum                  a chen ahrt
                                                                                                                                                                      f
                                                                                                                                                       Mitm Durch

                                                                                                                            70
      34 TUNNELBAU                                                                37 ARBEITSMARKT                                                          nel-         !
                                                                                                                                                       Tun      i n nen
         Die Schweizer Paradedisziplin                                               Ganz neue Optionen:                         Quiz                       gew
         und ihr Nutzen.                                                             flexible Arbeit und die Neat.               Gotthard-Wissen:
                                                                                                                                 sieben Fragen aus Granit.

Illustration: Anna Dunn; Fotos: Janosch Abel; PCW / fotolia; Stefan Meyers / Okapia                                                             Bulletin N° 2 / 2016 — 3
Bulletin - Gottardo - Freie Sicht - Credit Suisse
— Gottardo —

                      Der
                      Tunnel
                      und ich
                           Natürlich ist man mit der
                           Neat schneller im anderen
                           Landesteil. Aber das ist
                           nicht alles: Die einen
                           nutzen das einsickernde
                           Bergwasser, um Fische zu
                           züchten, andere gehen
                           öfters Fallschirm springen.
                           Neun Gattungen der
                           Gotthardbenutzer über ihre
                           neuen Vorteile und Pläne.
                           Von Simon Brunner (Text) und Patricia von Ah (Fotos)

4 — Bulletin N° 2 / 2016
Bulletin - Gottardo - Freie Sicht - Credit Suisse
— Gottardo —

WEINBAUER
Davide Ghidossi, 33,
prämierter Weinbauer und
Önologe, Giubiasco (TI)

«Mein Grossvater arbeitete bei der
SBB. Ich erinnere mich, wie wir
mit ihm von Bellinzona nach Flüelen
fuhren: Ich war fasziniert von der
Kirche von Wassen, die man
drei Mal sieht, wenn sich der Zug
durchs Tal hochschlängelt. Die neue
Linie geht unter Wassen durch.
Sie ist sehr wichtig, gerade für das
Kleingewerbe und die KMU
im Tessin, die auf eine pünktliche
und schnelle Verbindung zu ihren
Kunden in der Deutschschweiz
angewiesen sind.»

                                                      Bulletin N° 2 / 2016 — 5
Bulletin - Gottardo - Freie Sicht - Credit Suisse
— Gottardo —

                           STUDENTIN
                           Nathalie Boissonnat, 30, studiert
                           Public Management und
                           Politik in Lugano und Bern,
                           Giubiasco (TI)

                           «Der Gotthardtunnel war schon
                           immer Teil meines Lebens:
                           Im Autotunnel lernte ich die
                           Verkehrsschilder lesen. Ich wollte
                           immer wissen, wie lange es noch
                           dauert. Da brachten mir meine
                           Eltern bei, die Tafeln mit den                      POLITIKER
                           Kilometerangaben zu deuten.                         Fabio Regazzi, 53, Nationalrat
                           Heute lebe ich in Bern und reise                    (CVP) und Unternehmer,
                           ungefähr alle zwei Wochen                           Gordola (TI)
                           nach Hause. Ich bin eine grosse
                           Anhängerin des öffentlichen                         «Ich muss zwei bis drei Mal pro
                           Verkehrs – ich wünschte mir,                        Monat durch den Gotthard. Wenn
                           er würde auch im Tessin                             ich ins Bundeshaus gehe, ist es
                           höhere Priorität geniessen.»                        bequemer mit dem Zug, da kann
                                                                               ich während der Fahrt arbeiten.
                                                                               Der Gotthardtunnel ist ein Symbol
                                                                               des nationalen Zusammenhaltes,
                                                                               ein Verbindungselement zwischen
                                                                               den verschiedenen Regionen der
                                                                               Schweiz. Mit dem neuen Tunnel
                                                                               wird unser Land zusammenrücken.
                                                                               Aber auch im Tessin selber wird
                                                                               sich viel tun: Ich kann dann von
                                                                               Gordola aus in rund 20 Minuten
                                                                               in Lugano sein. Heute dauert das
                                                                               doppelt so lange.»

6 — Bulletin N° 2 / 2016
— Gottardo —

       UNTERNEHMER
       Richard L. Beeler, 64,
       Geschäftsführer Basis57,
       Adligenswil (LU)

       «Der neue Tunnel bewirkt eine
       Drainage des Gebirges. Basis57
       will das einsickernde Bergwasser
       sammeln und nutzen, um Fische
       zu züchten: Zander und Egli, aber
       auch seltene einheimische Sorten
       wie Quappen. Das quellfrische
       Bergwasser ist etwa 15 Grad
       warm und wird zur Mast von 1200
       Tonnen Fisch pro Jahr genutzt. Seit
       Sommer 2015 leben erste Fische
       in einer Laboranlage in Erstfeld,
       wo wir das Wachstum und den
       Futterbedarf prüfen und die
       Technik perfektionieren. Ziel ist es,
       ab 2018 auf einer Parzelle beim
       Nordportal das Mastgebäude zu
       bauen und ab 2020 die Gourmet-
       fische vom Gotthard auszuliefern.»

                                               Bulletin N° 2 / 2016 — 7
— Gottardo —

                                          FALLSCHIRM-
                                          SPRINGERIN
                                          Barbara Gloor, 52,
                                          Betriebswirtschafterin,
                                          Aristau (AG)

                                          «Seit ich 2012 begonnen habe,
                                          Fallschirm zu springen, ist das
                                          Tessin zu meiner zweiten Heimat
                                          geworden. Ich freue mich immer
                                          auf das andere Licht auf der
                                          Südseite der Alpen; sobald ich
                                          aus dem Tunnel fahre, beginnen
                                          für mich Ferien, auch wenn es nur
                                          für einen Tag ist. Die unbedingte
                                          Konzentration auf jeden einzelnen
                                          Sprung erlaubt es mir, total
                                          abzuschalten und den Alltag hinter
                                          mir zu lassen. Die Tage im Para
                                          Centro in Locarno haben einen
                                          hohen Erholungswert für mich.
                                          Zudem ist die Aussicht während
                                          des Steigfluges sowie im Freifall
                                          und am geöffneten Schirm wohl
                                          eine der schönsten der Welt. Ich
                                          freue mich, dass ich demnächst
                                          schneller da bin.»

8 — Bulletin N° 2 / 2016
— Gottardo —

               FAN
               Remo Kölliker, 39,
               Sozialpädagoge, Zürich

               «Seit ich ein Bub war, unterstütze
               ich den HC Lugano – meine Eltern
               sind Tessiner. Zurzeit schaffe ich
               es pro Saison zu ungefähr einer
               Handvoll Spiele ins Stadion. Leider
               muss ich das Auto nehmen,
               denn es wird immer sehr knapp,
               nach dem Abpfiff den letzten
               Zug zu erwischen. Ich hoffe, dass
               mit den kürzeren Reisezeiten
               auch die Abfahrtszeiten nach
               hinten angepasst werden.»

                                             Bulletin N° 2 / 2016 — 9
— Gottardo —

BAUARBEITER
René Kempf, 47,
Heiz- und Sanitärinstallateur,
Erstfeld (UR)

«Seit 2002 arbeite ich mit
Unterbrüchen am Tunnel, die
Baustelle liegt direkt vor unserer
Haustüre. Die Neat war dreizehn
Jahre lang mein tägliches Leben,
mit dem fertigen Tunnel werde
ich aber nicht mehr so viel zu tun
haben – ich bin nicht so der
Zugfahrer-Typ.»

10 — Bulletin N° 2 / 2016
— Gottardo —

LOGISTIKER
Markus Müller, 50, Logistikleiter
bei Papyrus, einem Papiergross-
händler, Turgi (AG)

«Die Bahnwagen werden heute
um 21.30 Uhr in Dintikon (AG)
abgeholt und um 6.00 Uhr im
Tessin angeliefert. Eine frühere
Anlieferung brächte einen
gewissen Vorteil für unseren
Distributionspartner im Tessin,
sie könnten die Sendungen
                                            FERIENHAUS-
früher ausliefern. Wichtiger als            BESITZERIN
der Zeitvorteil ist für uns aber            Irene Durrer, 49, Arztgehilfin,
die Zuverlässigkeit. Es kam in              Immensee (SZ)
der Vergangenheit öfters zu
Unterbrüchen. Unsere Kunden                 «Ich fahre sicher ein Mal pro Monat
sind auf eine zeitlich planbare             ins Tessin: zu unserem Rustico
Zustellung angewiesen. Fehlt das            im Maggiatal eher mit dem Auto;
Papier in einer Druckerei, stehen           zu Verwandten im Locarnese mit
dort schnell einmal die Maschinen           dem Zug. Ich hoffe, dass der neue
still und den Angestellten geht             Zugtunnel auch die Situation auf
die Arbeit aus. Wir erhoffen uns            der Strasse verbessert und mehr
also vom neuen Gotthardtunnel               Lastwagen verladen werden.
eine zuverlässigere Verbindung              Die Zeitersparnis ist für uns nicht
ins Tessin.»                                so zentral, am allerliebsten fahren
                                            wir sowieso über die Passstrasse
                                            und geniessen die Landschaft – so
                                            langsam wie möglich.»

                                                          Bulletin N° 2 / 2016 — 11
— Gottardo —

Schneller,                                                                                                                              PASSAGIERE PRO TAG –
                                                                                                                                        Heute fahren täglich rund
                                                                                                                                        9000 Personen mit der SBB

länger,                                                                                                                                 durch den Gotthard. Bis
                                                                                                                                        2025 dürfte sich die Zahl der
                                                                                                                                        Reisenden dank der Verdich-

besser                                                                                                                                  tung und Beschleunigung des
                                                                                                                                        Angebotes mehr als verdop-
                                                                                                                                        peln, bereits 2020 rechnet die
                                                                                                                                        SBB mit mindestens 15 000
Der Gotthard-Basistunnel                                                                                                                Reisenden pro Tag.
(GBT) ist ein Jahrhundertwerk.                                                                                                          GÜTER PRO TAG – Vorteil
Die Zahlen und Fakten.                                                                                                                  Güterverkehr: Neu werden
Illustrationen: Anna Dunn, Inhalt: Simon Brunner
                                                                                                                                        260 Güterzüge pro Tag den
                                                                                                                                        Basistunnel durchqueren
                                                                                                                                        (Scheiteltunnel heute: 160),
                                                                                                                                        und diese können schwerer
                                                                                                                                        und länger sein als heute.

                                                                                                                                                     Quelle: sbb.ch

REISEZEIT                                          1830                   1830
BASEL–LUGANO                                       STRASSE (GÜTER)        STRASSE (POST)
                                                   Eröffnung der          Die Postkutschen-Strecke war perfekt organisiert, mit vielen
                                                   Fahrstrasse über den   Stationen für den Pferdewechsel, sodass mit relativ hohen
                                                   Pass um 1830.          Tempi fast ohne Unterbrechung gefahren werden konnte.

VOR 1830
SAUMWEG                                                                                        1882                                   2015
                                                                                               BAHN                                   AUTO
                                                                                               Eröffnung des                          Auto und Zug sind
                                                                                               Gotthardtunnels.                       heute etwa gleich
                                                                                                                                      schnell.          2020
                                                                                                                                                              BAHN
                                                                                                              2015
                                                                                                                                                              Mit Ceneritunnel
                                                                                                              BAHN
                                                                                                                                                              und Axensanierung.
                                                                                                              Immer stärkere
                                                                                                              und schnellere
                                                                                                              Lokomotiven
                                                                                                              verkürzen die                           2016
                                                                                                              Reisezeit.                              BAHN
                                                                                                                                                      mit GBT.

 14 TAGE                                           6 TAGE                 49 h               13,5 h             4 h 06             3 h 59            ~3 h 30             ~3 h 00
                                                                          Quelle: «Auf die Schienen, fertig, los!» (Verkehrshaus Luzern/Christian Scheidegger), sbb.ch, google.ch/maps

12 — Bulletin N° 2 / 2016
— Gottardo —

                                                                                WAS HAT DAS GEKOSTET?

                                                                                Der Gotthard-Basistunnel kostet                   Die gesamte Neat, mit dem
                                                                                inklusive Teuerung, MwSt.                         Lötschberg-, Gotthard- und Ceneri-
                                                                                und Bauzinsen 12,2 Mrd. Franken.                  Basistunnel, kostet 23 Mrd. Franken.

AUSGEHOBENES MATERIAL – 28,2 Millionen Tonnen
Ausbruchmaterial wurden abgetragen. Ein grosser
Teil des Gesteinsausbruchs kam in Form von Beton
wieder in den Berg. Das restliche Material diente unter
anderem der Gestaltung des Geländes oder der Auf-
schüttung von Dämmen. Im Urnersee entstanden drei
Naturschutz- und drei Badeinseln.

Quelle: Gottardo 2016                                                           Quelle: Gottardo 2016

DIE FÜNF LÄNGSTEN TUNNEL DER WELT

                                                                                                                                        GOTTHARD-
                                                                                                                                        BASISTUNNEL,
                                                                                                                                        57,0 KM
                                                                                                                                        SCHWEIZ, 2016, KOSTEN:
                                                                                                                                        12,2 MRD.

                                                                                                                           SEIKANTUNNEL, 53,9 KM
                                                                                                                           JAPAN, 1988, KOSTEN: 4,3 MRD.

                                                                                                                  EUROTUNNEL, 50,5 KM
                                                                                                                  GROSSBRITANNIEN / FRANKREICH,
                                                                                                                  1994, KOSTEN: 16,1 MRD.

                                                                         LÖTSCHBERG-BASISTUNNEL, 34,6 KM
                                                                         SCHWEIZ, 2006, KOSTEN: 4,3 MRD.

                                                          GUADARRAMATUNNEL, 28,4 KM
                                                          SPANIEN, 2007, KOSTEN: 1,34 MRD.
                                                          Quelle: BLS, «Der Spiegel», railway-technology.com, Today’s railways Europe

                                                                                                                                              Bulletin N° 2 / 2016 — 13
— Gottardo —

    «ZWEI GLEISE, VIEL
     BETON UND JEDE
   MENGE TECHNOLOGIE»

Mineure mit der Tunnelbohrmaschine
«Heidi» nach dem Durchstich des letzten
Abschnitts des Gotthard-Basistunnels
bei Sedrun am 23. März 2011.

14 — Bulletin N° 2 / 2016                                Foto: Martin Rütschi / Keystone
— Gottardo —

    Der Gotthard-Basistunnel ist mehr als ein Wunder des
   Tiefbaus. Mit der Rekordröhre wird im Dezember 2016
  das Schweizer Bahnnetz neu erfunden. Alle Fäden laufen
       in einem Büro in Luzern zusammen. Dort sitzt der
 Projektleiter der SBB, Peter Jedelhauser, und überlegt sich:
              «Wo kann das nächste Problem auftreten?
                         Welche Lösung habe ich?»
                                     Von Simon Brunner

Herr Jedelhauser, Sie konnten bereits jene     Abweichung beim Durchschlag. Ist das
Fahrt erleben, auf welche die ganze Schweiz    gleich einem Weltwunder? Ich weiss es
ungeduldig wartet: Wie fühlt es sich an,       nicht. Aber sicher eine Meisterleistung,
durch den längsten Zugtunnel der Welt zu       die Freude und Stolz bereitet.
fahren?
Ich muss Sie enttäuschen: Die zwanzig          Durch die USA ging ein Ruck bei der ersten
Minuten, die ich während einer Testfahrt       Mondlandung, das kollektive russische
erlebte, fühlten sich nicht viel anders an     Selbstvertrauen wurde gestärkt mit dem
als die fünfzehn Minuten durch den             Start der Sputnik-Rakete. Ist der GBT ein
heutigen Gotthardtunnel. Der grösste           vergleichbarer Moment für die Schweiz?
Unterschied ist, dass sich das Gefühl von      Der Basistunnel ist zweifelsohne ein
Italianità schneller einstellt. Von Erstfeld   Jahrhundertbauwerk, zu dessen Realisie-
nach Biasca braucht man heute 74 Minuten.      rung Schweizer Qualitäten wesentlich
Ab Dezember 2016 werden es noch etwas          beigetragen haben: Pioniergeist, Innova-
mehr als 20 Minuten sein.                      tionskraft, Präzision und der Wille, etwas
                                               durchzuziehen. Gemeinsam sagten wir:
Und wie ist das Fahrgefühl?                    «Ja, das machen wir.» Es war eine demokra-
Die Fahrt dauert 5 Minuten länger als          tische Entscheidung, gestützt durch meh-
heute – das merken Sie nicht. Aber der         rere Volksentscheide [Siehe Geschichte
Zug ist schneller, etwa 200 km/h. Heute        des GBT Seite 19, Anm. d. Red.].
fahren wir im Scheiteltunnel 125 km/h.
                                               Was war der grösste Moment für Sie?
Spürt man dieses Tempo?                        Es gibt zwei. Zum einen war da der
Im Gegenteil, die Ruhe ist frappant.           Durchbruch in der Weströhre mit der
Die Gleislage ist fantastisch, man gleitet     riesigen Bohrmaschine – da kamen grosse
regelrecht dahin.                              Gefühle auf. Nie vergessen werde ich auch
                                               den ersten Tunneldurchmarsch von Bodio
Der erste Gotthardtunnel wurde bei der         nach Erstfeld, lange bevor die Gleise
Eröffnung der Bahn 1882 als «helvetisches      verlegt waren. Wir brauchten über acht
Weltwunder» bezeichnet. Internationale         Stunden – die ganze Dimension des
Kommentatoren verglichen ihn mit               Projekts wurde mir da erst richtig bewusst.
dem Bau der altägyptischen Pyramiden.
Ist der Gotthard-Basistunnel (GBT)             Abgesehen vom Zeitgewinn:
eine ähnliche Meisterleistung?                 Welche Effekte hat dieser Tunnel?
Die AlpTransit Gotthard AG (ATG) hat           Der GBT ist weit mehr als zwei Gleise,
die Flachbahn durch den Gotthard               viel Beton und jede Menge Technologie:
gebaut, den längsten Tunnel der Welt,          Das Tessin rückt näher an die Deutsch-
57 Kilometer lang. Mit 0,00014 Prozent         schweiz, es wird ein grosser Beitrag

                                                                      Bulletin N° 2 / 2016 — 15
— Gottardo —

                                          zur Verlagerung des Verkehrs von der           Und letztlich hat uns die ganze Fahrplan-
                                          Strasse auf die Schiene geleistet, und wir     planung stark gefordert, vor allem im
                                          werden in der Welt positiv wahrgenommen.       Kontext der vielen Baustellen. Aber von
                                          Jede Steuerzahlerin, jeder Steuerzahler        alledem einmal abgesehen, ist der GBT
                                          darf sagen, er oder sie habe einen             ein ganz normaler Tunnel (lacht).
                                          Beitrag zu diesem Werk geleistet.
                                                                                         Eines der grossen Themen ist die Sicherheit.
                                          Und welche Bedeutung hat der GBT               Die Sicherheit war eines der wichtigsten
                                          für das europäische Transportsystem?           Planungskriterien überhaupt. So haben
                                          Der GBT entlastet auch Autobahnen im           wir zum Beispiel zwei getrennte Röhren
                                          Ausland, darum baut beispielsweise             und zwei Nothaltestellen. Darf ich ehrlich
                                          Deutschland die Hochrheinstrecke aus.          sein? Ich fahre viel lieber durch den neuen
                                          Dass Sie vom Hamburger Nordseehafen            Basistunnel als durch den alten Scheitel-
                                          nach Gallarate Zeit sparen, ist das eine.      tunnel.
                                          Das andere ist die höhere Kapazität, man
                                          kann längere Züge fahren und mit einem         Warum?
ZUR PERSON                                höheren Profil als bisher. Es sind also        Lassen Sie uns folgenden Fall annehmen:
Peter Jedelhauser, 57, ist Gesamtleiter   effiziente, staufreie und umweltfreundliche    Der Zug bleibt stecken. Das kann
der Projektorganisation Nord-Süd-         Lösungen für die Logistikbedürfnisse           passieren. Alle 325 Meter führt einer der
Achse Gotthard (PONS). Er war über        unserer Cargo-Kunden möglich. Auch im          178 Querschläge in die Gegenröhre, wo
zwanzig Jahre in der Energiewirtschaft
tätig und baute rund um die Welt
                                          innerschweizerischen Güterverkehr              ein anderer Zug die Passagiere aufnehmen
Wasserkraft- und Bewässerungs-            eröffnen sich neue Möglichkeiten. So           kann. Im Idealfall stoppt der Zug nach
anlagen. Der studierte ETH-Ingenieur      können wir zum Beispiel erstmals im            einem Ereignis in einer Notfallhaltestelle,
(Eisenbahntechnik) arbeitet seit          Nachtsprung das Tessin mit der                 wo grosszügige Fluchtstollen wegführen
elf Jahren bei der SBB.                   Westschweiz verbinden. Man gibt einen          und die Passagiere in Sicherheit gebracht
                                          Container am Abend im Tessin auf und           werden. Im alten Scheiteltunnel ist das
                                          am Morgen ist er in der Romandie.              Umsteigen fast unmöglich. Das Bauwerk
                                                                                         von 1882 hätte man zum Teil ergänzen
                                          Die grössten Vorteile des Tunnels liegen im    können, aber man würde es nie auf das
                                          Transport von Gütern, nicht von Passagieren?   Niveau des Basistunnels bringen.
                                          Plakativ könnte man sagen: Die neue
                                          Gotthardbahn ist eine Güterbahn mit            Kann man sagen, die 57 Kilometer durch
                                          grossem Nutzen für den Personenverkehr.        den neuen Tunnel sind die sichersten der
                                                                                         Schweiz?
                                          Aus Sicht des Ingenieurs: Wie unterscheidet    Das würde ich sofort unterschreiben.
                                          sich der GBT von anderen Tunneln in der
                                          Schweiz?                                       Apropos Sicherheit: Sie benutzen den Begriff
                                          Der GBT besteht aus vielen komplexen           des «kranken Zuges». Was ist das?
                                          Systemen. Das Beherrschen dieser               Ein Zug, der nicht in den Tunnel darf.
DIE PROJEKTORGANISATION
                                          Systeme ist mindestens ebenso herausfor-       Zum Beispiel ein Zug, an dem sich die
Die Projektorganisation Nord-Süd-         dernd, wie sie zu bauen. Tunnelsystem,         Bremse nicht löst. Ein Zug, auf dem bei
Achse Gotthard (PONS) ist ein
SBB-Konzernprojekt und besteht
                                          Entwässerungssystem, Lüftungssysteme,          einem geladenen Lastwagen eine Plane
aus neun Teilprojekten. PONS ist          Sicherungsanlagen, Steuerungen, Tunnel-        lose ist. Ein Zug, an dem ein Tankwagen
verantwortlich für die Inbetriebnahmen    leittechnik: Alles zusammen muss so von        Flüssigkeit verliert. Ein Zug, auf dem
des Gotthard- und des Ceneri-Basis-       unserem Personal gehandhabt werden,            die Antenne eines Lastwagens hin und
tunnels sowie des 4-Meter-Korridors.      dass jederzeit ein sicherer, zuverlässiger     her flattert. Eine Lok, deren Strom-
                                          und pünktlicher Bahnbetrieb möglich ist.       abnehmer nicht perfekt ist. Ein Zug,
                                                                                         der asymmetrisch beladen ist. Oder
                                          Gilt das Neu-Denken auch für den Unterhalt?    ein Zug, der brennt.
                                          Absolut. Stellen Sie sich vor, Sie müssten
                                          die Strecke Zürich–Olten unterhalten, die      Und alle diese «Krankheiten» diagnostizieren
                                          etwa gleich lang ist, Sie haben aber nur       Sie, bevor der Zug in den Tunnel fährt?
                                          von zwei Seiten her Zugang. Der                Ja. Auf den Tunnelzufahrten im Norden
                                          Standard-SBB-Prozess greift da nicht.          und Süden sind Systeme installiert, die

16 — Bulletin N° 2 / 2016                                                                                  Foto: Janosch Abel; Grafik: © SBB CFF FFS
— Gottardo —

                                                                                                                    Peter Jedelhauser über den
                                                                                                                  Gotthard-Basistunnel (Bild):
                                                                                                                 «Wir haben die Planung etwas
                                                                                                                           anders aufgezogen.»

das fahrende Rollmaterial untersuchen.      Nachweis nicht erbringen können? Was             Falle waren es neun. Dabei haben wir
Diese Zugkontrolleinrichtungen entdecken    tun wir, wenn wir Schwierigkeiten bei            ganz bewusst nicht bei der Technik be-
die beschriebenen Defekte, bevor sie im     einer Baubewilligung erkennen? Was               gonnen, sondern beim Kunden. Was muss
Tunnel grösseren Schaden anrichten          mache ich dann? Was ist die Rückfall-            ich machen, damit er zufrieden ist?
können. «Kranke Züge» werden gestoppt.      ebene? Aber auch: Wann muss ich sie              Damit er bekommt, wofür er bezahlt hat?
                                            auslösen? Weil wir uns diese Fragen
                                            ständig gestellt und überall Alternativen        Ihre Antwort?
                                            ausgearbeitet haben, bin ich relativ ruhig.      Es braucht zuerst einen guten Fahrplan
   «Jeder Steuerzahler darf                 Klar kann etwas passieren, aber ich denke,       für den Bahnverkehr entlang der gesamten
 sagen, er habe einen Beitrag               wir sind vorbereitet.                            Nord-Süd-Achse im Fern-, Regional- und
                                                                                             Güterverkehr. Damit ich diesen umsetzen
  zu diesem Werk geleistet.»                Sie sind der SBB-Projektleiter für die           kann, muss ich die Zulaufstrecken
                                            Inbetriebnahme des Jahrhundertbauwerks –         ausbauen, denn die Kapazität des GBT
                                            doch das ganze Projekt passt hier in Ihrem       bringt nur etwas, wenn auch die
Ein paar Monate vor der Inbetriebnahme:     kleinen Luzerner Büro auf ein Poster und         Zulaufstrecken den Mehrverkehr
Erwachen Sie zuweilen in der Nacht mit      sieht aus wie die Planung für eine etwas         bewältigen können. Als Nächstes brauche
dem Gedanken: «Habe ich etwas Wichtiges     grössere Weihnachtsfeier. Wie ist das möglich?   ich Strom, also muss ich Unterwerke
vergessen?»                                 Das ist das Gesamtbild oder unser                bauen. Dann brauche ich Rollmaterial –
Wir haben die Planung etwas anders          Cockpit, das muss übersichtlich sein.            bestehendes und neues. Ich brauche
aufgezogen als bei anderen vergleichbaren   Insgesamt sind für das, was Sie hier sehen,      Personal für den Personen- und für
Projekten. Wir sind von den Risiken         zirka 1600 Meilensteine hinterlegt.              den Güterverkehr. Und schliesslich müssen
ausgegangen: Was wäre, wenn etwas schief-                                                    nach der Eröffnung auch der Betrieb
läuft? Oder, wie man heute sagt: «What      Wie lassen sich so viele Meilensteine ab-        und Erhalt gewährleistet sein. Für all das
if ?» So kamen wir zu vielen wertvollen     arbeiten, ohne dass man im Chaos versinkt?       müssen wir unser Personal, rund
Überlegungen und Erkenntnissen. Was,        Indem man klar zugewiesene Arbeits-              2900 Angestellte, sowie 1000 Externe
wenn wir bei einem Rollmaterialtyp einen    pakete und Bereiche definiert, in unserem        entsprechend ausbilden.

Foto: Gerry Amstutz                                                                                                Bulletin N° 2 / 2016 — 17
— Gottardo —

Haben Sie alle 1600 Meilensteine im Kopf ?   ren? Diese integrierte Sicht ist für mich      weil wir schon vorgängig an die Alterna-
Nein, vielleicht 30 Prozent – viel           eine zentrale Erfolgskomponente.               tiven gedacht hatten. Wir konnten in
wichtiger als die akademisch korrekte                                                       solchen schwierigen Situationen meist auf
Planung ist der Umgang damit. Für jedes      Es ist für den Einzelnen aber nicht einfach    einen Plan B zurückgreifen.
Arbeitspaket auf dem Poster gibt es einen    einzugestehen, dass etwas falsch läuft.
Verantwortlichen im Projekt. Jedem kann      Das ist eine Frage der Kultur! Zwei            Rund um die Welt sind die grossen
passieren, dass er oder sie einen Meilen-    Grundwerte halte ich dabei für besonders       Infrastrukturprojekte notorisch in Verzug
stein und somit einen Termin nicht           wichtig: Transparenz – auch wenn sie weh-      oder werden gar nicht fertiggestellt. Der
einhalten kann. Wichtig ist dann die         tut. Aber nach meiner Erfahrung tut es         GBT hingegen geht ein Jahr früher in
                                             mehr weh, wenn ein Fehler später zu Tage       Betrieb als geplant – wie war das möglich?
                                             tritt. Und Verlässlichkeit. Beides hat unter   Die ATG, die den Tunnel baute, hat
                                             dem Strich sehr gut funktioniert. Da muss      2010 bei einer Abstimmung und Bereini-
         «Wir waren also                     ich meinen Mitarbeitern einen riesigen         gung der Bau- und Montageprogramme
       ehrgeizig, aber nicht                 Dank aussprechen.                              für den GBT die Möglichkeit erkannt,
                                                                                            den Tunnel ein Jahr früher als geplant in
          unbesonnen.»                       Ging auch mal etwas schief ?                   Betrieb zu nehmen. Grundsätzlich war
                                             Oh ja! Wir hatten immer mal wieder             das natürlich eine sehr gute Nachricht, für
                                             Schwierigkeiten, beispielsweise mit            die SBB bedeutete das jedoch eine grosse
Frage: Welche Auswirkungen hat das auf       Baubewilligungen, mit technologischen          Herausforderung. Denn wir hatten nur
meinen Kollegen und dessen Arbeits-          Entwicklungen oder mit der Ablieferung         noch fünf statt sechs Jahre Zeit, um unsere
paket? Und wie können wir allfällige         von neuem Rollmaterial. Heikle Momente,        Aufgaben zu bewältigen. De facto waren
Auswirkungen beherrschen und reduzie-        aber wir standen nie völlig hilflos am Berg,   unsere gesamten Zeitreserven weg.

                                                                                                                 Kontrollraum für den
                                                                                                                 Gotthard-Basistunnel
                                                                                                                           in Pollegio.

18 — Bulletin N° 2 / 2016                                                                                            Foto: Alexandra Wey / Keystone
— Gottardo —

GESCHICHTE DES GBT                               Sie waren wütend?                              dafür eingeplant hatten. Und drittens
Eine halbe Ewigkeit liegt zwischen der           Zuerst sah ich viele Risiken und               stellten sowohl die ATG als auch wir bei
ersten Skizze und der feierlichen Eröffnung      Probleme. Doch eines Tages sagte der           der SBB Teams zusammen, die jederzeit
des Gotthard-Basistunnels.                       Kollege von der ATG zu mir: «Das ist           entscheidungsfähig waren und konstruktiv
                                                 deine grosse Chance, Vollgas zu geben.»        zusammenarbeiteten.
1940

                                                 Er hatte recht. Ist die Zeit knapp,
          1947
          Ingenieur Carl Eduard Gruner
                                                 diskutiert man viel weniger über unnötige      Haben Sie bei diesem Projekt etwas fürs
          skizziert die visionäre Idee eines     Details zum falschen Zeitpunkt. Man            Privatleben gelernt?
          Gotthard-Basistunnels.                 sucht einfache, pragmatische Lösungen          Das Privatleben ist vielleicht einer der
                                                 und zieht sie gemeinsam und fokussiert         wenigen Orte, wo es nicht immer «What
          1963                                   durch. So wird man auch sehr effizient.        if ?» und Optionen braucht. Aber meinen
1950

          Der Bund evaluiert verschiedene                                                       Kindern konnte ich schon etwas mit-
          Bahntunnelvarianten.
                                                 Man kann sich auch Ziele setzen, die zu        geben, indem ich sie fragte: «Was tut ihr,
                                                 hoch sind. Und beim GBT geht es notabene       wenn euer Plan nicht aufgeht?»
          1971                                   um ein 12-Milliarden-Franken-Projekt.
          Die SBB wird mit der Ausarbeitung
                                                 Klar, Mut ist das eine, Leichtsinn das         Sie sind der Chef eines der grössten
          der Gotthard-Basislinie
          Erstfeld–Biasca beauftragt.            andere. 2011 fällten wir folgenden             Projekte der Schweiz. Sind Sie in der
1960

                                                 Entscheid: Wir setzen gemeinsam alles          Freizeit verplant oder eher unstrukturiert?
                                                 daran, im Dezember 2016 den fahrplan-          Dazwischen gibt es doch noch etwas
          1992
          Das Schweizer Volk sagt Ja             mässigen Betrieb aufzunehmen Wir               anderes: Ich bin spontan. Wenn meine
          zur «Neuen Eisenbahn-Alpen-            fixierten aber auch einen Point of Return,     Tochter, die bei SWISS arbeitet,
          transversale» (Neat) und zum
          Bau von neuen Basistunneln am
                                                 bei dem wir zwei Jahre vorher noch einmal      fragt: «Kommst du morgen mit nach
          Lötschberg, Gotthard und Ceneri.       gemeinsam über die Bücher gehen und            New York?», und ich es irgendwie
1970

                                                 aufgrund der Entwicklungen und Risiken         einrichten kann, dann fliege ich mit.
                                                 definitiv entscheiden konnten, ob es
          1993
          Erste Sondierbohrungen in              wirklich Dezember 2016 sein würde. Wir         Schliefen Sie oft schlecht wegen dem Projekt?
          der Piora-Mulde liefern Hinweise       waren also ehrgeizig, aber nicht unbesonnen.   Ja, am Anfang oft.
          zur geotechnisch günstigsten
          Linienführung.
                                                 Trotzdem, kaum irgendwo auf der Welt           Weil es schwierig war, sich abzugrenzen?
1980

                                                 werden solche Giga-Projekte ein Jahr           Dieses Wort versuche ich zu vermeiden.
          1994
                                                 früher dem Betrieb übergeben. Warum in         Das Denken in Schnittmengen ist
          Die «Alpen-Initiative» wird in einer
          Volksabstimmung angenommen             der Schweiz?                                   effizienter als das Denken in separaten
          und der Alpenschutz in der Bundes-     Drei Gründe: Wir mussten nie über die          Einheiten. Wenn sich zwei abgrenzen,
          verfassung verankert.
                                                 politische Legitimation diskutieren. Das       ist die Chance enorm hoch, dass
          1995
                                                 Projekt wurde mitgetragen von der              etwas zwischen Tisch und Bank fällt.
1990

          Der Bundesrat genehmigt die            Bevölkerung, jeder wusste, das ist ein
          Linienführung zwischen Erstfeld        demokratisch gefällter Mehrheits-              Wie haben Sie verhindert, dass Sie die
          und Bodio und die offene Strecke
          Bodio–Giustizia.                       beschluss. Wir trafen rundum auf eine          Mammutaufgabe auffrisst?
                                                 positive Grundhaltung. Man hätte uns mit       Es ist eine Illusion, dass man nach Hause
          1999                                   Einsprachen das Leben viel schwerer            kommt, den Schalter umlegt und in
          Im November erfolgt                    machen können. Diesen Rückhalt gibt es         Gedanken weg ist. Wenn man eine solche
          der Tunnelanstich am GBT.
2000

                                                 viel weniger, wenn Privatunternehmen           Aufgabe machen darf, ist es zentral, dass
          2010                                   oder Regierungen ohne breite Basis in der      man ein grosses Feu sacré hat. Eine innere
          Am Gotthard-Basistunnel findet der
          Hauptdurchschlag zwischen Sedrun       Bevölkerung ein Projekt beschliessen.          Begeisterung. Und ich habe das ausser-
          und Faido statt.                       Ausserdem ist es ein Eisenbahnprojekt,         gewöhnliche Glück, dass sich meine
                                                 dazu haben die Schweizerinnen und              Familie für das interessiert, was ich hier
                                                 Schweizer eine besonders grosse Affinität.     mache. Abschalten hingegen, das musste
          2016
2010

          Am 1. Juni wird der GBT eröffnet,                                                     ich lernen. Ich glaube, ich kann es heute
          im Dezember geht er in Betrieb.        Zweitens?                                      besser als früher.
          2020                                   Zweitens hatten wir mit dem Bundesamt
          Die Nord-Süd-Achse ist nach            für Verkehr eine Genehmigungs- und
          der Inbetriebnahme des Ceneri-
          Basistunnels und des 4-Meter-          Verfügungsbehörde, die sehr speditiv
          Korridors voll leistungsfähig.         arbeitete. Nicht eine Baubewilligung oder
2020

                                                 -genehmigung brauchte mehr Zeit, als wir

                                                                                                                        Bulletin N° 2 / 2016 — 19
Alfred Escher (1819–1882):
                                  Der Gotthard-Visionär fuhr zeitlebens
                                   nie durch den Tunnel, der auch dank
                                                    ihm gebaut wurde.

20 — Bulletin N° 2 / 2016   Illustration: Gregory Gilbert-Lodge; Foto: Noë Flum / 13 Photo
— Gottardo —

                                            Das helvetische
                                             Weltwunder
                                       Wie die Schweiz von einem Land, das den Anschluss
                                          verloren hatte, zu einem modernen Staat wurde:
                                       die Geschichte der Gotthardbahn, in der ein gewisser
                                           Alfred Escher die Rolle seines Lebens spielte.
                                                                  Von Joseph Jung

Kein Bauwerk hat die Schweiz tiefgreifen-                                                          derts die Infrastruktur eines modernen
der verändert als die Gotthardbahn, die am                                                         Staates.
1. Juni 1882 dem Verkehr übergeben wurde.                                                                Wie beängstigend diese Defizite in
Sie ist Ausdruck einer dynamischen, of-
                                                              1882                                 der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wa-
fenen und zukunftsgerichteten Schweiz;                    GOTTHARDBAHN                             ren, erkannte der Zürcher Alfred Escher.
in ihr kulminierten Kühnheit, Wagemut,                       Am 1. Juni 1882 wurde die             In einer seiner ersten Reden im National-
Pioniergeist und visionäres Denken. Der                      Gotthardbahn dem Verkehr              rat wies er auf diese dramatische Situation
Kanton Tessin wurde auf dem Schienen-                          übergeben. Sie war als              hin. Von allen Seiten würden sich die
weg endlich mit der nördlichen Schweiz                     Lebensader für die Schweizer            Schienenwege immer mehr der Schweiz
verbunden und erhielt dadurch existen-                         Exportwirtschaft primär             nähern, während diese bisher tatenlos zu-
                                                           international ausgerichtet und
zielle Impulse. Als Lebensader für die                                                             geschaut habe. Die Schweiz drohe umfah-
                                                            eröffnete wirtschaftliche und
Schweizer Exportwirtschaft war die Gott-                  kulturelle Beziehungen zwischen
                                                                                                   ren zu werden und das traurige Bild einer
hardbahn primär international ausgerich-                         Italien, Deutschland              europäischen Einsiedelei darzubieten.
tet. Sie eröffnete zunächst den wirtschaftli-                      und der Schweiz.                Tatsächlich gab es damals in der Schweiz
chen und kulturellen Beziehungen zwischen                                                          lediglich einen Schienenweg von 23 Kilo-
Italien, Deutschland und der Schweiz neue                                                          metern Länge – die Strecke Zürich–
Dimensionen. Doch ihre Bedeutung ist                feierlichkeiten mit Pomp und Spektakel         Baden, die sogenannte Spanisch-Brötli-
grossräumiger.                                      inszenierte und der Welt eine grossartige      Bahn. Eschers Auftritt war der Auftakt zu
                                                    Show bieten wollte?                            einem grossartigen Schauspiel, das den
Infrastruktur braucht das Land                             Geht man drei Jahrzehnte hinter die     Titel «Der Aufbruch zur modernen
Mit der Durchbrechung der Alpen wurde               Eröffnung der Gotthardbahn zurück, finden      Schweiz» trug und in dem Escher die
die Gotthardbahn zu einer Weltbahn, die             wir uns in einer ganz anderen Schweiz          Rolle seines Lebens spielte, als Visionär,
den Norden Europas via das Scharnier                wieder, in einem Land, das in massgeben-       Pionier, Politiker und Wirtschaftsführer.
Schweiz mit dem Suezkanal und dem                   den Bereichen den Anschluss an die in-               Im Kontext der komplexen eisen-
Orient verband. Wen mag es da über-                 dustrialisierten Staaten verloren hatte. Der   bahnpolitischen Herausforderungen nach
raschen, dass die Schweiz die Eröffnungs-           Schweiz fehlte bis Mitte des 19. Jahrhun-      der Bundesstaatsgründung von 1848

Foto: Verkehrshaus Luzern / Keystone                                                                                     Bulletin N° 2 / 2016 — 21
— Gottardo —

mussten die eidgenössischen Parlamenta-       Eisenbahngesellschaften gegründet, deren             Führung der Nordostbahn (1853), einer
rier die alles übergreifende Frage beant-     Ziel es war, schnellstmöglich zu bauen –             der grössten Eisenbahngesellschaften,
worten, ob die Eisenbahnen durch den          schneller als die Konkurrenz und auf dem             lässt in Zürich den neuen Hauptbahnhof
Staat oder durch Private erbaut und betrie-   bestmöglichen Trassee mit wenig Brücken              (1865 –71) bauen und macht die Stadt an
ben werden sollten. Damit zusammenhän-        und Tunneln. Man kann sich fragen, ob es             der Limmat zum Verkehrsknotenpunkt.
gend galt es, die Linienführung festzulegen   zum Wohl der Sache gewesen wäre, wenn                       Das ungeheure Tempo, mit dem in
und die Prioritäten im Ablauf der Bauar-      die 1852 festgeschriebene faktische Omni-            den 1850/60er Jahren in der Schweiz die
beiten zu setzen. Escher erkannte deutlich,   potenz der privaten Eisenbahngesellschaf-            Eisenbahnlinien errichtet wurden, und die
welche Gefahren und Chancen die in Bern       ten, die durch die Konzessionskompetenz              unglaubliche Dynamik, mit welcher der
anstehenden politischen Entscheide für        der Kantone nur unwesentlich tangiert                Eisenbahnbau die industrielle Entwick-
den Kanton Zürich bargen. Und er hegte        wurde, auf Gesetzesebene wenigstens                  lung beschleunigte und die Volkswirtschaft
die Befürchtung, dass die östliche Schweiz    etwas eingedämmt und der Betrieb zum
als Stiefkind behandelt würde, sollte das     Nutzen der Reisenden und des Güter-
Eisenbahnprojekt vom Bund übernom-            transports vereinheitlicht worden wäre.
men werden.                                         Doch solche Diskussionen zielen am
                                              Kern der Sache vorbei. Es ging damals –
Was ist Staatsaufgabe?                        Mitte des 19. Jahrhunderts – um nichts
Zum Kristallisationspunkt der politischen     anderes als um die für die Schweiz existen-
Diskussion in der Eisenbahnfrage entwi-       zielle Frage, wie der Eisenbahnbau
ckelte sich die Frage der Finanzierbarkeit.   schnellstmöglich realisiert werden konnte.
Dieser Aspekt erfuhr zusätzliche Spreng-      Man stelle sich vor, wie sich das Eisen-
kraft, als zunächst mit dem Eisenbahn-        bahnwesen unter bundesstaatlicher Bau-
projekt auch die eidgenössische Univer-       herrschaft entwickelt hätte. In der Bundes-
sität zur Debatte stand. Deshalb musste       kasse fehlten damals schlicht die Mittel,
sich das eidgenössische Parlament erst        um neben dem Aufbau der Schweizer
grundsätzlich darüber klar werden, welche     Armee zusätzliche Infrastrukturprojekte
die Aufgaben des Staates waren und was        substanziell zu finanzieren. Und mit dem
sinnvollerweise in den Kompetenzbereich       wenigen, das man den Eisenbahnen hätte
                                                                                                                     1854
der Privatwirtschaft gehörte.                 zuführen können, wäre die Erschliessung                             ETH ZÜRICH
      Geradezu beängstigend erschien          des Mittellandes ein Jahrzehnte dauerndes                        Weil in der Schweiz keine
den Parlamentariern die Vorstellung, mit      Projekt geworden. Wenig erfreulich ist                        Ausbildungsstätte für Ingenieure,
der Eisenbahn und der Universität zwei        auch eine andere Perspektive: Man braucht                       Techniker, Mathematiker und
Grossprojekte gleichzeitig finanzieren zu     kein Hellseher zu sein, um sich vorzustellen,                Geologen existierte, die im Zuge
müssen. In dieser Situation gelang es         wie sehr sich die Herren Parlamentarier in                    des Bahnbooms gefragt waren,
                                                                                                            kam es 1854 zur Gründung des
Escher, die beiden Vorlagen zu entkoppeln.    Bern über die Prioritäten der zu bauenden
                                                                                                           Eidgenössischen Polytechnikums,
Und entgegen dem Willen der nationalrät-      Strecken in die Haare geraten wären.                          der heutigen ETH Zürich. Alfred
lichen Kommission gewann er die Mehr-                                                                      Escher gehörte bis zu seinem Tod
heit der beiden eidgenössischen Räte für      Verkehrsland Schweiz                                          ununterbrochen dem Führungs-
ein Gesetz, das Bau und Betrieb der Eisen-    Doch zum Glück blieb dieses Schreckens-                        gremium der Hochschule an.
bahnen der Privatwirtschaft überliess. Die    szenario «historia eventualis». Die Fakten
Folge war, dass der Bund im Eisenbahn-        sprechen eine eindeutige Sprache. Durch
gesetz faktisch ausgeschlossen blieb und      den Entscheid vom Sommer 1852 wurde
über keine rechtliche Handhabe verfügte.      der eidgenössische Eisenbahnbau rich-
Er hatte nicht einmal ein Aufsichts-          tiggehend entfesselt. Die Schweiz erlebte
recht über die Eisenbahngesellschaften        einen Eisenbahnboom, wie er in keinem
und konnte bloss aufgrund militärpoliti-      anderen europäischen Land festgestellt               belebte, bestätigen die Richtigkeit der von
scher Überlegungen über Linienführungen       werden kann. Eisenbahngesellschaften                 Escher bezogenen Position auch aus der
entscheiden.                                  schossen wie Pilze aus dem Boden. Und                Rückschau. An dieser grundsätzlichen
      Diese Abstimmung im Sommer              nicht einmal zehn Jahre später ist das               Einschätzung ändern alle finanziellen
1852 war ein Jahrhundertentscheid, der die    Mittelland erschlossen, sind die Schienen            Turbulenzen, in welche die Eisenbahn-
wirtschaftliche und gesellschaftspolitische   vom Bodensee bis zum Genfersee ver-                  gesellschaften in der Folge gerieten, ebenso
Entwicklung der Schweiz fundamental be-       legt. Alfred Escher selbst – Regierungs-             wenig wie die zahlreichen Übernahme-
einflussen sollte. Denn kaum war die Sache    rat, Grossrat, Nationalrat und vieles mehr           kämpfe oder die Tatsache, dass die meis-
entschieden, wurden überall im Land private   – übernimmt zusätzlich die operative                 ten Gesellschaften später in ausländische

22 — Bulletin N° 2 / 2016                                                            Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf unbekannt / Ans_02467/CCBY-SA 4.0
— Gottardo —

Abhängigkeit gerieten und schliesslich zu        Kreditanstalt, die heutige Credit Suisse, ein   den Splügen bis zum Simplon. In dieser
Beginn des 20. Jahrhunderts verstaatlicht        Jahr später die Schweizerische Lebensver-       Situation stellte sich Alfred Escher hin-
wurden. Die Schweiz hatte nach der Mitte         sicherungs- und Rentenanstalt, die heutige      ter das Gotthardprojekt und wurde 1871
des 19. Jahrhunderts ihren Rückstand ge-         Swiss Life. Mit der Kreditanstalt befrie-       Präsident der Gotthardbahn-Gesellschaft.
genüber dem benachbarten Ausland dank            digte Escher vorerst die finanziellen           Für die Umsetzung dieses gigantischen
privaten Gesellschaften in kürzester Zeit        Bedürfnisse seiner Nordostbahn. Darüber         Vorhabens warf Escher seine gesamte
aufgeholt. Der private Schienenverkehr war       hinaus wurde die Kreditanstalt zum Motor        wirtschaftspolitische Macht in die Waag-
faktisch von einem Jahr aufs andere in der       der Schweizer Wirtschaft. Sie stellte           schale. Er kümmerte sich um Budget und
Lage, die für den Binnenmarkt benötigten         privaten Unternehmen Risikokapital zur          Finanzierung, verhandelte mit schweize-
Transportkapazitäten bereitzustellen.            Verfügung, half bei Firmengründungen            rischen, deutschen und italienischen Ent-
                                                 und engagierte sich ebenso bei öffentlichen     scheidungsträgern und war bestrebt, die fä-
Werk- und Finanzplatz Schweiz                    Einrichtungen, etwa beim Strassenbau.           higsten Leute für das Projekt zu gewinnen.
Doch nicht nur aus der eisenbahnpolitischen      Und mit der Kreditanstalt machte Escher         Dazu gehörte der Genfer Louis Favre, der
Perspektive entpuppte sich der Entscheid         Zürich zum Schweizer Finanzplatz.               den Auftrag für den Bau des 15 Kilometer
von 1852 als Glücksfall, drohte doch die                                                         langen Tunnels erhielt.
Schweiz Mitte des 19. Jahrhunderts auch          Der Weg in den Süden                                   In der zeitgenössischen Euphorie
in anderen Bereichen aufs Abstellgleis zu        In den 1860er Jahren drohte die Schweiz         wurde die Gotthardbahn als helvetisches
geraten. Der Eisenbahnboom verlangte             ein weiteres Mal den Anschluss an die           Weltwunder bezeichnet, das die Reisenden
Fachkräfte, die den Anforderungen der            europäische Entwicklung zu verpassen.           der Belle Epoque durch «the world’s most
Eisenbahnunternehmen gewachsen waren.            Denn noch immer fehlte eine Nord-Süd-           picturesque route» am Gotthard in Begeis-
Die Linienführung suchte nach der besten         Verbindung durch die Alpen. Bereits wur-        terung versetzte. Selbst im 21. Jahrhundert
topografischen Lösung, Bahnhöfe muss-            den in Frankreich und Österreich Alpen-         erstaunen die konzeptionelle Genialität,
ten gebaut, Brücken gespannt und Tunnel          bahnen gebaut. Verschiedene Varianten           die vorausschauende Grosszügigkeit und
geplant werden.                                  einer Alpentransversale wurden zwar dis-        die technischen Leistungen und Qualitäten,
      In der Schweiz existierte jedoch           kutiert, konnten sich aber nicht durchset-      mit denen die Gotthardbahn geplant und
keine Ausbildungsstätte für Ingenieure           zen. Projekte gab es vom Lukmanier über         realisiert wurde, immer noch.
und Techniker, Mathematiker und Geo-                                                                    Zwischen Airolo und Göschenen
logen. Und so kam es 1854 zur Gründung                                                           entstand die grösste Baustelle der Welt.
des Eidgenössischen Polytechnikums, der                                                          Tausende von Arbeitskräften strömten aus
heutigen ETH Zürich. Auch hier ist die                                                           dem Ausland herbei; die meisten von ih-
Handschrift Eschers unverkennbar. Bis zu                                                         nen stammten aus Italien. Bleibt die Gott-
seinem Tod gehört Escher ununterbrochen                                                          hardbahn als grandioses Gesamtkunstwerk
dem Führungsgremium des Polytechnikums                                                           bis heute unbestritten, so sind die teils
an. Diese Hochschule stellte den Wissens-                                                        haarsträubenden hygienischen Zustände,
transfer von der Theorie in die Praxis sicher.                                                   in denen die Arbeiter in privaten Unter-
Die mehrheitlich aus dem Ausland stam-                                                           künften oder in Kasernen des Favre’schen
menden Dozenten leisteten wichtige Pio-                                                          Unternehmens hausten, notorisch. Dazu
nierarbeiten auf wissenschaftlichem Ge-                                                          kamen extreme Bedingungen bei der Ar-
biet. Mit dem Polytechnikum wird,                                                                beit im Tunnel selbst. Viele Tunnelarbeiter
vereinfacht gesagt, der Grundstein für den                                                       litten unter Krankheiten und wurden von
Forschungsplatz Schweiz gelegt.                                                                  Seuchen befallen. Mehr als 300 Menschen
      Der Kapitalbedarf stellte die Eisen-                                                       verloren während der Bauarbeiten ihr
bahnunternehmen aber auch vor grosse                                                             Leben. Dazu kamen die erkrankten und
finanzielle Herausforderungen. Da es in                    1856                                  verunfallten Arbeiter, die nach der Rück-
der Schweiz noch keine Geschäftsbanken                 KREDITANSTALT                             kehr in ihre Heimat starben.
gab, musste das Kapital andernorts beschafft
werden. Doch die ausländischen Kredit-
                                                          ZÜRICH                                 Der tragische Fall des Helden …
geber und Investoren wollten die Entwick-                 Um den Kapitalbedarf der               Ausgerechnet das Gotthardprojekt, mit
lung der schweizerischen Eisenbahnunter-                 Eisenbahngesellschaften zu              dem Escher Weltgeschichte schrieb, ge-
                                                       decken, gründete Escher 1856
nehmen mitbestimmen, selbst in Fragen                                                            riet ihm persönlich zur grössten Niederla-
                                                       die Schweizerische Kreditanstalt,
der Linienführung. Diese Einflussnahme                    die heutige Credit Suisse.             ge und zur schmerzlichsten Enttäuschung
war nicht nach Eschers Gusto. Die Schweiz              1857 folgte die Schweizerische            seines Lebens. Denn 1878 musste er we-
brauche eine eigene Finanzinfrastruktur!                  Lebensversicherungs- und               gen letztlich unbedeutender Kostenüber-
So gründete er 1856 die Schweizerische                    Rentenanstalt (Swiss Life).            schreitungen beim Bau zurücktreten.

Foto: Wikimedia Commons                                                                                                Bulletin N° 2 / 2016 — 23
— Gottardo —

                                                       Wer soll das bezahlen?
                                                       Beim Bau von 1882 spielten hiesige öffentliche Gelder
Es war nicht mehr seine Zeit. Die Schweiz
hatte sich gewandelt, die direkte Demo-                kaum eine Rolle. Der neue Basistunnel hingegen wird
kratie (1874) vermittelte eine neue Iden-              nur mit Steuern und Abgaben finanziert.
tität. «Wir werden immer weniger», sagte
Alfred Escher zu einem Freund. Die
Pioniere der Gründergeneration waren alt               An der internationalen Gotthardkonfe-       dem Gotthardgranit. Die Missstimmung
geworden, viele bereits gestorben. Escher              renz 1869 in Bern wurden die Kosten         zwischen Direktorium und dem Ober-
erschien zusehends als Relikt einer längst             für den Bau der Gotthardstrecke auf         ingenieur wurde in Form böser Fehden
vergangenen Zeit.                                      187 Mio. Franken veranschlagt (ent-         auch öffentlich ausgetragen: Verunglimp-
       Beim Gotthardunternehmen Persona                spricht einem heutigen Wert von rund        fungen und Schmähschriften, denen sich
non grata geworden, wurde er 1880 bei den              1,5 Mrd. Franken). Rund ein Drittel         Escher ausgesetzt sah. Die Kostenfrage
Feierlichkeiten anlässlich des Durchstichs             war für den Tunnel von Göschenen            führte letztlich zu seinem erzwungenen
mit keinem Wort erwähnt. Zwei Jahre spä-               nach Airolo vorgesehen, zwei Drittel        Rücktritt als Direktionspräsident der
ter, zu den grossen Jubelfestivitäten zur Er-          für die übrigen Streckenabschnitte von      Gotthardbahn-Gesellschaft (1878). Be-
öffnung der Gotthardbahn in Luzern, wur-               Immensee bis Chiasso. Von diesen Ge-        vor er jedoch sein Demissionsschreiben
de er zunächst nicht eingeladen – im                   samtkosten sollten 102 Mio. auf dem         unterzeichnete, fühlte er sich verpflich-
Unterschied zu den rund 360 italienischen              internationalen Finanzmarkt beschafft       tet, die komplexe Problematik der Mehr-
und 100 deutschen Nobilitäten und Hono-                werden, während 85 Mio. von den drei        kosten zu entschärfen und eine Restruk-
ratioren und den rund 400 Schweizer Gäs-               Staaten Deutschland (20 Mio.), Italien      turierung durchzuführen.
ten. Kurzfristig erhielt er dann doch noch             (45 Mio.) und der Schweiz (20 Mio.)                Es gelang ihm, die Mehrkosten auf
das Einladungsschreiben des Bundespräsi-               als Subventionen garantiert wurden. An      40 Mio. Franken zu senken. Davon
denten. Doch Escher war bereits schwer-                den Zahlungen, zu denen sich die Eid-       konnte er 12 Mio. Franken in harten
krank und konnte nicht nach Luzern rei-                genossenschaft verpflichtet hatte, betei-   Verhandlungen auf den internationalen
sen. Somit blieb ihm erspart, miterleben zu            ligten sich 15 Kantone und 3 Städte. Auf    Finanzmärkten beschaffen. Weitere je
müssen, dass sein Name weder vom Bun-                  diese Weise kamen nur 13 Mio. Franken       10 Mio. übernahmen Deutschland und
despräsidenten noch von einem anderen                  zusammen. Es brauchte die privaten          Italien. Die Schweiz verpflichtete sich auf
Redner genannt wurde. Durch den Tunnel                 Eisenbahngesellschaften Nordostbahn         eine Summe von 8 Mio. Franken (Staats-
ist er zeitlebens nie gefahren. Hat Alfred             und Centralbahn, die mit 7 Mio. Franken     vertrag von 1878), die wiederum auf ein-
Escher den Dank des Vaterlandes auch                   einen Drittel der von der Schweiz garan-    zelne Kantone und die beiden grossen
nicht erhalten, so werden heute seine Initi-           tierten Summe übernahmen – zusätzlich       privaten Eisenbahngesellschaften aufge-
ativen, Vorstösse und Projektionen, sein               zu den je 9 Mio. Investitionskapital, das   teilt werden sollten, was indes nicht rea-
Engagement zum Wohle der Schweiz ganz                  die beiden Gesellschaften bereits zur       listisch war. In dieser Situation beantrag-
anders gesehen. Denn wie kein anderer hat              Verfügung gestellt hatten.                  te der Bundesrat dem Parlament eine
er die Entwicklung der modernen Schweiz                      Der prozentuale Anteil der öffent-    Subvention von 6,5 Mio. Franken. Nach
angestossen.                                           lichen Gelder aus der Schweiz an den        emotionalen und für Escher demütigen-
                                                       Kosten betrug noch knapp 7 Prozent,         den Debatten wurde ein Subventionsbe-
                                                       wobei zu sagen ist, dass der Bund in        trag von 4,5 Mio. Franken beschlossen.
                                                       dieser Phase mit keinem Rappen betei-       So war letztlich auch die Eidgenossen-
                                                       ligt war. Dem gegenüber standen die von     schaft an der 1882 eingeweihten helveti-
                                                       Alfred Escher geführten Unternehmen         schen Weltbahn engagiert, wenn auch nur
                                                       Kreditanstalt und Nordostbahn, die          durch die Übernahme von lediglich rund
                                                       mehr als 11 Prozent der Kosten trugen.      2 Prozent der Kosten.
                                                                                                          Die Neue Eisenbahn-Alpentrans-
                                                       Zu hohe Kosten                              versale (Neat) dagegen wird ganz von
                                                       Nach 1875 geriet die Gotthardbahn-          der öffentlichen Hand getragen, also mit
                                                       Gesellschaft in eine Finanzkrise. Der       Steuern und Abgaben finanziert. Laut
Joseph Jung ist Historiker, Publizist und
Geschäftsführer der Alfred-Escher-Stiftung.            Kostenvoranschlag für den Bau war 1869      offiziellen Angaben kostet die Neat in-
Von ihm stammen grundlegende Arbeiten                  zu tief angesetzt worden. Die Gründe        klusive Lötschberg-, Gotthard- und Ce-
zur Schweizer Wirtschafts- und Kulturgeschichte        waren vielfältig: höhere Kosten aufgrund    neri-Basistunnel gut 23 Mrd. Franken.
des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Mit            falscher technischer Berechnungen, hö-      Das Geld stammt aus dem «FinöV-
seiner Biografie von Alfred Escher erzielte er einen
Bestseller: «Alfred Escher. Aufstieg,
                                                       here Lohn- und Materialkosten, Was-         Fonds» aus Schwer verkehrsabgabe LSVA
Macht, Tragik».                                        sereinbrüche im Stollen und auf den         (60 Prozent), Mineralölsteuer (10 Pro-
www.briefedition.alfred-escher.ch                      Zufahrtsstrecken und überhaupt feh-         zent) und Mehrwertsteuer (30 Prozent).
www.alfred-escher.ch                                   lende Erfahrungswerte im Umgang mit         Text: Joseph Jung

24 — Bulletin N° 2 / 2016
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