Teilhabe älterer suchtkranker Menschen - Eine Handlungs-orientierung - Gesamtverband für Suchthilfe e.V - sucht.org

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Deutscher Evangelischer Verband für                    Gesamtverband
Altenarbeit und Pflege e.V.                            für Suchthilfe e.V.
                                                             Fachverband der
                                                         Diakonie Deutschland

Teilhabe älterer
suchtkranker Menschen

Eine Handlungs-
orientierung

                                      Im Verbund der
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Teilhabe älterer suchtkranker Menschen – eine Handlungsorientierung 3

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser,

Das Thema „Sucht im Alter“ beschäftigt viele von Ihnen täglich. Den-        chen Zeit und/oder über einen längeren Zeitraum hinweg verordnet.
noch wird der riskante oder abhängige Konsum von Alkohol, Tabak,            Die Gefahren einer Abhängigkeit (vor allem bei Schlaf-, Beruhi-
Medikamenten oder auch illegalen Drogen in nicht wenigen Einrich-           gungs- und Schmerzmitteln) oder von – z. T. lebensgefährlichen –
tungen wie ein Randthema behandelt – oder gar als Tabu beiseitege-          Wechselwirkungen sind damit offensichtlich. Insbesondere die zwi-
schoben. Dabei können die Folgen, beispielsweise von übermäßi-              schen Medikamenten und Alkohol müssen bedacht werden. Eine
gem Alkoholkonsum, schwerwiegend sein: Erhöhte Sturzgefahr, die             suchtspezifische und/oder psychotherapeutische Behandlung ist
Abnahme geistiger und sozialer Fähigkeiten, Einschränkungen bei             im Alter oft wirkungsvoll – und zum Teil erfolgreicher als bei jüngeren
alltäglichen Handlungen – bis hin zu Organschädigungen und einer            Patientengruppen. Das spiegelt sich in höheren Abstinenzquoten
Verstärkung oder Abschwächung von Medikamenten. Und nicht sel-              und in einer größeren Zufriedenheit der älteren Patienten wieder.
ten kaschiert ein riskanter oder abhängiger Konsum etwa von Alko-           Werden sie also bei einer Suchtstörung durch die Suchthilfe er-
hol oder Medikamenten weitere, bisweilen nicht erkannte psychische          reicht, so ist die Wahrscheinlichkeit einer nachhaltigen Behandlung
Erkrankungen, wie Depressionen oder Angsterkrankungen.                      recht hoch. Um das zu gewährleisten, ist ein gutes Zusammenwir-
                                                                            ken von Altenhilfe und Suchthilfe von entscheidender Bedeutung.
Um den Bedürfnissen der Betroffenen gerecht zu werden, sind wir             Die Ihnen vorliegende Broschüre ist ein erster Schritt in diese Rich-
sowohl in der Suchthilfe als auch in der Altenhilfe auf sensibilisierte,    tung.
gut ausgebildete und engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an-
gewiesen. Und mehr als das: Zwischen beiden Arbeitsfeldern ist ein          Wir sind dankbar dass die Bank für Sozialwirtschaft (BfS) und die
Austausch notwendig. Die Fachbereiche müssen nicht einfach nur              Betriebskrankenkasse Diakonie (BKK Diakonie) unsere Publikation
voneinander wissen, sie müssen voneinander lernen.                          mit ermöglicht haben.

Der Gesamtverband für Suchthilfe e.V. – Fachverband der Diakonie            Gemeinsam sagen wir auch all denen herzlichen Dank, die mit an-
Deutschland (GVS) und der Deutsche Evangelische Verband für Al-             schaulichen Schilderungen und mit vielen Anregungen unsere Bro-
tenarbeit und Pflege e. V. (DEVAP) – beides Bundesfachverbände der          schüre bereichert haben.
Diakonie Deutschland – haben diese Broschüre erarbeitet, um sol-
che Zusammenarbeit zwischen Suchthilfe und Altenhilfe anzuregen             Lernen wir voneinander, um den Menschen, die uns anvertraut
und damit betroffene ältere Menschen so gut wie möglich zu beglei-          sind, die Zuwendung und Pflege zukommen zu lassen, die sie be-
ten und zu behandeln.                                                       nötigen.

Sie leiden ja nicht selten – und das häufiger als Jüngere – an meh-
reren Krankheiten gleichzeitig und an chronischen Erkrankungen.
So werden solchen Patienten also mehrere Medikamente zur glei-
                                                                           Imme Lanz, DEVAP                  Theo Wessel, GVS

 Inhalt
 1. Vorwort                                                                 5. Früherkennung, Diagnostik und Umgang
 2. Alter und Sucht                                                         6. Ein breit gefächertes Hilfesystem
 3. Ein Recht auf Teilhabe?                                                 7. Qualifizierung
 4. Gesetzliche Grundlagen für                                              8. Fazit und Ausblick
    Teilhabeleistungen                                                      9. Links und Quellenangaben
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Alter und Sucht

Unter Sucht – heute sprechen wir eher von Abhängigkeit – wird laut     Was in der Jugend noch leicht vertragen und weggesteckt wird,
der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein seelischer, eventuell        kann nun aber zum Problem werden: Abbauprozesse sowohl bei
auch körperlicher Zustand verstanden, „der dadurch charakterisiert     Alkohol als auch bei Medikamenten dauern im Alter länger, es kann
ist, dass ein Mensch trotz körperlicher, seelischer oder sozialer      sehr viel schneller als in jüngeren Jahren zu einer krankhaften Ge-
Nachteile ein unüberwindbares Verlangen nach einer bestimmten          fährdung kommen. Außerdem wird eine Abhängigkeit – gerade bei
Substanz oder einem bestimmten Verhalten empfindet, das er nicht       älteren Menschen – schwerer und oft erst sehr spät erkannt. Alko-
mehr steuern kann und von dem er beherrscht wird.“ Häufig wird         hol, Schmerzmittel oder Schlaftabletten werden häufig im Verbor-
dabei zuerst an Drogensucht gedacht, also an die Einnahme von          genen konsumiert, wichtige Anzeichen von anderen nicht selten
verbotenen Betäubungsmitteln. Am verbreitetsten ist allerdings die     vorschnell als alterstypisch abgetan. Ohne Hilfe und Unterstützung
Alkoholsucht. Dabei gibt es weit mehr Süchte: Neben den sub-           aber führen Suchtkrankheiten letztlich zum Verlust der Selbststän-
stanzbezogenen Süchten beispielsweise auch Glücksspielsucht,           digkeit, der persönlichen Freiheit, zu Folgeerkrankungen und zum
Internetsucht, Ess-Brechsucht und andere. Seit der Anerkennung         vorzeitigen Tod.
der Alkoholabhängigkeit als Krankheit durch das Bundessozialge-
richt im Jahr 1968 werden die Kosten für eine Behandlung über-         Ältere Menschen mit substanzbezogenen Problemen sind eine sehr
nommen. Eine Sucht ist immer eine große Belastung – für die Be-        heterogene Gruppe; sie unterscheiden sich nach:
troffenen, aber auch für ihre Angehörigen und alle, die mit ihnen zu
tun haben.                                                             t   Alter („Junge Alte“ – 55 bis 65 Jahre, „mittleres Alter“ – 65 bis
                                                                            75 Jahre, „hohes Alter“ – 75 bis 85/90 Jahre bis „hochbetagte“
In dieser Broschüre steht die Abhängigkeit älterer Menschen von             Menschen ab 85/90 Jahre)
den legalen substanzbezogenen Suchtmitteln Alkohol und Medika-         t   Lebenslage (noch berufstätig oder im Ruhestand, alleinlebend
mente im Mittelpunkt. Vieles trifft aber auch auf andere Sucht-             oder in Familie)
formen zu, selbst wenn sie nicht jedes Mal ausdrücklich erwähnt        t   Grad der gesundheitlichen Einschränkungen (ohne Einschrän-
sind.                                                                       kungen bis hin zur Pflegebedürftigkeit)
                                                                       t   Konsum- bzw. Störungsmuster (frühzeitig aufgetretene bzw.
Abhängigkeiten treten in jeder Altersgruppe auf – und sie haben in          spät eingetretene Abhängigkeit – „early“ oder „late onset“)
jeder Gruppe ihre Besonderheiten. Menschen, die älter werden,          t   Art des vorrangig konsumierten Suchtmittels
müssen mit vielem fertig werden: der Umstellung nach Ende der          t   geschlechtsspezifischen Aspekten
Erwerbstätigkeit, dem Verlust von Freunden, des Partners oder der      t   Grad der substanzbezogenen Störung (riskanter, schädlicher
Partnerin, einer zunehmenden Vereinsamung, chronischen Schmer-              bis zum abhängigen Konsum).
zen, körperlicher Schwäche oder auch dem wachsenden Bewusst-
sein der Endlichkeit des Lebens. Der Griff nach Alkohol oder auch      Die genannten Merkmale ergeben eine Vielzahl von Kombinations-
Medikamenten liegt dann mitunter nah; solche Mittel sind relativ       möglichkeiten. Das Alter ist also nur eines von vielen Charakteristi-
einfach erhältlich und gesellschaftlich weitestgehend akzeptiert.      ka, die bei der Ermittlung des Interventions- und Unterstützungsbe-
                                                                       darfs eine Rolle spielen. Bedacht werden muss auch, dass
                                                                       Suchtkranke oft vorzeitig altern – ihr Körper kann schon in jungen
                                                                       Jahren typische Alterssymptome aufweisen.
6 Teilhabe älterer suchtkranker Menschen – eine Handlungsorientierung

Häufigkeit

Die Zahl der Alkoholabhängigen in Deutschland wird auf ca. 1,8        onen (Ettrich & Fischer-Cyrulies 2005). Mit einer absoluten und re-
Mio. Menschen geschätzt, (bezogen auf die Altersgruppe der 18         lativen Zunahme alkoholbezogener Störungen ist daher zu rechnen
bis 64-Jährigen).1 Von den über 60-Jährigen sind etwa 400.000         (Schäufele 2009b).“7
von einer Alkoholabhängigkeit betroffen.2 Es gibt bis zu 1,9 Mio.
arzneimittelabhängige Menschen in Deutschland.3                       In der Hausarztstudie von Weyerer (2009) wird der Anteil jener, die
                                                                      riskant Alkohol konsumieren, bei den Männern mit 12,1 % angege-
Sowohl in Krankenhäusern als auch in Pflegeheimen gilt: Männer        ben, bei den Frauen mit 3,6 %. Bei den 75-79-Jährigen sind es
und jüngere Pflegebedürftige leiden eher an alkoholbezogenen Stö-     insgesamt 7,5 %; bei den 80-94-Jährigen 5,5 % und bei den über
rungen, Frauen und ältere Pflegebedürftige eher an medikamenten-      85-Jährigen immerhin noch 2,9 %.8 Auch in Altenpflegeheim muss
bezogenen Störungen. Man schätzt, dass bis zu 25 % der Pati-          bei zirka 10 % der Bewohner von einer Alkoholdiagnose ausgegan-
enten und Patientinnen in den inneren Abteilungen der                 gen werden.9
Allgemeinkrankenhäuser einen problematischen Suchtmittelkon-
sum pflegen.                                                          Medikamente

Ein Drittel der Menschen über 70 Jahre erhält Medikamente, die auf    Zu Medikamenten liegen folgende Häufigkeitsraten in der Alters-
die Psyche wirken. Dazu gehören Benzodiazepine, Neuroleptika,         gruppe der 60 bis 64 Jährigen vor:
Antidepressiva und Schmerzmittel.4 Die Häufung der Verordnung
von stark wirkenden Schmerzmitteln hat in den vergangenen Jah-        t   Schmerzmittel: Missbrauch 5,2 %, Abhängigkeit 2,6 %
ren deutlich zugenommen.5 Vermutet wird, dass ein großer Teil die-    t   Schlafmittel: Missbrauch 0,5 %, Abhängigkeit 0,2 %
ser Arzneimittel nicht mehr der ursprünglichen Ursachenbekämp-        t   Beruhigungsmittel: Missbrauch 0,6 %, Abhängigkeit 0,8 %.10
fung dienen, sondern zur Suchterhaltung und Vermeidung von
Entzugssymptomen eingesetzt wird.6                                    „Zwischen 8 % und 13 % der über 60-Jährigen weisen einen pro-
                                                                      blematischen Gebrauch psychoaktiver Medikamente bzw. von
Die folgenden Ergebnisse sind Näherungswerte, da sie aufgrund         Schmerzmitteln auf. Das entspricht einer absoluten Zahl von 1,7 bis
unterschiedlicher Erhebungsmuster nicht unmittelbar vergleichbar      2,8 Mio. Frauen und Männern in Deutschland.“11
sind:
                                                                      Etwa ein Viertel der über 75-jährigen Menschen wurde laut der Ber-
Alkohol                                                               liner Altersstudie mit Psychopharmaka behandelt.12

„Auch bei älteren Personen (65 Jahre und mehr) sind alkoholbezo-      Mehr als 55 % der Bewohner(innen) von Pflegeheimen erhalten ein
gene Störungen häufig (Breslow et al. 2003, Schäufele 2009a) und      zentral wirksames Medikament, über 15 % ein benzodiazepinhal-
können mit schweren somatischen und psychischen Störungen             tiges. Bedacht werden muss auch, dass viele ältere Patienten stän-
assoziiert sein. Sie werden aber seltener als bei Jüngeren erkannt    dig mehr als fünf Medikamente einnehmen – eine Menge, deren
und einer Behandlung zugeführt (Dar 2006, Royal College of Psy-       Wechselwirkungen auch für Ärzte kaum noch zu überblicken sind.
chiatrists 2011). Zugleich steigt die Zahl der älteren Menschen und
die jetzt ins Alter kommende Generation weist einen höheren
durchschnittlichen Alkoholkonsum auf als ihre Vorgängergenerati-
Teilhabe älterer suchtkranker Menschen – eine Handlungsorientierung 7

Nutzung von Einrichtungen der Suchthilfe

Sucht ist bis heute mit Scham verbunden, wird kleingeredet oder       behandelt. Vermittlungen an Fachstellen wie Suchtberatungen er-
geleugnet. Selbst wenn es deutliche Hinweise auf Abhängigkeiten       folgen in den seltensten Fällen.
gibt, wird ihnen oft nicht nachgegangen. Aus eigener Unsicherheit,
um die Betroffenen nicht zu belasten – aber auch, weil diese mitun-   In den Fachkliniken für Alkohol/Medikamente des Fachverbands
ter deutliche Zeichen senden, dass sie auf solche Problematik nicht   Sucht (FVS) liegt der Anteil der über 60-Jährigen bei ca. 8,7 %, bei
angesprochen werden möchten. So bleibt es oft sogar beim Vorlie-      ambulanter Entwöhnungsbehandlung bei 5,7 % und bei ganztägig
gen stark erhöhter Leberwerte bei Andeutungen und Empfehlungen        ambulanter Entwöhnung bei 8,7 % (nach Ergebnissen der Basisdo-
zur Verringerung des Konsums. Nur ein Bruchteil der Betroffenen       kumentation 2014 des FVS).13
wird wegen seiner oder ihrer Substanzmittelabhängigkeit adäquat

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8 Teilhabe älterer suchtkranker Menschen – eine Handlungsorientierung

Ein Recht auf Teilhabe?

Über den Begriff „Teilhabe“ wird seit Langem international und          Eine Frage ist dabei immer wieder zu stellen: Welche Unterstützung
deutschlandweit geforscht und diskutiert. Die UN-Behinderten-           ist gewollt? Denn das können nur die Betroffenen allein entschei-
rechtskonvention (UN-BRK) hat die entsprechenden Ansprüche für          den: „Nicht ohne uns über uns“, so der Grundsatz der Behinderten-
Menschen mit Behinderung in ihrem Regelwerk festgeschrieben             rechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK). Er bedeutet:
und konkrete Kriterien in einer internationalen Klassifikation, dem     Inklusion statt Integration. Nicht Menschen mit einer Behinderung
ICF (= „International Classification of Functioning, Disability and     müssen sich einer bestehenden gesellschaftlichen Ordnung anpas-
Health“), aufgestellt. Sie sollen die Herstellung bzw. Wiederherstel-   sen – die Gesellschaft selbst ist es, die sich verändern muss. Und
lung von Teilhabe und Teilhabefähigkeit garantieren. In der Bundes-     sie wird sich in dem Maße öffnen und toleranter werden, wie alle
republik wird das anerkannt, findet seine Entsprechung im Grund-        gleichberechtigt an ihr teilhaben.
gesetz und es gibt einen rechtlichen und inhaltlichen Rahmen. Mit
dem Bundesteilhabegesetz, das in mehreren Stufen ab dem                 Vor diesem Hintergrund kann Teilhabe heißen, einen Entzug zu un-
01.01.2017 in Kraft tritt, werden den Behörden Verfahren und In-        terstützen, immer wieder nach Wegen dafür zu suchen und das
strumente an die Hand gegeben, die die notwendigen individuellen        Gespräch nie aufzugeben. Mitunter aber kann es auch bedeuten,
Teilhabeleistungen im Kontext der UN-BRK sicherstellen. Für den         letztendlich zu akzeptieren, dass jemand mit seiner oder ihrer
Bereich der Leistungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit         Suchterkrankung leben möchte, dass Wille oder Kraft fehlt, daran
Behinderungen gilt ab 01.01.2020 die ICF als Instrument, um den         etwas zu ändern. Jeder Mensch hat das Recht, ein Leben seiner
individuellen Bedarf auf Teilhabeleistungen festzustellen (§ 118 SGB    Wahl zu führen – auch wenn er sich dabei schädigt. Teilhabe er-
IX in der ab 01.01.2020 gültigen Fassung - Art. 1 Teil 2 Kapitel 1-7    möglichen heißt dann, ihnen zu helfen, ein menschenwürdiges Da-
Bundesteilhabegesetz).                                                  sein zu leben – nach eigener Vorstellung.

Suchtkranke Menschen gehören laut WHO zu den Personen mit               Teilhabe kann vieles bedeuten: die Möglichkeit, im Park spazieren
einer psychischen, also seelischen, Behinderung. Dennoch wird für       zu gehen oder dort mit dem Rollstuhl zu fahren, alte Freunde zu
sie die Frage des Teilhaberechts bis heute nicht selten beiseitege-     treffen oder neue Kontakte zu knüpfen, in einer Gruppe zu singen
schoben. Noch immer ist von Angehörigen oder sogar Betreuen-            oder Skat zu spielen, Musik zu hören, die aktuelle Zeitung, Briefe
den zu hören, die Betreffenden seien selbst schuld und könnten an       oder auch die Wahlunterlagen vorgelesen zu bekommen. Für alle
ihrer Problematik schließlich leicht etwas ändern. Das Recht auf        Behinderungen gilt: Es sind die Umstände, die zum Ausschluss
Teilhabe aber gilt für jede und jeden – ohne Ausnahme. Unsere           führen, nicht die Behinderung selbst. Der klassische Leitsatz aus
Handlungsorientierung beschäftigt sich mit dem Recht älterer            der Behindertenbewegung „Wir sind nicht behindert, wir werden
suchtkranker Menschen, gleichberechtigt am Leben in der Gemein-         behindert!“ gilt bis heute und zeigt am besten, worauf es ankommt.
schaft teilzunehmen. Und sie versucht Wege und Möglichkeiten            Auch für Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung.
aufzuzeigen, wie Benachteiligungen entgegengewirkt werden kann
oder wie sie ganz vermieden werden können.

Teilhabe ermöglichen heißt zuallererst, suchtkranke ältere Men-
schen in ihrer Gesamtheit und in ihrer Vielfalt wahrzunehmen und
anzuerkennen. Wie leben sie und welche Vorstellungen vom Leben
haben sie? Was sind ihre Ziele und wie sind diese erreichbar? Kön-
nen sie Ihren Alltag allein gestalten? Benötigen sie Hilfe und wie
kann die geleistet werden?
Teilhabe älterer suchtkranker Menschen – eine Handlungsorientierung 9

Diakonie kommt vom altgriechischen Wort für „Dienst“. Gemeint ist der      die Not des Körpers zu lindern, wenn Geist und Seele darben. Christliche
Dienst am Menschen: Andere dabei zu unterstützen, selbstbestimmt ihren     Nächstenliebe meint, genau und vorurteilslos hinzuschauen und immer
Weg zu gehen – vom Anfang bis zum Ende ihres Lebens.                       wieder das Gespräch zu suchen. Auch dann, wenn es nahezu unmöglich
                                                                           scheint, wenn es immer wieder abbricht oder zu versiegen droht.
Die Betonung liegt auf selbstbestimmt: Nicht die Helfer entscheiden, wie
ihre Hilfe auszusehen hat, sondern sie suchen gemeinsam mit jenen, die     Dazu gehört auch, über die Folgen von Suchtmittelkonsum bzw. -miss-
Hilfe benötigen, nach Wegen und Perspektiven.                              brauch zu informieren, Wege aus der Abhängigkeit oder Möglichkeiten
                                                                           des Umgangs mit ihr aufzuzeigen oder auch stellvertretend einzugreifen,
Möglich ist dies nur mit der Grundhaltung, jeden Einzelnen in seiner Ge-   wenn Eigen- bzw. Fremdgefährdung droht.
samtheit wahrzunehmen – also Körper, Geist und Seele. Es reicht nicht,
10 Teilhabe älterer suchtkranker Menschen – eine Handlungsorientierung

Gesetzliche Grundlagen der Teilhabeleistungen

Nach dem Gesetz sind Abhängigkeitserkrankungen den seelischen          Welchen Umfang diese Leistungen haben können, beschreibt Pa-
Störungen zugeordnet. Für sie gilt das Gleiche wie für andere Be-      ragraf 5 SGB IX15:
hinderungen. Geregelt ist dieses Recht überwiegend im Teil 1 des
Sozialgesetzbuches (SGB) IX. Vor dem Hintergrund der UN-BRK            „Zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden erbracht
wird das Teilhabe- und Eingliederungshilferecht ab 2017 neu gere-      1. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation,
gelt. Das neue Teilhaberecht, das wesentliche Inhalte der UN-BRK,      2. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben,
wie z. B. den neuen Behinderungsbegriff, aufnimmt, regelt das re-      3. unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen,
formierte SGB IX, Teil 1. Es gilt ab 01.01.2018. Diese Vorgaben        4. Leistungen zur Teilhabe an Bildung und
gelten für alle Rehabilitationsträger im Sozialrecht. Allgemein wird   5. Leistungen zur sozialen Teilhabe.“
Behinderung im neuen SGB IX in § 2 wie folgt definiert: „Menschen
mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, gei-      Die Reihenfolge dieser Aufzählung ist nicht zufällig, sondern drückt
stige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwir-      aus, welche Leistungen Vorrang haben. Zunächst sollen alle Mög-
kung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der            lichkeiten zur Besserung und Stabilisierung des Gesundheitszu-
gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahr-        standes ausgeschöpft werden, da sie die Grundlage für alle weite-
scheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können“.                ren Schritte legen. Sind die Betreffenden noch nicht in Rente, muss
                                                                       auch überlegt werden, unter welchen Voraussetzungen sie berufs-
Teilhabeleistungen im Sozialrecht                                      tätig sein können. In diesen Fällen ist die gesetzliche Rentenversi-
                                                                       cherung für eine medizinische Rehabilitation zuständig. Generell
Voraussetzung für viele Hilfsmöglichkeiten ist eine Anerkennung        gilt, dass erst alle anderen Leistungsmöglichkeiten ausgeschöpft
und Einordnung der Suchtkrankheit. Dabei wird als Klassifikation       werden müssen, beispielsweise auch mögliche Unterhaltsrechte,
der Weltgesundheitsorganisation die ICF zugrunde gelegt. Sie dient     bevor der Sozialhilfeträger einspringt.16
länderübergreifend zur Beschreibung des funktionalen Gesund-
heitszustandes, der Behinderung, der damit verbundenen sozialen        Leistungen der Eingliederungshilfe
Beeinträchtigung und der relevanten Umgebungsfaktoren eines
Menschen. So können alle Aspekte von Krankheitsfolgen systema-         Von besonderer Bedeutung innerhalb der Sozialhilfeleistungen ist
tisch erfasst werden und es möglich machen, wesentliche Ein-           die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen. Sie ist im SGB XII
schränkungen der Teilhabefähigkeit als Folge seelischer Behinde-       geregelt. Leistungen der Eingliederungshilfe sollen Menschen mit
rungen zu diagnostizieren.                                             einer körperlichen, geistigen und/oder seelischen Behinderung da-
                                                                       bei unterstützen, ihre vorhandenen Ressourcen zu nutzen und be-
Leistungen zur Teilhabe können aus sehr unterschiedlichen Finan-       hinderungsbedingte Nachteile bestmöglich auszugleichen bzw.
zierungsquellen kommen. Oft ergänzen sie einander. Letztendlich        abzumildern, damit sie ein weitestgehend selbstbestimmtes Leben
hängt es vom jeweiligen Krankheitsbild ab, wann die Krankenkasse       führen können. Die Leistungen orientieren sich an den Bedürfnissen
einspringt, was gegebenenfalls die Pflegeversicherung zahlt, die       und Wünschen der Betroffenen. Dabei geht es nicht nur um (Wie-
Rentenversicherung oder eventuell auch der Sozialhilfeträger.          der-)Eingliederung ins Arbeitsleben, sondern auch in ein Leben in
Wichtig ist, dass sich diese Träger abstimmen und an einem Strang      der Gesellschaft und den Aufbau und die Gestaltung sozialer Bezie-
ziehen: Gemeinsam sicherzustellen, dass Teilhabe möglich ist!          hungen. Um das zu erreichen, sind oft vielfältige Hilfen aus unter-
                                                                       schiedlichsten Bereichen – Medizin, Psychologie, Sozialarbeit – nö-
                                                                       tig. Die Leistungen der Eingliederungshilfe werden ab dem
Teilhabe älterer suchtkranker Menschen – eine Handlungsorientierung 11

01.01.2020 im SGB IX, Teil 2 Kapitel 1-7 neu geregelt werden und          Art und Höhe der Leistungen der Pflegeversicherung korrespondie-
stellen ein eigenständiges Leistungsrecht innerhalb des SGB IX dar.       ren mit der Schwere der Pflegebedürftigkeit, die in fünf Pflege-
                                                                          graden festgelegt wird.19 Während lange Zeit vorwiegend körper-
Persönliches Budget nach § 17 Abs. 1 SGB IX                               liche Defizite im Mittelpunkt des Pflegebegriffs standen, werden
                                                                          inzwischen zunehmend auch psychische Probleme sowie Bela-
In der Regel erhalten Menschen mit Beeinträchtigungen Sach- oder          stungen bei der Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kon-
Dienstleistungen in den Bereichen Wohnen, Freizeit, Mobilität,            takte berücksichtigt.20 Pflege soll nicht nur kompensieren, sondern
Krankenhilfe, Rehabilitation und Hilfe zur Arbeit. Solche Hilfebedar-     vorhandene Ressourcen erkennen, aktivieren und so gesellschaft-
fe können aber auch über das persönliche Budget bewilligt werden.         liche Teilhabe ermöglichen. Dazu gehören also nicht nur reine Pfle-
Das persönliche Budget besteht üblicherweise aus regelmäßigen             getätigkeiten, sondern auch die Anleitung, Schulung und Beratung
Geldleistungen, die es Menschen mit Behinderungen ermöglichen             von Pflegebedürftigen sowie ihrer Angehörigen und selbstverständ-
sollen, notwendige Unterstützungsleistungen wie Dienstleistungen,         lich auch Maßnahmen zur Vorbeugung und Rehabilitation.21
Assistenzen u. a. selbst zu organisieren und zu bezahlen. Das per-
sönliche Budget ermöglicht also mehr Autonomie. Es setzt aller-           Je nach Umfang des allgemeinen Betreuungsbedarfs haben An-
dings auch voraus, dass die Budgetnutzer (mit Unterstützung ihrer         spruchsberechtigte in der eigenen Häuslichkeit die Möglichkeit, zu-
Betreuer) in der Lage sind, auf die Ausgestaltung der Leistung Ein-       sätzliche pauschale Betreuungs- und Entlastungsleistungen in An-
fluss zu nehmen und ihre Funktion als Käufer oder sogar Arbeitge-         spruch zu nehmen.22 Diese sollen dazu beitragen, die Infrastruktur
ber auszuüben.                                                            und damit das notwendige Angebot für die Anspruchsberechtigten
                                                                          sowie deren pflegende Angehörige zu verbessern (z. B. Tages- und
Grundlagen im Pflegeversicherungsrecht                                    Kurzzeitpflege, Anleitung und Betreuung, Angebote der hauswirt-
                                                                          schaftlichen Versorgung, niedrigschwellige Betreuungs- und Entla-
Die wichtigste gesetzliche Grundlage der offenen, ambulanten und          stungsangebote).
stationären Altenhilfe bilden die Regelungen der sozialen Pflegever-
sicherung im SGB XI. Im Bereich der häuslichen Krankenpflege              Auch Pflegebedürftige in stationären Pflegeeinrichtungen haben zu-
kommen außerdem Leistungen der gesetzlichen Krankenversiche-              sätzlich Anspruch auf entsprechende Betreuung und Aktivierung.
rung im SGB V zum Tragen.17                                               Dafür erhalten die Einrichtungen entsprechende Zuschläge. Ziel ist
                                                                          eine sogenannte Präsenzstruktur. Das bedeutet, dass mindestens
Voraussetzung, um Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversi-            eine feste Betreuungskraft im jeweiligen Wohnbereich den größten
cherung zu erhalten, ist das Vorliegen von Pflegebedürftigkeit. Der       Teil des Tages verbringt. Sie soll auch einer drohenden sozialen Iso-
Begriff der Pflegebedürftigkeit wird in § 14 SGB XI definiert: „Pflege-   lation entgegenwirken und soziale Teilhabe am Leben in Gemein-
bedürftig (…) sind Personen, die Beeinträchtigungen der Selbst-           schaft ermöglichen.
ständigkeit oder Fähigkeitsstörungen aufweisen und deshalb der
Hilfe durch andere bedürfen. Es muss sich um Personen handeln,
die körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder
gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht
selbstständig kompensieren oder bewältigen können. Die Pflege-
bedürftigkeit muss auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs
Monate (…) bestehen.“18
12 Teilhabe älterer suchtkranker Menschen – eine Handlungsorientierung

Früherkennung, Diagnostik und Betreuung

Symptome für eine mögliche Suchterkrankung                               t   Elternhaus und Kindheit
                                                                         t   Einschneidende/traumatisierende Erlebnisse
Gerade im Alter wird Sucht oft spät oder gar nicht erkannt. Das liegt    t   Berufsleben
nicht nur am häufigen Verdrängen und Wegschauen, sondern auch            t   Familie und Kinder
daran, dass viele Anzeichen als „alterstypisch“ fehlinterpretiert oder   t   Freizeitaktivitäten
auch abgetan werden. Je eher aber eine Krankheit erkannt wird,           t   Beziehungen heute
umso größer sind die Chancen ihrer Behandlung. Deshalb ist es            t   Gesundheit
wichtig, solche Hinweise zu kennen und darauf zu achten. Allge-          t   Alltagsbewältigung u. v. m.
mein gehören dazu:
                                                                         Oft lassen sich bei solchen Gesprächen auch erste Anzeichen einer
t   Ein unsicherer Gang und häufige Stürze                              Abhängigkeit entdecken, denen dann nachgegangen werden kann.
t   Antriebs- und Interessenlosigkeit                                   Sollte eine Suchtkrankheit bereits bekannt sein, ist es wichtig, zu
t   Ängste bis hin zu Depressionen                                      erfahren, ob ein besonderes Ereignis der Auslöser dafür war oder
t   Zittern und Schwindel                                               ob sich die Abhängigkeit über Jahre immer stärker aufgebaut hat.
t   Stimmungsschwankungen, Gereiztheit, Aggressivität
t   Konzentrationsprobleme                                              Diagnostik
t   Verwirrtheit
t   Schlafstörungen                                                     Selbstverständlich können viele der oben aufgelisteten Symptome
t   Hautveränderungen                                                   völlig andere Ursachen haben. Kommen aber mehrere zusammen,
t   Vernachlässigung der Körperhygiene                                  sollte über die Möglichkeit einer Suchterkrankung nachgedacht
t   Gewichtsverlust                                                     werden. Eine genauere Diagnostik ist nur durch mündliche und/
                                                                         oder schriftliche Befragungen möglich. Deshalb ist es nötig, immer
Oft sind es Laborwerte, die erste Auffälligkeiten zeigen. Ein Ver-       wieder das Gespräch mit den Betroffenen zu suchen. Für viele ist
gleich der Parameter Gammaglutamyltransferase (gGT), Transmia-           es sogar erleichternd, wenn sie auf das unangenehme Thema
sen (ALAT, ASAT), mittleres Erythrozyten-Zellvolumen (MCV) und           „Suchtmittelkonsum“ angesprochen werden. Allerdings sollten un-
„carbohydrate deficient transferin“ (CDT) erlaubt Rückschlüsse auf       nötige Konfrontationen („Beweise“) und vor allem Schuldzuwei-
Alkoholkonsum und Alkoholabhängigkeit.                                   sungen vermieden werden.23

Eine erste und wichtige Chance, mögliche Gefährdungen zu erken-          Solch ein Gespräch kann offen geführt werden, oft aber ist es sinn-
nen, bietet das Aufnahmegespräch – sowohl in der ambulanten als          voll, auf vorgegebene Fragebögen zurückzugreifen. Zu den stan-
auch in der stationären Pflege. Hier wird nicht nur die genaue Medi-     dardisierten Verfahren für ältere Menschen gehört das Screening-
kamenteneinnahme erfasst, es ist auch unproblematisch möglich,           Instrument SMAST-G. Dieser Fragebogen erlaubt zwar keine
sich zu erkundigen, wie oft und wie viel Alkohol getrunken wird.         abschließende Diagnostik, er liefert aber wichtige Hinweise auf ein
Mindestens genauso wichtig ist das Erfragen biografischer Daten.         eventuelles Vorliegen einer Suchtproblematik, die dann weiter ab-
Und dies ist nicht einfach „tabellarisch“ zu verstehen – entschei-       geklärt werden müssen.24
dend ist, wie das Leben dieses einen besonderen Menschen bisher
verlaufen ist:
Teilhabe älterer suchtkranker Menschen – eine Handlungsorientierung 13

Die Weltgesundheitsorganisation WHO beschreibt für Abhängig-           Umgang mit einem erkannten Missbrauch oder einer
keitserkrankungen drei Kernsymptome:                                   Abhängigkeit

t   Dosissteigerung                                                   Ist eine Abhängigkeit oder auch ein Missbrauch erkannt, ist es
t   Entzugssymptomatik (psychisch und/oder psychisch)                 wichtig, das Vertrauen der Betroffenen zu gewinnen und Zugang zu
t   Kontrollverlust                                                   ihnen zu finden. Ohne ihre Mitwirkung geht gar nichts – und gegen
                                                                       ihren Willen darf nichts unternommen werden. Ein Problem, das
Nach dem auch in Deutschland gebräuchlichen Diagnoseklassifika-        Pflegekräfte, aber auch Ärzte oft in schwer lösbare Konflikte stürzt:
tionssystem ICD-10 („International Statistical Classification of Di-   Wie bringe ich meine Pflicht zur Fürsorge mit der Autonomie des zu
seases“) wird zwischen schädlichem Gebrauch von Suchtmitteln           Pflegenden in Einklang? Was kann und soll ich tun, wenn er oder
(Missbrauch) und einem Abhängigkeitssyndrom unterschieden.             sie keine Hilfe möchte, sich aber durch den Suchtmittelkonsum im-
                                                                       mer mehr schädigt?
Der schädliche Gebrauch erfordert eine tatsächliche Schädigung
der psychischen oder physischen Gesundheit. Negative soziale           Rechtlich ist die Sache klar: Jeder Mensch hat das Recht, ein Le-
Folgen allein rechtfertigen solche Diagnosen noch nicht. Aber auch     ben seiner Wahl zu führen. Betreuende haben die Pflicht, alle nur
in solchen Fällen kann die Bindung an eine Substanz stark sein und     möglichen Hilfsangebote zu unterbreiten, zu verhindern, dass die
einer therapeutischen Intervention bedürfen.                           Betreffenden andere oder auch sich selbst lebensbedrohlich ge-
                                                                       fährden (beispielsweise durch Teilnahme am Straßenverkehr) und
Das Abhängigkeitssyndrom wird bei Alkohol oder auch Medika-            sie gut und sicher zu versorgen.
menten anhand von sechs Kriterien definiert, von denen drei inner-
halb des zurückliegenden Jahres erfüllt gewesen sein müssen:25         Selbstverständlich gilt auch in diesen Fällen die Schweigepflicht. Es
                                                                       ist aber durchaus möglich, Probleme bei den Beratungsstellen der
t   Starker Wunsch und/oder Zwang, den Wirkstoff zu                   Suchthilfe anonymisiert zu schildern und entsprechenden Rat
     konsumieren                                                       einzuholen. Oft ist so nach und nach auch der direkte Weg in die
t   Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns,              Beratung möglich.
     der Menge und/oder der Einnahme
t   Körperliche Entzugssymptome, wenn die Substanz                    Besteht der Verdacht einer Abhängigkeit von verschriebenen Medi-
     reduziert wird                                                    kamenten, führt der erste Weg zu den jeweiligen Ärzten. Diese wis-
t   Toleranzentwicklung (Wirkverlust) bzw. Dosissteigerung            sen mitunter nicht einmal, dass sich die Wirkung der von ihnen ver-
t   Erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen               schriebenen Medikamente mit anderen potenziert hat oder dass
     oder sich von den Folgen des Konsums zu                           ähnliche Medikamente von unterschiedlichen Ärzten verschrieben
     erholen,Vernachlässigung anderer Interessen                       werden. Keinesfalls dürfen Medikamente eigenmächtig abgesetzt
t   Fortgesetzter Konsum trotz Wissen um die Folgeschäden             werden. Das kann zu gesundheitlichen Störungen, aber auch zu
                                                                       massiven Entzugserscheinungen führen.
14 Teilhabe älterer suchtkranker Menschen – eine Handlungsorientierung

Wird Sucht im Alter erstmalig diagnostiziert, handelt es sich mei-      Je älter ein Mensch ist und je länger die Krankheit andauert, umso
stens um Personen, die bisher unauffällig gelebt haben und erst im      schwieriger ist auch die Behandlung. Ein abgestuftes Vorgehen
höheren Alter Symptome entwickeln (sogenannter „late onset“). Für       („stepped care“) ist ratsam.
sie gilt wie für jeden anderen: Je eher die Gefährdung erkannt wird,
umso besser sind die Heilungschancen! Vielen Betroffenen ist be-        Dazu gehört:
wusst, wie sehr ihre Abhängigkeit sie hindert oder es zumindest         t Zugang und Vertrauen der Betroffenen gewinnen und halten
erschwert, Beziehungen zu leben und Freudvolles zu erleben. Des-        t Lebensbedrohliche Einflüsse abwenden
halb ist es so wichtig, das Gespräch zu suchen, Hilfsangebote zu        t Grundbedürfnisse wie Ernährung, Pflege, Milieu
unterbreiten und gemeinsam Auswege zu finden. Suchtmittel kön-             und Umfeld sichern
nen durch eine gesteigerte Lebensqualität ersetzt werden – eine         t Zugang zur Pflegeversicherung und ggf. auch zu einer
Tatsache, die immer wieder ins Bewusstsein gerufen werden sollte.          gesetzlichen Betreuung herstellen
                                                                        t Unterstützung, um den Suchtmittelkonsum zu stabilisieren,
Menschen, die bereits seit vielen Jahren abhängig sind, hatten in          zu verringern oder zu beenden
der Regel bereits in irgendeiner Form Kontakt mit der Sozialmedizin     t Folgeerkrankungen in den Blick nehmen
oder der Suchthilfe (sogenannter „early onset“). Oft sind sie „vorge-   t Pflegerische Strategien mit der Suchthilfe vernetzen
altert“, für sie ist der Weg aus der Abhängigkeit weit schwieriger.     t Integration von Angehörigen und anderen sozialen Netzwerken
Minimalziel kann dann eine Suchtmittelreduktion sein, um weitere
Folgeschäden zu vermeiden oder zumindest zu verringern. Der Ab-         Selbstverständlich stehen die vorhandenen Behandlungsmöglich-
schluss einer „partnerschaftlichen Vereinbarung“ ist dafür ein gang-    keiten auch älteren Suchtranken offen. Das Suchthilfesystem ist
barer Weg.                                                              sehr vielfältig. Dazu gehören Kurzinterventionen (kurze, zielgerich-
                                                                        tete Gespräche), eine stationäre Entgiftung, aber auch die ambu-
In jedem Fall aber geht es darum, ihr Alltagsleben und ihre soziale     lante oder stationäre Rehabilitation in Kliniken. Wer all dies nicht will
Teilhabe abzusichern. Entscheidend ist, dass sich alle Unterstütze-     oder nach einem Entzug weiter Hilfe von anderen Betroffenen
rinnen und Unterstützer absprechen und an einem Strang ziehen,          möchte, kann eine der vielen anonymen Selbsthilfegruppen besu-
seien es Ärzte, Pflegekräfte, rechtliche Betreuer und/oder Mitarbei-    chen, wenn das körperlich machbar ist. Wichtig ist, mögliche Hilfs-
tende in der Suchthilfe. Wenn irgend möglich, sollten auch Angehö-      angebote zu zeigen und die Betroffenen dabei zu unterstützen, den
rige und Freunde einbezogen werden. Allerdings muss dabei auch          Weg dorthin zu finden.
bedacht werden, dass sie sich co-abhängig verhalten könnten.
Teilhabe älterer suchtkranker Menschen – eine Handlungsorientierung 15

ICF-konforme Ziele zur Herstellung/Wiederherstellung
von Teilhabe und Teilhabefähigkeiten26

Bereich „Körperfunktionen/ Körperstrukturen“:                     Bereich „Aktivitäten und Teilhabe“:
tAbmildern der Entzugssymptomatik                                tÜberprüfung der Kommunikationsfähigkeit und
tAufbau der Motivation für eine Behandlung – Umwandlung der        Kommunikationsbereitschaft
  zunächst überwiegend externalen Motivation in Eigeninitiative   tEinüben einer „normalen“ Tagesstruktur
tEntwicklung von Problembewusstsein und Erreichen einer          tFörderung einer realitätsgerechten Selbsteinschätzung
  emotionalen Akzeptanz der Abhängigkeitserkrankung                 durch das Erfahren und Aufzeigen vorhandener Fähigkeiten
tAufbau der Motivation für eine abstinente Lebensführung         tDefizite bearbeiten
tErreichen von Abstinenz, Erkennen und Bewältigung von           tKompensatorische Fertigkeiten entwickeln
  Risikofaktoren                                                  tStabilisierung stützender und Halt gebender sozialer
tBehebung körperlicher Störungen und Besserung der                 Kontakte durch das Einbeziehen von Angehörigen
  körperlichen Fitness                                            tKritische Auseinandersetzung mit dem bisherigen
tFörderung von gesundheitsgerechtem Verhalten                      Umfeld und Entscheidung zur Ablösung unterstützen
tAuseinandersetzung mit psychischen Folgen des                   tFörderung von Kompetenzen im Bereich der
  Suchtmittelkonsums                                                Selbstversorgung/Selbstverantwortung
tVerbesserung von Aufmerksamkeit, Konzentration                  tFörderung einer aktiven und gesundheitsfördernden
  und Merkfähigkeit                                                 Freizeitgestaltung
tStärkung der emotionalen Stabilität, Stärkung des               tSinnfindung – Auseinandersetzung mit Lebenszielen
  Selbstwertgefühls, Förderung von Selbstwirksamkeit              tUnterstützung bei der Regulierung finanzieller Probleme
  und Selbstgewissheit
16 Teilhabe älterer suchtkranker Menschen – eine Handlungsorientierung

Ein breit gefächertes Hilfesystem

Viele Arbeitsbereiche der Sucht- und Altenhilfe – ob haupt- oder     Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl weiterer Beratungsdienste, die
ehrenamtlich, ob in der Beratung, ambulant oder stationär wirkend    begleitend tätig werden können oder im umgekehrten Fall an die
– verfügen über ein enormes Wissen und reichhaltige Erfahrungen.     Suchthilfe vermitteln. Dazu gehören beispielsweise Schuldnerbera-
Dazu kommt ein breit gefächertes Hilfesystem – egal ob die Sucht-    tungsstellen, Migrationsfachberatungen u. a.
problematik im Vordergrund steht oder nur als Nebendiagnose –
beispielsweise bei einer psychischen Primärerkrankung – auftritt.    Psychiatrische Kliniken oder Allgemeinkrankenhäuser: Häu-
Es ist wichtig, sich dieses Hilfesystem immer wieder zu vergegen-    fig gelangen Patienten mit einer akuten Suchtproblematik zunächst
wärtigen und den jeweils passenden Zugang dazu zu suchen.            in den klinischen Entzug – erst dann schließen sich weitere Schritte
                                                                     an. Kostenträger dieser Entgiftungsbehandlung ist die gesetzliche
Zugangswege                                                          Krankenversicherung. Aber auch bei einer Krankenhausaufnahme
                                                                     wegen anderer Ursachen – nach Stürzen, Schlafstörungen,
Niedergelassene Ärzte: Ein wichtiger Zugangsweg zu älteren           Schmerzen oder anderer Erkrankungen – ergibt sich oft die Mög-
suchtkranken Menschen sind niedergelassene Ärzte, hier beson-        lichkeit, Suchtproblematiken zu erkennen und Behandlungsvor-
ders Hausärzte. Voraussetzung ist, dass sie wissen, welche Medi-     schläge zu erarbeiten.
kamente in welcher Menge verordnet wurden und dass sie Anzei-
chen von Suchtkrankheiten bemerken und darauf eingehen. Dazu         Psychiatrische Institutsambulanzen: In psychiatrischen Institut-
gehört auch der Einsatz von Screening-Methoden, um so rechtzei-      sambulanzen werden Patienten behandelt, die wegen Art, Schwere
tig wie möglich Gefahren zu erkennen.                                oder Dauer ihrer psychischen Erkrankung eine besonders intensive
                                                                     und komplexe Therapie benötigen, aber nicht im Krankenhaus the-
Pflegekräfte: Pflegekräfte arbeiten eng mit den Betroffenen zu-      rapiert werden müssen oder wollen. Eine bestehende Suchtproble-
sammen und können früh Veränderungen in Verhaltensweisen oder        matik wird hier erfasst und behandelt bzw. in die Suchthilfe überge-
gesundheitliche Probleme erkennen. Sie haben meist einen inten-      leitet.
siveren Kontakt zu den betroffenen Personen als Ärzte oder sogar
Angehörige. Umso wichtiger ist es, dass sie Anzeichen einer          Einrichtungen der ambulanten und stationären medizi-
Suchterkrankung erkennen und dann im Team mit Leitung, Ärzten        nischen Rehabilitation: Sie wenden sich zwar in erster Linie an
und Angehörigen beraten, wie mit der Situation umgegangen wird       Berufstätige, können aber auch die Wiederherstellung der Gesund-
und welche Maßnahmen sinnvoll sind. Dabei ist es wichtig, dass       heit bzw. die Abwendung einer Behinderung oder Pflegebedürftig-
alle gemeinsam an einem Strang ziehen und ein Fallmanagement         keit zum Ziel haben. In diesen Fällen ist statt der Rentenversiche-
(„Case Management“) entwickeln.                                      rung die gesetzliche Krankenversicherung Träger der Behandlung.

Beratungsstellen: Suchtberatungsstellen wenden sich an alle          Einrichtungen und Dienste der Eingliederungshilfe: Leistun-
Personen, die mit dem Thema Sucht in Kontakt kommen. Hier fin-       gen der Eingliederungshilfe sollen Menschen mit einer körperlichen,
den also nicht nur die Betroffenen Rat und Hilfe, sondern auch An-   geistigen und/oder seelischen Behinderung dabei unterstützen,
gehörige, Pflegekräfte, Sozialarbeiter und andere. Finanziert wird   ihre vorhandenen Ressourcen zu nutzen und behinderungsbe-
die ambulante Suchtberatung in der Regel durch freiwillige Zuwen-    dingte Nachteile bestmöglich auszugleichen bzw. abzumildern.
dungen aus dem Landes- oder Kommunalhaushalt.                        Dazu gehört auch eine (Wieder-)Eingliederung ins gesellschaftliche
                                                                     Leben und der Aufbau sozialer Beziehungen. Um das zu erreichen,
                                                                     sind Hilfen aus unterschiedlichsten Bereichen – Medizin, Psycholo-
                                                                     gie, Sozialarbeit – möglich.
Teilhabe älterer suchtkranker Menschen – eine Handlungsorientierung 17

Selbsthilfe: Die Sucht-Selbsthilfe ist eine feste Säule des Suchthil-    einen möglichst niedrigschwelligen Zugang in passende Versor-
fesystems. In diesen Gruppen wird jeder so akzeptiert, wie er oder       gungsstrukturen zu schaffen. Dies ist eine Zusammenarbeit, die in
sie ist, die Betroffenen können sich untereinander austauschen und       einigen Regionen bereits sehr gut funktioniert – in anderen muss sie
unterstützen. Solche lokalen Gruppen sind in der Regel gut mit Ein-      dringend weiter ausgebaut werden.
richtungen und Angeboten der Suchthilfe vernetzt, stellen sich bei-
spielsweise in Kliniken vor und bieten Hilfe an. Häufig wird eine sta-   Persönliches Umfeld: Oft wird es als selbstverständlich voraus-
tionäre oder ambulante Therapie von Besuchen in Selbsthilfegruppen       gesetzt oder gar nicht weiter beachtet – dabei ist die Mithilfe von
begleitet.                                                               nahestehenden Menschen oft genug die Grundvoraussetzung da-
                                                                         für, dass andere Maßnahmen überhaupt angenommen und umge-
Sozialpsychiatrische Dienste: Hier finden psychisch und geron-           setzt werden. Dazu gehören Angehörige, Nachbarn, Freunde, aber
topsychiatrisch erkrankte Menschen und Suchtkranke Beratung              auch Ehrenamtliche, Freizeitgruppen, Kirchengemeinden, Wohnge-
und Hilfe. Auch Angehörige, Bekannte, Arbeitskollegen und                bietstreffpunkte und vieles mehr. Gerade im Alter sind Einsamkeit
Freunde können sich an diese – in der Regel den Gesundheits-             oder Überforderung häufige Ursachen für eine Suchtproblematik.
ämtern angegliederten – Dienste wenden.                                  Viele ehrenamtlich engagierte Menschen setzen beispielsweise
                                                                         durch Besuchsdienste oder Veranstaltungen der Vereinsamung et-
Allgemeine Sozialberatung bzw. Allgemeiner Sozialdienst:                 was entgegen.
Die Bezeichnung kann je nach Ort unterschiedlich sein – gemeint ist
ein umfangreiches Beratungsangebot für verschiedenste Lebens-            Kooperation und Vernetzung
probleme. Oft finden Menschen auf diesem Weg Kontakt zum ört-
lichen Hilfesystem. Andererseits kann er auch unterstützend und          Bereits heute existiert also ein breit gefächertes Netz, das je nach
vermittelnd tätig werden, wenn es zusätzliche Probleme gibt, bei-        Region dichter oder weniger dicht geknüpft ist. Damit es das Ziel
spielsweise Schulden oder Wohnungslosigkeit.                             – die Teilhabe älterer suchtkranker Menschen – erfüllen kann, muss
                                                                         es diese überhaupt erst einmal erreichen. Voraussetzung dafür ist,
Rechtliche Betreuung: Rechtliche Betreuer werden eingesetzt,             dass Grundkenntnisse zum Thema Sucht überall vorhanden sind
wenn Menschen bestimmte Bereiche ihres Lebens nicht mehr allein          und diese interdisziplinär ausgetauscht werden. Dazu gehört die
regeln können. Solche Betreuer erhalten die Vertretungsvollmacht         Bildung einer gemeinsamen Steuerungsgruppe aus Altenhilfe und
nach außen, sind aber verpflichtet, den Willen des Betreuten zu          Suchthilfe, die dann Koordinations- und Vernetzungsaufgaben vor
achten. Sie können Zugang in das Suchthilfesystem vermitteln,            Ort übernimmt. Zu ihren Partnern gehören zuallererst Organisati-
sind aber auch ein Rettungsanker, wenn Menschen ihre Alltag-             onen und Mitarbeitende der stationären, teilstationären und ambu-
sangelegenheiten nicht mehr in den Griff bekommen. Beantragt             lanten Altenhilfe sowie der Suchtberatungsstellen und die Mitarbei-
werden muss dies von den Betroffenen selbst. Aber auch Ärzte,            tenden der Selbsthilfe und der Eingliederungshilfe. Zum erweiterten
Angehörige oder Freunde können eine solche Betreuung anre-               Kreis zählen Vertreterinnen und Vertreter des akutmedizinischen
gen – entscheiden muss das zuständige Amtsgericht.                       Versorgungssystems, gesetzliche Betreuerinnen und Betreuer,
                                                                         Partner aus sozialpsychiatrischen Verbünden, Quartiers- und
Kommunale Hilfenetzwerke: Viele Sozialstationen, Hausärzte,              Stadtteilmanager, öffentliche Körperschaften und Behörden wie
Pflegeeinrichtungen, Suchtberatungsstellen und Ehrenamtliche ar-         Gesundheitsämter und Sozialhilfeträger.
beiten eng zusammen und bilden so ein wichtiges Netz, dass die
Betroffenen auffangen und halten soll. Einbezogen werden auch
Selbsthilfegruppen, die offene Altenhilfe und Behörden. Ziel ist es,
18 Teilhabe älterer suchtkranker Menschen – eine Handlungsorientierung

Qualifizierung

Um die Teilhabemöglichkeiten für suchtkranke ältere Menschen zu            fahrungsaustausch zu treten und Netzwerkpartner zu gewinnen.
verbessern, braucht es entsprechend qualifizierte Mitarbeiterinnen         Wichtig ist, auf eine Ausgewogenheit der Themen zu achten, damit
und Mitarbeiter, die in der Lage sind, individuell auf die Situation der   alle profitieren und Wissenszuwachs erzielen. Beispielsweise er-
Betroffenen zu reagieren, Risiken für ein Abgleiten in ein Suchtver-       warten Mitarbeitende aus der Suchthilfe eher Erkenntnisse zu pfle-
halten zu erkennen sowie mögliche Folgeschäden zu mildern bzw.             gerischen Handlungen und biografischen Zugängen zum Alter. Mit-
abzuwenden. Zwar ist das Thema „Sucht“ bereits heute ein Be-               arbeitende aus der Altenpflege erhoffen sich erfahrungsgemäß oft
standteil in der Altenpflegeausbildung, dies jedoch in regional sehr       Unterstützung bei konkreten Fragestellungen im Umgang mit
unterschiedlichem zeitlichem Umfang und mit unterschiedlicher in-          „schwierigen“ (das heißt suchtmittelauffälligen) Betreuten sowie
haltlicher Ausrichtung. Das neue Pflegeberufegesetz und die über-          konkrete Handlungsanleitungen, die z. B. in standardisierter Form
greifende Pflegeausbildung bieten eine Chance, die zukünftigen             in Pflegedokumentationen einfließen können.
Pflegefachkräfte schon während der Ausbildung in ihren suchtspe-
zifischen Kompetenzen zu stärken.                                          Aufbauschulungen bzw. weiterführende Qualifizierung von
                                                                           Fachkräften der Sucht- und Altenhilfe: In vielen Bundesmodell-
Schon jetzt aber braucht es in stationären Pflegeeinrichtungen und         projekten der vergangenen Jahre wurden Aufbauschulungen für die
ambulanten Pflegediensten fachliche Standards zum Umgang mit               Fachkräfte der Alten- und Suchthilfe angeboten mit dem Ziel, das
suchtkranken älteren Menschen. Dazu gehört beispielsweise eine             erworbene Basiswissen zu vertiefen und nutzbar zu machen. Einige
Konzeption für Interventionsgespräche oder die Nutzung von Stra-           Modellprojekte favorisierten die Ausbildung spezifisch geschulter
tegien, die sich Schritt für Schritt den Möglichkeiten der Betroffenen     Suchtbeauftragter oder Ansprechpartner für Suchtfragen in den
anpassen können. Besondere Bedeutung hat die Zusammenarbeit                Einrichtungen. Auch die Entwicklung konkreter Handlungssche-
zwischen Alten- und Suchthilfe. Gemeinsame Workshops, Netz-                mata (Handlungsempfehlungen) kann eine gute Grundlage für die
werkarbeit, interdisziplinäre Fallbesprechungen sowie Hospitati-           Weiterarbeit sein. Solche Handlungsempfehlungen existieren als
onsgelegenheiten ermöglichen einen Blick über den eigenen Teller-          Ergebnis der Modellprojekte (www.alter-sucht-pflege.de/modell-
rand und die Chance, Hilfen zu bündeln und Leistungsangebote zu            projekte/bundesmodellprojekte) und stehen für interessierte Nutzer
verbessern.                                                                zur Verfügung.

Qualifizierungsschwerpunkte:                                               Schulungen für Führungskräfte der Altenhilfe und der Sucht-
                                                                           hilfe: Seminare mit Führungskräften aus Sucht- und Altenhilfe bie-
Basisschulungen für Mitarbeitende in der Pflege und Sucht-                 ten die Möglichkeit die Problematik von Suchtkranken im höheren
hilfe: Diese Seminare sollen Fach- aber auch Hilfskräften in Alten-        Lebensalter zu verdeutlichen, das Interesse an der Auseinanderset-
pflege und Suchthilfe zugänglich sein. Einbezogen werden können            zung mit diesem Problembereich zu wecken, eigene Schwierig-
auch weitere interessierte Personen, wie z. B. Seniorenräte, soziale       keiten, aber auch Ressourcen bewusst zu machen. Darüber hinaus
Besuchsdienste für ältere Menschen, Ehrenamtliche in der Pflege,           helfen sie, eigenes (ethisches) Handeln kritisch zu reflektieren und
Verantwortliche in (Sucht-)Selbsthilfegruppen, Mitarbeiter in ambu-        so die Teilhabe suchtkranker älterer Menschen zu verbessern.
lanten Betreuungsdiensten (z. B. Seniorentagespflege, Begeg-
nungszentren, Stadtteil- und Gemeinwesenarbeit usw.). Gemein-
same Seminare von Mitarbeitenden in der Pflege und Suchthilfe
können helfen, eigenes Wissen aufzubauen und zu vertiefen, in Er-
Teilhabe älterer suchtkranker Menschen – eine Handlungsorientierung 19

Basisschulungen zum Thema „Sucht im Alter“ im
Rahmen des Bundesmodellprojektes „watch“

Folgende Module können innerhalb des Basisseminars                  Modul 3: Grundlagen der Abhängigkeitsentwicklung bei
angeboten werden:                                                   älteren Menschen (ca. 1 ½ Stunden)
Modul 1: Grundlagen und Einführung zum Thema                            t   ICD 10 Kriterien der Abhängigkeit, Faktoren, die eine
„Sucht im höheren Lebensalter“                                               Abhängigkeitsentwicklung bei älteren Menschen
Modul 2: Die Individualität des Alterns/                                     unterstützen (mit Folienpräsentation)
Grenzen und Herausforderungen des Alterns                               t   Verlauf der Abhängigkeitsentwicklung am Beispiel
Modul 3: Grundlagen der Abhängigkeitsentwicklung                             der Alkoholabhängigkeit (mit Vortrag)
bei älteren Menschen                                                    t   Co – Abhängigkeit: Grundlagen und Gefahren
Modul 4: Umgang mit suchtkranken älteren Menschen/                           (mit Vortrag)
Gesprächsführung                                                        t   Angebote des Suchthilfesystems für ältere
Modul 5: Fallarbeit/ kollegiale Fallbesprechung                              Menschen – Chancen und Grenzen
(Optionales Modul)                                                           (mit Folienpräsentation)
Modul 6: Vernetzung zwischen Alten- und Suchthilfe/                     t   thematische Gruppenarbeit (Ergebnissicherung auf
Handlungsempfehlungen                                                        Flipchart)
                                                                        t   Pause
Je Modul sind 1,5 Stunden geplant. Jedes Modul ist in sich abge-
schlossen. Um jedoch eine sinnvolle und für die Praxis hilfreiche   Modul 4: Umgang mit suchtkranken älteren Menschen /
Schulung der Mitarbeiter zu erreichen, sollten mindestens die Mo-   Gesprächsführung (ca. 1 ½ Stunden)
dule 1, 3 und 4 gewählt werden. Die interessierten Einrichtungen        t  Einführung Gesprächsführung („Wie kann ich ein
erhalten zu allen Modulen Arbeitsmaterialien ausgehändigt sowie             Suchtproblem ansprechen?“)
– falls gewünscht – auch die Handlungsempfehlungen als Datei.           t  Modellvorstellung „Motivierende Gesprächsführung
Die Schulungen sind kostenpflichtig. Nähere Informationen unter             nach Miller und Rollnick“
www.projekt-watch.info.                                                 t  Umgang mit auffälligen Verhaltensweisen älterer
                                                                            suchtkranker Menschen
Beispiel für die Gestaltung eines Tagesseminars                         t  Fallbeispiele aus ambulanter und stationärer Sucht- und
zum Thema:                                                                  Altenhilfe
                                                                        t  Möglichkeiten der Intervention im praktischen
Modul 1: Grundlagen und Einführung zum Thema „Sucht im                      Arbeitsalltag (Handlungsempfehlungen)
höheren Lebensalter“ (ca. 1 ½ Stunden)                                      (mit Powerpointpräsentation)
    t  Begrüßung, Einführung ins Thema
    t  Statistik zum Konsum von Suchtmitteln im höheren
        Lebensalter (Alkohol, Medikamente, Tabak) (mit              Abschlussrunde und Feedback, Weitergabe von Literaturempfeh-
        Folienpräsentation                                          lungen (Flyer, Infomaterial) sowie eines schriftlichen Handouts an
    t  Besonderheiten des Alkoholstoffwechsels,                    alle Teilnehmer gehören grundsätzlich zum Fortbildungsangebot
        Folgeschäden des Tabakkonsums, Folgen aus                   dazu.
        Medikamentenabhängigkeit (mit Folienpräsentation)
    t  thematische Gruppenarbeit (Ergebnissicherung
        auf Flipchart)
    t  Pause
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