Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010

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Humboldt-Dialog                                                                              Sexuologie

Verleihung des Stiftungspreises der
Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010

Begrüßung und Einführung zum                                         Bekanntlich werden heute in den Vereinigten Staaten
                                                                von Amerika zahlreiche Universitäten nach einem sol-
Humboldt-Dialog und der Verleihung                              chen Finanzierungsmodell erfolgreich geführt.
des Stiftungspreises der Wilhelm-von-                                Die Idee dahinter: Wissenschaft soll um ihrer selbst
                                                                willen, d.h. zweckfrei betrieben und nicht als Mittel zu
Humboldt-Stiftung an Prof. Dr. Trabant und                      anderen Zwecken missbraucht werden. Deshalb die aka-
Prof. Dr. Meyer-Bahlburg                                        demische Freiheit als Freiheit in Forschung und Lehre
                                                                und seine Auffassung, dass der Universitätsprofessor
                                                                nicht in erster Linie Lehrer und der Studierende nicht
Klaus M. Beier                                                  hauptsächlich „Schüler“ wie beim Schulunterricht sein
                                                                solle, sondern beide sind vor allem Forschende und der
Meine sehr verehrten Damen und Herren, sehr geehrter            Erfahrene soll anleiten und unterstützen. Alles eingebun-
Herr Prof. Trabant, sehr geehrter Herr Prof. Meyer-Bahl-        den in einen Dialog, der letztlich das Neue hervorbrin-
burg, liebe Freunde und Angehörige,                             gen und damit Wachstum ermöglichen soll, denn nur im
    im Namen des Kuratoriums der Wilhelm-von-Hum-               Austausch mit dem anderen entwickelt man sich weiter,
boldt-Stiftung begrüße ich Sie ganz herzlich zum Hum-           weshalb man die Entwicklung des anderen fördern sollte,
boldt-Dialog und der Verleihung des Stiftungspreises im         um nämlich auch die eigene voranzutreiben.
Jubiläumsjahr 2010 – denn vor 200 Jahren wurde die Ber-              Dies ist exakt das Modell der Dialogik, welches Hum-
liner Universität gegründet und erinnert uns an eine un-        boldt in seinen Horen-Aufsätzen über die Geschlechter-
bestrittene Großtat Wilhelm von Humboldts, die er wäh-          differenz herausgearbeitet hat, um letztlich damit auch
rend nur 14monatiger Amtszeit in den Jahren 1809/1810           eine Vordenkerrolle der Geschlechterforschung einzu-
als Abteilungsleiter der Sektion Kultus im Preußischen          nehmen, mit der er allerdings gerade nicht im kollektiven
Innenministerium umsetzte – im übrigen mit einem                Gedächtnis haften geblieben ist.
unerhörten Geschick bei den Berufungen (Evangelische                 Dabei ist das Grundkonzept hier bereits klar erkenn-
Theologie: Schleiermacher, Jurisprudenz: Savigny; Me-           bar: Individualität ist begrenzt und das Geschlecht selbst
dizin: Hufeland; Philosophie: Fichte; Altphilologie: F.A.       ist eine Grenze. Durch die Zugehörigkeit zu dem einen
Wolf; Geschichte: Niebuhr; Agronomie: Thaer; Chemie:            Geschlecht, gehört man automatisch nicht dem anderen
Klaproth).                                                      an und ist insofern eingeschränkt. Nur: Die Geschlecht-
    Vor allem damit ist er im kollektiven Gedächtnis haf-       lichkeit selber ist ein Motor für die Hinwendung zum
ten geblieben: Es ist seine bekannteste Leistung geworden.      anderen, d.h. aus der Differenz entsteht die Spannung,
Damals war er 43 Jahre alt und konnte zurückgreifen auf         diese wiederum enthält die Entwicklungspotentiale bei-
ein durchdachtes anthropologisches Konzept, das letzt-          der, sofern jeder die Entfaltung des anderen und dessen
lich seine politische Praxis und seine Bildungsreform           Wachstum möchte, was in eigenem Interesse der Fall sein
(mit-)erklärt.                                                  sollte, weil erst dadurch die eigene Weiterentwicklung
    Was wir darin finden können ist eine „Ehrfurcht für         möglich wird.
die Individualität selbstthätiger Wesen“ und einer „aus              So ist es einerseits die Unterschiedlichkeit der Ge-
dieser Ehrfurcht entspringenden Sorgfalt für die Frei-          schlechter, aber andererseits auch ihre Gleichwertigkeit,
heit“, wie es bei ihm selbst heißt. Die Politik hatte nach      die Humboldt betont. Es ist auf beiden Seiten immer
seiner Auffassung dann die Aufgabe Zwänge und Ein-              Einwirkung und Rückwirkung, Selbsttätigkeit und Emp-
schränkungen zu beseitigen und er sah für eine neu zu           fänglichkeit, Geben und Nehmen. Männliche und weib-
gründende Institution „Universität Berlin“ deshalb auch         liche Form werden von ihm gerade herausgelöst aus dem
eine ‚Stiftungskonstruktion‘ als mögliche Lösung um un-         traditionellen Subordinationsverhältnis und in ein täti-
abhängig vom König zu werden – nämlich durch Über-              ges Wechselwirkungsverhältnis hineinverlagert.
eignung von Domänen, aus deren Bewirtschaftung sich                  Humboldts Schriften wirken zwar – zeitbedingt –
die Universität selbst finanzieren können sollte.               sprachlich überladen, aber unbefangen und als Aufbruch
Sexuologie 17 (3–4) 2010 160-162 / Akademie für Sexualmedizin
http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie
Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010                             161

zur Durchdringung einer basalen Erlebnisdimension des          punkt einer weit verbreiteten Grundhaltung, die sich auf
Menschen – nämlich der Sexualität.                             den Nenner bringen lässt: Da gibt es zwar Probleme, aber
      Seine Sprachforschungen sind hierzu eine geniale Ein-    lieber nicht so genau hinschauen.
lassstelle. Denn Sprache ist Vermittlerin zwischen Denken           Von Humboldt lernen heißt eben im Gegensatz dazu
und Sein – für Humboldt ist dies ja ein geschlechtliches       auch diesbezüglich genau hinzuschauen.
Sein. Die Wirklichkeit ist ursprünglich von einem Sub-              Die Wilhelm von Humboldt-Stiftung engagiert sich da-
jekt geäußerte und von einem anderen Subjekt vernom-           für, dieses Vermächtnis bewahren zu helfen und möchte
mene Rede. Menschliche Subjekte sind aber gerade keine         mit dem Stiftungspreis Persönlichkeiten ehren, die die-
idealen Sender und Empfänger von Informationen, eben           sem Aspekt die notwendige Beachtung geschenkt haben.
durch ihre Subjektivität, sie sind sich selbst und ande-            In diesem Jahr gibt es einen Preisträger aus der
ren undurchsichtige Individuen, an deren Eigensinn die         Sprachforschung und einen aus der Sexualforschung –
Allgemeinheit der Gedanken sich bricht. Darum finden           Gebiete, die im Humboldtschen Sinne viel enger benach-
wir die Humboldtsche These von der sprachlichen Welt-          bart gedacht werden müssen als allgemein angenommen
ansicht. Mit der äußeren Gleichheit des Wortes verbindet       wird.
sich die innere Verschiedenheit der Sprache, von der die            Der Entwicklung des jungen Humboldt genauer
Bedeutung des Wortes getragen wird. Nur das Wort wird          nachzuspüren war aber eine der Herausforderungen in
ausgesprochen. Als was es im einzelnen Bedeutung haben         der Zusammenarbeit mit der Mendelssohn-Gesellschaft,
mag, das ergibt sich aus der Welt des Einzelnen.               insbesondere mit Herrn Dr. Lackmann, der gleich zu
      Übertragen auf Sexualität: Das immer geschlechtliche     ihnen sprechen wird, und Herrn Dr. Siebel, zwei subtile
Individuum besteht immer in der Differenz zu anderen           Kenner der Mendellsohns und ihrer vielfachen Verbin-
geschlechtlichen Individuen, und die Sprache ist eine Ver-     dungen mit der deutschen Geistes- und Kulturgeschichte.
mittlerin um das Getrennte zu verbinden. Deshalb heißt              Dass sich für Wilhelm von Humboldt die Mitglied-
es bei Humboldt, dass der „Gedanke der letzte Sprössling       schaft in der von Henriette Herz und Brendel Mendels-
der Sinnlichkeit“ ist.                                         sohn 1787 ins Leben gerufenen literarischen Vereinigung
      Die Sexualmedizin spricht – derselben Logik folgend      namens „Tugendbund“ auf seine spätere Geschlechter-
– von der sexuellen Weltanschauung und betont auch hier        forschung ausgewirkt hat, ist sehr wahrscheinlich. Sicher
das Subjektive, dass sich trotzdem – wie die Grammatik         ist, dass er durch den Tugendbund seine spätere Frau
in der Sprache – auf Prinzipien und Strukturen zurück-         Caroline von Dacheröden kennen lernt und mit ihr eine
führen lässt, die wissenschaftlich erforschbar sind. Es gibt   lebenslang verbindende Zweierbeziehung eingeht, die für
eben auch eine Grammatik der Sexualität.                       ihn aber gleichwohl das Kriterium der „Freiheit“ erfüllen
      Das wohl ist der Hintergrund für Humboldts kühnen        musste – wiederum getragen von der Überzeugung, dass
Plan, eine „Geschichte der Abhängigkeit im Menschenge-         die optimalen Entwicklungsbedingungen für den Partner
schlecht“ schreiben zu wollen, in der er diesen Strukturen     der eigenen Entwicklung dienen.
nachzugehen gedachte und dabei kein Thema auslassen                 Daher der Titel der Veranstaltung „Zweiheit und
und selbst die Prostitution in einem eigenen Kapitel be-       Freiheit“ – gemeinsam ausgerichtet von der Wilhelm von
handeln wollte.                                                Humboldt Stiftung und der Mendelssohn-Gesellschaft.
      Dass es ihm um Strukturen ging belegt eine Passa-             Ich bin dabei sehr dankbar für die vielen Einsichten,
ge aus der Einleitung, in der es heißt: „Es müssen nicht       die aus dieser Zusammenarbeit resultiert sind: Vor allem
nur die Menschen in verschiedenen Zuständen, sondern           aber gingen sie zurück auf genau jene Spannung unter-
auch die allgemeinen Zustände an verschiedenen Men-            schiedlicher Weltansichten, die dann eine Weitung er-
schen und Völkern betrachtet werden. Denn gerade sie           möglichen, von der wir hoffen, dass sie sich auf den ge-
sind das Bleibende, sich Forterhaltende, da der einzelne,      meinsam konzipierten zwei Bannern sein werden und
genießende und leidende Mensch kommt und untergeht.            das Verhältnis der Humboldts zu den Mendelssohns
(...) Denn die Einheit der Realität hebt die Getrenntheit      transparent machen sollen. Hinzu kommt eine neue Büs-
der Erscheinungen auf.“                                        te Wilhelm von Humboldts, welche die Stiftung als Dau-
      Von Sexualwissenschaftlern wird das zwar gern zitiert,   erleihgabe der Mendelssohn-Remise zur Verfügung stellt,
in der Gesellschaft und der Bildungspolitik ist das ganze      nachdem Alexander ja bereits hier vertreten ist.
Thema aber noch lange nicht adäquat angekommen, son-                In diesem Sinne danke ich der Mendelssohn-Gesell-
dern im Gegensatz weiterhin geeignet um Befangenheit,          schaft für die bisherige Zusammenarbeit ganz außeror-
Verunsicherung und Ablehnung hervorzurufen.                    dentlich, freue mich auf diesen Abend und übergebe das
      Erst vor diesem Hintergrund wird der Missbrauchs         Wort an Dr. Lackmann, der auch zur Humboldt-Kantate
skandal der letzten Monate verständlicher: Letztlich End-      der Sing-Akademie zu Berlin etwas sagen wird.
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      Die beiden Banner, die die Verbindung der Gebrüder Humboldt zu den Mendelssohns illustrieren, sind Teil der Dauerausstellung „Die Mendelssohns in der Jägerstraße“ in der
      Mendelssohn-Remise, 10117 Berlin, Jägerstraße 51 – Graphische Gestaltung der Banner Ben Buschfeld (Berlin)
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Begrüssungsworte im Namen der                                   erst eingebaut, als die Erinnerung an die Humboldts
                                                                und ihre Mendelssohns schon Geschichte war. Wie die
Mendelssohn-Gesellschaft                                        Freundschaft von Moses Mendelssohn und Lessing ist die
                                                                Achse Humboldt – Mendelssohn ein gutes Versprechen
Thomas Lackmann                                                 der deutsch-jüdischen Geschichte gewesen. Die „Mor-
                                                                genstunden“-Vorlesungen des Moses, an denen Wilhelm
Teplitz, den 2. Oktober 1813.                                   und der in der Jägerstraße 22 geborene Alexander mit
                                                                dem Ältesten Joseph Mendelssohn teilgenommen haben;
     „Es thut mir sehr leid, mein lieber Herr Mendels-          der Tugendbund, der den Teenager Wilhelm mit Brendel
    sohn, erst so spät Ihren Wunsch, Pässe nach Russ-           und Jette Mendelssohn zu einem Beziehungsexperiment
    land zu erhalten, erfüllen zu können. Allein die mit        zusammenführt; die Sternwarte Alexanders im Garten
    diesen Ausfertigungen verbundenen Zögerungen                der Mendelssohn Bartholdys an der Leipziger Straße, sei-
    liessen sich nicht kurz beseitigen. Ich schicke Ih-         ne Unterstützung für den Mechanicus Nathan und den
    nen hier beide Pässe, und hoffe, daß sie so, wie Sie        Geographieprofessor Georg Benjamin Mendelssohn; die
    es wünschten, ausgestattet seyn werden. Es wird mir         Kredite des Bankiers Joseph für Alexanders Forschungs-
    aber viel lieber seyn, wenn Sie unter uns blieben, u.       reisen. Joseph Mendelssohns Nachfolger in der Bank
    kein Gebrauch davon machen. Die Angelegenheiten             heißt Alexander; für ihn wird der Vater in den 1830er Jah-
    gehen sehr günstig. Napoleon hat unglaublich viel           ren das Geburtshaus von Humboldts, Jägerstraße 22, als
    seit dem Wiederanfang der Feindseligkeiten verloren.        Wohnhaus erwerben. Das alles sind, als diese Kassenhalle
    Er hatte am Ende des Waffenstillstands 313000 Mann          um 1890 gebaut wird, für die fünfte Mendelssohn-Gene-
    [jenseits] der Elbe, jetzt hat er nach den Nachrichten      ration, nur noch glorreiche Anekdoten einer preußisch-
    nur 118000. Also ein Verlust von 135000 Menschen.           jüdischen Freundschaft: aus einem Zeitalter aufgeklärter
    Und wie demoralisiert ist die Armee die ihm bleibt?         Hoffnungen.
    Man glaubt zu wissen, daß er sich aus Leipzig, u. ver-           Diese Kassenhalle wird bald darauf, 1892 – weil ne-
    mutlich weiter zurückzieht. Allein gewiß ist es noch        benan, im fünften der sechs Mendelssohn-Häuser der Jä-
    nicht. Leben Sie recht wohl, liebster Freund! Und           gerstraße, ein neues Bankhaus entsteht – zur Kutschremi-
    erinnern Sie sich manchmal Ihrer ruhigen Existenz           se umgewidmet. Von hier aus fahren die Bankiers in ihre
    in Wien an unser [Ihr dortiges] Leben. Mit unwan-           neuen Grunewaldvillen, zu den Schlössern bei Bernau.
    delbarer Hochachtung und Freundschaft der Ihrige            1938 wird die Mendelssohn-Bank, deren ökonomische
    Humboldt. Viele Empfehlungen an Ihre Schwester.“            Kraft mit der künstlerischen Fruchtbarkeit die wirtschaft-
                                                                liche und kulturelle Bedeutung des Familien-Labels aus-
Meine Damen und Herren, nicht der Sprach- und Bezie-            machte, liquidiert. Zur DDR-Zeit dient dieser Raum als
hungsforscher, sondern der Politiker Wilhelm von Hum-           Autogarage; die Dokfilm-Abteilung der DEFA nutzt das
boldt hat am Vorabend der Völkerschlacht diesen Brief           Haus. Nach der Wende ist es, mitsamt der Aufstockung,
an den 37jährigen Vater des späteren Komponisten Felix          die nach dem Krieg stattgefunden hatte, restauiert wor-
verfaßt. Bald darauf wendete sich die Weltgeschichte, Ab-       den. Seit den Jüdischen Kulturtagen 2004 gibt es diese
raham Mendelssohn muß nicht mehr vor Napoleon nach              Ausstellung; das Geschichtsforum Jägerstraße, das sie seit
Rußland fliehen; kann mit seiner Familie in der Markgra-        2006 als Dauerausstellung weiterentwickelte, hat sich im
fenstraße 48 am Gendarmenmarkt bleiben; mit seinem              vergangenen Jahr mit der 1967 gegründeten Mendelssohn-
Bruder schließlich 1815 sein Bankgeschäft in dieses Haus        Gesellschaft unter deren Namen zusammengeschlossen.
Jägerstraße 51, zwischen zwei Staatsbanken verlegen, wo         Unsere Veranstaltungen und Ausstellungen, Dokumen-
es – mit Hilfe französischer Reparationszahlungen – zur         tensammlung, Forschung und die Publikationen haben
größten deutschen Privatbank expandiert. Daß ein Jahr           den Zweck 1) die Erinnerung an den jüdisch-deutschen
später, 1816, seine Kinder im Haus an der Markgrafenstra-       Mikrokosmos der gesamten Mendelssohn-Familie, jene
ße heimlich getauft werden, hat dann allerdings wieder et-      Bankiers, Künstler und Gelehrten, die fünf Generationen
was mit großer Politik zu tun: Mit dem Wiener Kongress          deutsche Geschichte machten, vorzuantreiben; 2) damit
und jener Restauration, die viele Emanzipations-Hoff-           verbundene Berliner Topographien, gerade auch hier im
nungen zunichte macht. Die Mendelssohn Bartholdys,              Quartier der Mendelssohns, freizulegen; 3) das Thema
wie sie sich später nennen, fliehen in die konfessionelle       – „Bürgerliche Verantwortung gestern und heute“ – zu
Assimilation; Wilhelm von Humboldt, der liberale Staats-        reflektieren.
mann, zieht sich mit 51 auf Schloß Tegel zurück.                     Für den Fall übrigens, daß jemand von Ihnen, neben
    Die Mendelssohn-Remise, in der wir uns befinden,            seinem Wilhelm von Humboldt-Interesse, doch noch
wurde in das barocke Stammhaus der Mendelssohn-Bank             Ressourcen freihat: Mitarbeiter und finanzielle Unterstüt-
Sexuologie 17 (3–4) 2010 163–164 / Akademie für Sexualmedizin
http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie
164                                         Jahrestagung der Wilhelm v. Humboldt-Stiftung

      zung kann unsere Geschichtswerkstatt, die nur durch eh-         Karl Friedrich Zelters. Die Kantate beschwört die Einheit
      renamtliche Arbeit und Spenden getragen wird, auf allen         divergierender Elemente, zu denen ja nicht nur die Ge-
      Ebenen gebrauchen. Zur Information über unsere Veran-           schlechter oder wissenschaftliche Disziplinen gehören,
      staltungen können Sie sich gern draußen in unseren Ver-         sondern auch – was in den besten Familien vorkommt
      teiler eintragen. Daß dort im Vorraum ab heute in dem           – rivalisierende Brüder. „Jetzt wirken und schaffen ver-
      neu eröffneten Ausstellungsprolog die Einbindung der            schwisterte Kräfte und bilden und bauen die herrliche
      Mendelssohn-Story in die Welt der Humboldts skizziert           Welt,“ hoffte der Librettist Ludwig Rellstab.
      wird, ist nun eine großartige Erweiterung der Zeitreise, zu          Die Humboldts und die Mendelssohns als Protago-
      der wir an diesem Ort einladen.                                 nisten der Kulturpolitik, der Welterkundung, der Wis-
           Wir danken der Wilhelm von Humboldt-Stiftung für           senschaft, des Finanzmarktes und der schönen Künste
      ihre Initiative. Wir freuen uns, daß Sie alle heute hier        erinnern an eine Zeit, in der es gute Gründe gab, optimis-
      sind! Die Wiederaufführung der Kantate, die der Hörer           tisch – realistisch – idealistisch zugleich zu sein. Wie zur
      der „Kosmos“-Vorlesungen Felix Mendelssohn Barthol-             Unterstützung eines solchen Programms jene utopische
      dy zur Ehre des Familienfreundes Alexander von Hum-             „unwandelbare Hochachtung und Freundschaft“ zu er-
      boldt beim Naturforscher-Kongress 1828 komponiert               ringen wäre, die Wilhelm von Humboldt 1813 aus Teplitz
      hat, paßt zum joint venture unserer Zusammenkunft. Es           seinem Mendelssohn versichert hat: das werden uns die
      ist zwar nicht, wie damals und wie angekündigt, die Sing-       ungleichen Freunde hoffentlich noch nachvollziehbar
      Akademie, die heute singt, aber der Dirigent der Staats-        verraten – oder: die Beiträge dieses Abends! Ihnen allen
      und Dom-Chor-Sänger, Kai-Uwe Jirka, steht als Direk-            wünsche ich einen festlichen, erkenntnisreichen Abend in
      tor der Sing-Akademie in der apostolischen Sukzession           der Mendelssohn-Remise.

      Laudatio auf Jürgen Trabant anlässlich                               Fünfzig Jahre später schlug ich das Buch von Jürgen
                                                                      Trabant auf: Mithridates im Paradies. „Mein Motiv für das
      der Verleihung des Stiftungspreises der                         Schreiben des vorliegenden Buches“, las ich da, „ist meine
      Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung                                   altmodische Liebe zu diesen schwindenden Oberflächen-
                                                                      Dingern, den Sprachen: l’amore delle lingue, wie die ita-
                                                                      lienischen Humanisten sagen, sozusagen eine unheilbare
      Peter Bieri                                                     ‚Philo-Logie‘“. Ich habe dieses Buch verschlungen, als
                                                                      läse ich es unmittelbar nach der ersten Griechisch-Stun-
      Verehrter, lieber Herr Trabant, verehrte Kollegen, meine        de. Und ich habe, mit jedem Kapitel noch mehr, seinen
      Damen und Herren,                                               Autor beneidet: um seine stupende Gelehrsamkeit, die ei-
           was mir stets von neuem in den Sinn kommt, wenn            nen nie belästigt oder bedrängt, weil sie mit leichtfüßiger
      ich an den heutigen Preisträger denke, ist die Hand meines      Selbstverständlichkeit und Unauffälligkeit daherkommt;
      Griechischlehrers, der langsam und mit kalligraphischer         um seine enorme historische Übersicht, die in mir immer
      Sorgfalt die Worte τὸ δῶρον an die Tafel schrieb. Es wa-        öfter die Frage entstehen ließ: wie, um Gottes willen, hat
      ren für mich die ersten griechischen Wörter, und es war         er die Zeit gefunden, sich das alles anzueignen?; um die
      die erste Begegnung mit einem fremden Alphabet, um              seltene Fähigkeit, die lange und komplizierte Geschichte
      das ich die Griechen noch heute beneide.                        der europäischen Sprachen und des Nachdenkens über
           Ich spürte in jenem Moment mit großer Klarheit,            Sprache mit unerhörter gedanklicher Transparenz zu er-
      daß mir in Zukunft nichts wichtiger sein würde als frem-        zählen. Und das Ganze eben im Tonfall von einem, der
      de Sprachen und fremde Schriften, und bald schon nahm           Sprachen nicht studiert, um eine Karriere zu machen,
      ich mir vor, die Sprachen aller Länder zu lernen, die an        sondern weil er sie liebt. Ein echter Wissenschaftler also.
      das Mittelmeer grenzen. Als der Lehrer von dieser Leiden-            Auf der vorletzten Seite des Buches stehen Gedicht-
      schaft erfuhr, erzählte er mir von Mithridates, dem König       zeilen von Paul Verlaine: Les sanglots longs / Des violons /
      von Pontus, der mindestens zweiundzwanzig Sprachen              De l’automne/Blessent mon coeur / D’une languer / Mono-
      beherrschte und sich mit den Völkern seines Reiches in          tone. „Obwohl es vielleicht Unsinn ist“, schreibt Trabant,
      der jeweiligen Sprache verständigen konnte.                     „daß die langen Schluchzer der Violinen des Herbstes
           Und er wies mich stolz auf den Schweizer Gelehrten         mein Herz mit einer monotonen Wehmut verletzen, so
      Conrad Gesner hin, der 1555 unter dem Titel Mithridates         ist dies doch in solcher Schönheit gesagt, daß man diese
      sive de differentiis linguarum eine Sprachenenzyklopädie        Sprache einfach lernen muß.“ Als ich das las, war ich end-
      verfaßt hatte.                                                  gültig überzeugt, einen Sprachwissenschaftler gefunden
      Sexuologie 17 (3–4) 2010 164–165 / Akademie für Sexualmedizin
      http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie
Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010                               165

zu haben, wie ich ihn mir gewünscht hatte: einen, der die       so kam es, daß er auch bei uns, im Institut für Philoso-
Sprachen liebt, so wie ein Schriftsteller sie liebt. So einen   phie, unterrichtet hat. Die Studenten mochten seine Le-
zu finden, ist gar nicht leicht: Ich habe die Sprachwissen-     bendigkeit und Leidenschaft, mit der er über die Dinge
schaft aufgegeben, weil ich die Schönheit und Poesie der        sprach. Das konnte ich nachfühlen, als ich unlängst einen
Sprache darin zu verlieren drohte.                              Vortrag von ihm über Humboldt hörte. Ich saß da und
     All das wäre bereits Grund genug, Jürgen Trabant den       dachte: Wenn ich jetzt zwanzig wäre, würde ich nur noch
Preis zu verleihen. Doch es gibt noch viele andere Grün-        bei diesem Mann studieren wollen. Es sind nicht so sehr
de. Einer davon betrifft natürlich Wilhelm von Hum-             bombastische Projekte und Drittmittel, die wir in den
boldt. Einiges von ihm kannte ich vorher schon. Aber erst       Geisteswissenschaften brauchen: Wir brauchen Leute wie
durch die Bücher und sonstigen Schriften von Trabant            Jürgen Trabant, die begeistern können.
ist mir der Reichtum und die gedankliche Tiefe seines                Statt der Dinge, von denen ich gesprochen habe, hätte
Werkes deutlich geworden. Und das ist deshalb so, weil          ich auch über Trabants glanzvolle Karriere sprechen kön-
Trabant das Werk nicht einfach nacherzählt, sondern es          nen: Tübingen, Bari, Rom, Hamburg, Stanford, Leipzig,
gedanklich transparent macht, als sei es das eigene – eine      Davis, Paris, Limoges, Budapest. Man fragt sich unwill-
hermeneutische Leistung, wie sie nur selten gelingt. „Die       kürlich: Ist der irgendwo nicht gewesen? Und die Leute,
Sprache ist das bildende Organ des Gedankens“, schreibt         die ihn beriefen, wußten, was sie taten. Als ich das Litera-
Humboldt. In Apeliotes oder Der Sinn der Sprache, seinem        turverzeichnis ausdruckte, machte der Drucker so lange
Buch über Humboldt, entwickelt Trabant diese Idee so,           weiter, daß ich schon dachte, er sei in eine endlose Wie-
daß ihre bleibende Gültigkeit deutlich wird. Und auch in        derholungsschleife geraten.
den späteren Büchern kehrt die Idee wieder: Sprache als              Jürgen Trabant ist ein glanzvoller Wissenschaftler
Medium des Denkens; als der Prozeß, in dem die Welt in          mit einer glanzvollen Karriere und einem beeindrucken-
Gedanken gefaßt wird; als die Dimension, in der sich un-        den Werk. Schließen möchte ich aber mit einem Erlebnis,
sere Erfahrung artikuliert; als der entscheidende Beitrag       das ich kürzlich mit ihm hatte und das mir noch wich-
zu einer Lebensform.                                            tiger ist als aller Glitter und Glamour. Ich hatte mit einer
     Herr Trabant ist diesen Themen stets von neuem             französischen Übersetzung zu tun, bei der es darum ging,
nachgegangen, und dabei ist eine historische Anthropo-          das schweizerische Wort sich hintersinnen zu übersetzen
logie der Sprache herausgekommen, in der die Menschen           – ein Wort, das einen großen Ärger zum Ausdruck bringt,
als sprechende Tiere von großer Plastizität und Wandel-         den man über sich selbst haben kann wegen eines fol-
barkeit verstanden werden. Die Geschlechtlichkeit dieser        genreichen Versäumnisses. Wie er das übersetzen würde,
Tiere reicht weit in ihre Sprache hinein, und Trabant hat       fragte ich Herrn Trabant. Er kannte das Wort nicht, ver-
auch diesem Gedanken Humboldts sein Gewicht zurück-             stand es aber auf Anhieb, dachte einen Moment nach und
gegeben.                                                        sagte dann: se ronger, eigentlich: an sich nagen. Der Ordi-
     Unser Preisträger ist nicht nur ein Linguist, ein em-      narius für Französisch an der Universität Bern brauchte
pirischer Sprachforscher. Er ist auch ein Philosoph der         einen Tag, um darauf zu kommen.
Sprache – einer also, der sich im logischen Raum der                 Ich war danach sehr stolz auf Jürgen Trabant und
Überlegungen zur Sprache auskennt, die mit Platon be-           stolz, daß ich die Laudatio auf einen solchen Mann halten
ginnen und bis zu Wittgenstein und Derrida reichen. Und         durfte.
166                                         Jahrestagung der Wilhelm v. Humboldt-Stiftung

      Zweiheit in der Sprache

      Jürgen Trabant

      Sehr verehrter Herr Beier, meine Damen und Herren,
          bevor ich über die Zweiheit in der Sprache spreche,
      muss ich zwei Dinge sagen, also sprachliche Zweiheit
      performativ realisieren: Erstens möchte ich Ihnen sagen,
      wie sehr ich mich freue über den Humboldt-Preis, und
      zweitens, wie sehr ich mich freue, dass der bewunderte
      Philosoph und Schriftsteller Peter Bieri / Pascal Mercier
      mir die große Ehre erweist, mich ein bisschen zu loben.

      Humboldt über die Zweiheit in der Sprache
      Da Humboldt sich in seiner großen Akademierede über
      den Dualis von 1827 genau der Frage der Zweiheit in der         Jürgen Trabant auf der Festveranstaltung am 22. Juni 2010 in Berlin
      Sprache angenommen hat, muss ich hier zunächst einiges
      von dem referieren, was Humboldt schreibt. Und Sie              grammatische und lexikalische Inhalte in den Sprachen
      werden sehen, Humboldt hat schon das Wichtigste und             der Welt behandelt werden. Ziel der zweiten Art von Un-
      Schönste gesagt.                                                tersuchung ist es zu zeigen, „in welchem Umfang der Ver-
           Humboldt geht aus von der grammatischen Katego-            schiedenheiten das Menschengeschlecht ... seine Sprache
      rie, die Zweiheit ausdrückt, vom Dualis. Manche Spra-           bildet“ (IV: 11). Der Dualis-Aufsatz ist eine Studie dieser
      chen haben – beim Pronomen, beim Substantiv und                 zweiten Art, eine, die also den „Umfang der Verschie-
      beim Verb – nicht nur Singular und Plural, sondern noch         denheiten“ illustriert. Solche vergleichenden Untersu-
      einen besonderen Numerus für zwei. Das Griechische              chungen sind eine Kritik der alten philosophischen oder
      ist hierfür Humboldts Ausgangspunkt. Sie erinnern sich          allgemeinen Grammatik, die auf sehr wenigen empi-
      vielleicht an das Lateinische ambo oder auch duo (wo das        rischen Kenntnissen basierte und universelle Kategorien
      -o wohl der Rest eines früher auch im Lateinischen allge-       präsupponierte, also etwa Tempus, Aktionsart, Numerus,
      mein funktionierenden Dualis ist). Humboldt durchfors-          Genus. Mit den Untersuchungen durch alle Sprachen
      tet sein gesamtes sprachwissenschaftliches Wissen und           hindurch werden diese Kategorien nun empirisch gefüllt
      zeigt, in welchen Sprachen diese grammatisch-morpho-            und damit aus ihrer philosophischen Allgemeinheit in
      logische Kategorie vorkommt und wie sie dort realisiert         die linguistische Konkretheit überführt. So manifestiert
      wird. Dann erwähnt er weitere sprachliche Gestaltungen          der Gang durch die Sprachen der Welt eine Buntheit der
      von Zweiheit in anderen Bereichen der Sprache, z.B. im          Kategorie „Dualis“, die weit über den griechischen Dual,
      Wortschatz: paarweise vorkommende Körperteile, Tag              die lateinischen Dualis-Reste oder über einen abstrak-
      und Nacht usw. Und schließlich behandelt er die Zwei-           ten Begriff mathematischer Zweiheit hinausgeht, eben
      heit im Wesen der Sprache überhaupt oder – wie er sagt          „in welchem Umfang der Verschiedenheiten“ das Men-
      – in der „Wechselrede“.                                         schengeschlecht in seinen vielen Sprachen die Idee der
           Bevor ich auf diese zu sprechen komme, möchte ich          Zweiheit grammatisch und lexikalisch implementiert.
      auf Humboldts Begründung einer solchen Studie hin-                   Die Art und Weise, wie sich das konkret Empirische
      weisen. Der Dualis-Aufsatz ist ein Muster für eine be-          und das Allgemeine hier verbinden, zeigt nun des wei-
      stimmte Art von sprachvergleichenden Studien, wie               teren, wie Humboldt sich überhaupt die Verbindung
      Humboldt sie in seiner ersten Akademie-Rede 1820 ent-           zweier Größen vorstellt. Er unterscheidet generell drei
      wirft. In dieser Rede über das vergleichende Sprachstudi-       Möglichkeiten der Begegnung zweier Wesen: 1. die Iso-
      um fordert Humboldt zwei Arten von Studien: einerseits          lierung, 2. die Verschmelzung oder Einverleibung und 3.
      wünscht er sich „Monographien der ganzen Sprachen“,             die Synthese. Er trifft diese Unterscheidung zunächst als
      also synchronische Beschreibungen aller Sprachen der            der politische Denker, der er ja am Anfang hauptsäch-
      Welt. Andererseits müsse man „einzelne Theile des               lich ist. Für diesen stellt sich nämlich die Frage, wie sich
      Sprachbaues ... durch alle Sprachen der Welt hindurch“          gesellschaftliches Dasein organisiert. Zwar ist nach der
      (IV: 11) untersuchen, also vergleichen, wie bestimmte           berühmten Formel Humboldts der Zweck des Menschen
      Sexuologie 17 (3–4) 2010 166–169 / Akademie für Sexualmedizin
      http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie
Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010                              167

„die höchste und proportionirlichste Bildung seiner           Lassen wir das ruhig auf uns wirken: „eine wichtigere
Kräfte zu einem Ganzen“ (I: 107), also die Bildung des        Stelle als irgendwo sonst“! Das heißt nirgendwo sonst in
Individuums. Diese Bildung aber kann der Einzelne nur         der Welt ist Zweiheit so wichtig, so fundamental, so basal
gesellschaftlich, also zusammen mit anderen realisieren.      wie in der Sprache. Humboldt erläutert den Satz zunächst
Wie soll nun diese Verbindung von A und B aussehen?           folgendermaßen:
Wenn die beiden Größen nebeneinander stehen bleiben,
wenn A und B sich nicht berühren, bleiben sie verinselt:          „Alles Sprechen beruht auf der Wechselrede, in der,
Isolierung. Zweitens kann A mit B verschmelzen, indem             auch unter Mehreren, der Redende die Angeredeten
er sich B einverleibt. Bei der Einverleibung verschwindet         immer sich als Einheit gegenüberstellt.“ (ebd.)
B sozusagen in A, die Begegnung von zweien vollzieht
sich auf Kosten der Existenz eines der Beteiligten. Hum-      Der Redende: Ich – die Angeredeten: Du. Diese Ich-und-
boldts politisches Beispiel hierfür ist die Unterjochung      Du-Zweiheit liegt allem Sprechen zugrunde.
und Ausrottung der amerikanischen Indianer durch die               An dieser Stelle, wo die „Zweiheit der Wechselrede“
Spanier. Bei der Synthese dagegen berühren sich A und B       als Fundament der Sprache besprochen wird, ruft Hum-
tief, bleiben aber jeweils als solche vorhanden und schaf-    boldt nun 1827 den Geschlechtsunterschied – nach lan-
fen in ihrer Begegnung etwas Neues. Während das Modell        ger Zeit – ausdrücklich auf:
für die Einverleibung das Essen ist, ist das Modell für die
Synthese die Liebe bzw. die geschlechtliche Vereinigung.          „Der in seiner allgemeinsten und geistigsten Gestal-
      Humboldt ist ein Denker der Synthese. Insofern ist          tung aufgefasste Geschlechtsunterschied führt das
es auch richtig, dass die Humboldt-Gesellschaft so stark          Bewusstseyn einer, nur durch gegenseitige Ergänzung
auf Humboldts Sexual-Theorie abhebt, die er in jungen             zu heilenden Einseitigkeit durch alle Beziehungen des
Jahren 1795 entwickelt. Synthesis ist das Verfahren, nach         menschlichen Denkens und Empfindens hindurch.“
dem jede gelungene Kreativität in der Welt funktioniert.          (VI: 25)
Die Einverleibung ermöglicht ja nur das Weiterleben des
siegreichen Einverleibers, die Synthese dagegen schafft in    Dass und wie der Geschlechtsunterschied gerade hier
der Vereinigung etwas Neues, ein neues Geschöpf.              evoziert wird, zeigt, dass Humboldt seine alte Geschlech-
      Mit dieser methodischen Trias sind wir sozusagen bei    terauffassung nicht vergessen hat. Was er hier schreibt,
Humboldts allertiefsten Überlegungen zur Zweiheit an-         entspricht ganz genau dem, was er 1795 in seinem Auf-
gelangt, zur Zweiheit nicht nur in der Sprache, sondern       satz über den Geschlechtsunterschied gesagt hatte. Genau
in der Welt: Die Natur selbst basiert auf der synthetischen   wie damals, als er den Gedanken den „feinsten und letz-
Begegnung zweier entgegengesetzter Kräfte. Und, gleich        ten Sprössling der Sinnlichkeit“ genannt hatte (I: 316), als
ob Humboldt über Politisches oder Linguistisches nach-        er dem Denken die körperlichen Kräfte der Sexualität zu-
denkt, die synthetische Verbindung von zweien ist immer       grundegelegt hatte, legt er sie hier der Sprache zugrunde.
die von ihm präferierte bei dieser dreifachen Möglichkeit          Sie wissen, dass Kant 1795 auf Humboldts Aufsatz in
der Zweier-Verbindung.                                        einem Brief an Schiller vernichtend reagiert hatte. Kant
      Ich komme zurück zum Dualis-Aufsatz. Humboldts          hatte Humboldts Überlegungen einen „Abgrund des
tiefste und wichtigste Einsicht in die Zweiheit in der        Denkens“ genannt – und damit Humboldts Geschlech-
Sprache ist die Verankerung der Sprache in der „Wech-         tertheorie in den Abgrund gestürzt. Humboldt selbst hat,
selrede“: Hier geht es nicht mehr um grammatische oder        soweit ich sehe, nach dem Verdikt des Meisters seit 1795
lexikalische Erscheinungen (Numerus, Genus usw.) in           nichts mehr über den Geschlechtsunterschied gesagt.
bestimmten Einzelsprachen – langues -, sondern um eine        Dreißig Jahre später taucht er hier aber wieder auf. Hum-
fundamentale Präsenz von Zweiheit in Sprache überhaupt        boldt hat also in Wirklichkeit nichts von dem vergessen
– langage – also auf der universellen Ebene von Sprache.      oder aufgegeben, worüber der Magister Germaniens ein
Gegen Ende des Dualis-Aufsatzes beginnt die berühmte          Denkverbot auferlegt hatte: Mitten in seinen philoso-
Passage über die der Sprache wesentliche „Zweiheit der        phischen Erörterungen zum Wesen der Sprache ruft er
Wechselrede“ mit folgendem Satz:                              die sexuellen Grundlagen dieses hochgeistigen Gesche-
                                                              hens in Erinnerung und unterlegt damit seiner scheinbar
    „Besonders entscheidend für die Sprache ist es, dass      höchst idealistischen Sprach-Konstruktion die basalen
    die Zweiheit in ihr eine wichtigere Stelle, als irgend-   Fakten des Körpers.
    wo sonst, einnimmt.“ (VI: 24)                                  „The body in the mind“ ist nicht erst eine Erfindung
                                                              moderner kalifornischer Philosophen. Humboldt er-
                                                              innert an dieser Stelle nämlich zunächst daran, dass die
                                                              „bilaterale Symmetrie der Menschen- und Thierkörper in
168                                        Jahrestagung der Wilhelm v. Humboldt-Stiftung

      die Phantasie und das Gefühl eingeht“ (IV: 25). Und dann          eine nothwendige Bedingung des Denkens des Ein-
      legt er in einem einzigen Satz seine Geschlechtstheorie der       zelnen in abgeschlossener Einsamkeit.“ (VII: 55)
      Zweiheit der Wechselrede zugrunde. Die Sprache basiert
      auf dieser tiefen psychischen Erfahrung geschlechtlicher      Aber an diesen Satz schließt sich im Kawi-Werk unmit-
      Kräfte: Noch einmal:                                          telbar der Gedanke an, dass sich die Sprache tatsächlich
                                                                    nur gesellschaftlich, also zu zweit, entwickelt.
          „Der in seiner allgemeinsten und geistigsten Gestal-           Hier im „Dualis“ geht Humboldt einmal umgekehrt
          tung aufgefasste Geschlechtsunterschied führt das         vor und stellt die „Zweiheit der Wechselrede“ vor die
          Bewusstseyn einer, nur durch gegenseitige Ergänzung       denkende Aneignung der Welt, vor die Bildung des „Be-
          zu heilenden Einseitigkeit durch alle Beziehungen des     griffs“, die aber sogleich wieder in die Dualität von Ich
          menschlichen Denkens und Empfindens hindurch.“            und Du hineingestellt wird:
          (VI: 25)
                                                                        „Er [der Begriff] wird erzeugt, indem er sich aus der
      Das sexuell bedingte „Bewußtsein einer nur durch gegen-           bewegten Masse des Vorstellens losreisst, und, dem
      seitige Ergänzung zu heilende Einseitigkeit“ liegt allem          Subject gegenüber, zum Object bildet. Die Objectivi-
      menschlichen Denken und Empfinden zugrunde. Es liegt              tät erscheint aber noch vollendeter, wenn diese Spal-
      daher eben auch der Sprache zugrunde. Nach dieser Evo-            tung nicht in dem Subject allein vorgeht, sondern
      kation der sexuellen Basis der Sprache fasst Humboldt             der Vorstellende den Gedanken wirklich ausser sich
      die basale Zweiheit der Sprache schließlich in der Rede-          erblickt, was nur in einem andren, gleich ihm vorstel-
      weise der Transzendental-Philosophie in der berühmten             lenden und denkenden Wesen möglich ist. Zwischen
      Passage über den unabänderlichen Dualismus:                       Denkkraft und Denkkraft aber giebt es keine andre
                                                                        Vermittlerin, als die Sprache.“ (VI: 26)
          „Es liegt aber in dem ursprünglichen Wesen der
          Sprache ein unabänderlicher Dualismus, und die            Soweit Humboldt. Es ließen sich natürlich noch viele
          Möglichkeit des Sprechens selbst wird durch Anrede        weitere Zweiheiten in der Sprache aufzeigen. Wenn man
          und Erwiederung bedingt. Schon das Denken ist we-         einmal beginnt, über die Zweiheit in der Sprache nach-
          sentlich von Neigung zu gesellschaftlichem Daseyn         zudenken, ist fast alles in ihr binär. Doch meine Redezeit
          begleitet, und der Mensch sehnt sich, abgesehen von       ist fast aufgebraucht. Eine zweite fundamentale Zweiheit
          allen körperlichen und Empfindungs-Beziehungen,           der Sprache muss aber noch kurz behandelt werden, die
          auch zum Behuf seines blossen Denkens, nach einem         sogenannte zweifache Gliederung.
          dem Ich entsprechenden Du; der Begriff scheint ihm
          erst seine Bestimmtheit und Gewissheit durch das
          Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft zu er-         Zweifache Gliederung
          reichen.“ (VI: 26)
                                                                    Als das strukturelle Grundprinzip von Sprache hat der
      Die zentrale Aussage dieser Passage ist, dass sich das Ich    französische Sprachwissenschaftler André Martinet die
      bei seinem Denken, also bei der geistigen Aneignung der       sogenannte „double articulation“ – die zweifache Gliede-
      Welt, immer nach dem Du „sehnt“. Anders gesagt, das           rung – betrachtet. Gemeint ist damit die folgende struk-
      „Bewusstsein einer nur durch gegenseitige Ergänzung           turelle Eigenschaft aller Sprachen: Einerseits „gliedern“
      zu heilenden Einseitigkeit“ liegt allem Denken zugrun-        die Sprachen die Welt, d.h. sie schaffen geistige Einheiten
      de. Humboldts kognitive Sprachauffassung macht ja zu-         in jener Arbeit des Geistes, die wir gerade evoziert haben:
      nächst – gegen die auch zu seiner Zeit vorherrschende         Die Sprachen schaffen semantische Einheiten. Diese sind
      platt kommunikative Sprachauffassung – die Sprache als        immer verbunden mit lautlichen Sequenzen. Der Inhalt
      Denk-Organ stark: „das bildende Organ des Gedanken“           „Hund“ oder „neu“ oder „Plural“ oder „Imperfekt“ wird
      (VII: 53), die „Arbeit des Geistes“ (VII: 46). Humboldt       nicht ohne Wort oder Morphem gedacht, sondern ist
      konstruiert Sprache fast immer zunächst als Welt-Erfas-       immer zusammen mit bestimmten Lauten in der Spra-
      sung des Subjekts. Man kann daher sogar den Eindruck          che gestaltet: eben in der Lautsequenz hunt, neu, oder – e
      gewinnen, Sprache sei nur Weltgestaltung des einsamen         in hund-e, als Ablaut in singen – sang, in -te in er sieg-
      Subjekts. Humboldt sagt das an einer Stelle – so wie Her-     te. Diese Einteilung der Welt in phonetico-semantische
      der – auch einmal ausdrücklich:                               sprachliche Größen nennt Martinet die erste Gliederung,
                                                                    „première articulation“.
          „Ohne daher irgend auf die Mittheilung zwischen                Die lautlichen Sequenzen sind nun ihrerseits so ge-
          Menschen und Menschen zu sehn, ist das Sprechen           staltet, dass sie aus kleinen unterscheidbaren Lautbewe-
Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010                              169

gungen zusammengesetzt sind, aus Sprachlauten, die die            In der Formulierung der ersten Akademierede von 1820
Linguistik „Phoneme“ nennt. In der Sequenz hunt unter-            liest sich das folgendermaßen:
scheiden wir die Phoneme h – u – n – t. Wir wissen dass
/h/ ein solches Stück Laut ist, weil wir statt /h/ auch /r/ sa-       „Es vereinigen sich also im Menschen zwei Gebiete,
gen können und dann ein anderes Wort erhalten: runt. /                welche der Theilung bis auf eine übersehbare Zahl
u/ können wir durch /a/ ersetzen und erhalten hant. Auch              fester Elemente, der Verbindung dieser aber bis ins
das /n/ können wir ersetzen, z.B durch /l/ und erhalten               Unendliche fähig sind [...]. Der Mensch besitzt die
hult (Huld). Und so weiter. Dieses Zusammengesetz-                    Kraft, diese Gebiete zu theilen, geistig durch Refle-
sein der sprachlichen Sequenzen aus Phonemen nennen                   xion, körperlich durch Articulation, und ihre Theile
wir die zweite Artikulation oder zweite Gliederung. Alle              wieder zu verbinden, geistig durch die Synthesis des
Sprachen sind zweifach gegliedert. Die doppelte Gliede-               Verstandes, körperlich durch den Accent, welcher
rung ist ein strukturelles Universale aller Sprachen.                 die Silben zum Worte, und die Worte zur Rede ver-
     Diese Zweiheit in der Sprache, die phonetische und               eint.“ (IV: 4)
die semantische Gliederung, ist natürlich nicht von Mar-
tinet entdeckt worden. Martinet bezieht sich seinerseits          Dies ist, philosophisch formuliert, die grundlegende
vor allem auf den dänischen Linguisten Louis Hjelmslev            strukturelle Zweiheit der Artikulation, die in den zwei
und auf den großen Schweizer Gründervater der mo-                 Gebieten – Laut und Geist – ein Prinzip walten lässt: Tei-
dernen Sprachwissenschaft Ferdinand de Saussure. Aber             len und Verbinden. d.h. Gliedern. Wobei das Verbinden
der erste, der diese grundlegende strukturelle Zweiheit           des Geteilten im übrigen wieder nach dem Prinzip der
der Sprache klar gesehen hat, war natürlich Humboldt.             Synthesis erfolgt. Alles Geteilte ist in der gliedernden
Humboldt ist der vor-strukturalistische Theoretiker der           Sprache synthetisch miteinander verbunden: Zweiheit
Artikulation.                                                     der Sprache. Das Teilen würde uns nun in ein weiteres
     Niemand hat vor Humboldt in solcher Konsequenz               Gebiet sprachlicher Zweiheiten führen, nämlich zu der
formuliert, dass Artikulation das Wesen der Sprache ist           Tatsache, dass die so geteilten sprachlichen Einheiten
und dass es sich um eine zweifache Artikulation handelt.          durch Oppositionen unterschieden sind, die oft binär or-
     In der Akademie-Rede über die Buchstabenschrift              ganisiert sind. Aber für dieser Zweiheit, mit der sich die
von 1824 entwickelt Humboldt seine Theorie der Arti-              moderne Phonologie ausführlich beschäftigt hat, habe
kulation. Das Prinzip der Gliederung durchzieht die gan-          ich nun definitiv keine Zeit mehr.
ze Sprache, den Laut und den Inhalt. Einerseits haben                  Daher schließe ich – indem ich meinen doppelten
wir die „Spaltung des verbundnen Lauts“ (V: 114). An-             Dank an die Humboldt-Gesellschaft und Peter Bieri zum
dererseits aber ist Artikulation nicht nur das Prinzip des        zweiten Mal artikuliere – mit Humboldts Worten aus
Lautes, sondern auch das Prinzip des semantischen Teils           dem „Dualis“, in denen er die Wirkung der Zweiheit der
der Sprache:                                                      Wechselrede – und damit den Grund meiner Dankbar-
                                                                  keit – so wunderbar zusammenfasst:
    „Die Gliederung ist aber gerade das Wesen der Spra-
    che; es ist nichts in ihr, das nicht Theil und Ganzes             „Erst durch die, vermittelst der Sprache bewirkte
    seyn könnte, die Wirkung ihres beständigen Ge-                    Verbindung eines Andren mit dem Ich entstehen
    schäfts beruht auf der Leichtigkeit, Genauigkeit und              nun alle, den ganzen Menschen anregenden, tieferen
    Uebereinstimmung ihrer Trennungen und Zusam-                      und edleren Gefühle, welche in Freundschaft, Liebe
    mensetzungen. Der Begriff der Gliederung ist ihre                 und jeder geistigen Gemeinschaft die Verbindung
    logische Function, so wie die des Denkens selbst.“                zwischen Zweien zu der höchsten und innigsten ma-
    (V: 122).                                                         chen.“ (VI: 26)
170                                         Jahrestagung der Wilhelm v. Humboldt-Stiftung

      Laudatio auf Heino Meyer-Bahlburg anläss-                           Männlichkeit ist dann „Vermögen“, „Kraft des Le-
                                                                      bens“, „Stärke“ „selbsttätige Vernunft“, „mehr Tiefe“
      lich der Verleihung des Stiftungspreises der                    – mithin Verstand.
      Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung                                       Weiblichkeit ist demgegenüber „überströmende
                                                                      Fülle“, „Fülle des Stoffes“, „Übergewicht der Phantasie“,
                                                                      „mehr üppige Fülle und reizende Anmut“ – vulgo Sinne:
      Hartmut A.G. Bosinski
                                                                          „Der ganze Charakter des männlichen Ge-
      Meine sehr geehrten Damen und Herren, lieber Heino,                 schlechts ist auf Energie gerichtet; dahin zielt
           ich habe die Ehre und das Vergnügen, die Laudatio auf          seine Kraft, seine zerstörerische Heftigkeit, sein
      Heino Meyer-Bahlburg zu halten, auf einen Mann, dem                 Streben nach Außenwirkung, seine Rastlosig-
      nicht nur ich, sondern die gesamte sexualmedizinische               keit. Dagegen geht die Stimmung des weiblichen,
      Community viel zu verdanken hat.                                    seine ausdauernde Stärke, seine Neigung zur Ver-
           Ich will zunächst kursorisch darauf eingehen, was der          bindung, sein Hang die Einwirkung zu erwidern
      Namensgeber der Stiftung, was Wilhelm von Humboldt                  und seine holde Stätigkeit allein auf Erhaltung
      zum Thema Geschlechtlichkeit und Geschlechtsunter-                  und Daseyn.“
      schiede sagte, um dann nach dem etwaigen Zusammen-
      hang zum Werk des Laureaten zu fragen.                          Neu daran ist das Abgehen von der misogynen Tradition,
           Wilhelm von Humboldt hat bekanntlich 1794 und              die Frau als Quelle der Erbsünde schlechthin, als Hort des
      1795 – mithin im Alter von 27 / 28 Jahren – in den Ho-          Bösen; statt Geschlechterkampf vielmehr Komplementa-
      ren zwei Abhandlungen publiziert, in denen er hoffte,           rität und Ergänzung.
      von der Deutung der Geschlechtsunterschiede her dem                  Geschlechtsunterschiede werden indes postuliert und
      Geheimnis des menschlichen Charakters näher zu kom-             als polare Dichotomien gedeutet. Die Weiterungen eines
      men: „Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss       solchen Denkens über „naturgegebene“ Unterschiede in
      auf die organische Natur“ (1794) und „Über die männliche        Fühlen, Denken und Handeln der Geschlechter, deren
      und weibliche Form“ (1795). Folgt man Barbara Becker-           Naturgegebenheit empirisch nicht geprüft, sondern
      Cantarino, so firmierten diese Arbeiten innerhalb des           schlichtweg „aus der reinen Anschauung“ postuliert wird,
      Schillerschen Zirkels nur als jene „Über die Weiber“ und        sind ja durchaus nicht unproblematisch. Schon bei Hegel
      es ist bekannt, wie Immanuel Kant die Sache aufgenom-           in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaft
      men hat: Als „Abgrund des Denkens für die menschliche           (1830) treibt die Komplementarität merkwürdige Blü-
      Vernunft“.                                                      ten:
           In seiner Arbeit „Über den Geschlechtsunterschied“
      schreibt Humboldt:                                                  „Dem weiblichen Uterus entspricht im Manne die
                                                                          Prostata; der Uterus sinkt im Manne zur Drüse,
          „Die zeugende Kraft ist mehr zur Einwirkung, die                zur gleichgültigen Allgemeinheit herunter. ...
          empfangende mehr zur Rückwirkung gestimmt.                      Wie im Manne der Uterus zur bloßen Drüse her-
          Was von der ersten belebt wird, nennen wir männ-                absinkt, so bleibt dagegen der männliche Testikel
          lich, was die letztere beseelt, weiblich. Alles                 beim Weibe im Eierstocke eingeschlossen, tritt
          Männliche zeigt mehr Selbstthätigkeit, alles                    nicht heraus in den Gegensatz, wird nicht für
          Weibliche mehr leidende Empfänglichkeit“                        sich, zum tätigen Gehirn und der Kitzler ist das
               „Wir sehen im Menschen immer Selbst-                       untätige Gefühl überhaupt!“
          thätigkeit und Empfänglichkeit einander gegen-
          seitig entsprechen“ (ebd.)                                  Dieses Denken in vermeintlich „naturgegebenen“ Unter-
               „So befriedigt die eine Kraft die Sehnsucht            schieden, bei Humboldt noch romantisch als Ergänzung
          der anderen und beide umschlingen einander zu               und mithin positiv gedacht, geht dann weiter zum 1900 er-
          einem harmonischen Ganzen.“                                 schienenen Pamphlet des Neuropsychiaters Möbius „Über
                                                                      den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ (wo es um die
      Humboldt entwirft somit ein Modell des Zueinanders der          Begründung weiblicher Minderwertigkeit qua kleinerem
      Geschlechter, das wir heute mit dem Begriff der „Kom-           Gehirn geht) bis hin zu dem 1903 erschienenen „Geschlecht
      plementarität“ beschreiben würden – Männliches und              und Charakter“ des Otto Weininger, wo dann die Mi-
      Weibliches ergänzen sich, sind nicht einander unter- oder       sogynie – via postulierte „naturgegebene Passivität“ und
      übergeordnet, sondern aufeinander angelegt.                     somit jenseits der biologischen Reproduktion „schlichte
                                                                      Nutzlosigkeit des Weibes“ unter dem Effizienzgebot in-
      Sexuologie 17 (3–4) 2010 170–172 / Akademie für Sexualmedizin
      http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie
Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010                              171

dustriekapitalistischer Profitmaximierung – fröhlich Ur-     cher nicht. Blieb vielleicht nur der Weg in die USA? Es
ständ feiert.                                                wäre vielleicht eine interessante Frage an die Kulturge-
     Was hat all das mit Heino Meyer-Bahlburg zu tun?        schichte, ob es diese Bewegung, weg aus den Landen des
Furchtbar einfach: Sein wissenschaftliches Werk ist durch-   Morbus teutonicus mit seinen verkarsteten Barrieren und
zogen von genau dieser Frage: Was wissen wir wirklich        ideologischen Niggeligkeiten, die unser Fach, die Sexual-
über die Biologie der Geschlechter und deren Einfluss auf    medizin, hierzulande bis heute beeinträchtigt haben, hin
Denken, Fühlen und Verhalten? Gibt es irgendwelche Evi-      ins Offene der flachen Hierarchien, der effizienten Koop-
denz für die postulierte „Naturgegebenheit“ einer eben-      eration entlang des Gegenstandes und nicht entlang der
so behaupteten Differenz, ja, gibt es überhaupt die Dif-     Fakultätsgrenzen – ob diese räumliche und inhaltliche
ferenz? Oder, um es in einer typisch heinesken Frage zu      Absetzbewegung ein bislang vielleicht übersehener Zug
formulieren: „Nice story-telling – could you please show     der 68er Generation war. Zumindest eine weitere Person
me your data?“                                               ist mir bekannt, die auch diese Bewegung vollzog und mit
     Aber der Reihe nach: Geboren und aufgewachsen in        der Heino Meyer-Bahlburg in der Folgezeit und bis heute
Hamburg – die Annalen verzeichnen das Abitur an der          eng zusammenarbeitet – Anke Ehrhardt.
Gelehrtenschule des Johanneums mit einem „Preis für ex-            In Buffalo, wo es ihn bis 1977 hält, folgen dann Schlag
zellente Leistungen in Latein und Griechisch“, womit wir     auf Schlag die Publikationen, für die er bekannt geworden
dann auch die europäische Begründung und Konstante           ist in der Community: Wegen ihrer methodischen Exaktheit,
des Arbeitens des nunmehrigen US-Bürgers benannt hät-        ihrer steten Orientierung an Maß und Zahl, und nicht zu-
ten – belegt er 1960 bis 1966 das Studium der Psycholo-      letzt ihrem Versuch, sich der Komplexität des nun wirklich
gie in Hamburg. Ich habe mich in Vorbereitung auf diese      „Biopsychosozialen“ anzunähern: Sie drehen sich zunächst
Laudatio kurz gefragt, warum er wohl Psychologie studi-      im Wesentlichen um die Frage des Zusammenspiels von
ert haben könnte. Rasch fielen mir dann Beobachtungen        Hormonen und psychosozialen Bedingungen auf die Ent-
ein: Die studentische Kellnerin aus Polen beim Mexikaner     wicklung von Fühlen und Verhalten. Es ist unmöglich, die
im New Yorker Greenwich Village, der indische Taxifahrer     Fülle seiner insgesamt ca. 140 peer-reviewten Zeitschriften-
in Central Manhattan, der britische Besucher im Glo-         artikel, seiner 50 Buchbeiträge und zahlreichen Monogra-
bushaus des Schlosses Gottorf – Heino fragte sie alle nach   phien hier zu referieren. Zentral dabei immer wieder die
dem Woher und nach dem Wie; er schließt Menschen auf,        Frage nach dem Zusammenhang aktueller und vor allem
nie aufdringlich, sondern ernsthaft interessiert: Da will    pränataler Hormonwirkungen auf das geschlechtliche und
jemand wirklich wissen, was die Menschen antreibt.           sexuelle Verhalten.
     Assistenz und Promotion dann 1970 an der Univer-              Er untersucht und belegt dies Zusammenspiel
sität Düsseldorf beim damaligen „Methodenpabst“ der          zwischen Natur und Kultur, Nature and Nurture, anhand
modernen Psychologie, Lienert. Der Titel der Arbeit weist    bis heute maßstabsetzender Nachuntersuchungen von
die Richtung des weiteren Arbeitens:                         Menschen, die pränatal abweichenden Spiegeln von Se-
     „Katecholaminausscheidung unter Aktivierungs- und       xualhormonen ausgesetzt waren – sei es aufgrund prä-
Entspannungsbedingungen in Beziehung zu Persönlich-          nataler Medikationen wie dem Diethylstilbestrol, sei es
keits- und Leistungsvariablen.“ – also Biologie im Zusam-    aufgrund von Störungen der adrenalen Steroidbiosyn-
menspiel mit Psychosozialem.                                 these, also beim Adrenogenitalen Syndrom. Hierzu legt er
     1970 dann der Gang über den Großen Teich und            maßgebliche Arbeiten vor, die eben zeigen, dass die Dinge
Beginn an der State University of New York in Buffalo.       nicht so einfach sind, dass Biologisches sich eben nicht
Als Research Assistent Professor im Department of Psy-       eins zu eins in Psychosozialem manifestiert und ummün-
chology und – in Pediatrics! Wie niedrig dort die Zäune      zen lässt. So wird er später überzeugend demonstrieren,
sind zwischen den hier bei uns so oft klar abgegrenzten      dass die Größe des Gendefektes beim AGS – und damit
Fakultäten! Vielleicht war das der Grund für den Wech-       die Höhe des pränatalen Androgenexzesses – bei Mäd-
sel?                                                         chen und Frauen zwar deren geschlechtstypisches Ver-
     Vergegenwärtigen wir uns: Der Laureat studierte in      halten beeinflusst, aber eben nicht automatisch zugleich
Deutschland zur Zeit der Studentenunruhen. Ich glaube        zu einer Maskulinisierung der Geschlechtsidentität – ei-
zu wissen, dass er mit dem Muff der 1000 Jahre unter den     nem sehr viel komplexeren Topos – führt.
Talaren seine ganz erheblichen Schwierigkeiten gehabt              1977 dann der Wechsel an die Columbia-University
haben dürfte. Postulierte Autorität, begründet einzig auf    in New York City. Dort beschäftigt er sich zwar weiter
der Position, dysfunktionale Hierarchien, Machtgepränge      mit der Psychoneuroendocrinologie der Geschlechter
als Anspruch – all dies dürfte ihm wohl ein Graus gewe-      – eine Arbeit, die allein schon den ganzen Einsatz fordert.
sen sein. Aber auch lärmender Krawall, Phrasendrescherei     Er stellt sich aber auch den neuen Herausforderungen,
und hohle Pose des Salonrevoluzzers sind seine Sache si-     die die HIV-Pandemie mit sich bringt. Am HIV Cen-
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