Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Humboldt-Dialog Sexuologie Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010 Begrüßung und Einführung zum Bekanntlich werden heute in den Vereinigten Staaten von Amerika zahlreiche Universitäten nach einem sol- Humboldt-Dialog und der Verleihung chen Finanzierungsmodell erfolgreich geführt. des Stiftungspreises der Wilhelm-von- Die Idee dahinter: Wissenschaft soll um ihrer selbst willen, d.h. zweckfrei betrieben und nicht als Mittel zu Humboldt-Stiftung an Prof. Dr. Trabant und anderen Zwecken missbraucht werden. Deshalb die aka- Prof. Dr. Meyer-Bahlburg demische Freiheit als Freiheit in Forschung und Lehre und seine Auffassung, dass der Universitätsprofessor nicht in erster Linie Lehrer und der Studierende nicht Klaus M. Beier hauptsächlich „Schüler“ wie beim Schulunterricht sein solle, sondern beide sind vor allem Forschende und der Meine sehr verehrten Damen und Herren, sehr geehrter Erfahrene soll anleiten und unterstützen. Alles eingebun- Herr Prof. Trabant, sehr geehrter Herr Prof. Meyer-Bahl- den in einen Dialog, der letztlich das Neue hervorbrin- burg, liebe Freunde und Angehörige, gen und damit Wachstum ermöglichen soll, denn nur im im Namen des Kuratoriums der Wilhelm-von-Hum- Austausch mit dem anderen entwickelt man sich weiter, boldt-Stiftung begrüße ich Sie ganz herzlich zum Hum- weshalb man die Entwicklung des anderen fördern sollte, boldt-Dialog und der Verleihung des Stiftungspreises im um nämlich auch die eigene voranzutreiben. Jubiläumsjahr 2010 – denn vor 200 Jahren wurde die Ber- Dies ist exakt das Modell der Dialogik, welches Hum- liner Universität gegründet und erinnert uns an eine un- boldt in seinen Horen-Aufsätzen über die Geschlechter- bestrittene Großtat Wilhelm von Humboldts, die er wäh- differenz herausgearbeitet hat, um letztlich damit auch rend nur 14monatiger Amtszeit in den Jahren 1809/1810 eine Vordenkerrolle der Geschlechterforschung einzu- als Abteilungsleiter der Sektion Kultus im Preußischen nehmen, mit der er allerdings gerade nicht im kollektiven Innenministerium umsetzte – im übrigen mit einem Gedächtnis haften geblieben ist. unerhörten Geschick bei den Berufungen (Evangelische Dabei ist das Grundkonzept hier bereits klar erkenn- Theologie: Schleiermacher, Jurisprudenz: Savigny; Me- bar: Individualität ist begrenzt und das Geschlecht selbst dizin: Hufeland; Philosophie: Fichte; Altphilologie: F.A. ist eine Grenze. Durch die Zugehörigkeit zu dem einen Wolf; Geschichte: Niebuhr; Agronomie: Thaer; Chemie: Geschlecht, gehört man automatisch nicht dem anderen Klaproth). an und ist insofern eingeschränkt. Nur: Die Geschlecht- Vor allem damit ist er im kollektiven Gedächtnis haf- lichkeit selber ist ein Motor für die Hinwendung zum ten geblieben: Es ist seine bekannteste Leistung geworden. anderen, d.h. aus der Differenz entsteht die Spannung, Damals war er 43 Jahre alt und konnte zurückgreifen auf diese wiederum enthält die Entwicklungspotentiale bei- ein durchdachtes anthropologisches Konzept, das letzt- der, sofern jeder die Entfaltung des anderen und dessen lich seine politische Praxis und seine Bildungsreform Wachstum möchte, was in eigenem Interesse der Fall sein (mit-)erklärt. sollte, weil erst dadurch die eigene Weiterentwicklung Was wir darin finden können ist eine „Ehrfurcht für möglich wird. die Individualität selbstthätiger Wesen“ und einer „aus So ist es einerseits die Unterschiedlichkeit der Ge- dieser Ehrfurcht entspringenden Sorgfalt für die Frei- schlechter, aber andererseits auch ihre Gleichwertigkeit, heit“, wie es bei ihm selbst heißt. Die Politik hatte nach die Humboldt betont. Es ist auf beiden Seiten immer seiner Auffassung dann die Aufgabe Zwänge und Ein- Einwirkung und Rückwirkung, Selbsttätigkeit und Emp- schränkungen zu beseitigen und er sah für eine neu zu fänglichkeit, Geben und Nehmen. Männliche und weib- gründende Institution „Universität Berlin“ deshalb auch liche Form werden von ihm gerade herausgelöst aus dem eine ‚Stiftungskonstruktion‘ als mögliche Lösung um un- traditionellen Subordinationsverhältnis und in ein täti- abhängig vom König zu werden – nämlich durch Über- ges Wechselwirkungsverhältnis hineinverlagert. eignung von Domänen, aus deren Bewirtschaftung sich Humboldts Schriften wirken zwar – zeitbedingt – die Universität selbst finanzieren können sollte. sprachlich überladen, aber unbefangen und als Aufbruch Sexuologie 17 (3–4) 2010 160-162 / Akademie für Sexualmedizin http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie
Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010 161 zur Durchdringung einer basalen Erlebnisdimension des punkt einer weit verbreiteten Grundhaltung, die sich auf Menschen – nämlich der Sexualität. den Nenner bringen lässt: Da gibt es zwar Probleme, aber Seine Sprachforschungen sind hierzu eine geniale Ein- lieber nicht so genau hinschauen. lassstelle. Denn Sprache ist Vermittlerin zwischen Denken Von Humboldt lernen heißt eben im Gegensatz dazu und Sein – für Humboldt ist dies ja ein geschlechtliches auch diesbezüglich genau hinzuschauen. Sein. Die Wirklichkeit ist ursprünglich von einem Sub- Die Wilhelm von Humboldt-Stiftung engagiert sich da- jekt geäußerte und von einem anderen Subjekt vernom- für, dieses Vermächtnis bewahren zu helfen und möchte mene Rede. Menschliche Subjekte sind aber gerade keine mit dem Stiftungspreis Persönlichkeiten ehren, die die- idealen Sender und Empfänger von Informationen, eben sem Aspekt die notwendige Beachtung geschenkt haben. durch ihre Subjektivität, sie sind sich selbst und ande- In diesem Jahr gibt es einen Preisträger aus der ren undurchsichtige Individuen, an deren Eigensinn die Sprachforschung und einen aus der Sexualforschung – Allgemeinheit der Gedanken sich bricht. Darum finden Gebiete, die im Humboldtschen Sinne viel enger benach- wir die Humboldtsche These von der sprachlichen Welt- bart gedacht werden müssen als allgemein angenommen ansicht. Mit der äußeren Gleichheit des Wortes verbindet wird. sich die innere Verschiedenheit der Sprache, von der die Der Entwicklung des jungen Humboldt genauer Bedeutung des Wortes getragen wird. Nur das Wort wird nachzuspüren war aber eine der Herausforderungen in ausgesprochen. Als was es im einzelnen Bedeutung haben der Zusammenarbeit mit der Mendelssohn-Gesellschaft, mag, das ergibt sich aus der Welt des Einzelnen. insbesondere mit Herrn Dr. Lackmann, der gleich zu Übertragen auf Sexualität: Das immer geschlechtliche ihnen sprechen wird, und Herrn Dr. Siebel, zwei subtile Individuum besteht immer in der Differenz zu anderen Kenner der Mendellsohns und ihrer vielfachen Verbin- geschlechtlichen Individuen, und die Sprache ist eine Ver- dungen mit der deutschen Geistes- und Kulturgeschichte. mittlerin um das Getrennte zu verbinden. Deshalb heißt Dass sich für Wilhelm von Humboldt die Mitglied- es bei Humboldt, dass der „Gedanke der letzte Sprössling schaft in der von Henriette Herz und Brendel Mendels- der Sinnlichkeit“ ist. sohn 1787 ins Leben gerufenen literarischen Vereinigung Die Sexualmedizin spricht – derselben Logik folgend namens „Tugendbund“ auf seine spätere Geschlechter- – von der sexuellen Weltanschauung und betont auch hier forschung ausgewirkt hat, ist sehr wahrscheinlich. Sicher das Subjektive, dass sich trotzdem – wie die Grammatik ist, dass er durch den Tugendbund seine spätere Frau in der Sprache – auf Prinzipien und Strukturen zurück- Caroline von Dacheröden kennen lernt und mit ihr eine führen lässt, die wissenschaftlich erforschbar sind. Es gibt lebenslang verbindende Zweierbeziehung eingeht, die für eben auch eine Grammatik der Sexualität. ihn aber gleichwohl das Kriterium der „Freiheit“ erfüllen Das wohl ist der Hintergrund für Humboldts kühnen musste – wiederum getragen von der Überzeugung, dass Plan, eine „Geschichte der Abhängigkeit im Menschenge- die optimalen Entwicklungsbedingungen für den Partner schlecht“ schreiben zu wollen, in der er diesen Strukturen der eigenen Entwicklung dienen. nachzugehen gedachte und dabei kein Thema auslassen Daher der Titel der Veranstaltung „Zweiheit und und selbst die Prostitution in einem eigenen Kapitel be- Freiheit“ – gemeinsam ausgerichtet von der Wilhelm von handeln wollte. Humboldt Stiftung und der Mendelssohn-Gesellschaft. Dass es ihm um Strukturen ging belegt eine Passa- Ich bin dabei sehr dankbar für die vielen Einsichten, ge aus der Einleitung, in der es heißt: „Es müssen nicht die aus dieser Zusammenarbeit resultiert sind: Vor allem nur die Menschen in verschiedenen Zuständen, sondern aber gingen sie zurück auf genau jene Spannung unter- auch die allgemeinen Zustände an verschiedenen Men- schiedlicher Weltansichten, die dann eine Weitung er- schen und Völkern betrachtet werden. Denn gerade sie möglichen, von der wir hoffen, dass sie sich auf den ge- sind das Bleibende, sich Forterhaltende, da der einzelne, meinsam konzipierten zwei Bannern sein werden und genießende und leidende Mensch kommt und untergeht. das Verhältnis der Humboldts zu den Mendelssohns (...) Denn die Einheit der Realität hebt die Getrenntheit transparent machen sollen. Hinzu kommt eine neue Büs- der Erscheinungen auf.“ te Wilhelm von Humboldts, welche die Stiftung als Dau- Von Sexualwissenschaftlern wird das zwar gern zitiert, erleihgabe der Mendelssohn-Remise zur Verfügung stellt, in der Gesellschaft und der Bildungspolitik ist das ganze nachdem Alexander ja bereits hier vertreten ist. Thema aber noch lange nicht adäquat angekommen, son- In diesem Sinne danke ich der Mendelssohn-Gesell- dern im Gegensatz weiterhin geeignet um Befangenheit, schaft für die bisherige Zusammenarbeit ganz außeror- Verunsicherung und Ablehnung hervorzurufen. dentlich, freue mich auf diesen Abend und übergebe das Erst vor diesem Hintergrund wird der Missbrauchs Wort an Dr. Lackmann, der auch zur Humboldt-Kantate skandal der letzten Monate verständlicher: Letztlich End- der Sing-Akademie zu Berlin etwas sagen wird.
162 Jahrestagung der Wilhelm v. Humboldt-Stiftung Die beiden Banner, die die Verbindung der Gebrüder Humboldt zu den Mendelssohns illustrieren, sind Teil der Dauerausstellung „Die Mendelssohns in der Jägerstraße“ in der Mendelssohn-Remise, 10117 Berlin, Jägerstraße 51 – Graphische Gestaltung der Banner Ben Buschfeld (Berlin)
Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010 163 Begrüssungsworte im Namen der erst eingebaut, als die Erinnerung an die Humboldts und ihre Mendelssohns schon Geschichte war. Wie die Mendelssohn-Gesellschaft Freundschaft von Moses Mendelssohn und Lessing ist die Achse Humboldt – Mendelssohn ein gutes Versprechen Thomas Lackmann der deutsch-jüdischen Geschichte gewesen. Die „Mor- genstunden“-Vorlesungen des Moses, an denen Wilhelm Teplitz, den 2. Oktober 1813. und der in der Jägerstraße 22 geborene Alexander mit dem Ältesten Joseph Mendelssohn teilgenommen haben; „Es thut mir sehr leid, mein lieber Herr Mendels- der Tugendbund, der den Teenager Wilhelm mit Brendel sohn, erst so spät Ihren Wunsch, Pässe nach Russ- und Jette Mendelssohn zu einem Beziehungsexperiment land zu erhalten, erfüllen zu können. Allein die mit zusammenführt; die Sternwarte Alexanders im Garten diesen Ausfertigungen verbundenen Zögerungen der Mendelssohn Bartholdys an der Leipziger Straße, sei- liessen sich nicht kurz beseitigen. Ich schicke Ih- ne Unterstützung für den Mechanicus Nathan und den nen hier beide Pässe, und hoffe, daß sie so, wie Sie Geographieprofessor Georg Benjamin Mendelssohn; die es wünschten, ausgestattet seyn werden. Es wird mir Kredite des Bankiers Joseph für Alexanders Forschungs- aber viel lieber seyn, wenn Sie unter uns blieben, u. reisen. Joseph Mendelssohns Nachfolger in der Bank kein Gebrauch davon machen. Die Angelegenheiten heißt Alexander; für ihn wird der Vater in den 1830er Jah- gehen sehr günstig. Napoleon hat unglaublich viel ren das Geburtshaus von Humboldts, Jägerstraße 22, als seit dem Wiederanfang der Feindseligkeiten verloren. Wohnhaus erwerben. Das alles sind, als diese Kassenhalle Er hatte am Ende des Waffenstillstands 313000 Mann um 1890 gebaut wird, für die fünfte Mendelssohn-Gene- [jenseits] der Elbe, jetzt hat er nach den Nachrichten ration, nur noch glorreiche Anekdoten einer preußisch- nur 118000. Also ein Verlust von 135000 Menschen. jüdischen Freundschaft: aus einem Zeitalter aufgeklärter Und wie demoralisiert ist die Armee die ihm bleibt? Hoffnungen. Man glaubt zu wissen, daß er sich aus Leipzig, u. ver- Diese Kassenhalle wird bald darauf, 1892 – weil ne- mutlich weiter zurückzieht. Allein gewiß ist es noch benan, im fünften der sechs Mendelssohn-Häuser der Jä- nicht. Leben Sie recht wohl, liebster Freund! Und gerstraße, ein neues Bankhaus entsteht – zur Kutschremi- erinnern Sie sich manchmal Ihrer ruhigen Existenz se umgewidmet. Von hier aus fahren die Bankiers in ihre in Wien an unser [Ihr dortiges] Leben. Mit unwan- neuen Grunewaldvillen, zu den Schlössern bei Bernau. delbarer Hochachtung und Freundschaft der Ihrige 1938 wird die Mendelssohn-Bank, deren ökonomische Humboldt. Viele Empfehlungen an Ihre Schwester.“ Kraft mit der künstlerischen Fruchtbarkeit die wirtschaft- liche und kulturelle Bedeutung des Familien-Labels aus- Meine Damen und Herren, nicht der Sprach- und Bezie- machte, liquidiert. Zur DDR-Zeit dient dieser Raum als hungsforscher, sondern der Politiker Wilhelm von Hum- Autogarage; die Dokfilm-Abteilung der DEFA nutzt das boldt hat am Vorabend der Völkerschlacht diesen Brief Haus. Nach der Wende ist es, mitsamt der Aufstockung, an den 37jährigen Vater des späteren Komponisten Felix die nach dem Krieg stattgefunden hatte, restauiert wor- verfaßt. Bald darauf wendete sich die Weltgeschichte, Ab- den. Seit den Jüdischen Kulturtagen 2004 gibt es diese raham Mendelssohn muß nicht mehr vor Napoleon nach Ausstellung; das Geschichtsforum Jägerstraße, das sie seit Rußland fliehen; kann mit seiner Familie in der Markgra- 2006 als Dauerausstellung weiterentwickelte, hat sich im fenstraße 48 am Gendarmenmarkt bleiben; mit seinem vergangenen Jahr mit der 1967 gegründeten Mendelssohn- Bruder schließlich 1815 sein Bankgeschäft in dieses Haus Gesellschaft unter deren Namen zusammengeschlossen. Jägerstraße 51, zwischen zwei Staatsbanken verlegen, wo Unsere Veranstaltungen und Ausstellungen, Dokumen- es – mit Hilfe französischer Reparationszahlungen – zur tensammlung, Forschung und die Publikationen haben größten deutschen Privatbank expandiert. Daß ein Jahr den Zweck 1) die Erinnerung an den jüdisch-deutschen später, 1816, seine Kinder im Haus an der Markgrafenstra- Mikrokosmos der gesamten Mendelssohn-Familie, jene ße heimlich getauft werden, hat dann allerdings wieder et- Bankiers, Künstler und Gelehrten, die fünf Generationen was mit großer Politik zu tun: Mit dem Wiener Kongress deutsche Geschichte machten, vorzuantreiben; 2) damit und jener Restauration, die viele Emanzipations-Hoff- verbundene Berliner Topographien, gerade auch hier im nungen zunichte macht. Die Mendelssohn Bartholdys, Quartier der Mendelssohns, freizulegen; 3) das Thema wie sie sich später nennen, fliehen in die konfessionelle – „Bürgerliche Verantwortung gestern und heute“ – zu Assimilation; Wilhelm von Humboldt, der liberale Staats- reflektieren. mann, zieht sich mit 51 auf Schloß Tegel zurück. Für den Fall übrigens, daß jemand von Ihnen, neben Die Mendelssohn-Remise, in der wir uns befinden, seinem Wilhelm von Humboldt-Interesse, doch noch wurde in das barocke Stammhaus der Mendelssohn-Bank Ressourcen freihat: Mitarbeiter und finanzielle Unterstüt- Sexuologie 17 (3–4) 2010 163–164 / Akademie für Sexualmedizin http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie
164 Jahrestagung der Wilhelm v. Humboldt-Stiftung zung kann unsere Geschichtswerkstatt, die nur durch eh- Karl Friedrich Zelters. Die Kantate beschwört die Einheit renamtliche Arbeit und Spenden getragen wird, auf allen divergierender Elemente, zu denen ja nicht nur die Ge- Ebenen gebrauchen. Zur Information über unsere Veran- schlechter oder wissenschaftliche Disziplinen gehören, staltungen können Sie sich gern draußen in unseren Ver- sondern auch – was in den besten Familien vorkommt teiler eintragen. Daß dort im Vorraum ab heute in dem – rivalisierende Brüder. „Jetzt wirken und schaffen ver- neu eröffneten Ausstellungsprolog die Einbindung der schwisterte Kräfte und bilden und bauen die herrliche Mendelssohn-Story in die Welt der Humboldts skizziert Welt,“ hoffte der Librettist Ludwig Rellstab. wird, ist nun eine großartige Erweiterung der Zeitreise, zu Die Humboldts und die Mendelssohns als Protago- der wir an diesem Ort einladen. nisten der Kulturpolitik, der Welterkundung, der Wis- Wir danken der Wilhelm von Humboldt-Stiftung für senschaft, des Finanzmarktes und der schönen Künste ihre Initiative. Wir freuen uns, daß Sie alle heute hier erinnern an eine Zeit, in der es gute Gründe gab, optimis- sind! Die Wiederaufführung der Kantate, die der Hörer tisch – realistisch – idealistisch zugleich zu sein. Wie zur der „Kosmos“-Vorlesungen Felix Mendelssohn Barthol- Unterstützung eines solchen Programms jene utopische dy zur Ehre des Familienfreundes Alexander von Hum- „unwandelbare Hochachtung und Freundschaft“ zu er- boldt beim Naturforscher-Kongress 1828 komponiert ringen wäre, die Wilhelm von Humboldt 1813 aus Teplitz hat, paßt zum joint venture unserer Zusammenkunft. Es seinem Mendelssohn versichert hat: das werden uns die ist zwar nicht, wie damals und wie angekündigt, die Sing- ungleichen Freunde hoffentlich noch nachvollziehbar Akademie, die heute singt, aber der Dirigent der Staats- verraten – oder: die Beiträge dieses Abends! Ihnen allen und Dom-Chor-Sänger, Kai-Uwe Jirka, steht als Direk- wünsche ich einen festlichen, erkenntnisreichen Abend in tor der Sing-Akademie in der apostolischen Sukzession der Mendelssohn-Remise. Laudatio auf Jürgen Trabant anlässlich Fünfzig Jahre später schlug ich das Buch von Jürgen Trabant auf: Mithridates im Paradies. „Mein Motiv für das der Verleihung des Stiftungspreises der Schreiben des vorliegenden Buches“, las ich da, „ist meine Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung altmodische Liebe zu diesen schwindenden Oberflächen- Dingern, den Sprachen: l’amore delle lingue, wie die ita- lienischen Humanisten sagen, sozusagen eine unheilbare Peter Bieri ‚Philo-Logie‘“. Ich habe dieses Buch verschlungen, als läse ich es unmittelbar nach der ersten Griechisch-Stun- Verehrter, lieber Herr Trabant, verehrte Kollegen, meine de. Und ich habe, mit jedem Kapitel noch mehr, seinen Damen und Herren, Autor beneidet: um seine stupende Gelehrsamkeit, die ei- was mir stets von neuem in den Sinn kommt, wenn nen nie belästigt oder bedrängt, weil sie mit leichtfüßiger ich an den heutigen Preisträger denke, ist die Hand meines Selbstverständlichkeit und Unauffälligkeit daherkommt; Griechischlehrers, der langsam und mit kalligraphischer um seine enorme historische Übersicht, die in mir immer Sorgfalt die Worte τὸ δῶρον an die Tafel schrieb. Es wa- öfter die Frage entstehen ließ: wie, um Gottes willen, hat ren für mich die ersten griechischen Wörter, und es war er die Zeit gefunden, sich das alles anzueignen?; um die die erste Begegnung mit einem fremden Alphabet, um seltene Fähigkeit, die lange und komplizierte Geschichte das ich die Griechen noch heute beneide. der europäischen Sprachen und des Nachdenkens über Ich spürte in jenem Moment mit großer Klarheit, Sprache mit unerhörter gedanklicher Transparenz zu er- daß mir in Zukunft nichts wichtiger sein würde als frem- zählen. Und das Ganze eben im Tonfall von einem, der de Sprachen und fremde Schriften, und bald schon nahm Sprachen nicht studiert, um eine Karriere zu machen, ich mir vor, die Sprachen aller Länder zu lernen, die an sondern weil er sie liebt. Ein echter Wissenschaftler also. das Mittelmeer grenzen. Als der Lehrer von dieser Leiden- Auf der vorletzten Seite des Buches stehen Gedicht- schaft erfuhr, erzählte er mir von Mithridates, dem König zeilen von Paul Verlaine: Les sanglots longs / Des violons / von Pontus, der mindestens zweiundzwanzig Sprachen De l’automne/Blessent mon coeur / D’une languer / Mono- beherrschte und sich mit den Völkern seines Reiches in tone. „Obwohl es vielleicht Unsinn ist“, schreibt Trabant, der jeweiligen Sprache verständigen konnte. „daß die langen Schluchzer der Violinen des Herbstes Und er wies mich stolz auf den Schweizer Gelehrten mein Herz mit einer monotonen Wehmut verletzen, so Conrad Gesner hin, der 1555 unter dem Titel Mithridates ist dies doch in solcher Schönheit gesagt, daß man diese sive de differentiis linguarum eine Sprachenenzyklopädie Sprache einfach lernen muß.“ Als ich das las, war ich end- verfaßt hatte. gültig überzeugt, einen Sprachwissenschaftler gefunden Sexuologie 17 (3–4) 2010 164–165 / Akademie für Sexualmedizin http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie
Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010 165 zu haben, wie ich ihn mir gewünscht hatte: einen, der die so kam es, daß er auch bei uns, im Institut für Philoso- Sprachen liebt, so wie ein Schriftsteller sie liebt. So einen phie, unterrichtet hat. Die Studenten mochten seine Le- zu finden, ist gar nicht leicht: Ich habe die Sprachwissen- bendigkeit und Leidenschaft, mit der er über die Dinge schaft aufgegeben, weil ich die Schönheit und Poesie der sprach. Das konnte ich nachfühlen, als ich unlängst einen Sprache darin zu verlieren drohte. Vortrag von ihm über Humboldt hörte. Ich saß da und All das wäre bereits Grund genug, Jürgen Trabant den dachte: Wenn ich jetzt zwanzig wäre, würde ich nur noch Preis zu verleihen. Doch es gibt noch viele andere Grün- bei diesem Mann studieren wollen. Es sind nicht so sehr de. Einer davon betrifft natürlich Wilhelm von Hum- bombastische Projekte und Drittmittel, die wir in den boldt. Einiges von ihm kannte ich vorher schon. Aber erst Geisteswissenschaften brauchen: Wir brauchen Leute wie durch die Bücher und sonstigen Schriften von Trabant Jürgen Trabant, die begeistern können. ist mir der Reichtum und die gedankliche Tiefe seines Statt der Dinge, von denen ich gesprochen habe, hätte Werkes deutlich geworden. Und das ist deshalb so, weil ich auch über Trabants glanzvolle Karriere sprechen kön- Trabant das Werk nicht einfach nacherzählt, sondern es nen: Tübingen, Bari, Rom, Hamburg, Stanford, Leipzig, gedanklich transparent macht, als sei es das eigene – eine Davis, Paris, Limoges, Budapest. Man fragt sich unwill- hermeneutische Leistung, wie sie nur selten gelingt. „Die kürlich: Ist der irgendwo nicht gewesen? Und die Leute, Sprache ist das bildende Organ des Gedankens“, schreibt die ihn beriefen, wußten, was sie taten. Als ich das Litera- Humboldt. In Apeliotes oder Der Sinn der Sprache, seinem turverzeichnis ausdruckte, machte der Drucker so lange Buch über Humboldt, entwickelt Trabant diese Idee so, weiter, daß ich schon dachte, er sei in eine endlose Wie- daß ihre bleibende Gültigkeit deutlich wird. Und auch in derholungsschleife geraten. den späteren Büchern kehrt die Idee wieder: Sprache als Jürgen Trabant ist ein glanzvoller Wissenschaftler Medium des Denkens; als der Prozeß, in dem die Welt in mit einer glanzvollen Karriere und einem beeindrucken- Gedanken gefaßt wird; als die Dimension, in der sich un- den Werk. Schließen möchte ich aber mit einem Erlebnis, sere Erfahrung artikuliert; als der entscheidende Beitrag das ich kürzlich mit ihm hatte und das mir noch wich- zu einer Lebensform. tiger ist als aller Glitter und Glamour. Ich hatte mit einer Herr Trabant ist diesen Themen stets von neuem französischen Übersetzung zu tun, bei der es darum ging, nachgegangen, und dabei ist eine historische Anthropo- das schweizerische Wort sich hintersinnen zu übersetzen logie der Sprache herausgekommen, in der die Menschen – ein Wort, das einen großen Ärger zum Ausdruck bringt, als sprechende Tiere von großer Plastizität und Wandel- den man über sich selbst haben kann wegen eines fol- barkeit verstanden werden. Die Geschlechtlichkeit dieser genreichen Versäumnisses. Wie er das übersetzen würde, Tiere reicht weit in ihre Sprache hinein, und Trabant hat fragte ich Herrn Trabant. Er kannte das Wort nicht, ver- auch diesem Gedanken Humboldts sein Gewicht zurück- stand es aber auf Anhieb, dachte einen Moment nach und gegeben. sagte dann: se ronger, eigentlich: an sich nagen. Der Ordi- Unser Preisträger ist nicht nur ein Linguist, ein em- narius für Französisch an der Universität Bern brauchte pirischer Sprachforscher. Er ist auch ein Philosoph der einen Tag, um darauf zu kommen. Sprache – einer also, der sich im logischen Raum der Ich war danach sehr stolz auf Jürgen Trabant und Überlegungen zur Sprache auskennt, die mit Platon be- stolz, daß ich die Laudatio auf einen solchen Mann halten ginnen und bis zu Wittgenstein und Derrida reichen. Und durfte.
166 Jahrestagung der Wilhelm v. Humboldt-Stiftung Zweiheit in der Sprache Jürgen Trabant Sehr verehrter Herr Beier, meine Damen und Herren, bevor ich über die Zweiheit in der Sprache spreche, muss ich zwei Dinge sagen, also sprachliche Zweiheit performativ realisieren: Erstens möchte ich Ihnen sagen, wie sehr ich mich freue über den Humboldt-Preis, und zweitens, wie sehr ich mich freue, dass der bewunderte Philosoph und Schriftsteller Peter Bieri / Pascal Mercier mir die große Ehre erweist, mich ein bisschen zu loben. Humboldt über die Zweiheit in der Sprache Da Humboldt sich in seiner großen Akademierede über den Dualis von 1827 genau der Frage der Zweiheit in der Jürgen Trabant auf der Festveranstaltung am 22. Juni 2010 in Berlin Sprache angenommen hat, muss ich hier zunächst einiges von dem referieren, was Humboldt schreibt. Und Sie grammatische und lexikalische Inhalte in den Sprachen werden sehen, Humboldt hat schon das Wichtigste und der Welt behandelt werden. Ziel der zweiten Art von Un- Schönste gesagt. tersuchung ist es zu zeigen, „in welchem Umfang der Ver- Humboldt geht aus von der grammatischen Katego- schiedenheiten das Menschengeschlecht ... seine Sprache rie, die Zweiheit ausdrückt, vom Dualis. Manche Spra- bildet“ (IV: 11). Der Dualis-Aufsatz ist eine Studie dieser chen haben – beim Pronomen, beim Substantiv und zweiten Art, eine, die also den „Umfang der Verschie- beim Verb – nicht nur Singular und Plural, sondern noch denheiten“ illustriert. Solche vergleichenden Untersu- einen besonderen Numerus für zwei. Das Griechische chungen sind eine Kritik der alten philosophischen oder ist hierfür Humboldts Ausgangspunkt. Sie erinnern sich allgemeinen Grammatik, die auf sehr wenigen empi- vielleicht an das Lateinische ambo oder auch duo (wo das rischen Kenntnissen basierte und universelle Kategorien -o wohl der Rest eines früher auch im Lateinischen allge- präsupponierte, also etwa Tempus, Aktionsart, Numerus, mein funktionierenden Dualis ist). Humboldt durchfors- Genus. Mit den Untersuchungen durch alle Sprachen tet sein gesamtes sprachwissenschaftliches Wissen und hindurch werden diese Kategorien nun empirisch gefüllt zeigt, in welchen Sprachen diese grammatisch-morpho- und damit aus ihrer philosophischen Allgemeinheit in logische Kategorie vorkommt und wie sie dort realisiert die linguistische Konkretheit überführt. So manifestiert wird. Dann erwähnt er weitere sprachliche Gestaltungen der Gang durch die Sprachen der Welt eine Buntheit der von Zweiheit in anderen Bereichen der Sprache, z.B. im Kategorie „Dualis“, die weit über den griechischen Dual, Wortschatz: paarweise vorkommende Körperteile, Tag die lateinischen Dualis-Reste oder über einen abstrak- und Nacht usw. Und schließlich behandelt er die Zwei- ten Begriff mathematischer Zweiheit hinausgeht, eben heit im Wesen der Sprache überhaupt oder – wie er sagt „in welchem Umfang der Verschiedenheiten“ das Men- – in der „Wechselrede“. schengeschlecht in seinen vielen Sprachen die Idee der Bevor ich auf diese zu sprechen komme, möchte ich Zweiheit grammatisch und lexikalisch implementiert. auf Humboldts Begründung einer solchen Studie hin- Die Art und Weise, wie sich das konkret Empirische weisen. Der Dualis-Aufsatz ist ein Muster für eine be- und das Allgemeine hier verbinden, zeigt nun des wei- stimmte Art von sprachvergleichenden Studien, wie teren, wie Humboldt sich überhaupt die Verbindung Humboldt sie in seiner ersten Akademie-Rede 1820 ent- zweier Größen vorstellt. Er unterscheidet generell drei wirft. In dieser Rede über das vergleichende Sprachstudi- Möglichkeiten der Begegnung zweier Wesen: 1. die Iso- um fordert Humboldt zwei Arten von Studien: einerseits lierung, 2. die Verschmelzung oder Einverleibung und 3. wünscht er sich „Monographien der ganzen Sprachen“, die Synthese. Er trifft diese Unterscheidung zunächst als also synchronische Beschreibungen aller Sprachen der der politische Denker, der er ja am Anfang hauptsäch- Welt. Andererseits müsse man „einzelne Theile des lich ist. Für diesen stellt sich nämlich die Frage, wie sich Sprachbaues ... durch alle Sprachen der Welt hindurch“ gesellschaftliches Dasein organisiert. Zwar ist nach der (IV: 11) untersuchen, also vergleichen, wie bestimmte berühmten Formel Humboldts der Zweck des Menschen Sexuologie 17 (3–4) 2010 166–169 / Akademie für Sexualmedizin http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie
Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010 167 „die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Lassen wir das ruhig auf uns wirken: „eine wichtigere Kräfte zu einem Ganzen“ (I: 107), also die Bildung des Stelle als irgendwo sonst“! Das heißt nirgendwo sonst in Individuums. Diese Bildung aber kann der Einzelne nur der Welt ist Zweiheit so wichtig, so fundamental, so basal gesellschaftlich, also zusammen mit anderen realisieren. wie in der Sprache. Humboldt erläutert den Satz zunächst Wie soll nun diese Verbindung von A und B aussehen? folgendermaßen: Wenn die beiden Größen nebeneinander stehen bleiben, wenn A und B sich nicht berühren, bleiben sie verinselt: „Alles Sprechen beruht auf der Wechselrede, in der, Isolierung. Zweitens kann A mit B verschmelzen, indem auch unter Mehreren, der Redende die Angeredeten er sich B einverleibt. Bei der Einverleibung verschwindet immer sich als Einheit gegenüberstellt.“ (ebd.) B sozusagen in A, die Begegnung von zweien vollzieht sich auf Kosten der Existenz eines der Beteiligten. Hum- Der Redende: Ich – die Angeredeten: Du. Diese Ich-und- boldts politisches Beispiel hierfür ist die Unterjochung Du-Zweiheit liegt allem Sprechen zugrunde. und Ausrottung der amerikanischen Indianer durch die An dieser Stelle, wo die „Zweiheit der Wechselrede“ Spanier. Bei der Synthese dagegen berühren sich A und B als Fundament der Sprache besprochen wird, ruft Hum- tief, bleiben aber jeweils als solche vorhanden und schaf- boldt nun 1827 den Geschlechtsunterschied – nach lan- fen in ihrer Begegnung etwas Neues. Während das Modell ger Zeit – ausdrücklich auf: für die Einverleibung das Essen ist, ist das Modell für die Synthese die Liebe bzw. die geschlechtliche Vereinigung. „Der in seiner allgemeinsten und geistigsten Gestal- Humboldt ist ein Denker der Synthese. Insofern ist tung aufgefasste Geschlechtsunterschied führt das es auch richtig, dass die Humboldt-Gesellschaft so stark Bewusstseyn einer, nur durch gegenseitige Ergänzung auf Humboldts Sexual-Theorie abhebt, die er in jungen zu heilenden Einseitigkeit durch alle Beziehungen des Jahren 1795 entwickelt. Synthesis ist das Verfahren, nach menschlichen Denkens und Empfindens hindurch.“ dem jede gelungene Kreativität in der Welt funktioniert. (VI: 25) Die Einverleibung ermöglicht ja nur das Weiterleben des siegreichen Einverleibers, die Synthese dagegen schafft in Dass und wie der Geschlechtsunterschied gerade hier der Vereinigung etwas Neues, ein neues Geschöpf. evoziert wird, zeigt, dass Humboldt seine alte Geschlech- Mit dieser methodischen Trias sind wir sozusagen bei terauffassung nicht vergessen hat. Was er hier schreibt, Humboldts allertiefsten Überlegungen zur Zweiheit an- entspricht ganz genau dem, was er 1795 in seinem Auf- gelangt, zur Zweiheit nicht nur in der Sprache, sondern satz über den Geschlechtsunterschied gesagt hatte. Genau in der Welt: Die Natur selbst basiert auf der synthetischen wie damals, als er den Gedanken den „feinsten und letz- Begegnung zweier entgegengesetzter Kräfte. Und, gleich ten Sprössling der Sinnlichkeit“ genannt hatte (I: 316), als ob Humboldt über Politisches oder Linguistisches nach- er dem Denken die körperlichen Kräfte der Sexualität zu- denkt, die synthetische Verbindung von zweien ist immer grundegelegt hatte, legt er sie hier der Sprache zugrunde. die von ihm präferierte bei dieser dreifachen Möglichkeit Sie wissen, dass Kant 1795 auf Humboldts Aufsatz in der Zweier-Verbindung. einem Brief an Schiller vernichtend reagiert hatte. Kant Ich komme zurück zum Dualis-Aufsatz. Humboldts hatte Humboldts Überlegungen einen „Abgrund des tiefste und wichtigste Einsicht in die Zweiheit in der Denkens“ genannt – und damit Humboldts Geschlech- Sprache ist die Verankerung der Sprache in der „Wech- tertheorie in den Abgrund gestürzt. Humboldt selbst hat, selrede“: Hier geht es nicht mehr um grammatische oder soweit ich sehe, nach dem Verdikt des Meisters seit 1795 lexikalische Erscheinungen (Numerus, Genus usw.) in nichts mehr über den Geschlechtsunterschied gesagt. bestimmten Einzelsprachen – langues -, sondern um eine Dreißig Jahre später taucht er hier aber wieder auf. Hum- fundamentale Präsenz von Zweiheit in Sprache überhaupt boldt hat also in Wirklichkeit nichts von dem vergessen – langage – also auf der universellen Ebene von Sprache. oder aufgegeben, worüber der Magister Germaniens ein Gegen Ende des Dualis-Aufsatzes beginnt die berühmte Denkverbot auferlegt hatte: Mitten in seinen philoso- Passage über die der Sprache wesentliche „Zweiheit der phischen Erörterungen zum Wesen der Sprache ruft er Wechselrede“ mit folgendem Satz: die sexuellen Grundlagen dieses hochgeistigen Gesche- hens in Erinnerung und unterlegt damit seiner scheinbar „Besonders entscheidend für die Sprache ist es, dass höchst idealistischen Sprach-Konstruktion die basalen die Zweiheit in ihr eine wichtigere Stelle, als irgend- Fakten des Körpers. wo sonst, einnimmt.“ (VI: 24) „The body in the mind“ ist nicht erst eine Erfindung moderner kalifornischer Philosophen. Humboldt er- innert an dieser Stelle nämlich zunächst daran, dass die „bilaterale Symmetrie der Menschen- und Thierkörper in
168 Jahrestagung der Wilhelm v. Humboldt-Stiftung die Phantasie und das Gefühl eingeht“ (IV: 25). Und dann eine nothwendige Bedingung des Denkens des Ein- legt er in einem einzigen Satz seine Geschlechtstheorie der zelnen in abgeschlossener Einsamkeit.“ (VII: 55) Zweiheit der Wechselrede zugrunde. Die Sprache basiert auf dieser tiefen psychischen Erfahrung geschlechtlicher Aber an diesen Satz schließt sich im Kawi-Werk unmit- Kräfte: Noch einmal: telbar der Gedanke an, dass sich die Sprache tatsächlich nur gesellschaftlich, also zu zweit, entwickelt. „Der in seiner allgemeinsten und geistigsten Gestal- Hier im „Dualis“ geht Humboldt einmal umgekehrt tung aufgefasste Geschlechtsunterschied führt das vor und stellt die „Zweiheit der Wechselrede“ vor die Bewusstseyn einer, nur durch gegenseitige Ergänzung denkende Aneignung der Welt, vor die Bildung des „Be- zu heilenden Einseitigkeit durch alle Beziehungen des griffs“, die aber sogleich wieder in die Dualität von Ich menschlichen Denkens und Empfindens hindurch.“ und Du hineingestellt wird: (VI: 25) „Er [der Begriff] wird erzeugt, indem er sich aus der Das sexuell bedingte „Bewußtsein einer nur durch gegen- bewegten Masse des Vorstellens losreisst, und, dem seitige Ergänzung zu heilende Einseitigkeit“ liegt allem Subject gegenüber, zum Object bildet. Die Objectivi- menschlichen Denken und Empfinden zugrunde. Es liegt tät erscheint aber noch vollendeter, wenn diese Spal- daher eben auch der Sprache zugrunde. Nach dieser Evo- tung nicht in dem Subject allein vorgeht, sondern kation der sexuellen Basis der Sprache fasst Humboldt der Vorstellende den Gedanken wirklich ausser sich die basale Zweiheit der Sprache schließlich in der Rede- erblickt, was nur in einem andren, gleich ihm vorstel- weise der Transzendental-Philosophie in der berühmten lenden und denkenden Wesen möglich ist. Zwischen Passage über den unabänderlichen Dualismus: Denkkraft und Denkkraft aber giebt es keine andre Vermittlerin, als die Sprache.“ (VI: 26) „Es liegt aber in dem ursprünglichen Wesen der Sprache ein unabänderlicher Dualismus, und die Soweit Humboldt. Es ließen sich natürlich noch viele Möglichkeit des Sprechens selbst wird durch Anrede weitere Zweiheiten in der Sprache aufzeigen. Wenn man und Erwiederung bedingt. Schon das Denken ist we- einmal beginnt, über die Zweiheit in der Sprache nach- sentlich von Neigung zu gesellschaftlichem Daseyn zudenken, ist fast alles in ihr binär. Doch meine Redezeit begleitet, und der Mensch sehnt sich, abgesehen von ist fast aufgebraucht. Eine zweite fundamentale Zweiheit allen körperlichen und Empfindungs-Beziehungen, der Sprache muss aber noch kurz behandelt werden, die auch zum Behuf seines blossen Denkens, nach einem sogenannte zweifache Gliederung. dem Ich entsprechenden Du; der Begriff scheint ihm erst seine Bestimmtheit und Gewissheit durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft zu er- Zweifache Gliederung reichen.“ (VI: 26) Als das strukturelle Grundprinzip von Sprache hat der Die zentrale Aussage dieser Passage ist, dass sich das Ich französische Sprachwissenschaftler André Martinet die bei seinem Denken, also bei der geistigen Aneignung der sogenannte „double articulation“ – die zweifache Gliede- Welt, immer nach dem Du „sehnt“. Anders gesagt, das rung – betrachtet. Gemeint ist damit die folgende struk- „Bewusstsein einer nur durch gegenseitige Ergänzung turelle Eigenschaft aller Sprachen: Einerseits „gliedern“ zu heilenden Einseitigkeit“ liegt allem Denken zugrun- die Sprachen die Welt, d.h. sie schaffen geistige Einheiten de. Humboldts kognitive Sprachauffassung macht ja zu- in jener Arbeit des Geistes, die wir gerade evoziert haben: nächst – gegen die auch zu seiner Zeit vorherrschende Die Sprachen schaffen semantische Einheiten. Diese sind platt kommunikative Sprachauffassung – die Sprache als immer verbunden mit lautlichen Sequenzen. Der Inhalt Denk-Organ stark: „das bildende Organ des Gedanken“ „Hund“ oder „neu“ oder „Plural“ oder „Imperfekt“ wird (VII: 53), die „Arbeit des Geistes“ (VII: 46). Humboldt nicht ohne Wort oder Morphem gedacht, sondern ist konstruiert Sprache fast immer zunächst als Welt-Erfas- immer zusammen mit bestimmten Lauten in der Spra- sung des Subjekts. Man kann daher sogar den Eindruck che gestaltet: eben in der Lautsequenz hunt, neu, oder – e gewinnen, Sprache sei nur Weltgestaltung des einsamen in hund-e, als Ablaut in singen – sang, in -te in er sieg- Subjekts. Humboldt sagt das an einer Stelle – so wie Her- te. Diese Einteilung der Welt in phonetico-semantische der – auch einmal ausdrücklich: sprachliche Größen nennt Martinet die erste Gliederung, „première articulation“. „Ohne daher irgend auf die Mittheilung zwischen Die lautlichen Sequenzen sind nun ihrerseits so ge- Menschen und Menschen zu sehn, ist das Sprechen staltet, dass sie aus kleinen unterscheidbaren Lautbewe-
Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010 169 gungen zusammengesetzt sind, aus Sprachlauten, die die In der Formulierung der ersten Akademierede von 1820 Linguistik „Phoneme“ nennt. In der Sequenz hunt unter- liest sich das folgendermaßen: scheiden wir die Phoneme h – u – n – t. Wir wissen dass /h/ ein solches Stück Laut ist, weil wir statt /h/ auch /r/ sa- „Es vereinigen sich also im Menschen zwei Gebiete, gen können und dann ein anderes Wort erhalten: runt. / welche der Theilung bis auf eine übersehbare Zahl u/ können wir durch /a/ ersetzen und erhalten hant. Auch fester Elemente, der Verbindung dieser aber bis ins das /n/ können wir ersetzen, z.B durch /l/ und erhalten Unendliche fähig sind [...]. Der Mensch besitzt die hult (Huld). Und so weiter. Dieses Zusammengesetz- Kraft, diese Gebiete zu theilen, geistig durch Refle- sein der sprachlichen Sequenzen aus Phonemen nennen xion, körperlich durch Articulation, und ihre Theile wir die zweite Artikulation oder zweite Gliederung. Alle wieder zu verbinden, geistig durch die Synthesis des Sprachen sind zweifach gegliedert. Die doppelte Gliede- Verstandes, körperlich durch den Accent, welcher rung ist ein strukturelles Universale aller Sprachen. die Silben zum Worte, und die Worte zur Rede ver- Diese Zweiheit in der Sprache, die phonetische und eint.“ (IV: 4) die semantische Gliederung, ist natürlich nicht von Mar- tinet entdeckt worden. Martinet bezieht sich seinerseits Dies ist, philosophisch formuliert, die grundlegende vor allem auf den dänischen Linguisten Louis Hjelmslev strukturelle Zweiheit der Artikulation, die in den zwei und auf den großen Schweizer Gründervater der mo- Gebieten – Laut und Geist – ein Prinzip walten lässt: Tei- dernen Sprachwissenschaft Ferdinand de Saussure. Aber len und Verbinden. d.h. Gliedern. Wobei das Verbinden der erste, der diese grundlegende strukturelle Zweiheit des Geteilten im übrigen wieder nach dem Prinzip der der Sprache klar gesehen hat, war natürlich Humboldt. Synthesis erfolgt. Alles Geteilte ist in der gliedernden Humboldt ist der vor-strukturalistische Theoretiker der Sprache synthetisch miteinander verbunden: Zweiheit Artikulation. der Sprache. Das Teilen würde uns nun in ein weiteres Niemand hat vor Humboldt in solcher Konsequenz Gebiet sprachlicher Zweiheiten führen, nämlich zu der formuliert, dass Artikulation das Wesen der Sprache ist Tatsache, dass die so geteilten sprachlichen Einheiten und dass es sich um eine zweifache Artikulation handelt. durch Oppositionen unterschieden sind, die oft binär or- In der Akademie-Rede über die Buchstabenschrift ganisiert sind. Aber für dieser Zweiheit, mit der sich die von 1824 entwickelt Humboldt seine Theorie der Arti- moderne Phonologie ausführlich beschäftigt hat, habe kulation. Das Prinzip der Gliederung durchzieht die gan- ich nun definitiv keine Zeit mehr. ze Sprache, den Laut und den Inhalt. Einerseits haben Daher schließe ich – indem ich meinen doppelten wir die „Spaltung des verbundnen Lauts“ (V: 114). An- Dank an die Humboldt-Gesellschaft und Peter Bieri zum dererseits aber ist Artikulation nicht nur das Prinzip des zweiten Mal artikuliere – mit Humboldts Worten aus Lautes, sondern auch das Prinzip des semantischen Teils dem „Dualis“, in denen er die Wirkung der Zweiheit der der Sprache: Wechselrede – und damit den Grund meiner Dankbar- keit – so wunderbar zusammenfasst: „Die Gliederung ist aber gerade das Wesen der Spra- che; es ist nichts in ihr, das nicht Theil und Ganzes „Erst durch die, vermittelst der Sprache bewirkte seyn könnte, die Wirkung ihres beständigen Ge- Verbindung eines Andren mit dem Ich entstehen schäfts beruht auf der Leichtigkeit, Genauigkeit und nun alle, den ganzen Menschen anregenden, tieferen Uebereinstimmung ihrer Trennungen und Zusam- und edleren Gefühle, welche in Freundschaft, Liebe mensetzungen. Der Begriff der Gliederung ist ihre und jeder geistigen Gemeinschaft die Verbindung logische Function, so wie die des Denkens selbst.“ zwischen Zweien zu der höchsten und innigsten ma- (V: 122). chen.“ (VI: 26)
170 Jahrestagung der Wilhelm v. Humboldt-Stiftung Laudatio auf Heino Meyer-Bahlburg anläss- Männlichkeit ist dann „Vermögen“, „Kraft des Le- bens“, „Stärke“ „selbsttätige Vernunft“, „mehr Tiefe“ lich der Verleihung des Stiftungspreises der – mithin Verstand. Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung Weiblichkeit ist demgegenüber „überströmende Fülle“, „Fülle des Stoffes“, „Übergewicht der Phantasie“, „mehr üppige Fülle und reizende Anmut“ – vulgo Sinne: Hartmut A.G. Bosinski „Der ganze Charakter des männlichen Ge- Meine sehr geehrten Damen und Herren, lieber Heino, schlechts ist auf Energie gerichtet; dahin zielt ich habe die Ehre und das Vergnügen, die Laudatio auf seine Kraft, seine zerstörerische Heftigkeit, sein Heino Meyer-Bahlburg zu halten, auf einen Mann, dem Streben nach Außenwirkung, seine Rastlosig- nicht nur ich, sondern die gesamte sexualmedizinische keit. Dagegen geht die Stimmung des weiblichen, Community viel zu verdanken hat. seine ausdauernde Stärke, seine Neigung zur Ver- Ich will zunächst kursorisch darauf eingehen, was der bindung, sein Hang die Einwirkung zu erwidern Namensgeber der Stiftung, was Wilhelm von Humboldt und seine holde Stätigkeit allein auf Erhaltung zum Thema Geschlechtlichkeit und Geschlechtsunter- und Daseyn.“ schiede sagte, um dann nach dem etwaigen Zusammen- hang zum Werk des Laureaten zu fragen. Neu daran ist das Abgehen von der misogynen Tradition, Wilhelm von Humboldt hat bekanntlich 1794 und die Frau als Quelle der Erbsünde schlechthin, als Hort des 1795 – mithin im Alter von 27 / 28 Jahren – in den Ho- Bösen; statt Geschlechterkampf vielmehr Komplementa- ren zwei Abhandlungen publiziert, in denen er hoffte, rität und Ergänzung. von der Deutung der Geschlechtsunterschiede her dem Geschlechtsunterschiede werden indes postuliert und Geheimnis des menschlichen Charakters näher zu kom- als polare Dichotomien gedeutet. Die Weiterungen eines men: „Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss solchen Denkens über „naturgegebene“ Unterschiede in auf die organische Natur“ (1794) und „Über die männliche Fühlen, Denken und Handeln der Geschlechter, deren und weibliche Form“ (1795). Folgt man Barbara Becker- Naturgegebenheit empirisch nicht geprüft, sondern Cantarino, so firmierten diese Arbeiten innerhalb des schlichtweg „aus der reinen Anschauung“ postuliert wird, Schillerschen Zirkels nur als jene „Über die Weiber“ und sind ja durchaus nicht unproblematisch. Schon bei Hegel es ist bekannt, wie Immanuel Kant die Sache aufgenom- in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaft men hat: Als „Abgrund des Denkens für die menschliche (1830) treibt die Komplementarität merkwürdige Blü- Vernunft“. ten: In seiner Arbeit „Über den Geschlechtsunterschied“ schreibt Humboldt: „Dem weiblichen Uterus entspricht im Manne die Prostata; der Uterus sinkt im Manne zur Drüse, „Die zeugende Kraft ist mehr zur Einwirkung, die zur gleichgültigen Allgemeinheit herunter. ... empfangende mehr zur Rückwirkung gestimmt. Wie im Manne der Uterus zur bloßen Drüse her- Was von der ersten belebt wird, nennen wir männ- absinkt, so bleibt dagegen der männliche Testikel lich, was die letztere beseelt, weiblich. Alles beim Weibe im Eierstocke eingeschlossen, tritt Männliche zeigt mehr Selbstthätigkeit, alles nicht heraus in den Gegensatz, wird nicht für Weibliche mehr leidende Empfänglichkeit“ sich, zum tätigen Gehirn und der Kitzler ist das „Wir sehen im Menschen immer Selbst- untätige Gefühl überhaupt!“ thätigkeit und Empfänglichkeit einander gegen- seitig entsprechen“ (ebd.) Dieses Denken in vermeintlich „naturgegebenen“ Unter- „So befriedigt die eine Kraft die Sehnsucht schieden, bei Humboldt noch romantisch als Ergänzung der anderen und beide umschlingen einander zu und mithin positiv gedacht, geht dann weiter zum 1900 er- einem harmonischen Ganzen.“ schienenen Pamphlet des Neuropsychiaters Möbius „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ (wo es um die Humboldt entwirft somit ein Modell des Zueinanders der Begründung weiblicher Minderwertigkeit qua kleinerem Geschlechter, das wir heute mit dem Begriff der „Kom- Gehirn geht) bis hin zu dem 1903 erschienenen „Geschlecht plementarität“ beschreiben würden – Männliches und und Charakter“ des Otto Weininger, wo dann die Mi- Weibliches ergänzen sich, sind nicht einander unter- oder sogynie – via postulierte „naturgegebene Passivität“ und übergeordnet, sondern aufeinander angelegt. somit jenseits der biologischen Reproduktion „schlichte Nutzlosigkeit des Weibes“ unter dem Effizienzgebot in- Sexuologie 17 (3–4) 2010 170–172 / Akademie für Sexualmedizin http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie
Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010 171 dustriekapitalistischer Profitmaximierung – fröhlich Ur- cher nicht. Blieb vielleicht nur der Weg in die USA? Es ständ feiert. wäre vielleicht eine interessante Frage an die Kulturge- Was hat all das mit Heino Meyer-Bahlburg zu tun? schichte, ob es diese Bewegung, weg aus den Landen des Furchtbar einfach: Sein wissenschaftliches Werk ist durch- Morbus teutonicus mit seinen verkarsteten Barrieren und zogen von genau dieser Frage: Was wissen wir wirklich ideologischen Niggeligkeiten, die unser Fach, die Sexual- über die Biologie der Geschlechter und deren Einfluss auf medizin, hierzulande bis heute beeinträchtigt haben, hin Denken, Fühlen und Verhalten? Gibt es irgendwelche Evi- ins Offene der flachen Hierarchien, der effizienten Koop- denz für die postulierte „Naturgegebenheit“ einer eben- eration entlang des Gegenstandes und nicht entlang der so behaupteten Differenz, ja, gibt es überhaupt die Dif- Fakultätsgrenzen – ob diese räumliche und inhaltliche ferenz? Oder, um es in einer typisch heinesken Frage zu Absetzbewegung ein bislang vielleicht übersehener Zug formulieren: „Nice story-telling – could you please show der 68er Generation war. Zumindest eine weitere Person me your data?“ ist mir bekannt, die auch diese Bewegung vollzog und mit Aber der Reihe nach: Geboren und aufgewachsen in der Heino Meyer-Bahlburg in der Folgezeit und bis heute Hamburg – die Annalen verzeichnen das Abitur an der eng zusammenarbeitet – Anke Ehrhardt. Gelehrtenschule des Johanneums mit einem „Preis für ex- In Buffalo, wo es ihn bis 1977 hält, folgen dann Schlag zellente Leistungen in Latein und Griechisch“, womit wir auf Schlag die Publikationen, für die er bekannt geworden dann auch die europäische Begründung und Konstante ist in der Community: Wegen ihrer methodischen Exaktheit, des Arbeitens des nunmehrigen US-Bürgers benannt hät- ihrer steten Orientierung an Maß und Zahl, und nicht zu- ten – belegt er 1960 bis 1966 das Studium der Psycholo- letzt ihrem Versuch, sich der Komplexität des nun wirklich gie in Hamburg. Ich habe mich in Vorbereitung auf diese „Biopsychosozialen“ anzunähern: Sie drehen sich zunächst Laudatio kurz gefragt, warum er wohl Psychologie studi- im Wesentlichen um die Frage des Zusammenspiels von ert haben könnte. Rasch fielen mir dann Beobachtungen Hormonen und psychosozialen Bedingungen auf die Ent- ein: Die studentische Kellnerin aus Polen beim Mexikaner wicklung von Fühlen und Verhalten. Es ist unmöglich, die im New Yorker Greenwich Village, der indische Taxifahrer Fülle seiner insgesamt ca. 140 peer-reviewten Zeitschriften- in Central Manhattan, der britische Besucher im Glo- artikel, seiner 50 Buchbeiträge und zahlreichen Monogra- bushaus des Schlosses Gottorf – Heino fragte sie alle nach phien hier zu referieren. Zentral dabei immer wieder die dem Woher und nach dem Wie; er schließt Menschen auf, Frage nach dem Zusammenhang aktueller und vor allem nie aufdringlich, sondern ernsthaft interessiert: Da will pränataler Hormonwirkungen auf das geschlechtliche und jemand wirklich wissen, was die Menschen antreibt. sexuelle Verhalten. Assistenz und Promotion dann 1970 an der Univer- Er untersucht und belegt dies Zusammenspiel sität Düsseldorf beim damaligen „Methodenpabst“ der zwischen Natur und Kultur, Nature and Nurture, anhand modernen Psychologie, Lienert. Der Titel der Arbeit weist bis heute maßstabsetzender Nachuntersuchungen von die Richtung des weiteren Arbeitens: Menschen, die pränatal abweichenden Spiegeln von Se- „Katecholaminausscheidung unter Aktivierungs- und xualhormonen ausgesetzt waren – sei es aufgrund prä- Entspannungsbedingungen in Beziehung zu Persönlich- nataler Medikationen wie dem Diethylstilbestrol, sei es keits- und Leistungsvariablen.“ – also Biologie im Zusam- aufgrund von Störungen der adrenalen Steroidbiosyn- menspiel mit Psychosozialem. these, also beim Adrenogenitalen Syndrom. Hierzu legt er 1970 dann der Gang über den Großen Teich und maßgebliche Arbeiten vor, die eben zeigen, dass die Dinge Beginn an der State University of New York in Buffalo. nicht so einfach sind, dass Biologisches sich eben nicht Als Research Assistent Professor im Department of Psy- eins zu eins in Psychosozialem manifestiert und ummün- chology und – in Pediatrics! Wie niedrig dort die Zäune zen lässt. So wird er später überzeugend demonstrieren, sind zwischen den hier bei uns so oft klar abgegrenzten dass die Größe des Gendefektes beim AGS – und damit Fakultäten! Vielleicht war das der Grund für den Wech- die Höhe des pränatalen Androgenexzesses – bei Mäd- sel? chen und Frauen zwar deren geschlechtstypisches Ver- Vergegenwärtigen wir uns: Der Laureat studierte in halten beeinflusst, aber eben nicht automatisch zugleich Deutschland zur Zeit der Studentenunruhen. Ich glaube zu einer Maskulinisierung der Geschlechtsidentität – ei- zu wissen, dass er mit dem Muff der 1000 Jahre unter den nem sehr viel komplexeren Topos – führt. Talaren seine ganz erheblichen Schwierigkeiten gehabt 1977 dann der Wechsel an die Columbia-University haben dürfte. Postulierte Autorität, begründet einzig auf in New York City. Dort beschäftigt er sich zwar weiter der Position, dysfunktionale Hierarchien, Machtgepränge mit der Psychoneuroendocrinologie der Geschlechter als Anspruch – all dies dürfte ihm wohl ein Graus gewe- – eine Arbeit, die allein schon den ganzen Einsatz fordert. sen sein. Aber auch lärmender Krawall, Phrasendrescherei Er stellt sich aber auch den neuen Herausforderungen, und hohle Pose des Salonrevoluzzers sind seine Sache si- die die HIV-Pandemie mit sich bringt. Am HIV Cen-
Sie können auch lesen