VON MARIGNANO BIS MATIGNON - Ausstellungsbegleiter - Etat de Fribourg

 
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VON MARIGNANO BIS MATIGNON - Ausstellungsbegleiter - Etat de Fribourg
VON MARIGNANO
BIS MATIGNON                        Ausstellungsbegleiter
500 JAHRE EWIGER FRIEDEN ZWISCHEN
DER SCHWEIZ UND FRANKREICH
1516-2016
Ausstellungskurator und Verfasser der Texte
Alain-Jacques Tornare

Übersetzung
Staatskanzlei Freiburg SK

Druck
Amt für Drucksachen und Material DMA, Freiburg
1. Es war einmal…: Die Schweiz                     umgesetzt wurde. Die Schweizer besiegten
und Frankreich                                     Karl den Kühnen in Grandson und Murten
                                                   (1476) und schliesslich in Nancy (1477) und
    Nur wenige Franzosen wissen um die Rolle,      eröffneten Frankreich so die Perspektive eines
welche die Schweizer in ihrer Geschichte           «Grossen Ostens». Schweizer und Franzosen
gespielt haben. Umgekehrt gilt dasselbe. Die       gerieten jedoch noch einmal aneinander,
französisch-schweizerischen Beziehungen            bevor sie sich wieder im Frieden begegneten.
werden unterbewertet und unterschätzt,             In der «Schlacht der Riesen» von Marignano
fördern jedoch bei genauerer Betrachtung einen     (13. und 14. September 1515) wurde der
aussergewöhnlichen Reichtum zu Tage. Dieser        Eroberungsdrang der «Königsbändiger»
ist darauf zurückzuführen, dass die beiden         abrupt gestoppt. Traumatisiert durch dieses
Einheiten innerhalb einer dynamischen, von         Fiasko kamen die Eidgenossen zur Einsicht,
Diskretion geprägten Beziehung gegenseitiger       dass es kontraproduktiv ist, ausserhalb der
Interessen generell einen schonenden Umgang        eigenen Grenzen Krieg zu führen, wenn
miteinander gepflegt haben. Von 1452 bis 1818      hinsichtlich der Strukturen innerhalb der
wurden zwischen Frankreich einerseits und den      Eidgenossenschaft keine Sicherheit besteht.
Schweizer Kantonen und ihren Zugewandten           Dieser gesellschaftspolitische Entscheid führte
andererseits mehr als 300 diplomatische            dazu, dass die 13 Kantone, die bis dahin wenig
Schriftstücke unterzeichnet. Als Folge davon       geneigt gewesen waren, ihre innere Einheit
zogen in mehreren Emigrationswellen Menschen       zu stärken, auf eine Machtposition in Europa
aus der Schweiz nach Frankreich, die dazu          verzichteten.
beitrugen, Frankreich zu dem zu machen,
was es heute ist. Die in der Schweiz lebenden         Am 29. November 1516, während einer
Franzosen sind ihrerseits so zahlreich, dass       entscheidenden Zeit in der Geschichte der
sie gegenwärtig in der Assemblée nationale einen   innerhelvetischen Beziehungen und der
der elf Auslandsabgeordneten für sich allein       Beziehungen der Schweiz mit Frankreich und
beanspruchen. 400 000 Franzosen wiederum           mit dem Haus Österreich, schlossen Franz
sind direkt von der Schweizer Wirtschaft           I. und alle Kantone der Eidgenossenschaft
abhängig. Dass in beiden Ländern eine ähnlich      sowie ihre Zugewandten (Abt und Stadt St.
grosse Anzahl Menschen aus dem jeweils             Gallen, die Drei Bünde, Wallis und Stadt
anderen Land leben, verbunden mit einem            Mülhausen) einen «Ewigen Friedensvertrag».
hohen Mehrwert, ist ein Zeugnis der sehr           Der Vertrag wurde in Freiburg unterzeichnet, die
langen und aussergewöhnlichen, friedlichen und     Vorverhandlungen hatten in Genf stattgefunden.
fruchtbaren Koexistenz zwischen der Schweiz        Der Ewige Friede trägt seinen Namen zu
und Frankreich.                                    Recht, der Vertrag wurde nämlich nie formell
                                                   widerrufen. Dieser grundlegende Text stellte die
   Das französisch-schweizerische Bündnis          Schweiz unter königlichen Schutz und machte
begann nicht erst am Tag nach Marignano,           sie so langfristig zur meistbegünstigten und
sondern bereits sechzig Jahre früher, am           am besten geschützten Nation Europas. Das
21. August 1444, nach der Niederlage der           Soldbündnis vom 5. Mai 1521, eine Folge des
Eidgenossen in St. Jakob an der Birs bei           Friedens von Freiburg und von grosszügigen
Basel. Am 28. Oktober des folgenden Jahres         Pensionen aus der «Königlichen Schatzkammer»
unterzeichnete Kronprinz Ludwig – der              begleitet, bedeutete für die Eidgenossenschaft
zukünftige Ludwig XI – in Enisheim im              eine dauerhafte Sicherung der ihr gewährten
Elsass mit den Eidgenossen als Anerkennung         Handelsvorteile. Es blieb bis zur letzten
einen Vertrag über eine «gute, treue und ewige     Erneuerung von 1803 die zentrale Konstante der
Freundschaft». Dieser Vertrag deutete bereits      schweizerischen Diplomatie und ein wichtiger
die Entwicklung einer neuen Politik an, die        stabilisierender Faktor für die schweizerische
dann zu Beginn des 16. Jahrhunderts auch           Innenpolitik. 1815 wurde es abgelöst durch
die Neutralisierung der Schweiz «im Interesse         Am Schweizer Nationalfeiertag 2016 hat die
Europas».                                          grösste Schweizer Gemeinschaft im Ausland
                                                   im Garten der Schweizer Botschaft in Paris in
   Für die Eidgenossenschaft, diesen Pufferstaat   der Person von Odile Clerc die Marke von 200
im Herzen Europas, war Frankreich der am           000 amtlich registrierten Staatsangehörigen
wenigsten gefährliche Nachbar und daher            überschritten.
im Allgemeinen beliebt. Das ansonsten tief
gespaltene Volk der Eidgenossen misstraute dem
Haus Österreich. So konnte ein fein austariertes
Militär- und Handelssystem entstehen, das in       2. Kollektives Gedächtnis: Der
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts seine      Beitrag Frankreichs an die
Blütezeit erlebte und aus der Präsenz der          Schweiz
Schweizer in Frankreich einen Staat im Staat und
aus den Schweizer Truppen eine Armee in der           Hätte es die Schweiz nicht gegeben,
Armee entstehen liess. Zusammengenommen            Frankreich hätte sie vielleicht ganz einfach
bildeten all diese Schweizer – und die Personen,   erfinden müssen. Hat Frankreich aber nicht auf
die als Schweizer betrachtet wurden – eine         seine Art genau dazu beigetragen? Frankreich
vielfältige Gemeinschaft, den Verhältnissen in     hat die Trennung des «Oberdeutschen Bundes»
der Heimat nicht unähnlich, mit Berufsmilitärs,    vom Heiligen Römischen Reich Deutscher
Käsehändlern, einflussreichen Kaufmännern,         Nation ermöglicht, und so das Konzept der
Financiers und Bankiers, vollendeten Denkern,      «Nation Schweiz» geschaffen, das in der
aber auch mit Polizeibeamten, Kabarettisten,       Schweiz dem Konzept des Staates voranging.
Kirchenschweizern oder Portiers in den             Wenn man früher in Paris von «denen aus der
aristokratischen Hotels des Faubourg Saint-        Nation» sprach, war es nicht nötig, «Schweiz»
Germain. Letztere waren häufig pensionierte        anzufügen, damit klar war, dass es sich um die
ehemalige Soldaten der Schweizergarden.            Eidgenossenschaft handelte. War umgekehrt
                                                   vom «König» die Rede, war es insbesondere in
    Die Neutralisierung des Naturraums zwischen    gewissen katholischen Kantonen wie Freiburg
Rhein und Rohne, Alpen und Jura, brachte           überflüssig, den Zusatz «von Frankreich»
für Frankreich Sicherheit an seiner besonders      beizufügen. Die Herrscher aus Frankreich
exponierten und verletzlichen Grenze zwischen      und ihre Botschafter in Solothurn spielten
Basel und Genf. Das Bündnis mit Frankreich         lange die Rolle eines virtuellen Mediators und
ist das wichtigste, längste und vorteilhafteste    wirkten als stillschweigender konsolidierender
Bündnis, das die Eidgenossenschaft bis zum         Faktor innerhalb einer von starken internen
Entstehen des Bundesstaats im Jahr 1848            Streitigkeiten geprägten Eidgenossenschaft.
eingegangen ist. Die Geschichte der Menschheit     Im Jahr 1648 sorgte Mazarin dafür, dass sich
ist voll von Verträgen und Abkommen, die           die Schweiz im Rahmen des Westfälischen
schlicht und einfach obsolet geworden sind, der    Friedens (1648) vom Heiligen Römischen Reich
sogenannte Friede von Freiburg hingegen hat        Deutscher Nation lossagte. Der Frieden von
durch die Folgen, die sich daraus ergeben haben,   Lunéville vom 9. Februar 1801 verpflichtete
dazu beigetragen, aus den Vertragspartnern         seinerseits Österreich dazu, die Unabhängigkeit
das zu machen, was sie heute noch sind. Die        der Helvetischen Republik formell und definitiv
Beziehungen, welche die Schweiz nachhaltig         anzuerkennen.
mit Frankreich verbunden haben, erinnern uns
daran, dass die Schweiz realistischerweise nicht      Die von Frankreich ausgelöste Helvetische
bestehen kann ohne enge Verbindungen zu ihren      Revolution von 1798 hat für die Schweiz
grossen Nachbarn.                                  trotz aller Kollateralschäden eine Ära der
                                                   Neugestaltung eingeläutet. Die Schweiz ist von
                                                   nun an ein Rechtsstaat. Hier begann der Prozess
der Demokratisierung des politischen, sozialen,    verliehen worden waren; die Abschaffung der
kulturellen und religiösen Lebens. Als Beispiele   Binnenzölle;
seien die Gewaltenteilung, die Trennung von           – Glaubens- und Niederlassungsfreiheit;
Kirche und Staat, die Vereinheitlichung der           – die Rahmenbedingungen für die Gründung
Masse und Gewichte sowie der Währungen             der modernen Schweiz im Jahr 1848.
erwähnt, dazu im Bereich der Menschenrechte
die individuelle Freiheit und die Abschaffung          Ist die Schweiz – privilegierte
der Folter. Auch bekam die Bildung einen           Verbindungsachse zwischen dem Norden und
prioritären Stellenwert. Konkret hat die           dem Süden des europäischen Kontinents –
Helvetische Revolution dem wirren feudalen         also nicht das europäischste Land Europas?
Geflecht ein Ende bereitet und so die von den      Am 19. Juni 2008 sprach sich der ehemalige
Patrizierfamilien ausgeübte Vorherrschaft von      Französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing
Gottes Gnaden und das damit verbundene             augenzwinkernd für einen «baldigen Eintritt der
wirtschaftliche Joch zerschlagen. Sie hat es       Europäischen Union … in die Schweiz» aus.
möglich gemacht, dass sich die verschiedenen       Der amtierende Präsident François Hollande,
Teile der Schweiz auf einer Grundlage von          der am 1. Juni 2016 im Gotthardmassiv an der
Gleichheit und Gerechtigkeit neu konstituierten.   Einweihung des längsten Eisenbahntunnels der
                                                   Welt teilnahm, bekannte offen: «Heute – und das
   Das Frankreich zur Zeit des Direktoriums        ist sehr selten – verneigt sich Frankreich vor der
verwirklichte den alten Traum der Kapetinger:      Schweiz. […] In der Schweiz ist der europäische
Das mächtige Bern (ein Drittel des Gebiets der     Traum Realität geworden.»
Schweiz) auf eine Verwaltungseinheit wie alle
anderen zurückzustutzen, die keine hegemoniale
Grösse mehr hat. Als sich im April 1798 die
Helvetische Republik effektiv konstituierte,       3. Kollektives Gedächtnis:
wurde Französisch als eine Nationalsprache         Der Beitrag der Schweiz an
anerkannt. Während des Ancien Régime war           Frankreich
immer Deutsch die offizielle Sprache der
Schweiz gewesen.                                       Zwischen den beiden Nachbarländern
                                                   besteht seit dem Ewigen Frieden von 1516,
   Als Napoleon Bonaparte 1803 die Schweiz         dem sogenannten Frieden von Freiburg, eine
neu erschuf, gab er ihr eine stabile politische    so grosse Nähe, dass durch den dauernden
und kantonale Grundlage, indem er die Basis        Austausch eine unvergleichliche, in ihrer
legte für einen modernen föderalistischen, auf     Konstanz und Intensität unübertroffene
dem Prinzip der Mehrsprachigkeit aufgebauten       Verflechtung entstanden ist. Dies geht so
Staat. So wurde die Koexistenz von sehr            weit, dass gewisse, für eines der beiden
unterschiedlichen politischen Systemen möglich.    Länder grundlegende Ereignisse mit diesen
Napoleon hat als Erster Konsul zudem folgende      gemeinsamen Beziehungen zusammenhängen
Veränderungen eingebracht:                         und es oftmals schwierig ist, bei gewissen
                                                   Symbolfiguren den jeweiligen französischen,
  –die Einführung der Prinzipien von               beziehungsweise schweizerischen Anteil
Gleichheit und Freiheit-Souveränität für alle      auszumachen. Bei einigen dieser Persönlichkeiten
Schweizer Kantone; als Folge davon wurden die      ist es sogar so, dass sie, je nach Ort, an dem sie
Grenzen der Kantone neu festgelegt;                sich befinden, als Franzosen oder als Schweizer
  – das Ende der Privilegien und die Gleichheit    gelten.
der Bürger durch die Abschaffung des
Herrscher-Untertanen-Verhältnisses;                   Der Einsatz von Schweizer Truppen in
  – die Abschaffung der Rechte, die                französischen Diensten durch die sogenannten
ausschliesslich gewissen Städte oder Orten         Hilfskorps war ein integraler Bestandteil des
diplomatischen Systems, das nach 1516 definitiv      das «Wunschland der Vernunft» dargestellt. Als
eingerichtet wurde. Es war der prestigeträchtigste   Folge von Voltaires Ausruf «Freiheit, Freiheit,
und bedeutendste aller Militärdienste im             dein Thron ist hier!» wurde Wilhelm Tell gar zu
Ausland, die älteste und solideste Verbindung,       einem Helden der Revolution. Im Dezember
mit der die Schweiz je mit ihrer grossen             1793 wurde in der Stadt Paris, die während den
Nachbarin verbunden war. Durch diesen                Revolutionsjahren 1790 bis 1795 in Sektionen
Hilfsdienst konnte das gute Funktionieren des        gegliedert war, eine Sektion nach ihm benannt.
Ewigen Friedens auf eine äusserst effiziente            Die «guten Kameraden» – wie sie Heinrich
Weise sichergestellt werden. Der Ewige Friede        IV liebevoll nannte – verteidigten nacheinander
wiederum war ein Garant für das Fortbestehen         die Festung der Bastille, den Tuilerienpalast
der Schweiz. Die Schweizer, bekannt für              und das Herz von Paris, und bescherten so
ihren Mut, ihren Kampfgeist und ihre Treue,          dem französischen kollektiven Bewusstsein
waren überall im Europa der Monarchien               drei revolutionäre Momente, die das Gesicht
begehrt. Die grösste Zahl von Schweizern in          Frankreichs verändern sollten. Am 14. Juli
Hilfskorps diente in Frankreich. Sie wurden in       1789 verteidigten sie die Bastille so gut, dass
der ganzen Schweiz und bei deren Verbündeten         der Tag zum Symbol wurde für die grosse
rekrutiert, aufgrund von präzisen Verträgen,         nationale Revolutionsdynamik, die das Ancien
sogenannten «Kapitulationen». Ungefähr eine          Régime stürzte. Ihre schreckliche Niederlage bei
Million Schweizer Soldaten, oder solche, die als     den Tuilerien vom 10. August 1792 führte zum
Schweizer Soldaten betrachtet wurden, haben          Zusammenbruch der Monarchie. Und was wäre
bis heute in Frankreich gedient. Dies veranlasste    die Julirevolution, Les Trois Glorieuses vom 27., 28.
Voltaire zu folgendem Ausruf: «Oh, helvetische       und 29. Juli 1830, ohne die Schweizergarden, die
Berge! Ihr seid die Festungsmauern der schönen       Karl X spektakulär in seinen Sturz begleiteten?
Stätten, die die Seine benetzt.» Der französische    An mehreren für die Gründung des heutigen
Chronist Brantôme (um 1537-1614) bekannte:           Frankreichs wegweisenden Tagen waren die
«Ein Corps von Schweizern ist für eine Armee,        Schweizer zentrale Akteure.
was die Knochen für den menschlichen Körper
sind». Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wiederum          Die Schweizer in Frankreich haben
schrieb Montesquieu: «Die Schweizer haben            zahlreiche wichtige Orte der Erinnerung
uns die Kunst des Krieges gegeben, indem             mitgeprägt: Genannt seien der sogenannte Saal
sie unsere Infanterie gebildet haben». Ob            der Schweizer, der sich vor den königlichen
Hundertschweizer (1497), Schweizergarden             Gemächern in Saint-Germain-en-Laye und
(1616) oder permanente Schweizer Regimente           in Fontainebleau befindet, oder der Zierteich,
(1670), die Schweizer im Dienste Frankreichs         der an das Schloss Versailles angrenzt, sowie
waren während drei Jahrhunderten Stützpfeiler        einige Sprichwörter, wie etwa « point d›argent
der Monarchie. So rettete die Schweizergarde         point de Suisse » (kein Geld, kein Schweizer)
beispielsweise im Jahr 1567, beim Rückzug von        oder « boire en Suisse » (heimlich trinken).
Meaux vor den Hugenotten, die Krone von Karl         Letzteres ist darauf zurückzuführen, dass sich
IX.                                                  die Soldaten vergnügen mussten, ohne mit
                                                     der lokalen Bevölkerung in Kontakt zu treten.
   Während der vorrevolutionären Zeit brachten       Der Wort fifre seinerseits ist vom Luzerner
die «freien Schweizer» das Frankreich der            Familiennamen Pfyffer abgeleitet. Das Schweizer
Aufklärung zum Schwärmen. So wird Genf im            Dorf in Paris ist ausserdem ein Überbleibsel
Jahr 1757 in der Encyclopédie de Paris (1751-1780)   der Weltausstellung von 1900, und es gibt keine
von d’Alembert und Diderot, die der Stadt einen      Region in Frankreich, die nicht irgendwo ihre
stark von Voltaire beeinflussten Artikel widmet,     «kleine Schweiz» hätte, wie beispielsweise das
als «so vernünftige und aufgeklärte Republik»        Avesnois in der Region Hauts-de-France.
und Hort «der Philosophie und der Freiheit»
betrachtet, und die Schweiz im Allgemeinen als
4. Die grossen Französisch-                           1794 in das Pantheon überführt wurden.
Schweizerischen Denker
                                                        Frankreichs Beitrag zum
  Jean-Jacques Rousseau, ein Pendler                  «Protestantischen Rom»
zwischen Frankreich und der Schweiz
                                                         Welch erstaunliches Wechselspiel zwischen
   Ein grosser Teil der «neuen Ideen» sind in         dem aus Noyon in der Picardie stammenden
Genf entstanden. Man könnte fast glauben, dass        Jean Calvin (1509-1564), der Genf zu seiner
man dort nur Französisch gesprochen hat, um           Heimat machen sollte, und dem «Genfer Bürger»
seine Feindschaft gegenüber dem Frankreich des        Rousseau, der am Ende seines Lebens einsam
Ancien Régime besser ausdrücken zu können.            im picardischen Ermenonville im französischen
                                                      Departement Oise lebte! Zwischen der Picardie
   Als kultureller Brennpunkt steht die Schweiz       und der Republik Genf hat also ein Austausch
im Zentrum der Entwicklung von Ideen, die             zweier Moraltheoretiker stattgefunden, die
übrigens häufig von hier aus verbreitet werden.       bezüglich ihres grundlegenden Denkens
Im Jahr 1748 publizierte Montesquieu in Genf          nicht unterschiedlicher hätten sein können.
L’esprit des Lois, noch bevor Voltaire hier einen     In der Schweiz ist Arbeit im calvinistischen
nahen Zufluchtsort fand. Jean-Jacques Rousseau        Verständnis eine Stütze der Seele und für
(1712-1778), Galionsfigur der Französischen           die Verwirklichung jedes Einzelnen in der
Revolution, wäre ohne Genf nicht Rousseau             Gesellschaft essentiell. In der Rousseauschen
gewesen.                                              Sichtweise hingegen wartet der glückliche
                                                      Mensch darauf, dass die reife Frucht vom
   Didier Rousseau, der Pariser Vorfahre              Baum fällt, damit er sich ernähren kann. Von
von Jean-Jacques, erwarb im Jahr 1655 das             vielen wird der Beginn der Bewegung für die
Bürgerrecht von Genf. Der «Genfer Nomade»             Förderung der individuellen Verantwortung,
Jean-Jacques ist im Herzen seiner Schriften           die schliesslich zur modernen Demokratie und
binational. Hätte er sein Werk erschaffen             zur Entstehung der Menschenrechte führte,
können, wäre er nicht Genfer gewesen?                 auf Calvin selber zurückgeführt. Rousseau
Hätte er es bekannt machen können, wäre er            hingegen, der Autor des Contrat social, verkörpert
nicht Franzose gewesen? Der Autor von La              die politische Philosophie des Jahrhunderts der
Nouvelle Héloïse, einem Briefroman, der die           Aufklärung, die ihn zu einem geistigen Vater der
Literaturgeschichte verändert hat, ist einer          französischen Demokratie werden liess.
der Grössten des französischen kulturellen
und literarischen Erbes. Er erreichte eine               Calvin war 1536 als Prediger nach Genf
ausserordentliche Popularität, weil er es verstand,   gekommen und kehrte 1541 dorthin zurück,
die Wünsche und Sehnsüchte des gebildeten,            um Genf zum «Neuen Jerusalem» zu machen.
breiten Publikums seiner Zeit wunderbar               Sowohl in der Kirche als auch im Staat war
einzufangen und auszudrücken. Er brachte              Calvin allmächtig, ein eigentlicher «Pontifex
zutiefst schweizerische Ideen nach Frankreich,        maximus» der Stadt. Er veränderte die sozialen
wie beispielsweise die Freiheit des Einzelnen,        Beziehungen in der kleinen Republik, deren
die Gleichheit und das Prinzip der nationalen         Bürger er 1559 wurde, von Grund auf. Nur dank
Souveränität. Die Leser des Werkes dieses             der Unnachgiebigkeit von Calvin konnten die
Philosophen und Botanikers sahen darin die            Genfer damals ihre Autonomie bewahren. Die
Keimzelle der Französischen Revolution und im         Genfer Kirche erhielt durch ihn wieder solide
Autor den Vater der aufkommenden Romantik.            Strukturen für Lehre und Liturgie, die mit der
Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte          Abkehr vom alten Glauben verloren gegangen
und die von Robespierre so geschätzten                waren. Calvin errichtete in Genf ein geistliches
Revolutionsfeste trugen die klare Handschrift des     Zentrum von weltweiter Bedeutung.
Bürgers von Genf, dessen sterbliche Überreste
Seine Landsleute Guillaume Farel (1489-             Der Basler Theologe Karl Barth (1886-
1565) aus Gap und Théodore de Bèze (1519-           1968) trug zu Beginn des Zweiten Weltkriegs
1605) aus Vézelay waren Calvins Mitarbeiter.        dazu bei, dass Frankreichs Protestanten ein
Farel, durch dessen Wirken Genf 1535-36 zum         Bewusstsein entwickelten für die Notwendigkeit
neuen Glauben übergegangen war, organisierte        eines geistlichen Widerstandes. Roger Schutz-
später auch die Neuenburger Reformation.            Marsauche (1915-2005) aus Provence – dem
Der Nachfolger Calvins, Théodore de Bèze,           Dorf im Waadtland, nicht der französischen
unbestrittener Anführer der reformierten Sache,     Provinz – besser bekannt unter dem Namen
spielte eine zentrale Rolle beim Aufbau des         Frère Roger, ist niemand anderes als der
calvinistischen Europas, das sich in der zweiten    Gründer der Gemeinschaft von Taizé im
Hälfte des 16. Jahrhunderts entwickelte.            Burgund, im Jahr 1940. Der Pastor mit einem
                                                    Schweizer Vater und einer französischen Mutter
    Die europäische Rolle, die Genf lange           hat mit Taizé einen Ort der Begegnung und der
gespielt hat, ist gewissermassen das Vermächtnis,   Versöhnung zwischen Christen unterschiedlicher
das der Vater der französischen Reformation         konfessioneller Zugehörigkeit geschaffen.
seiner Wahlheimat hinterlassen hat. Er hat
die Lebensweise und die Geschichte Genfs in            Der in Couvet im Val-de-Travers (NE)
einem solchen Ausmass geprägt, dass sein Stil       geborene Denis de Rougemont (1906-1985)
die Stadt am Ende des Sees über Jahrhunderte        verfasste das Konzept eines «Europa der
kennzeichnete. Die Anziehungskraft, die er in       Regionen». Der Verfechter eines Föderalismus
Frankreich ausübte, kann an den Tausenden           nach Schweizer Vorbild liess sich in Frankreich
von Flüchtlingen gemessen werden, die nach          nieder, wo er Beziehungen aufnahm zur
Genf strömten. Zwischen 1535 und 1562 stieg         Gruppe Esprit von Emmanuel Mounier und zur
die Bevölkerungszahl der Stadt von 10 000 auf       «personalistischen Bewegung», die einen dritten
23 000 Einwohner. Dutzende Buchdrucker              Weg suchte zwischen dem individualistischen
liessen die Stadt zu einem bedeutenden              und materialistischen Liberalismus des Westens
Verlagszentrum für Hugenottenbibeln und             und dem sowjetischen Kollektivismus. Bekannt
«Hugenottenpsalter» werden, währenddem              wurde Denis de Rougemont 1939 durch
die Professoren und Studenten der 1559              sein Buch L’Amour et l’Occident, das zu einem
gegründeten Académie Genf zu einem                  Bestseller wurde.
Ausbildungszentrum des frankophonen
Protestantismus machten. Als Anekdote sei               Der Walliser Philosoph Alexandre Jollien, seit
noch erwähnt, dass sie dort auch den Anbau          seiner Geburt im Jahr 1975 behindert, ist einer
der Gemüseartischocke eingeführt haben. Das         der brillantesten Köpfe seiner Generation. Als
zwischen 1909 und 1917 erbaute Internationale       Studierender der Universität Freiburg publizierte
Reformationsdenkmal in Genf, Mauer der              er 1999 sein erstes Werk, Éloge de la faiblesse
Reformatoren genannt, weist auf die weltweite       (Cerf), das mit dem Prix Mottart der Académie
Verbreitung des calvinistischen Bekenntnisses       française ausgezeichnet wurde. 2010 hat Alexandre
hin.                                                Jollien für sein Gesamtwerk den Prix Pierre Simon
                                                    « éthique et société » erhalten. Ende 2015 hat er
   Auf katholischer Seite nahm Freiburg             mit Matthieu Ricard und Christophe André in
mehrere Wellen religiöser Gemeinschaften            Paris den Bestseller Trois amis en quête de sagesse
auf, namentlich während der Französischen           (L›Iconoclaste-Allary Éditions) herausgegeben.
Revolution und nach der Trennung von
Kirche und Staat. Die Leitung der 1889
geschaffenen Theologischen Fakultät wurde den
Dominikanern übertragen.
5. Die Schweiz beeinflusst die                         Durch die Schlossherrin aus Coppet
französischen Ideen: Rund um                        rückte ein Mann ins Rampenlicht, der einer
Madame de Staël, die Frau, die                      der tiefgründigsten politischen Denker der
Napoleon erzittern liess                            Revolutionszeit werden sollte: Der in Lausanne
                                                    geborene liberale Philosoph Henri Benjamin de
    Die Genfer Baronin Germaine de Staël-           Constant de Rebecque (1767-1830), Benjamin
Holstein (1766-1817), eine Tochter Neckers,         Constant genannt. Der Autor von Adolphe, dem
leitete mit Châteaubriand zusammen die              ersten psychologischen Roman, verkörperte
intellektuelle Revolution des 19. Jahrhunderts      in seiner Person den Geist des konstruktiven
ein. Begeistert von neuen Ideen wirkte sie          Widerstands des Tribunats, aus dem er
mit bei der Gründung des Club constitutionnel.      allerdings am 17. Januar 1802 ausgeschlossen
Am 7. Dezember 1791 platzierte sie Louis de         wurde. Der Verfasser des « Acte additionnel
Narbonne, ihren Schützling, als Kriegsminister.     aux Constitutions de l›Empire » von 1815, eines
Dessen Absetzung im März 1792 ermöglichte           Zusatzes zur Verfassung Frankreichs, der im
die Bildung des Girondistenkabinetts (25.           Volksmund « la Benjamine » genannt wurde,
März-13. Juni 1792), in dem der Genfer Bankier      war einer der Begründer des politischen
Étienne Clavière (1735-1793), ein weiterer          Liberalismus in Frankreich und der erste
Bekannter von Mme de Staël und Erfinder der         grosse Denker der liberalen Demokratie, deren
Assignaten, die Aufsicht über die Finanzen der      Ideen er vehement verteidigte. Es waren dies
Nation übernahm. Nach dem 10. August 1792           die persönliche Freiheit, die Glaubensfreiheit,
(Tuileriensturm) wurde Louis de Narbonne            die Meinungsfreiheit und die Freiheit ihrer
wieder in sein Amt eingesetzt, und am 19.           Verbreitung (Pressefreiheit), das Nutzungsrecht
November 1792 wurde er sogar Präsident des          des Eigentums sowie garantierter Schutz vor
Exekutivrats. Mme de Staël, eine geistige Tochter   jeglicher Willkür.
Rousseaus, bildete mit ihrem Lebensgefährten
Benjamin Constant ein Paar «thermidorianischer         Um Germaine und Benjamin formierte
Republikaner». Sie bekannten sich zu den            sich eine unorganisierte Gruppe französischer,
Grundsätzen von 1789, lehnten aber die              schweizerischer und deutscher Intellektueller,
Auswüchse der Schreckensherrschaft ab. Die          Schriftsteller und Philosophen. Es ist dies
Autorin von Delphine (1802) war enttäuscht von      die berühmte Groupe de Coppet im Kanton
Napoleon Bonaparte, diesem «Robespierre zu          Waadt, Refugium der Intelligenz und Hort
Pferd». Während siebzehn Jahren kämpfte sie         des anti-napoleonischen Liberalismus und
mit ungleichen Waffen gegen ihn. Die gebildete      der Romantik, die sich ab 1803 während etwa
und äusserst wissbegierige Frau wurde ins Exil      fünfzehn Jahren am Ufer des Genfersees traf.
in Coppet (VD) verbannt. Mme de Staël vertrat       Diese Gruppe hat in der Geistesgeschichte
einen Geist der Toleranz, propagierte die           eine zentrale Rolle gespielt. Im Rahmen einer
Unabhängigkeit des Schriftstellers gegenüber        intellektuellen Durchmischung, bei der einige
jeglicher Macht und die Treue gegenüber             der grundlegenden Ausrichtungen des modernen
den Ideen der Aufklärung, und war die erste         Denkens entworfen wurden, hat sie den Weg
Frau, die offiziell als politische Philosophin      geebnet für die Bildung eines europäischen
anerkannt wurde. Ihr Buch Über Deutschland          Bewusstseins.
(1810) bezeugte den abnehmenden Einfluss
der französischen Denker auf die europäische          Belle de Charrière (1740-1805)
Geisteswissenschaft, und dies zu einer Zeit, in
der Napoleon scheinbar den Zenit erreicht hatte.       Belle de Charrière, Spötterin und Ungläubige,
Der Literaturkritiker Sainte-Beuve nannte es        frei und offen, war holländischer Abstammung,
«einen wichtigen Zeugen» für Frankreich.            wurde aber in der französischen Kultur erzogen.
                                                    Nach der Heirat mit dem Waadtländer Charles-
                                                    Emmanuel de Charrière de Penthaz (1735-1808)
zog das Paar nach Colombier in die Nähe               6. Von der Schweizer Bank zur
von Neuenburg, wo es das Herrenhaus des               Banque de France
Anwesens Le Pontet bewohnte. Hier gab Belle
Empfänge und arbeitete am Nachlass von Jean-            Ein kleiner Schritt für Necker, ein grosser
Jacques Rousseau. Ab 1787 verkehrte sie mit           Schritt für die Revolution
Benjamin Constant. Die Autorin des köstlichen,
satirischen Briefromans Lettres neuchâteloises           Der Genfer Bankier Jacques Necker (1732-
(Amsterdam, 1784) verfasste Aufsätze und              1804), von 1777 bis 1781 Generaldirektor der
politische Texte, komponierte Sonaten und             Finanzen, trat am 26. August 1788 mit dem
Opern und schrieb Operntexte und Komödien.            Titel des Generaldirektors der Finanzen in den
Ihr Briefroman Caliste (1787) war für Mme de          Königlichen Rat ein. Dies veranlasste Mirabeau
Staël Anregung für deren Corinne und inspirierte      zum Ausruf: «Da ist endlich Herr Necker, der
die Feministinnen des 20. Jahrhunderts, allen         König von Frankreich.» Es ist allgemein bekannt,
voran Simone de Beauvoir. Diese Schriftstellerin      dass Banken stabile politische Systeme mögen.
mit kosmopolitischem Geist, eine «Europäerin»         Das Ancien Régime während seiner letzten Phase
ante litteram, die häufig als eine der Vorfahrinnen   zählte nicht dazu.
der Westschweizer Literatur angesehen wird, war
eine der brillantesten Briefschreiberinnen ihres         Im Hinblick auf die Versammlung der
Jahrhunderts. Sie gehörte zu den Autorinnen und       Generalstände erwirkte Necker als Staatsminister
Autoren, die in exemplarischer Weise den Geist        eine Verdoppelung des Dritten Standes. Dies
der Aufklärung verkörperten.                          war eine für die Zukunft von Frankreichs
                                                      Institutionen massgebende Entscheidung.
  Marie-Thérèse Willermaulaz (1751-1816)              Necker war sowohl Symbol für das Defizit, das
                                                      zur Einberufung der Generalstände geführt
   Marie-Thérèse Willermaulaz, in Lille geboren,      hatte, als auch der Zünder, der die Revolution
stammte aus Charmey. Ihr Vater, ein Greyerzer,        ermöglicht hat. Seine knallharte Entlassung am
war Portier im Stadthaus der Familie Dreux-           11. Juli 1789 war eine der vielen Komponenten
Brézé, die sich um Marie-Thérèses Erziehung           des Aufstands und dessen glaubwürdigster
kümmerte. 1783 heiratete sie Pierre-Augustin          Vorwand.
Caron de Beaumarchais. Die Musikerin und
brillante Intellektuelle, die auch Empfänge gab,        Monsieur de Lescure veröffentlichte in seiner
war eine wichtige Stütze für ihren berühmten          Correspondance secrète vom 2. April 1790 ein
Ehemann. Sie sorgte dafür, dass sein Werk             Epigramm. Es war ein Vorbote für das Ende
nach seinem Tod 1799 weiterlebte. Die in den          von Neckers Ministerkarriere:
Pariser Salons als «die neue Sévigné» bezeichnete
Marie-Thérèse Willermaulaz hinterliess eine             « Quand devant Dieu parut avec effroi
umfassende, grösstenteils unveröffentlichte             Le Directeur vantant sa conscience,
Korrespondenz. Im Film Beaumarchais l’insolent          Le Seigneur lui dit : Réponds-moi,
(1996) von Édouard Molinaro wird ihre Rolle             Necker ! qu’as-tu fait de la France ?
von Sandrine Kiberlain gespielt.                        J’ai laissé le peuple sans roi
                                                        Et le royaume sans finance. »

                                                        (Der Finanzdirektor Necker erscheint vor
                                                      Gott und rühmt sich seines Gewissens. Als
                                                      Gott ihn fragt, was er mit Frankreich gemacht
                                                      habe, muss Necker antworten, er habe das Volk
                                                      ohne König und das Königreich ohne Geld
                                                      zurückgelassen.)
Necker, Symbol des neuen Menschen und                  besonderen Gesetzgebung. Zur Schweizer
der aufstrebenden Eliten des ausgehenden                  Kolonie in Paris gehörten auch reiche Bankiers
18. Jahrhunderts, trat am 4. September 1790               aus der protestantischen Schweiz, wie die
zurück und zog sich auf sein Schloss Coppet im            Genfer Necker und Clavière – Letzterer war
Waadtland zurück.                                         der Erfinder der Assignaten – die nacheinander
                                                          Frankreichs Finanzen verwalteten. Einige
    Der Genfer Bankier Henri Hentsch                      dieser Schweizer in Frankreich stammten sogar
(1761-1835), wohnhaft an der Rue du Sentier               aus Hugenottenfamilien, die sich in Genf
26 in Paris, schuf unter der Restauration die             niedergelassen hatten, – wie beispielsweise die
Versicherungsgesellschaft Compagnie royale                aus der Normandie eingewanderte Familie
d’Assurances maritimes, die 1848 zur Nationale            Mallet – und deren Nachfahren nun in der
wurde. 1818 wurde er zudem zum Gründer der                Schweizer Uniform unbemerkt nach Frankreich
Caisse d’épargne et de prévoyance de Paris, einer Spar-   zurückkehrten.
und Vorsorgekasse. Édouard Hentsch (1829-
1892) war an der Gründung der Geschäftsbank                  Der Neuenburger Jean-Frédéric Perregaux
Crédit Lyonnais direkt beteiligt und war einer der        (1744-1808) umschiffte die Klippen der
Grossaktionäre der Société générale, einer weiteren       Revolutionszeit, indem er gleichzeitig die
Geschäftsbank. Nach der Niederlage Frankreichs            Tätigkeiten des Wohlfahrtsausschusses Comité
von 1870 schloss sich die Banque de Crédit et de          de Salut public und diejenigen der britischen
Dépôts des Pays-Bas, die er 1863 mitgegründet             Spione in Frankreich finanzierte. Er war einer
hatte, mit der Banque de Paris zusammen. Zuvor            der Protagonisten des Staatsstreichs vom
musste sie jedoch die vom Deutschen Reich                 18. Brumaire VIII (9. November 1799). Die
geforderten fünf Milliarden Francs für die                Gründung der Banque de France im Jahr 1800 war
Kriegsentschädigung aufbringen. Der Genfer                sein Werk. Bis zu seinem Tod hielt er den Sitz
Charles Sautter übernahm die Leitung des neuen            des ersten Bankrats und bis 1806 denjenigen
Finanzinstituts an der Rue d’Antin 3, das neu             des Präsidenten des Aufsichtsrats inne. Er ist
den Namen Banque de Paris et des Pays-Bas trug.           einer der wenigen Schweizer, die im Pantheon
Von 1872 bis 1889 leistete diese neue Bank den            beigesetzt wurden.
Regierungen zahlreiche Vorschusszahlungen,
gewährte eine Vielzahl von Darlehen für die                  Étienne Delessert (1735-1816), ein
Städte und finanzierte die grossen französischen          Waadtländer aus Cossonnay, dessen Familie
Unternehmen und die wichtigen Projekte                    1724 das Bürgerrecht von Genf erhielt, lebte
Frankreichs, darunter den Durchbruch des                  als etablierter Seidenhändler und Bankier in
Boulevard Haussmann, das elektrische Licht für das        Lyon. Er war ein einflussreicher Bankier und
Palais Royal, die Metro und die Weltausstellung           ein Vertreter des protestantischen Bürgertums,
von 1889. Die Familie Hentsch hinterliess                 auf das sich Napoleon stützte, um die Elite der
Frankreich die Diskontbank Comptoir d’Escompte,           Notabeln zu schaffen, die das Grundgerüst des
später Comptoir national d’Escompte. Nach der             Staates bilden sollten. Delessert beteiligte sich
Befreiung Frankreichs 1945 verstaatlicht,                 am Zwölf-Millionen-Kredit für die Konsuln,
fusionierte das Comptoir national d’Escompte              der am 19. Brumaire als Anschubfinanzierung
1966 mit der Banque nationale pour le Commerce            für das neue Regime beantragt wurde. Der
et l’Industrie (BNCI). Aus der Fusion entstand            Bankier und Industrielle gründete in Passy
die heutige Banque nationale de Paris (BNP), die          die Raffinerie, in der 1811 das Verfahren zur
mittlerweile wieder privatisiert worden ist.              Zuckerherstellung aus Rüben entwickelt wurde.
                                                          Zu Beginn des Jahres 1812 nahm Napoleon
   Die Schweizer verfügten in Frankreich                  sogar sein eigenes Kreuz der Ehrenlegion ab, um
über privilegierte Aufnahmestrukturen. Sie                es ihm anzustecken. Zwei Monate später wurde
waren nicht Ausländer wie alle anderen.                   Delessert Baron des Kaiserreichs.
Weil sie im Königreich bereits seit mehreren
Generationen etabliert waren, profitierten sie              Von den fünfzehn ersten Bankräten der
bis zur Revolution von bedeutenden Privilegien,           Banque de France seien noch zwei weitere
wie beispielsweise von der Steuerbefreiung,               Räte schweizerischer Abstammung erwähnt:
der Religionsfreiheit und sogar von einer                 Guillaume Mallet (1747-1826) und Jean-Conrad
Hottinguer (1764-1841), beides herausragende        wird. Der Vater des Metronoms hat alle Regimes
Persönlichkeiten der Pariser Szene. Die             erlebt und zählte Marie-Antoinette, Josephine
Schaffung der Banque de France, verbürgt durch      und Napoleon Bonaparte zu seinen Kunden.
Spitzenkräfte der Schweizer Bank, garantierte       Unter der Restauration wurde dieser geniale
für Frankreich langfristig Währungsstabilität und   Wegbereiter seiner Branche Uhrmacher der
Wohlstand.                                          königlichen Marine und Mitglied der Akademie
                                                    der Wissenschaften und empfing aus den
   Aus der Genfer Familie Saladin stammten          Händen von Ludwig XVIII den Orden der
zahlreiche Verwalter der königlichen                Ehrenlegion. Sein Sohn Antoine-Louis (1776-
Spiegelglasmanufaktur von Saint-Gobain. 1863        1858) erfand 1830 den schlüssellosen Aufzug
standen die Genfer Bartholony, Dacier, Des Arts     und den Zeiteinstellungsmechanismus. Ferdinand
und Dufour an der Spitze von sehr wichtigen         Berthoud (1727-1807), ein weiteres Neuenburger
Unternehmen: Der Eisenbahn von Orléans, der         Genie der Uhrmacherkunst und Meister der
Lyon-Mittelmeer-Bahn sowie dem Crédit foncier       Entwicklung von Marinechronometern, hat
(Bodenkreditbank).                                  für die königliche Marine mehr als achtzig
                                                    Zeitmesser angefertigt.
   Die Familie de Rothschild ist seit langem
im Kanton Genf ansässig, wo sie in Prégny-             Die Nachkommen von Abraham-Louis
Chambésy, neben dem Musée des Suisses dans le       Breguet, immer noch Schweizer, machten sich
Monde, ein Landgut besitzt. Der französische        in der Aviatik und im Automobilbereich einen
Zweig der Familie spielt hinter den Kulissen der    Namen. Louis Breguet (1880-1955) entwickelte
Weltpolitik eine unbestreitbare Rolle. Im 20. und   1907 in Douai den ersten Tragschrauber, einen
21. Jahrhundert gehören die Schweizer Behörden      Vorläufer des Helikopters. Die Société d’aviation
und Banken zu den bedeutendsten Gläubigern          Louis Breguet fusionierte 1971 mit der Générale
Frankreichs.                                        aéronautique Marcel Dassault. Daraus entstand die
                                                    Avions Marcel Dassault-Breguet Aviation.

                                                       Die Schweizer Uhrenbranche, die bereits
7. Pendelbewegungen in der                          im Neuenburger Jura beheimatet war, erlebte
Uhrmacherkunst zwischen                             ihren Aufschwung in Genf in der zweiten
Frankreich und der Schweiz                          Hälfte des 16. Jahrhunderts, in der Folge eines
                                                    massiven Zustroms protestantischer Flüchtlinge
   Abraham-Louis Breguet (1747-1823), der           aus Frankreich. Viele dieser Flüchtlinge waren
berühmte Neuenburger Uhrmacher vom Quai             Goldschmiede oder Juweliere. Ihr Wissen
de l›Horloge in Paris, ist der Vater zahlreicher    verband sich auf fruchtbare Weise mit der
Erfindungen, welche die Uhrmacherkunst              städtischen Gold- und Silberschmiedekunst,
auf das Niveau höchster Perfektion gebracht         sodass Genf zum Zentrum der Zeitmessung
haben. Dazu gehören beispielsweise die erste        aufstieg. 1601 entstand so die « Maîtrise des
automatische Uhr, die erste Armbanduhr, die         horlogers de Genève », eine Uhrmacherzunft. Die
«Breguet-Spirale», der Tourbillon, die Parachute-   Hugenotten brachten das Fachwissen einer
Stosssicherung, der ewige Kalender, der             beruflichen Elite nach Genf, besonders im
Mechanismus mit zwei Federhäusern sowie der         Bereich der Seidenverarbeitung. Als Folge der
Marinechronometer mit Doppelsekunden, nicht         Widerrufung des Edikts von Nantes durften
zu vergessen die Subskriptionsuhr (Einzeigeruhr)    sich ungefähr 20 000 Hugenotten dauerhaft
aus dem Jahr 1796, die Tastuhr, bei der die Zeit    in der Schweiz niederlassen. Ihre Ankunft fiel
durch Abtasten gelesen werden kann, und das         zusammen mit der Blütezeit des französischen
sympathetische Pendelwerk, das als Mutteruhr        Kulturmodells, zu dessen Verbreitung sie
die Uhrzeit einer Taschenuhr richtet, wenn diese    wesentlich beitrugen.
in eine dafür vorgesehene Halterung gesteckt
Nicolas Hayek, der «Grosse Mäzen» der            8. Erfinder, Industrielle und
französischen Kultur und Patron der Swatch          Entdecker zieht es immer weiter
Group (Swatch steht für Swiss Made Watch), der      in die Ferne
Nummer eins der weltweiten Uhrenindustrie,
zu der Breguet seit 1999 gehört, hat 2006 die          Swiss Made in Frankreich
Restauration des Petit Trianon ermöglicht. Die im
Vallée de Joux, der Wiege der Uhrmacherkunst           Folgende Produkte sind alle dem helvetischen
angesiedelte Firma Montres Breguet S.A. hat         Erfindergeist entsprungen: Der Bundesordner
2008 die prachtvolle und legendäre Uhr              Biella (1908), die Alufolie (1924), der
nachgebaut, die Marie-Antoinette 1783               Reissverschluss (1924), der Wendeschlüssel von
bestellt hatte. Bis heute wachen die Schweizer      Kaba (1934), der Stewi, ein Wäschetrockner
über Versailles und den Louvre. So wurden           mit der Form eines Regenschirms (1947),
die Säle des Louvre, in denen sämtliche             die Sonnencreme Piz Buin, 1938 von Franz
Sammlungen von Kunstgegenständen des 18.            Greiter in Konkurrenz mit der Marke L’Oréal
Jahrhunderts ausgestellt sind, 2009-2014 mit der    entwickelt, der Klettverschluss, 1948 vom
Unterstützung von Breguet restauriert!              Waadtländer Georges de Mestral (1907-1990)
                                                    erfunden, das Magnetophon Nagra, das erste
   Es ist nichts als gereicht, dass das Pendel      professionelle, für Radioreporter bestimmte
ganz am Ende des 18. Jahrhunderts wieder            tragbare Tonaufnahmegerät, das von Stefan
zurückschwang, als Neuenburger Uhrmacher            Kudelski (1929-2013) gebaut wurde, und, nicht
das Angebot des Nationalkonvents annahmen,          zu vergessen, der 1999 entwickelte Mini-Scooter!
sich in der Franche-Comté niederzulassen. So        Eines der berühmtesten Accessoires ist das
errichtete der in Le Locle wohnhafte Genfer         Schweizer Armeemesser. 1884 gründete der
Laurent Mégevand (1754-1814) im Jahr 1793           Schwyzer Karl Elsener (1860-1918) in Ibach in
mit achtzig anderen Schweizer Uhrmachern, die       der Innerschweiz eine Werkzeugfabrik, die der
verbannt worden waren, weil sie die Revolution      Schweizer Armee ab 1891 Messer lieferte. Nach
in der Schweiz unterstützt hatten, eine nationale   der Einführung des rostfreien Stahls im Jahr
Uhrenmanufaktur in Besançon. Mit sich brachte       1921 erhielt die Firma den Namen Victorinox.
er sein Wissen, seine Fachkenntnisse und seine      Das Modell für Offiziere, das im Gegensatz
innovativen Ideen bezüglich der industriellen       zu demjenigen des gewöhnlichen Schweizer
Entwicklung der Uhrmacherei.                        Soldaten mit einem Korkenzieher und einer
                                                    kleinen Klinge ausgestattet ist, wurde in der
   In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts       Folge auf den Markt gebracht. Bisweilen ist es
wurde Besançon mit ungefähr vierhundert             mit höchst unerwarteten Zubehörteilen bestückt.
Uhrmacherwerkstätten zum Hauptstandort              Die weltberühmte Schwyzer Marke produziert
für die Produktion französischer Uhren. Eine        nicht nur das von Mac Gyver so geschätzte
der Hauptstrassen im Zentrum der Stadt (Rue         legendäre, multifunktionelle Messer, sondern
Mégevand) trägt den Namen des Schweizers, der       auch eine Vielzahl von Küchenmessern.
die Uhrenindustrie in Besançon begründet hatte.
                                                      Der Waadtländer Jean Albert Vincent
                                                    Auguste Perdonnet (1801-1867), ein Pionier
                                                    der französischen Eisenbahn und Leiter der
                                                    École centrale des arts et manufactures (1862-67),
                                                    wurde 1857 nach Eröffnung der Eisenbahn
                                                    von Strassburg in den Rang eines Offiziers
                                                    der Ehrenlegion erhoben. 1866, bei der
                                                    Eröffnung der Eisenbahn von Mulhouse,
                                                    wurde er zum Kommandeur der Ehrenlegion
                                                    befördert. Perdonnet wirkte schliesslich als
Verwaltungsdirektor der Chemins de fer de l›Est.       und den Vertrieb der Lacoste-Textilien.

    Die Gebrüder Hans (1909-1989) und Fritz               Caran d’Ache, mit richtigem Namen
(1906-1992) Schlumpf waren zwei französisch-           Emmanuel Poiré (1858-1909) ist der
schweizerische Industrielle. Ihre Familie,             Nachkomme einer französischen Familie, die
die ursprünglich aus Herisau stammte, hatte            sich in Russland niedergelassen hat. 1925 wurde
1386 das Bürgerrecht der Stadt St. Gallen              ein schweizerisches Unternehmen mit Sitz in
erhalten. Zwischen 1935 und 1976 schufen               Thônex (GE) nach ihm benannt (Caran d’Ache
die Brüder in Mulhouse, das bis 1798 eine mit          bedeutet auf Russisch Bleistift). Es ist weltweit
der Schweiz verbündete Stadt gewesen war,              die einzige Manufaktur, die an einem einzigen
ein Textilimperium. Sie legten zudem eine der          Standort eine komplette Palette mit Produkten
weltweit wichtigsten privaten Autosammlungen           für Künstler und mit Schreibutensilien herstellt.
an, mit Luxusautos und Sportautos, die                 Wenn Picasso zeichnete, hatte er immer eine
im europäischen Automobilsport eine                    Schachtel Caran d’Ache zur Hand. Die 1931 von
Vorreiterrolle spielten, insbesondere Bugattis.        Caran d’Ache erfundenen Schweizer Farbstifte
Die Sammlung mit 560 Autos ist in der Cité de          Prismalo waren die ersten, die wasservermalbar
l’automobile-Collection Schlumpf de Mulhouse für die   waren.
Öffentlichkeit zugänglich.
                                                         Die Schweizer Unternehmer der
   Die Firma Leclanché wurde 1909 in                   Gegenwart
Yverdon-les-Bains gegründet, mit dem
Ziel, in der Schweiz die Patente für die                  Am 16. März 2016 wurde der Freiburger
elektrochemischen Verfahren zu nutzen, die             Geograf Daniel Neuenschwander (geb. am 3.
der französische Ingenieur Georges Leclanché           Juni 1975) zum Direktor für Trägersysteme der
1868 entwickelt hatte. 1968 brachte Leclanché          Europäischen Weltraumorganisation mit Sitz in
die ersten Gleichrichter- und Batterieladegeräte       Paris ernannt. Dort hatte er bereits als Vertreter
auf den Markt. Leclanché hat sich auf                  der Schweiz gearbeitet. Seit 2012 übernimmt
die Herstellung von massgeschneiderten                 die Schweiz gemeinsam mit Luxemburg
Energiespeicherlösungen spezialisiert. Die             erfolgreich die Co-Präsidentschaft des 1975
Strategie von Leclanché ist darauf ausgerichtet,       gegründeten ESA-Rates. Der Freiburger
seine Position als einer der führenden                 Neuenschwander wird die Verantwortung tragen
Hersteller von Lithium-Ionen-Zellen und                für das wichtigste Entwicklungsprogramm in
Anbieter von elektrischen Speicherlösungen für         der Geschichte der ESA. Ariane 6 wird ab 2020
erneuerbare Energien in Europa auszubauen.             mit Spitzen des bundeseigenen Rüstungs- und
Die Waadtländer Firma benutzt immer noch               Technologiekonzerns Ruag Space bestückt sein.
den Namen Leclanché. So wurde die 2006
übernommene, ebenfalls im Bereich der                     Der Schweizer Paul Ackermann ist
Batterien tätige deutsche Firma Bullith in             Chefredaktor der am 23. Januar 2012
Willstätt (D) in «Leclanché Lithium GmbH»              gegründeten französischen Ausgabe der
umbenannt.                                             erfolgreichen amerikanischen Internetseite
                                                       Huffington Post. Zuvor hatte er bei 20minutes.fr
   Die Schweizer Familien Maus und Nordmann            gearbeitet und war anschliessend Verlagsleiter
sind Eigentümerinnen der fünfundsiebzig                von Figaro.fr gewesen. Die Stelle bei Huffington
grossen Manor-Warenhäuser in der Schweiz und           Post war ihm von seinem Landsmann Serge
seit 1996 auch von Parashop, der Nummer eins           Michel, dem stellvertretenden Redaktionsleiter
unter den französischen Parapharmazieketten.           der Zeitung Le Monde, angeboten worden.
Sie kontrollieren Devanley, ein Unternehmen            Dieser hatte 2005, als Leiter der Rubrik
mit Sitz in Troyes, und besitzen seit 2012 die         „Internationales“ der Zeitschrift L’Hebdo,
weltweite Lizenz für das Design, die Herstellung       den Bondy Blog lanciert. Dieser Blog ist
eine interaktive Webseite, die in Bondy, im           9. Schweizer Produkte auf
Departement Seine-Saint-Denis, mit Bewohnern          Frankreichs Tafeln: Nicht nur
der Stadt erstellt wird.                              Käse und Schokolade
   Der 1973 in Freiburg geborene Franko-                 Je nach dem, auf welcher Seite des Juras man
Schweizer Frank Melloul absolvierte in Lausanne       sich befindet, hat der Greyerzerkäse Löcher oder
seine Ausbildung, arbeitete sich anschliessend        nicht. Nachdem die Franche-Comté durch den
innerhalb des französischen Aussenministeriums        Dreissigjährigen Krieg (1618-1648) verwüstet
nach oben und war von Juni 2005 bis Mai               und 1639 von der Pest heimgesucht worden
2007 Berater von Dominique de Villepin.               war, zogen viele Emigranten aus dem Kanton
Der ehemalige Strategieverantwortliche von            Freiburg in diese Gegend. Sie errichteten hier die
Audiovisuel extérieur de la France war danach kurz    Fruitières (Käsereien, abgeleitet vom Greyerzer
als Direktor von France 24 tätig. Seit 2013 ist er    Wort fret für «Käse») und führten die Produktion
Leiter von i24news, einem neuen internationalen       des Käses ein, der den Namen Comté erhalten
Nachrichtensender mit Sitz in Tel Aviv.               sollte. Dieser mit dem Greyerzerkäse verwandte
                                                      Käse wird übrigens von der französischen
   Die Waadtländer Dynastie der Piccard               Marine sehr geschätzt, weil er auch in Gebiete
verblüfft und fordert unsere Vorstellungskraft        jenseits des Äquators mitgenommen werden
seit einem Dreivierteljahrhundert heraus. Die         kann. Heute wissen viele Franzosen nicht, dass
Piccards sind würdige Nachfolger der Genfer           sie Schweizer Wurzeln haben. Einige stammen
Horace Bénédict de Saussure (1740-1799),              ursprünglich aus dem Kanton Freiburg, wie
Paul-Émile Victor (1907-1995) – Leiter der            beispielsweise die Familien Chevènement oder
Polarexpeditionen von 1947 bis 1996 – sowie           Seydoux, die ihre Wurzeln in Vaulruz haben.
der Reiseschriftstellerin Ella Maillart (1903-1997)   Ihre Namen verbindet man mit Diplomatie,
und des Schriftstellers Nicolas Bouvier (1929-        Politik, Wirtschaft oder Kino. Jérôme Seydoux
1998).                                                beispielsweise, der Grossvater von Léa, ist durch
                                                      seine Rolle in den Medien wohlbekannt.
   Auguste Piccard (1884-1962), der Erfinder des
Bathyskaph, eines Tiefsee-U-Boots, inspirierte          Pernod und die grüne Fee
Hergé für seinen Professor Blümlein. Sein Sohn
Jacques (1922-2008), dessen Mutter Marianne               Die Schweizer der Franche-Comté haben nicht
Denis aus Nîmes stammte, erreichte seinerseits        nur Molke getrunken. Hätten Sie gewusst, dass
mit einem U-Boot Meerestiefen, in denen               La Suze, ein in Frankreich beliebter Enzianlikör,
noch nie ein Mensch gewesen war. Sein Enkel,          ursprünglich ein Schweizer Produkt ist? Der
der am. 1. März 1958 geborene Lausanner               Major Daniel-Henri Dubied (1758-1844) aus
« Savanturier » (Wissenschaftler-Abenteurer)          Couvet im Val-de-Travers gründete 1798 in
Bertrand Piccard, verwirklichte Jules Vernes          Pontarlier die erste Absinthbrennerei. Der
Traum: 1999 schaffte er mit der Breitling Orbiter     Neuenburger Henri-Louis Pernod (1776-1851),
3 in weniger als zwanzig Tagen eine Non-Stopp-        ein Schwiegersohn von Dubied, errichtete 1805
Ballonfahrt rund um die Erde. Für diesen Erfolg       nach familiären Streitereien die Brennerei in
erhielt er 2001 den Orden der Ehrenlegion.            Pontarlier, die später die berühmte Maison Pernod
Als Initiator und Pilot der Solar Impulse 2 hat       Fils werden sollte. Unter der Leitung seines
Piccard am 6. August 2016 eine Weltumrundung          Enkels Louis (1836-1910) wurde diese Brennerei
mit einem Solarflugzeug erfolgreich beendet,          zu einer der wichtigsten Frankreichs. Bis heute
ohne Treibstoff und umweltverschmutzende              ist die Marke für ihr erfrischendes Anisgetränk
Emissionen. Mit diesem Projekt soll der               bekannt. 1830 gründete C.-F. Berger, der
Pioniergeist im Bereich der erneuerbaren              ebenfalls aus Couvet (NE) stammte, in Marseille
Energien gefördert werden.                            an der Rue de l’Obélisque eine Absinthfabrik. Zur
                                                      gleichen Zeit, während der Eroberung Algeriens,
gaben die Soldaten jeweils einige Tropfen           Jahr 1904 durch den Berner Albert Wander
Absinth-Likör ins Trinkwasser, um es zu reinigen    (1867-1950) entwickelt, der sich Sorgen
und um ihre Magenbeschwerden zu lindern. Die        machte wegen dem schwächlichen Aussehen
Soldaten kamen so auf den Geschmack und             der Kinder; das Milchpulver, im Jahr 1908
konsumierten den Heiltrank nach ihrer Rückkehr      vom Walliser Maurice Guigoz (1868-1919)
nach Frankreich als Genussmittel weiter.            erfunden; die nach wie vor beliebte Toblerone,
Am 17. März 1915 verbot die Französische            eine dreieckige Milchschokolade mit Mandeln,
Regierung die Anisliköre aus Absinth, da sie in     Honig und speziellem Montélimar-Nougat,
den Schützengräben verheerende Auswirkungen         die in der Küche des Berners Theodor Tobler
hatten. Die Schweiz hatte die grüne Fee             (1876-1941) entwickelt wurde; die Erfindung
bereits 1910 verboten. Im Jahr 2005, fast ein       von Senf aus der Tube durch den Aargauer
Jahrhundert später, wurde sie rehabilitiert. Eine   Hans Thomi (1885-1976) im Jahr 1930, und im
Absinth-Route führt auf einer Strecke von 48        selben Jahr, die Entwicklung von Ricola, diesen
km von Pontarlier bis nach Noiraigue. 1932          Kräuterbonbons aus den Schweizer Bergen,
brachte Paul Ricard, ein junger Marseillais, eine   die seit 1930 in Laufen, im heutigen Kanton
Variante des Anisgetränks von Pontarlier unter      Basel-Landschaft, hergestellt werden; der lösliche
dem Namen « Pastis » auf den Markt.                 Kaffee Nescafé, der im Jahr 1938 vom Ingenieur
                                                    Max Morgenthaler erfunden wurde. Antoine
  Nestlé expandiert nach Frankreich                 und Philippe Cahen, Lausanner Designer
                                                    der Ateliers du Nord, entwickelten ab 2001 die
   Für die Erfindung des Kindermehls für            berühmten Nespresso Kaffeemaschinen. In
Kleinkinder (1867) erhielt Henri Nestlé (1814-      der neuen Fabrik von Nescafé, in Saint-Menet
1890) an der Weltausstellung in Paris eine          in der Banlieue von Marseille, wurde 2008
Goldmedaille. 1878 brachte Nestlé auch die          eine Technologie zur Vorkonzentration des
gezuckerte Kondensmilch, die zwölf Jahre            Kaffeearomas ausgearbeitet. Das Ergebnis ist
früher in den USA entwickelt worden war, auf        reiner Kaffee, ohne Zucker, ohne Zusatzstoffe,
den europäischen Markt. In der Schweiz wurden       mit 100 % gerösteten Kaffeebohnen. 1983
zudem folgende weitere Produkte entwickelt:         lancierte Leisi als Antwort auf die steigende
1819 der «Schokoladeriegel» durch François-         Nachfrage nach gebrauchsfertigen Produkten
Louis Cailler (1796-1852) aus Vevey; 1875           den Quick, den weltweit ersten auf Backpapier
die Milchschokolade durch den Waadtländer           ausgerollten Teig.
Daniel Peter (1836-1919), dessen Fabrik 1929            Jacques Klaus (1825-1909) aus Robank im
mit Nestlé fusionierte. 1971 wurde Nestlé zum       Kanton Zürich, der Pionier der schweizerischen
weltweit grössten Nahrungsmittelkonzern.            Süsswarenindustrie, liess sich 1856 als Confiseur
In Frankreich ist die Nestlé Group seit 1868        in Le Locle nieder. Später wurde er Chocolatier
vertreten, also bereits ein knappes Jahr nach       und eröffnete 1896 in Morteau in Frankreich
ihrer Gründung. 1916 eröffnete sie die erste        eine Fabrik. 1907 gründete er in Le Locle die
Fabrik auf französischem Boden. Heute               grosse Schokoladenfabrik, die 1992 geschlossen
verfügt Nestlé Frankreich über dreiundzwanzig       wurde. Das Unternehmen wurde 1999 von
Produktionsstandorte.                               Philippe Leroux übernommen. In Frankreich
                                                    ist Klaus bis heute Marktführer bei den Likör-
  Zu den weiteren Schweizer Erfindungen             Schokoladentafeln.
kulinarischer Art, die in Frankreich heimisch
geworden sind, gehören unter anderem:                  Im Laufe der Jahrhunderte zogen zahlreiche
Die erste proteinreiche Trockensuppe, eine          Schweizer bis an die Mündung der Rhone ins
Fertigsuppe in Beuteln, 1886 in Frauenfeld vom      Mittelmeer. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Zürcher Julius Maggi (1846-1912) erfunden,          stellten die Schweizer in Marseille die
dazu der Bouillonwürfel (Kub) und die flüssige      zweitgrösste Ausländergruppe. Folgende
Würze gleichen Namens; die Ovomaltine, im           Unternehmen wurden hier von Schweizern
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